Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
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Foto: Patrick Assale – unsplash.com Psychology of Pandemics »The psychological ›footprint‹ will be larger than the medical ›footprint‹« In seinem Buch »The Psychology of Pandemics« (2019) analysiert der klinische Psychologe Dr. Steven Taylor, Professor an der University of British Columbia in Vancouver (Kanada), den Verlauf vergangener Infektionskrisen (z. B. SARS, Influenza oder der sogenannten »Schweinegrippe«) und trägt Erkenntnisse der Psychologie zum Umgang mit Pandemien und pandemiebezogenen Stressoren zusammen. »Wenn die COVID-19-Pandemie für Sie unwirklich er- bar vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie veröffent- scheint, für mich war sie doppelt surreal«, schreibt der lichen konnte. Denn so erhalten Psychologinnen und Psychologe Steven Taylor in einem Artikel für die briti- Psychologen, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbei- sche Zeitung »The Independent« im März 2020. »Fast ter des Gesundheitswesens, Politikerinnen und Politiker zwei Jahre lang hatte ich an einem Buch mit dem Ti- sowie die Allgemeinbevölkerung die Möglichkeit, sich tel ›The Psychology of Pandemics‹ gearbeitet, das im die aktuell erlebbaren Auswirkungen der globalen Krise Dezember 2019 veröffentlicht wurde. Einige Wochen mittels psychologischer Expertise begreifbar zu machen. nach der Veröffentlichung trat COVID-19 auf, und die Ausbreitung erreichte pandemische Ausmaße.« Da fast Individuelle emotionale Reaktionen alles, was Taylor im letzten Kapitel über eine mögliche Einen erheblichen Teil des Werkes widmet Taylor den »nächste Pandemie« schreibt, wenig später so einge- emotionalen Reaktionen, die in Zeiten einer Pandemie troffen ist, mag das Buch bei manchen Leserinnen und zu erwarten seien und die von Gleichgültigkeit oder Lesern einen fast prophetischen Eindruck hinterlassen. Leugnung über Distress und Angst bis hin zu Fatalis- Taylor selbst kommentiert das allerdings nur mit: »Ob mus reichen können. Der Großteil der Betroffenen zeige das Buch prophetisch ist, wie manche behaupten? Nicht dabei moderate Level von Angst, die in aller Regel zu wirklich – es basiert auf Forschung.« Und er erklärt: adaptivem Coping führten. Das Andauern von Unsi- »Auch in früheren Pandemien gab es Rassismus, Panik- cherheit, Veränderung oder Verlust durch die Krise reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 käufe, den Ansturm der ›besorgten Gesunden‹ auf die könne jedoch insbesondere bei Personen mit wenig Krankenhäuser und Menschen, die unter Selbstisolation Stressresilienz oder psychischen Vorerkrankungen zu und anderen Formen sozialer Distanzierung litten.« ernsten Angststörungen und sogar einer posttrauma- tischen Belastungsstörung führen. Neben bestimmten Wertvoller Zufall Persönlichkeitseigenschaften, wie Neurotizismus und Tatsächlich kann man es als einen besonders wertvollen dessen Subdimensionen Eigenschaftsangst, Schadens- Zufall ansehen, dass Steven Taylor sein Buch unmittel- vermeidung oder Intoleranz von Unsicherheit, würden 4
r e p o r t fokus auch kognitive Informationsverarbeitungsstile bezüg- gen Aufmerksamkeitsgenerierung geeignet sein könne lich Gesundheitsrisiken und unrealistischer Optimismus –, noch dürfe es möglich sein, psychologische Distanz die Vulnerabilität gegenüber emotionalem Stress be- zum Geschehen zu entwickeln, wenn beispielsweise einflussen. durch übermäßige Berichterstattung eine Form von »Abstumpfung« einsetze. Verschwörungserzählungen in Pandemie-Zeiten Foto: Christine Pietron Neben einer individuenzentrierten Aufarbeitung der Nicht nur bezüglich eines angemessenen Kommunika- psychologischen Folgen einer Pandemie legt Taylor tionskonzeptes und der Adhärenz gegenüber Hygiene- einen weiteren Fokus auf deren kollektive Auswirkun- und Verhaltensmaßnahmen, sondern auch zum Umgang gen, was aktuell insbesondere für politische Entschei- mit impfkritischen Personen gebe es aktuell keine ab- dungsträgerinnen und -träger relevant sein dürfte. Wie schließende Lösung, wie Taylor in seinem Buch aus- im Rahmen der Corona-Krise nun verstärkt beobachtet führt. Zwar könne man deren Reaktanz auf individueller Steven Taylors »The psychology of pande- werden kann, ist das Auftreten von Verschwörungs- Ebene mit verlustbezogenen Ansprachen adressieren, mics« erschien Ende erzählungen in Zeiten großer Unsicherheit kein selte- evidenzbasierte Interventionen für einen größeren Rah- Juni 2020 unter dem nes Phänomen. Häufig würden diese alternativen Er- men fehlten aber bislang. Titel »Die Pandemie als klärungsversuche auf epistemischen, existenziellen und psychologische Heraus- sozialen Motiven basieren und würden durch Faktoren Psychologische Expertise nutzen forderung. Ansätze für ein psychosoziales Kri- wie eine generelle Skepsis, Narzissmus, übermäßige Auch für die Verarbeitung pandemiebezogenen Stres- senmanagement« auch Sorgen über die eigene Gesundheit, mangelnde Me- ses – u. a. für spezielle Zielgruppen wie Mitarbeiterin- in deutscher Sprache dienkompetenz und Ablehnung wissenschaftlicher Er- nen und Mitarbeiter des Gesundheitswesens – gebe es (Psychosozial-Verlag). kenntnisse verstärkt. Ebenso wie Gerüchte erhielten noch nicht ausreichend therapeutische Programme. Eine Verschwörungserzählungen durch Falschinformationen Möglichkeit sei es, bereits bestehende gemeinschafts- in den sozialen Medien und eine »katastrophisierende« weite Interventionen auf ihre Effektivität gegenüber Medienberichterstattung Aufwind. Insbesondere für pandemiebezogenen Belastungen zu evaluieren, weitere letzteres spielten Prinzipien des Modelllernens bis hin Forschung sei aber unbedingt notwendig. zur Angstübertragung eine Rolle. Psychologische Expertise werde außerdem benötigt, Verschwörungserzählungen zu entkräften, könne nahezu um Methoden zu entwickeln, mittels derer infektions- unmöglich sein, da Gegenargumente sich optimal in die bezogene Fremdenfeindlichkeit und andere Formen von konspirative Theorie einfügen würden. Taylor weist in Diskriminierung reduziert werden könnten – ein Aspekt, Rekurs auf bestehende Studienergebnisse daher darauf dessen Dringlichkeit auch durch die Corona-Krise er- hin, dass die Bevölkerung mit Informationen versorgt neut sehr