POLITISCHER SONDERBERICHT - Projektland
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POLITISCHER SONDERBERICHT Projektland: Ägypten Datum: 16.08.2011 Midan Tahrir – Das Militär und das Volk noch Hand in Hand? Sitzstreik am Midan Tahrir Der Monat Juli war turbulent in Down-Town Kairo. Beginnend mit dem 8. Juli haben Aktivisten den Tahrir-Platz besetzt und erneut ihre Zelte aufgeschlagen und zu einem andauernden Sitzstreik bis zur Erfüllung ihrer Forderungen aufgerufen. Dem Sitzstreik gingen landesweite Freitagsdemonstrationen voraus, mit denen die derzeit herrschende Übergangsregierung und der Militärrat aufgefordert wurden, die Umsetzung der demokratischen Reformen zu beschleunigen und Funktionäre des ehemaligen Regimes vor Gericht zu bringen. Zudem wurde gefordert, die für September angesetzten Parlamentswahlen zu verschieben, um neu gegründeten Parteien mehr Zeit zu geben, sich vorzubereiten. Die erneute Besetzung des Platzes wurde kontrovers diskutiert und vor allem Händler und Geschäftsleute mit Sitz um den Tahrir Platz waren gegen die anhaltenden Proteste, die für sie mit hohen Einkommenseinbußen einhergingen. Doch besonders an den Wochenenden strömten viele Unterstützer der Aktivisten und der Märtyrerfamilien auf den Platz, der mit seinen Essenshändlern, Souvenirverkäufern, verschiedenen Bühnen und Darbietungen mitunter einem Volksfest glich. Mehrmals gab es jedoch Hanns-Seidel-Stiftung_ Politischer Sonderbericht_Ägypten_16.08.2011 1
auch gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Beobachtern sowie dem Militär. Wachsende Spannungen zwischen Protestgruppen und Militär Die Aktivisten werfen dem Militär vor zu langsam in der Umsetzung der Reformen zu sein. Militärgerichte für Zivilisten und Berichte über damit verbundene Folter erregen weiteren Unmut gegenüber dem Militärrat. Eine Rede des Militärratsmitglieds Mohsen El-Fangary am 12. Juli verärgerte viele der Aktivisten zusätzlich. Seine Worte wurden als bedrohend empfunden und als Aufruf an die Bevölkerung gewertet, gegen Demonstranten vorzugehen. Er sprach unter anderem davon, dass „ehrenhafte ägyptische Bürger sich jedem Versuch der Hinderung einer Wiederherstellung des normalen Lebens entgegenstellen sollen“. Die Anspannung zwischen Militär und Protestgruppen nahm weiter zu, als der Militärrat die Bewegung „6. April“ öffentlich beschuldigte, einen Keil zwischen das Volk und die Armee zu treiben. Zudem wurde den Mitgliedern der Bewegung vorgeworfen, an US-finanzierten Trainingslagern teilgenommen zu haben, um ausländische Ziele („foreign agendas“) in Ägypten umzusetzen. Obwohl einige Mitglieder bestätigten, an einem Training zum friedlichen Protest in Serbien teilgenommen zu haben, wehrte sich die Bewegung öffentlich gegen diese „Rufschädigung“ durch das Militär, die vor dem Hintergrund allgegenwärtiger Verschwörungstheorien mit der Angst vor ausländischer Einflussnahme auf Ägypten spielt. Die Bewegung „6. April“ war ein Vorreiter der Protestbewegung gegen das alte Regime und hat maßgeblich dazu beigetragen, Mubarak zu stürzen. Auch die „Kefaya“ Bewegung wurde vom Militär öffentlich beschuldigt, ausländische Financiers zu haben. Protestmarsch auf das Verteidigungsministerium Am darauffolgenden Samstag, 23.7. marschierten Aktivisten aus Protest gegen die oben genannten Vorwürfe vom Tahrir Platz zum Verteidigungsministerium in Abasseya, dem Sitz des Militärrats. Außerdem sollte den Forderungen an das Militär Nachdruck verliehen werden, die Militärgerichte für Zivilisten einzustellen sowie das Justiz- und das Innenministerium von alten Regimeanhängern zu säubern. Unterwegs Hanns-Seidel-Stiftung_ Politischer Sonderbericht_Ägypten_16.08.2011 2