deutlich wird. werden müsse, die den Verschwörungsglauben entkräf- ten, noch bevor sich dieser ausbilden könne. Zusätz- Nach der Pandemie ist vor der Pandemie lich könne die Förderung kritisch-analytischen Denkens »Je mehr ich über Pandemien las, desto mehr wurde mir Menschen dazu befähigen, zwischen falschen Theorien klar, dass sie im Wesentlichen psychologische Phäno- und faktischen Informationen zu differenzieren. mene sind. Bei Pandemien geht es nicht nur um Viren, die Menschen infizieren. Pandemien werden durch das Faktoren gelungener Risikokommunikation Verhalten der Menschen verursacht oder eingedämmt«, Eine gelungene Risikokommunikation sei daher eine der so Steven Taylor im »Independent«. Da also insbeson- wichtigsten Maßnahmen, um die Allgemeinbevölkerung dere die Psychologie wichtig sei, um zu verstehen, wie zur Einhaltung der notwendigen Verhaltensregeln zu Menschen auf die Gefahren einer Pandemie reagieren motivieren. Mithilfe der richtigen Informationen solle und mit diesen umgehen, liege es nicht ausschließlich, sie zu angemessenem und eigenverantwortlichem Ge- aber auch in der Verantwortung von Psychologinnen Literatur: sundheits- und Sicherheitsverhalten befähigt werden. und Psychologen, aus der momentanen Krisensitua- RNZ (2020). Steven Taylor: The psychology of pandemics. Radio Im Falle einer Pandemie seien dies nicht nur Fakten zum tion zu lernen und ihre Expertise vor allem langfristig New Zealand (21.02.2020). Verfüg- bar unter (am 09.06.2020): www. Virus und zu Infektionsrisiken, sondern insbesondere auf breiter gesellschaftlicher Ebene einzubringen. »Die rnz.co.nz/national/programmes/ auch Wissen zu Coping-Strategien, zum Umgang mit aktuelle Pandemie bietet die Gelegenheit, sich auf die saturday/audio/2018739528/ steven-taylor-the-psychology-of- Stigmata und zur Förderung von Resilienz sowie psy- nächste vorzubereiten«, meint Taylor in einem Interview pandemics Shultz, J. M., Espinel, Z., Flynn, choedukative Materialien zu Angst, Trauer, Depression, mit Radio New Zealand und mahnt, weniger »kurz- B. W., Hoffmann, Y. & Cohen, R. Frustration usw. sichtig« zu sein. »Denn nach dieser Pandemie wird es E. (2008). DEEP PREP: All-hazards disaster behavioral health training. weitere geben, das ist unvermeidlich.« Miami, FL: DEEP Center. Taylor, S. (2019). The psychology Mit Blick auf Erfahrungswerte aus vergangenen Pan- of pandemics. Preparing for the demien weist Taylor darauf hin, dass neben logischen Die Auswirkungen der Corona-Krise lassen sich mit- next global outbreak of infectious reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 disease. Newcastle: Cambridge immer auch emotionale Aspekte in der Kommunikation hilfe von Taylors Buch und anhand des Verlaufs und Scholars Publishing. Taylor, S. (2020). I’ve spent years bedient werden müssten. Gelungene Risikokommuni- der Folgen früherer Pandemien zwar erahnen, wie der studying the psychology of pan- kation müsse also dafür sorgen, dass das tatsächliche langfristige »Fußabdruck« des Corona-Virus tatsächlich demics. This is what you need to know about COVID-19. The Gesundheitsrisiko in der Bevölkerung als solches wahr- aussieht, wird sich aber noch zeigen. Independent (17.03.2020). Ver- fügbar unter (am 09.06.2020): genommen und als glaubwürdig empfunden werde. www.independent.co.uk/voices/ Dabei solle jedoch weder großflächig Angst induziert Christin Schörk coronavirus-covid-19-pande- mic-psychology-research-predic- werden – auch wenn dies als Strategie zur kurzfristi- Referentin für Berufspolitik tions-a9406876.html 5
Foto: Markus Spiske – unsplash.com »Präventionsmaßnahmen werden nicht selten Opfer ihres Erfolgs« Der Psychologe Philipp Schmid ist an der Auswertung »COVID-19 Snapshot Monitorings« beteiligt. Im Interview spricht er über erste Ergebnisse, aber auch sein anderes weiteres Forschungsgebiet: Impfskepsis, Wissenschaftsleugnung und Verschwörungstheorien. Was ist das Ziel des »COVID-19 Snapshot sind es nun einmal nicht gewohnt, beim Einkaufen eine Monitorings« (COSMO)? Maske zu tragen oder auf Abstand zu gehen. Unser Ziel ist es, wiederholt Einblick zu erhalten, wie die Bevölkerung die Corona-Pandemie wahrnimmt und wie Was ist zu tun, um Menschen diesbezüglich zu sich die psychologische Lage entwickelt. Das soll u. a. helfen? dabei helfen, Kommunikationsstrategien zu entwickeln Denkbar wäre der Ansatz des Nudgings, indem wir also und Falschinformationen und Aktionismus vorzubeu- die Entscheidungsumgebung einer Person so verändern, gen. Dafür haben wir in einer seriellen Querschnittstu- dass sie tun kann, was sie eigentlich auch tun will. Ich die seit Anfang März jede Woche bis zu 1.000 Personen hatte z. B. am Anfang Probleme damit, beim Einkaufen befragt: zu Themen wie Risikowahrnehmung, Wissen, zwei Meter Abstand zu halten, allein vom Schätzen her: aber auch Sorgen und Emotionen. Wie viel sind denn zwei Meter? Oder ich wollte nur schnell an das Regal, vor dem jemand anderes gerade Was sind die bisher zentralen Ergebnisse? nicht fertig wurde … In solchen Fällen hilft das Auf- In dieser Pandemie-Situation wird noch einmal deut- zeichnen von Abständen auf dem Boden des Marktes. lich, dass Information alleine nicht ausreicht: Obwohl Das ist ein einfacher visueller Reiz, der hilft, sich an die die meisten Menschen in Deutschland offenbar gut Regel zu erinnern und sie korrekt umzusetzen. Ebenso über das Corona-Virus informiert sind und auch dar- kann man mit Informationen nudgen, etwa durch das über, wie man sich im Alltag schützen kann, führt das Kommunizieren der sozialen Norm. Unsere neueste nicht zwangsläufig dazu, dass sie das korrekte Verhalten Umfrage hat z. B. gezeigt, dass 82 Prozent der Befragten zeigen. So wissen z. B. 89 Prozent der Menschen, dass im Alltag eine Maske tragen. Eine solche normative sie bei Krankheitssymptomen in Quarantäne bleiben Information kann als eine Art einfache Heuristik die Ent- sollten, aber nur 63 Prozent tun das tatsächlich. Das scheidungsfindung erleichtern. Sie vermittelt einen ge- hat zum einen mit Prioritäten zu tun, die wir auch bei wissen sozialen Druck, und sie erleichtert das Abwägen: banalen Alltagshandlungen setzen: Wenn wir z. B. ein- Wenn das so viele machen, scheint es ja sinnvoll zu sein! kaufen gehen, denken wir zuerst an unseren Einkaufs- Zudem kann das Wissen um so eine Norm unterstüt- reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 zettel, an das Müsli, das wir auf keinen Fall vergessen zend wirken: Wenn mir z. B. in einen Laden zwei Leute dürfen, und vielleicht den Pfandbon in unserer Tasche. ohne Maske entgegenkommen, möchte ich nicht der Das Tragen einer Maske rückt – obwohl wir wissen, dass Außenseiter sein, der eine trägt. Wenn ich aber weiß, es wichtig ist – dadurch in den Hintergrund, was dazu dass sich eigentlich die Mehrheit an die Regel hält, dass führen kann, dass wir es unter Umständen vergessen. also diese beiden die Ausnahme sind, gehe ich selbst- Zum anderen ist es generell schwierig, Gewohnheiten bewusster mit meiner Maske durch den Laden – und zu durchbrechen und neues Verhalten zu etablieren. Wir setze damit auch wieder ein Zeichen. 6
r e p o r t fokus Gab es Ergebnisse, die Sie beunruhigt haben? gewettert und setzt dieses Verhalten im Leugnen des Im Gegenteil: Es hat mich beruhigt, dass die meisten Klimawandels fort. Auch finanzielle Interessen spielen Befragten den Eindruck haben, dass die Menschen in eine Rolle, denn mit den Sorgen der Menschen lässt ihrem Umfeld zusammenhalten. Obwohl wir uns also zu- sich Geld verdienen, etwa durch Buchverkäufe, Kurse, nehmend abgekapselt haben, ist das Gemeinschaftsge- Coachings usw. Zudem gibt es psychologische Motive, fühl erhalten geblieben. Korrekterweise sollten wir also die diese Gruppen verbinden: Z. B. hängt der Glaube von »physical distancing« sprechen, nicht von »social an Verschwörungstheorien mit gesteigerten Narziss- distancing«. Des Weiteren wird in unseren Befragungen muswerten zusammen. Das drückt sich darin aus, dass die Aussage, dass Menschen nichts tun können, um die diese Personen immer diejenigen sein wollen, die mehr Lage positiv zu beeinflussen, eher abgelehnt. Das heißt, wissen als die anderen, die hinter den Vorhang schauen die Befragten empfinden weiterhin Selbstwirksamkeit und die größeren Zusammenhänge sehen. und haben das Gefühl, mit den Maßnahmen etwas zu bewirken. Ich denke, da können wir viel über globale Ich kann mir vorstellen, dass es extrem viel Probleme allgemein lernen: Auch die Maßnahmen gegen Gegenwind bedeutet, einer randständigen, den Klimawandel hängen ja davon ab, dass die Men- vielleicht irrationalen Theorie anzuhängen. schen überzeugt sind, mit ihrem Verhalten etwas ändern Das kommt darauf an. Meistens schaffen sich diese zu können und als globale Community zu agieren. In Personen in einem Bereich – offline oder online – eine dieser Pandemie sehen wir, dass das möglich ist: In der gewisse Echokammer, in der sie gehört und bestätigt Gemeinschaft können wir auch große Probleme lösen. werden. Das ist eine ständige Inzucht der eigenen Über- zeugungen. Es ist aber auch so, dass Nonkonformität Nun sind die derzeitigen Gefahren und Ängste zum Selbstbild gehört. Das kennt ja eigentlich jeder: viel näher an uns dran, als es etwa bei den diesen einen Onkel, der immer gegen alles ist und alles Auswirkungen des Klimawandels der Fall ist. besser weiß. Da gebe ich Ihnen recht: Die Konkretheit des Ereignis- ses ist sehr entscheidend, und die globale Erwärmung Davon hab ich mehrere. ist individuell nicht wirklich spürbar für die Menschen Ich auch (lacht). – außer dass der Sommer immer schöner wird. Leider ist es auch so, dass Präventionsmaßnahmen nicht Nun ist ja nicht alles, was dieser Onkel sagt, gleich selten Opfer ihres Erfolgs werden. Wenn sie sehr gut eine Verschwörungstheorie. Wie würden Sie diesen funktionieren – so wie die Corona-Maßnahmen bei uns Begriff definieren? –, sieht man die Gefahr, das mögliche Leid ja nicht, und Laut Karen Douglas sind Verschwörungstheorien Ver- es scheint keinen Grund mehr zu geben, die Maßnah- suche, die Ursachen bedeutender sozialer und politi- men aufrechtzuerhalten. Das ist ein Problem, das wir scher Ereignisse und Umstände mit Behauptungen über aus dem Bereich der Impfskepsis kennen. geheime Handlungen von zwei oder mehr mächtigen Akteuren zu erklären. Sie werden oft mit Regierungen Sie forschen an der Universität Erfurt zu assoziiert, können aber jede Gruppe beschuldigen, die Impfskepsis. Welchen Zusammenhang als mächtig oder bösartig wahrgenommen wird. Für sehen Sie zwischen Impfablehnung und den eine Verschwörungstheorie braucht es also ein paar Re- Verschwörungstheorien, die sich derzeit rund zeptanteile: Es müssen zwei oder mehr Leute involviert um die Verbreitung des Corona-Virus ranken? sein, es geht um ein soziales oder politisches Großereig- Anscheinend gibt es Überschneidungen zwischen nis und um mächtige Akteure. Nicht gesagt ist, ob die den jeweiligen Personengruppen. Theorien wahr oder falsch sind. Auch wenn sie in der Wir sehen da viele Ähnlichkeiten, egal, ob es um Ver- Regel sehr unwahrscheinlich sind, werden wir es zum schwörungstheorien, Impfskepsis oder das Leugnen des Teil nie mit letzter Sicherheit wissen. Klimawandels oder der Evolution geht – nicht unbe- dingt bei den Menschen, aber bezüglich der Rhetorik Oft gibt es aber doch Evidenz, die gegen die und in den verfolgten Zielen. Eine britische Studie von Theorie spricht. Karen Douglas et al. (2012) zeigt, dass Personen, die Menschen, die einer Verschwörungstheorie anhängen, denken, dass Lady Diana noch lebt, auch eher glauben, argumentieren auf so etwas meist mit einer Art infi- dass sie ermordet wurde. nitem Regress im Sinne von: Die Evidenz, die du vor- bringst, ist Teil der Verschwörung. Sie verletzen mit Wie bitte? ihrer Konstruktion Prinzipien, die wissenschaftlichem Das klingt paradox, ergibt aber Sinn, wenn man sich Arbeiten zugrunde liegen, oder auch einfache Regeln überlegt, was dahintersteht: das übergeordnete Ziel, der Wahrscheinlichkeit, wie etwa »Hanlon's Razor«: reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 gegen die etablierte Meinung zu sein, gegen die offi- »Never attribute to malice that which can be adequately zielle Version. Und warum? Da gibt es unterschiedliche explained by stupidity.« Motive. Bestimmte politische Strömungen versuchen, etablierte Säulen der Gesellschaft und damit das Ver- »Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch trauen zu erschüttern und sich damit einen politischen Dummheit hinreichend erklärbar ist.« Vorteil zu schaffen. Nicht zuletzt hat US-Präsident Natürlich ist es vorstellbar, dass die Corona-Pandemie Trump während seines Wahlkampfes gegen das Impfen noch nicht unter Kontrolle ist, weil die Regierungen 7