schlossen sich weitere Menschen dem Protestmarsch an, so dass sich geschätzte 15.000 Personen daran beteiligten. Das Militär hatte sich jedoch auf den Marsch vorbereitet und das Gebäude mit Stacheldraht umzäunt. In Abbasseya wurden die Demonstranten von Steine, Glasflaschen und Molotowcocktails werfenden Menschen empfangen. Es wird berichtet, dass das Militär die Bewohner Abbasseyas gegen die Demonstranten aufgewiegelt habe und sie als „Baltageya“ bezeichnet habe. Immer wieder wird das Wort „Baltageya“ (auf English „thugs“, im Deutschen „Schläger“ oder „Banditen“) im Zusammenhang mit Demonstrationen verwendet, sowohl vom Militär als auch von den Medien. Im Zusammenhang mit den Protesten in Ägypten sind damit Leute gemeint, die nicht aus Überzeugung demonstrieren, sondern um die Menge aufzumischen, oft mit der Implikation, dass sie dafür angeheuert wurden. Es ist schwierig einzuschätzen, warum und von wem der Protestmarsch angegriffen wurde. Aus Augenzeugenberichten und Videos kann jedoch entnommen werden, dass die anwesenden Soldaten wenig unternahmen, um die Demonstranten zu schützen. Laut des Gesundheitsministeriums wurden bei den Ausschreitungen 309 Menschen verletzt. In der Woche darauf forderte Premierminister Essam Sharaf seine Minister auf, alle Ministerien von ehemaligen NDP-Mitgliedern (Nationaldemokratische Partei) zu säubern. Außerdem wird an einem Gesetzesentwurf gearbeitet, nach dem Korruptionsfälle und Wahlbetrug geahndet werden sollen. Dennoch riefen die Revolutionäre zu einer weiteren Freitagsdemonstration auf, um die Erfüllung der noch ausstehenden Forderungen zu beschleunigen. „Freitag der Einheit“ Nach anfänglicher Uneinigkeit über die Forderungen und Ziele des Protests am 29.7. haben sich mehrere Gruppen und Parteien verschiedener Richtungen auf gemeinsame Forderungen geeinigt, darunter die Beendigung der Militärgerichte für Zivilisten, Beschleunigung der gerichtlichen Verfolgung derer, die an der Tötung von Demonstranten während der Revolution beteiligt waren und die Implementierung von Mindest-und Höchstlöhnen. Außerdem haben 39 Revolutionsgruppen eine Erklärung abgegeben, dass die Demonstration unter dem Motto der Einigkeit stattfinden wird. Es Hanns-Seidel-Stiftung_ Politischer Sonderbericht_Ägypten_16.08.2011 3
sollten keine religiösen Parolen oder Plakate benutzt werden, um sich auf die gemeinsamen Forderungen zu konzentrieren und ideologische Unterschiede zwischen den verschiedenen Teilnehmern außer Acht zu lassen. Tatsächlich jedoch begann der „Freitag der Einheit“ schon mit getrennten Freitagsgebeten. Während Mitglieder der „Gamaa Islamiya“ und anderer muslimischer Gruppen ihr Gebet in der Al-Qaed Ibrahim Moschee hielten, beteten die restlichen Teilnehmer auf dem Saad Zaghloul-Platz. Auch die folgende Demonstration zeugte von wenig Einigkeit. Tausende Islamisten wurden mit Bussen zum Tahrir Platz und anderen öffentlichen Plätzen gebracht, wo sie die Implementierung der Sharia forderten und lautstark betonten, dass Ägypten ein islamischer Staat sei. Banner mit religiösen Mottos wurden aufgehängt, auf denen beispielsweise „Warum habt ihr Angst vor dem islamischen Gesetz?