die Menschen krank machen wollen, um etwa einen Debatten, für die man ein gutes Training braucht und Impfstoff vertreiben zu können. Das wäre die »Boshaf- sehr fit sein muss. tigkeits-Erklärung«. Es könnte aber auch sein, dass die Regierungen nicht effizient genug (zusammen)arbeiten. Zumal die andere Seite sehr geübt ist … Das ist die »Dummheits-Erklärung«. Wenn wir mal ehr- Ja, denn wie Sie schon gesagt haben: Diese Menschen Foto: Theresa Köhler lich sind, ist – insbesondere bei der derzeitigen amerika- haben oft Gegenwind und sind entsprechend trainiert, nischen Regierung unter Trump – die Annahme von In- mit ihm umzugehen. Sie sind meist rhetorisch bewan- effizienz wesentlich naheliegender als ein ausgeklügelter dert, können schnell ausweichen und wissen, wie sie Plan, der Tausende von Menschen involvieren würde. im Gespräch das Ruder an sich reißen. Glücklicherweise Das zweite Prinzip, das oft verletzt wird, ist der so- gibt es auf der Seite der Vernunftorientierten sehr kom- Philipp Schmid ist wissenschaftlicher Mitar- genannte »burden of proof«, die Beweislast für die Ar- petente Menschen, die unseren Ansatz erstaunlich beiter an der Professur für gumentierende bzw. den Argumentierenden. Im Engli- schnell erfolgreich anwenden. Sozial-, Organisations- und schen sagt man: »Extraordinary claims require extraor- Wirtschaftspsychologie der Universität Erfurt. dinary evidence.« Wenn ich also eine absurde Theorie Inwiefern ist es kontraproduktiv, wenn die Medien aufstelle, muss ich auch absurd gute Evidenz dafür über Verschwörungstheorien oder auch die E philipp.schmid@uni-erfurt.de vorbringen, ansonsten bleibt es eine ziemlich unhalt- Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen bare Aussage. Aber das tun die wenigstens Menschen, berichten? Denn eigentlich betrifft das ja nur eine die einer Verschwörungstheorie anhängen. Das geht so kleine Gruppe von Menschen. weit, dass sie die Abwesenheit von Evidenz als Beweis Ich hatte, wenn ich die Berichterstattung sah, in den ansehen, im Sinne von: Diese Verschwörung ist so gut, vergangenen Wochen manchmal den Eindruck, dass die dass keine Evidenz ans Tageslicht kommt. Hälfte der Bevölkerung völlig wahnsinnig ist. Das wird aber durch Daten nicht gestützt: Der Glaube an Ver- Wie ist dem beizukommen? schwörungstheorien ist weiterhin relativ stabil niedrig. Unterscheiden muss man auf jeden Fall zwischen Hardli- »Wissenschaft im Dialog« hat zudem in einer Umfrage nern und Menschen, die schlichtweg verunsichert, aber gezeigt, dass das Vertrauen in die Wissenschaft über die in einem direkten Gespräch durchaus zugänglich sind. Pandemie-Zeit sogar gestiegen ist. Das heißt, der Groß- Ich würde behaupten, dass jeder Mensch – tagesform- teil der Menschen vertraut auf die Wissenschaft und abhängig – mal die eine oder andere Verschwörungsthe- agiert rational. Aber es ist natürlich Fokus der Medien, orie glaubt. Das ist nichts Pathologisches, sondern sehr immer neue Dinge zu berichten, und Verschwörungs- normal. In der Regel relativiert sich das, wenn man noch theorien und die Menschen, die daran glauben, sind nun einmal darüber nachdenkt oder gegenteilige Evidenz mal interessant. Ich sehe da die Gefahr der »false ba- hört. Aber es gibt eben auch Extremisten, die solche lance«, der medialen Verzerrung, bei der dieser Minder- Theorien nicht nur entwickeln, sondern auch versu- heitsmeinung zu viel Gewicht gegeben wird. Und meine chen, sie zu verbreiten und in den Medien zu platzieren. Befürchtung ist, dass durch diese falsche Gewichtung Unsere Forschung zeigt, dass es nicht reicht, so etwas komische soziale Normen kommuniziert werden – als sei einfach zu ignorieren, man muss dagegenhalten, sonst es etabliert, diesen Unsinn zu glauben. Für Menschen, können die Theorien ihren schädlichen Einfluss weiter die sehr verunsichert sind, kann das gefährlich sein. entfalten, etwa auf die Impfbereitschaft der Menschen. 2Wie macht man das sinnvollerweise? Sehen Sie dabei auch eine bleibende Gefahr für Es gibt im Prinzip zwei Wege. Der eine ist: korrekte die Gesundheit in der Gesellschaft, etwa weil sich Fakten kommunizieren. Das funktioniert unseren Stu- impfskeptische Menschen noch mehr durchsetzen? dien zufolge gut. Der zweite Weg besteht darin, die Es gibt Studien, die belegen, dass Verschwörungstheo- rhetorischen Techniken zu hinterfragen. Wissenschafts- rien risikoreiches Verhalten in Bezug auf Aids erhöhen. leugnende nutzen in der Regel fünf Techniken: Erstens Die Impfbereitschaft sinkt, die Skepsis gegenüber Er- werden falsche Expertinnen und Experten zitiert, also kenntnissen zum Klimawandel erhöht sich, politisches Personen, die zwar einen Doktortitel haben, aber auf ei- Engagement sinkt, prosoziales Verhalten nimmt ab … nem ganz anderen Gebiet. Zweitens gibt es unmögliche Also ja, man kann Verschwörungstheorien als eine große Erwartungen, etwa dass eine Impfung zu 100 Prozent Gefahr sehen. Dennoch glaube ich, dass diese Gefahr sicher sein muss – obwohl ja kein medizinisches Produkt nicht von der breiten Bevölkerung ausgeht, sondern hundertprozentig sicher ist. Zudem gibt es drittens eine von einflussreichen Einzelpersonen wie etwa Donald gewisse Selektivität, indem z. B. einzelne Studien aus Trump, der den öffentlichen Dialog mit seinen Theo- Metaanalysen herausgezogen werden. Viertens werden rien vergiftet. Und diese Pandemie – das sogenannte logische Fehler gemacht. Und fünftens werden Ver- »postfaktische Zeitalter« – hat schon vor COVID-19 be- schwörungstheorien zur Erklärung herangezogen. Das gonnen. Um dem entgegenzutreten, brauchen wir die reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 Gute an der Demaskierung dieser rhetorischen Tech- Zusammenarbeit von allen Freunden der Weisheit, egal, niken ist, dass sie über alle möglichen Inhaltsbereiche ob aus Psychologie, Medizin oder Pädagogik. Und diese hinweg funktioniert: Impfen, Klimawandel, Evolution, Herausforderung kann nur gemeistert werden, wenn wir Pandemie ... Wenn man das einmal draufhat, kann man als Disziplin neben der Wissenschaft auch die Wissen- schnell identifizieren, was an einem vorgebrachten schaftskommunikation wahrnehmen und stärken. Argument komisch war und was die richtige Antwort wäre. Schriftlich ist das natürlich einfacher als in Live- Das Gespräch führte Susanne Koch. 8