“ oder „Erhaltung der Identität- Ägypten ist islamisch“ zu lesen war. Immer wieder ertönte ein lautes „Allahu Akbar“ (Gott ist groß). Neben der auch bei anderen Demonstrationen am Tahrir Platz bisher gesehenen ägyptischen und palästinensischen Flagge, wurde an diesem Tag vermehrt die saudiarabische Flagge geschwenkt. Anhänger liberaler Parteien und Gruppierungen waren enttäuscht und fühlten sich von den Islamisten betrogen. Aus Protest haben am Nachmittag 34 revolutionäre Gruppen und Koalitionen den Platz verlassen und ihre Entscheidung in einer gemeinsamen Presseerklärung verkündet. Von vielen wurde der Auftritt der religiösen Gruppen als Machtdemonstration gewertet, der die politischen Aktivisten weiter auseinander getrieben hat als sie zu vereinigen. Vorläufiges Abflauen der Sitzstreiks im Ramadan 26 Protestgruppen, darunter die „6. April“-Bewegung verkündeten am 31.7., dass sie ihren Sitzstreik im Ramadan aufheben werden, um den Verkehr wieder zum Fließen zu bringen und der Regierung Zeit zu geben, neue Pläne umzusetzen. Außerdem betonten sie, dass einige der Forderungen während des Sitzstreikes erfüllt wurden. So wurde das Kabinett erneut umgebildet und einige Polizisten, die in die Tötung von Hanns-Seidel-Stiftung_ Politischer Sonderbericht_Ägypten_16.08.2011 4
Demonstranten während der Revolution verwickelt waren, wurden suspendiert. Zudem wurden vom Vorsitzenden des Militärrats, Muhammad Tantawi die Schadensersatzzahlungen an die Hinterbliebenen der während der Revolution gestorbenen Märtyrer von 5000 EGP auf 30.000 EGP erhöht, und der erste Prozesstag gegen Ex-Präsident Mubarak auf den 3.8. festgesetzt. Andere Protestgruppen kündigten dagegen an, auch während des Ramadan weiterhin auf dem Tahrir Platz zu bleiben. Am ersten Tag des Ramadan stürmten dann Armee und Sicherheitskräfte gemeinsam den Platz und vertrieben gewaltsam die verbleibenden Demonstranten. Es wurde in die Luft geschossen, Zelte wurden abgerissen und es kam zu heftigen Auseinander- setzungen zwischen den Aktivisten und den Soldaten. 113 Aktivisten wurden verhaftet. Einige der anwesenden Zuschauer, darunter Händler aus der Gegend um den Platz, jubelten dem Militär zu. Für sie war es an der Zeit, dass die Anwohner des Platzes wieder ihr normales Leben zurück erhalten und die Geschäfte wieder laufen. Auch die „Gamaa Islamiya“ ließ durch einen Sprecher verkünden, dass sie die Räumung des Platzes als notwendige Errungenschaft des Militärs ansieht. Andere waren schockiert über das gewaltsame Vorgehen und zogen Vergleiche zum Vorgehen gegen Demonstranten während der Mubarak-Ära. Eine ägyptische Menschenrechts- organisation appellierte an die Regierung und das Militär, die verhafteten Demonstranten wieder frei zu lassen, was zwei Tage später geschah. In der ägyptischen Presse wird eher zurückhaltend über die Ereignisse berichtet. Videos im Internet verdeutlichen jedoch, wie gewaltsam das Militär vorging. Seit der Räumung wird der Platz von Bereitschaftspolizei und Armee beschützt. Ein gemeinsames Fastenbrechen auf dem Tahrir Platz wurde bisher verhindert. Demonstrationen vor der