r e p o r t fokus Psychologie-Organisationen bieten der Politik Unterstützung bei der weiteren Bewältigung der COVID-19-Krise an Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), die Deutsche Gesellschaft für Psy- chologie (DGPs), die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und das Leibniz-Zentrum für Psychologische Information und Dokumentation (ZPID) äußern sich in einem Statement-Papier zu Herausforderungen, Zielen und Maßnahmen im Umgang mit der Pandemie und bieten der Politik ihre Unterstützung an. Nach der erfolgreichen Eindämmung der Ausbreitung des Virus ist derzeit eine Aufmerksamkeitsverschiebung zu den wirtschaftlichen und sozialen Sorgen zu beob- achten. Dabei kann ein Stimmungswandel drohen, der den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die aktive Mitarbeit der Bevölkerung an den weiterhin erforder- lichen Maßnahmen zur Krisenbewältigung untergraben kann. Ernste Warnsignale sind das Auftreten von Ver- schwörungserzählungen und Sorglosigkeit im Umgang mit der Ansteckungsgefahr. Die zentralen Psychologie-Organisationen in Deutsch- land fordern die Bundesregierung daher auf, psychologi- sche Expertise verstärkt bei den Maßnahmen zur weite- ren Bewältigung der COVID-19-Krise zu berücksichtigen und bieten dazu ihre Unterstützung an. Für die Kernthe- men »Stimmungswandel«, »Schutzverhalten«, »psychi- sche Folgen«, »gesellschaftlicher Zusammenhalt« sowie Foto: Cottonbro – pexels.com, bearbeitet durch DP V »Bedeutsamkeit der Datengrundlage« benennen BDP, DGPs, BPtK und ZPID die jeweiligen Herausforderungen und Ziele und schlagen konkrete Maßnahmen vor. Gerade im Hinblick auf eine mögliche zweite Welle der COVID-19-Pandemie stellt das Schaffen von Akzeptanz in der Bevölkerung für weitere Einschränkungen eine He- rausforderung dar. Hier spielt die Psychologie eine bedeut- same Rolle, indem sie Hinweise gibt, wie Maßnahmen angemessen und nachvollziehbar kommuniziert werden sollten und welche Zielgruppen besonders relevant sind. Für die langfristigen psychischen Folgen der COVID- 19-Krise ist es von äußerster Bedeutung, ob die gegen- wärtigen Ereignisse im Nachhinein als kollektive Bewäl- Lage« der Bevölkerung. Die Organisationen sprechen tigungserfahrung und damit als gemeinsames Erfolgs- sich daher dafür aus, bestehende repräsentative Erhe- erlebnis oder als Misserfolgserlebnis mit Betonung ge- bungsinfrastrukturen für die Psychologie zu öffnen und sellschaftlicher Unterschiede und negativer Erfahrungen langfristig zu sichern. Die so ermittelbaren Befunde kön- im Gedächtnis abgespeichert werden. nen rasche evidenzbasierte Maßnahmen ermöglichen, Für eine gelingende Bewältigung müssen etwa Unter- wie z. B. zur Unterstützung vulnerabler Zielgruppen mit stützungsangebote für verschiedene Zielgruppen dauer- besonderem Informations-, Schutz- und Förderbedarf, reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 haft zur Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig sollte und damit zur Herstellung von Vertrauen in Institutio- eine ausgewogene Berichterstattung mit der Betonung nen und zur Förderung des gesellschaftlichen Zusam- von Aktivitäten und Erfolgen unterschiedlichster Be- menhalts beitragen. völkerungsgruppen angestrebt werden. Zur Beurteilung der hier genannten, aber auch der be- Dr. Meltem Avci-Werning, Präsidentin des BDP reits ergriffenen Interventionen, fehlt es in Deutsch- land an einer Datengrundlage über die »psychologische Christin Schörk, Referentin für Berufspolitik 9
Foto: Julia M. Cameron – pexels.com Kontakt, Beziehung, Resonanz Herausforderungen für Lernende und Lehrende – gerade in Zeiten der Pandemie Beziehung ist die Voraussetzung für erfolgreiches Lernen lage hatten, jeden Tag bei ihr vorstellig zu werden, in der Schule. Diese Tatsache ist mittlerweile weltweit nun persönliche Briefe. Sie gibt Rückmeldung über bekannt. Beziehung im Unterricht zu gestalten, ist nicht bisherige individuelle Fortschritte, formuliert aber immer einfach, aber allein durch physische Präsenz in auch die Erwartung und bekundet gleichzeitig Zu- vielfältiger Weise möglich: durch direkte Ansprache, trauen, dass sich die Kinder auch in Zeiten, in denen Lächeln, das Schauen über die Schulter, wohlwollen- sie zu Hause lernen, so gut es geht bemühen werden. des oder tröstendes Berühren am Arm, auffordernde, Das ist ein Ausdruck von Beziehung, den die Kinder freundliche, auch mal missbilligende Blicke, Vier-Augen- wahrlich anfassen und erleben können. Gespräche und vieles mehr. Doch wie können Lehrkräfte mit Schülerinnen und Schülern in Beziehung bleiben, Die Klassenlehrerin der dritten Klasse einer Grund- also Resonanz und Präsenz zeigen, wenn zu Hause ge- schule nutzt ihre Fahrradtouren, um Arbeitsmate- lernt und die Schule nur tageweise besucht wird und rial bei Familien, die keinen PC und Drucker haben, physische Präsenz daher nicht oder aufgrund der Hygie- persönlich auszuliefern. Sie wird von der kritischen reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 nepläne nur eingeschränkt möglich ist? Technische Hilfs- Elternschaft in ihrem Engagement präsenter wahr- mittel sind nur ein Aspekt, die innere Haltung und dar- genommen als je zuvor. aus abgeleitetes Handeln sind weitaus entscheidender. Ein Lehrer der sechsten Klasse eines Gymnasiums for- Gelungene Beispiele aus der Praxis dert seine Schülerinnen und Schüler auf, ihm Briefe Eine Schulleiterin schreibt Schülerinnen und Schü- zu schreiben: über ihr Befinden und Erleben in Bezug lern, die aufgrund besonderer Regelverstöße die Auf- auf die Pandemie, die Ausgangbeschränkungen und 10
r e p o r t fokus die Schulschließung. Die Schülerinnen und Schüler Schülern als auch zu den Eltern, stellt Lehrkräfte in Zei- spüren sein persönliches Interesse und äußern sich ten der Krise vor besondere Herausforderungen. Tele- viel offener als am Telefon oder in der Gruppe bei der fon, E-Mail, Video- und Messenger-Dienste zu nutzen, Videokonferenz. Der Lehrer kann auf das Erfahrene fordert von Lehrkräften neben der Aufbereitung des und seine Einschätzung der Situation später gezielt Arbeitsmaterials, dem Zeitaufwand und der Einstellung in Einzelgesprächen eingehen. auf ausgefeilte Hygienepläne noch weiteres Engage- ment: die Fähigkeit zur eigenen Selbstorganisation in Dem Kollegium einer Ganztagsgrundschule ist es diesem ungewohnten Kontext, eine reflektierte Eigen- gelungen, durch beharrliche Telefonate und die wahrnehmung, soziales Bewusstsein und Freude an der Nutzung von Messenger-Diensten Kontakt zu allen Verwendung von Handwerkszeug zum Beziehungsma- Familien zu halten – auch mit jenen, die man schon nagement. Doch wenn sie sich darauf einlassen, kön- »aufgegeben« hatte. Die Beziehung von Lehrkräften nen sie helfen, diese zunehmend wichtiger werdenden zu Eltern war noch nie so intensiv, das zeigen die Aspekte emotionaler Intelligenz auch bei ihren Schüle- vielen positiven Rückmeldungen der Mütter und rinnen und Schülern zu entwickeln. Väter. Man plant, diese Errungenschaft mit einem gemeinsamen Fest zu feiern, sobald dies möglich Aufgabe der Schulpsychologie ist es, Lehrkräfte und sein wird. Schulen in ihrer Verantwortung für die Schülerinnen und Schüler zu unterstützen. In Zeiten der Pandemie bedeutet dies vor allem: Beziehungssignale senden, Struktur schaffen in Kontakt (sowohl zu Schulleitungen als auch zu Klare Beziehungssignale können in einer Situation wie Lehrkräften) bleiben oder ihn suchen der Corona-Pandemie derzeit wohl noch am besten Informationen sammeln: Erfragen der aktuellen Si- durch Telefonate gesendet werden. Grund hierfür ist tuation vor Ort (z. B. Kontaktstatus zu Schülerinnen die unterschiedliche digitale Ausstattung der Familien. und Schülern, Umgang mit deren Fragen und Befin- Telefonate können im wöchentlichen bis im Einzelfall den, Unsicherheiten, Ängsten, Sorgen oder deren auch täglichen Rhythmus (im Sinne eines individuellen Abtauchen bzw. Nichterreichbarkeit, Befangenheit Nachteilsausgleichs) erfolgen. Die Lehrkräfte signalisie- beim Wiederkehren an die Schule, Best-Practice- ren so zusätzlich zum eingeschränkten Präsenzunterricht Lösungen) neben Kontrolle auch Interesse, Sorge, Verantwortung psychologische Beratung und Unterstützung an- und individuelle Unterstützung. Die Stimme der Leh- bieten: Neben den technischen und hygienischen rerin oder Lehrers zu hören, macht deren Wirken für Herausforderungen zum Schutz vor Krankheit tre- Schülerinnen und Schüler erlebbar. ten zunehmend die psychischen und emotionalen Auswirkungen der massiven Einschränkungen, be- Der Anruf gibt zudem einen wichtigen Impuls zur sonders für Kinder und Jugendliche, in den Vorder- Strukturierung. Letztere entfällt ohne Stundenplan und grund Schulbesuch nämlich komplett. Der Wecker am Morgen Übertragen bisheriger Beratungsinhalte auf die allein schafft keine Struktur für den gesamten Vormittag aktuelle Situation: Betonung der Bedeutung von oder gar Tag. Das Haus verlassen, den Ort wechseln, das Beziehung, Aufrechterhaltung und Gestaltung der Schulgebäude aufsuchen und dessen Räumlichkeiten, Beziehung zu Schülerinnen und Schülern sowie zur Organisation und Zeitplan nutzen – dies sind wichtige Elternschaft durch angepasste Kontaktaufnahme, strukturelle externe Bedingungen für das In-die-Gänge- Präsenz und Resonanz kommen, die in Phasen des Zu-Hause-Lernens weg- Fallbesprechungen anbieten, z. B. zur Gestaltung fallen. der Beziehung zu Schülerinnen und Schülern mit besonderem Förderbedarf im Bereich emotionaler Wenn Impulse durch die Lehrkräfte ausbleiben, ist es und sozialer Entwicklung oder bei einem Verdacht an den Müttern und Vätern und ggf. an den älteren auf Kindeswohlgefährdung Geschwistern, entsprechend zu handeln. Oder es bleibt Supervision und Coaching für Lehrkräfte anbieten, den Schülerinnen und Schülern komplett selbst über- wenn es z. B. darum geht, mit dem Druck umzu- lassen, sich zu motivieren und zu strukturieren und ans gehen, die Fragen der Schülerinnen und Schüler Lernen und Arbeiten zu kommen. Dann kann allerdings beantworten zu müssen, oder zum Umgang mit der schon das Abrufen der E-Mail mit dem Wochenplan eigenen Unsicherheit und Angst bzw. zur Nutzung bzw. dessen Download eine unüberwindbare Hürde von Ressourcen und Regelwissen zur Wiedererlan- sein, vor allem wenn Playstation und Tablet so viele gung von Handlungssicherheit attraktivere Angebote und schnellere Rückmeldungen ausgiebige Nutzung von Telefon, Telefonkonferen- reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 bereithalten oder wenn eine Impulssteuerungsschwäche zen, Videokonferenzen, E-Mail usw. selbstständiges Arbeiten generell erschwert. Entwicklung neuer Konzepte und Herangehenswei- sen für Beratung und Diagnostik Herausforderungen für Lehrkräfte und Schulpsychologie Andrea Spies Kontakt aufzubauen, Beziehung zu gestalten und in Vorstand Sektion »Schulpsychologie« Resonanz zu gehen, sowohl zu den Schülerinnen und 11
»Wenn Sie sich am Montagmorgen Foto: Engin Akyurt – unsplash.com fühlen, als sei Freitagabend« Stress in Zeiten der Corona-Pandemie »Giving psychology away«: Dr. Bruce Perry erklärt in leicht verständlichen Videos, was Corona-Pandemie und der damit verbundene Stress mit uns machen und wie wir unsere Resilienz stärken können. Manuel Lentz im Gespräch mit einem der wichtigsten US-amerikanischen Traumatherapeuten. Was ist der Hintergrund der von Ihnen Durch die Corona-Einschränkungen kommen nicht produzierten Videoreihe? nur viele unerwartete Probleme und Stressoren Es gibt viele Menschen, die von der derzeitigen Situation hinzu, es fallen auch Ressourcen weg. überfordert sind. Das spüren wir nicht nur in der Arbeit Gute soziale Beziehungen etwa – eine der wichtigsten mit Familien und traumatisierten Kindern und Jugend- Ressourcen. Mit anderen Menschen Zeit zu verbringen, lichen. Auch für medizinisches Personal, das an vor- zu reden und zu lachen, andere zu berühren und zu um- derster Front gegen das Virus kämpft, ist diese Zeit sehr armen – das alles macht, dass wir uns erfrischt und besser belastend. Wegen der Kontaktbeschränkungen können reguliert fühlen. Ein Online-Meeting kann eine direkte zudem pädagogische und therapeutische Fachkräfte zum Interaktion, den physischen Kontakt nicht ersetzen. Durch Teil ihre Arbeit nicht fortsetzen, nicht mit allen Klientin- die Abstandsregelungen kommt es zu einer Art »Ausfran- nen und Klienten in Verbindung