israelischen Botschaft Der Tod von 5 ägyptischen Grenzpolizisten, welche vom israelischen Militär bei der Verfolgung von Terroristen an der Grenze zum Sinai ,nahe dem Badeort Eilat, erschossen wurden, hat zu der schwersten Krise zwischen Israel und Ägypten seit der Unterzeichnung des Friedensvertrages von 1979 geführt. Jeden Tag demonstrieren Tausende Ägypter vor der israelischen Botschaft in Kairo und fordern den Abbruch der diplomatischen Beziehung und die Aufkündigung des Friedensvertrages. Hanns-Seidel-Stiftung_ Politischer Sonderbericht_Ägypten_16.08.2011 5
Ein junger Demonstrant kletterte die Fassade des Hochhauses hoch, in welchem die israelische Botschaft im 12. Stock untergebracht ist, und ersetzte die israelische Fahne mit der ägyptischen. Er wird nun als „ägyptischer Spiderman“ von den Massen gefeiert. Die Entschuldigung des israelischen Verteidigungsminister Ehud Barak : „Israel bedauert den Tod der ägyptischen Polizisten während des Terrorangriffs gegen Israel“ wird von ägyptischer Seite als nicht ausreichend bezeichnet und man verlangt eine offizielle Entschuldigung der israelischen Regierung. Dass der Terroranschlag gegen Israel vom Sinai aus geplant und durchgeführt wurde war seit Monaten abzusehen. Seit Beginn der Revolution im Januar 2011 gab es bisher fünf Anschläge auf die Erdgas Pipeline von Ägypten nach Israel. Der Sinai gilt seit langem als Rückzugsgebiet von Terroristen und die dort angesiedelten Beduinenstämme, unter der Regierung von Mubarak stets verfolgt und für Terroranschläge pauschal verantwortlich gemacht, leben teilweise vom Schmuggel nach Israel und Gaza. Wie ernst Israel die vom Sinai ausgehende Gefahr sieht zeigt die jüngste Entscheidung der Regierung, dass Ägypten zusätzliche Truppen (mehrere tausend Soldaten mit Hubschraubern und kleinen Panzern) auf den Sinai verlegen kann. Man erhofft sich so an Israels Südgrenze einen besseren Schutz vor Terroristen. Ausblick Es bleibt abzuwarten, was nach dem Ramadan und Eid el Fidr (Fest des Fastenbrechens) passieren wird. Der Militärrat scheint alles daran zu setzen, den Tahrir-Platz protestfrei zu halten, und der überwiegende Teil der Bevölkerung scheint während des Ramadan etwas protestmüde geworden zu sein. Mit Blick auf die anstehenden Parlamentswahlen im November werden sich vielleicht zumindest die registrierten Parteien auf den Wahlkampf konzentrieren, anstatt auf den Tahrir Platz zurückzukehren. Sollte der Militärrat jedoch die Forderungen der Protestbewegung nicht in großen Teilen erfüllen, dann ist mit einem heißen Herbst zu rechnen. Hanns-Seidel-Stiftung_ Politischer Sonderbericht_Ägypten_16.08.2011 6
Bianca Nosek Die Autorin ist Ortskraft der Hanns-Seidel-Stiftung in Kairo, Ägypten Der Beitrag wurde in Absprache mit Wolfgang Mayer, AM Kairo, gefertigt. IMPRESSUM Erstellt: 16.08.2011 Herausgeber: Hanns-Seidel-Stiftung e.V., Copyright 2011 Lazarettstr. 33, 80636 München Vorsitzender: Dr. h.c. mult. Hans Zehetmair, Staatsminister a.D., Senator E.h. Hauptgeschäftsführer: Dr. Peter Witterauf Verantwortlich: Christian J. Hegemer, Leiter des Instituts für Internationale Zusammenarbeit Tel. +49 (0)89 1258-0 | Fax -359 E-Mail: iiz@hss.de, www.hss.de sa Hanns-Seidel-Stiftung_ Politischer Sonderbericht_Ägypten_16.08.2011 7
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