bleiben. Das belastet sung« des sozialen Gefüges vieler Menschen. Und das nicht nur die Betroffenen, sondern auch die, die ihnen gilt nicht nur für Alleinstehende. Viele Beschäftigte im helfen wollen. Ich hoffe, dass meine Arbeit Menschen US-Gesundheitswesen etwa isolieren sich freiwillig von dabei unterstützen kann, mit der derzeitigen Situation ihren Familien, um diese nicht anzustecken ... zurechtzukommen. … und nehmen sich damit ausgerechnet in einer In Ihren Videos sagen Sie, dass auch Menschen, die besonders belastenden Zeit eine Ressource. an sich gut mit Stress umgehen können, jetzt zum Ja, das ist hart. Medizinische Fachkräfte sehen immer Teil Probleme haben, die Situation zu bewältigen. wieder Menschen sterben, aber derzeit passiert das Den alltäglichen Stress, also moderate, kontrollierbare noch häufiger, und die Hilflosigkeit ist größer. und vorhersehbare Stressoren, können die meisten von uns gut bewältigen, und mit der Bewältigung sammeln Auch aus physiologischer Sicht ist das alles andere wir Erfahrungen, die uns wiederum belastbarer, resi- als gesund. lienter machen. Aber ganz gleich, wie gut Sie reguliert Wie wir wissen, führt lang anhaltender Stress zu einer sind, wenn Sie extremen Stress erleben, immer wieder Schwächung des Immunsystems. So macht uns ironi- aus Ihren Routinen gedrängt werden oder fortwährend scherweise unsere Angst vor dem Virus anfälliger für das mit Herausforderungen konfrontiert sind, die sich Ihrer Virus selbst. Zudem wird unser Schlaf gestört, ebenso Kontrolle entziehen, wird Sie das erschöpfen. wie die Fähigkeit, uns zu mobilisieren. Ich hatte sicher vergleichsweise wenig Stress und fühle mich dennoch Stress wie diese Pandemie … derzeit oft erschöpft. Viele von uns haben das Glück, dass sie vor Beginn der Pandemie eher auf der Seite der Resilienz standen. Dabei ist es Montagmorgen! reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 Aber auch ein sehr belastbarer Mensch kann auf Dauer Ja (lacht) ... Wenn Sie sich am Montagmorgen fühlen, seine Reserven aufbrauchen. Derzeit sehen wir selbst als sei Freitagabend, dann wissen Sie, dass es in letzter bei ausgezeichneten Klinikerinnen und Klinikern, wie Zeit ein bisschen zu viel war. sie sich erschöpfen. Wie geht es da erst Menschen, die schon vorher vulnerabel waren, denen es an finanziellen Wie können nun die Videos und das darin Reserven, sozialem Kapital oder schlichtweg den Fähig- vermittelte Wissen helfen? keiten zur Stressbewältigung fehlt? Ich persönlich schlafe eigentlich recht viel, dennoch fühle ich mich derzeit nicht erfrischt. Das ist nicht 12
r e p o r t fokus schön, mein Vorteil in dieser Situation ist aber: Ich weiß, und Weise. Im Zustand der Ruhe haben wir Zugang dass das vorübergehen wird. Das hilft mir sehr. Wenn zu bestimmten Systemen im Cortex, der uns verwehrt Menschen ihre Stressreaktionen nicht verstehen, kann bleibt, wenn wir gestresst oder verängstigt sind. Wir sie das noch mehr ängstigen: »Was ist mit meinem Kör- denken besser und klarer in Ruhe und Gelassenheit. per? Stimmt etwas nicht mit mir?« Wir vermitteln in den Und so besteht einer der Vorteile von Achtsamkeit da- Videos: »Ja, ihr werdet Angst haben, und das hat Folgen rin, dass sie uns rationaler und weniger emotional und für euren Körper. Aber das ist okay.« reaktiv macht. Das ist etwas, das wir jetzt brauchen. Foto: privat Ein weiterer Punkt, den wir thematisieren: Je mehr wir Leider ist es Mangelware. fernsehen und die Nachrichten verfolgen, desto mehr ängstigen wir uns und deregulieren. Stattdessen sollten Ehrlich gesagt hatte ich auch vor der Pandemie Dr. Bruce Perry gilt wir versuchen, uns zu regulieren: einen Spaziergang ma- schon oft das Gefühl, in einer sehr hektischen, als einer der wichtigsten chen, uns künstlerisch oder handwerklich betätigen, ein stressigen Zeit, einer kompetenz- und Traumatherapeuten der USA und ist Begründer Buch lesen. Meine Frau war kürzlich völlig aufgewühlt leistungsgetriebenen Gesellschaft zu leben. des »neurosequenziellen durch die Bilder aus Italien. Aber sie kann ja aus der In unserer geschäftigen westlichen Welt, in der oft ein Ansatzes in der Trauma- Ferne nicht wirklich etwas tun, um zu helfen, schon gar Termin den anderen jagt, leiden viele Menschen unter therapie«. nicht, indem sie sich selbst aufreibt. einem chronisch erhöhten Stresslevel, das sie daran hin- www.bdperry.com dert, kreativ, produktiv und reflektiert zu sein. Viele Un- Meiner Mutter ging es ähnlich: Sie kommt aus ternehmen stellen wirklich begabte Menschen ein, lassen Ecuador, das vom Corona-Virus schwer getroffen sie dann aber unter Bedingungen arbeiten, unter denen wurde. Die Regierung hat unzureichend reagiert, sie sich nicht entfalten können. Nur wenn Menschen es kam so schlimm, dass Leichen auf die Straße Raum und Zeit zum Nachdenken haben, können sie ihr gelegt wurden, weil die Leichenhallen voll waren. Potenzial ausschöpfen. Aber es ist vermutlich schwer zu Als meine Mutter diese Nachrichten sah, war sie verstehen, dass Sie mehr von ihren Mitarbeitenden be- sofort im Alarmzustand und grübelte, wie sie kommen, wenn Sie sie bitten, weniger zu arbeiten. helfen könne. Fakt ist aber: Das, was dort gerade gebraucht wird, ist nichts, was sich aus der Ferne Allerdings. beschaffen ließe. Tu, was du tun kannst, aber sei Die kreativsten Arbeitsgruppen verfügen über riesige Blö- dir bewusst, dass du manchmal nichts tun kannst – cke freier und unstrukturierter Zeit, in denen die Leute und dass das in Ordnung ist. nur nachdenken, Gespräche führen und Dinge tun, die Das ist eine wichtige Beobachtung. Bei solchen Ereig- nicht wirklich etwas mit dem Auftrag der Organisation zu nissen ist es eine zentrale Frage, wie man mit Dingen tun haben – doch am Ende stehen hervorragende Ideen. umgeht, die man gerade nicht bewältigen, nicht ändern kann. Wir sollten ergründen: Was können wir tatsächlich Wie ist es bei Ihnen, welche Regulierungsstrategien tun? Und was können wir tun, um eines Tages in der Lage nutzen Sie derzeit? zu sein, zu helfen? Dazu gehört es, die Situation erst ein- Ich höre Musik, wenn ich arbeite, oder gehe in der Natur mal selbst zu überstehen. Viele Menschen richten viel zu spazieren, wann immer ich die Möglichkeit habe. Über- viel Energie auf Dinge aus, die sie nicht ändern können. haupt sind rhythmische somatosensorische Aktivitäten – Musizieren, rhythmisches Atmen oder rhythmische Be- Sie raten den Menschen, eine gewisse Routine zu wegungen wie Gehen, Joggen oder Tanzen – perfekt, um durchlaufen, um den Corona-Stress zu reduzieren. sich zu regulieren. In der westlichen Welt haben wir die Wir empfehlen, sich zunächst zu fragen: Was ist im Mo- seltsame Vorstellung, dass es richtig sei, beim Arbeiten zu ment meine größte Angst? Sie würden dann vielleicht sitzen. Fakt ist, dass man kognitive Probleme besser lösen sagen: »Ich bin ein 28-jähriger, gesunder Mensch. Habe kann, wenn man dabei geht. Albert Einstein lief zweiein- ich Angst, an den Folgen einer Corona-Infektion zu ster- halb Stunden am Tag, Newton spazierte, wenn er über ben? Nicht wirklich. Habe ich Angst, dass jemand, den Probleme nachdachte. Es gibt auch viele andere Möglich- ich liebe, stirbt? Das ist nicht ganz unrealistisch.« Und keiten, aber: Bauen Sie ein wenig Rhythmus in Ihren Tag dann überlegen Sie: Was können Sie dagegen tun? Bars ein, es wird Ihnen helfen, sich regulierter zu fühlen. und Partys vermeiden beispielsweise, Hände waschen, eine Maske tragen und vorsichtig sein, wenn Sie ein- Gibt es noch etwas, was Sie ergänzen möchten? kaufen gehen. Und Sie merken, dass es ganz konkrete, Ja! Wir sind heute dank moderner Technologien auf eine umsetzbare Dinge gibt, die Sie tun können. Der Schlüs- Art und Weise verbunden, wie wir es noch nie waren. sel zu einer besseren Stressregulation ist, vor allem über Ihre Familie stammt aus Ecuador, Sie sind Deutscher, le- die Dinge nachzudenken, über die Sie Kontrolle haben. ben in den Niederlanden und sprechen mit mir, obwohl ich gerade in Tennessee bin. Solche Begegnungen gab es reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 In Ihren Videos geht es auch viel um Achtsamkeit früher nicht. Ich hoffe, dass wir in der Lage sind, zu er- und die damit verbundenen Vorteile. kennen, dass aus dieser Situation Wachstum entstehen Achtsamkeitsübungen helfen, sich zu zentrieren, in der kann, dass sie uns etwas lehren kann, so schmerzhaft Gegenwart zu sein und den Augenblick zu schätzen. diese Erfahrung auch ist. Zudem spielen sie eine Rolle für das, was wir »state- dependent functioning« nennen: Gehirn und Körper Das Gespräch führte Manuel Lentz, seit 2017 engagiert im funktionieren je nach Zustand auf unterschiedliche Art BDP (Twitter: @ManoLorca). 13
Psychische Gesundheit und Wohlbefinden in Zeiten von Corona Foto: Engin Akyurt – unsplash.com Erste Befunde aus der #stayhealthy-Studie Anke Lengning1, Katrin Rakoczy1, Elisabeth Jenisch2, reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 Mareile Opwis3 & Jennifer Schmidt1 1 HSD Hochschule Döpfer, University of Applied Sciences 2 Universität Bremen 3 FernUniversität Hagen 14
r e p o r t fachwissenschaftlicher teil Die Corona-Pandemie betrifft das physische und psychi- Auf diese inneren und äußeren Einflüsse reagiert der Or- sche Wohlbefinden von Menschen weltweit. Ein Ende der ganismus mit einem Zustand der Spannung, der in Ab- Krise und ihrer Auswirkungen – gerade auch auf das psy- hängigkeit von der Effizienz der Spannungsbewältigung chische Wohlbefinden – ist bisher noch nicht abzusehen. pathologische, neutrale oder heilsame Auswirkungen Nicht nur Einzelpersonen und Familien werden vor ganz haben kann. Bei unzureichender Spannungsbewältigung neue Herausforderungen in fast allen Lebensbereichen kommt es zum Stresssyndrom und zu einer Verschie- gestellt, auch viele Berufsgruppen (z. B. Lehrkräfte) und bung der Position des Individuums auf dem »Health die Gesellschaft als Ganzes werden mit völlig unbekann- Ease/Disease«-Kontinuum in Richtung Krankheit. Die ten Situationen konfrontiert. In rasanter Geschwindigkeit im Rahmen der Corona-Pandemie weltweit erlassenen wurde eine Vielzahl an Studien zu gesellschaftlichen und politischen, rechtlichen und sozialen Einschränkungen sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie gestartet. sowie die persönlichen Erkrankungsängste können im Der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten führt alleine 125 Sinne Antonovskys als Stressoren, welche den Organis- Studien auf, die sich mit der Corona-Pandemie und ihren mus herausfordern, eingeordnet werden. Auswirkungen befassen (RatSWD, 2020). Aus diesen Stu- dien liegen bereits erste Ergebnisse zum Erleben von Be- Die zentrale Frage im salutogenetischen Ansatz lautet: troffenen in bestimmten Bereichen, z. B. im Bildungssek- Wie ist es möglich, eine adäquate Spannungsbewälti- tor (vgl. Anger et al., 2020), zum sozialen Miteinander (vgl. gung zu erreichen und sich somit dem positiven Pol des Akkon Hochschule für Humanwissenschaften, 2020) oder Kontinuums, der Gesundheit, zu nähern? Voraussetzung zu Auswirkungen auf gesellschaftliche Entwicklungen, wie hierfür ist das Vorhandensein bestimmter generalisierter der Erwerbssituation von verschiedenen Personengrup- Widerstandsressourcen, wie z. B. materieller Wohlstand, pen (vgl. Bünning, Hipp & Munnes, 2020), vor. Ein bisher Wissen, Intelligenz, Ich-Identität sowie Selbstvertrauen, vernachlässigtes Thema betrifft die Frage: Welche Fakto- Rationalität und Weitsicht beim Lösen von Problemen. ren tragen dazu bei, dass Menschen einen produktiven Aber auch soziale Unterstützungssysteme sowie intakte Umgang mit den pandemiebedingten Belastungen fin- Sozialstrukturen und eine funktionierende Gesellschaft den und psychisch gesund bleiben? Gerade dieses Thema werden dazugezählt. Solche Ressourcen sowie spezifi- scheint jedoch äußerst relevant und vielversprechend, da sche Lebenserfahrungen stärken den sogenannten Ko- aus entsprechenden Erkenntnissen Maßnahmen abgelei- härenzsinn bzw. das Kohärenzgefühl (vgl. Franke, 2012). tet werden können, um individuelle Schutzfaktoren zu stärken und so den Umgang mit pandemiebedingten Be- Unter Kohärenzgefühl versteht man nach Antonovsky lastungen zu erleichtern. Hier setzt die #stayhealthy-Stu- (1979) eine allgemeine Grundhaltung gegenüber der die an. Sie bezieht sich auf das Modell der Salutogenese Welt und dem eigenen Leben. Sie setzt sich zusammen von Antonovsky (z. B. 1979) und die Bindungstheorie nach aus den Komponenten: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit Bowlby (1969), um individuelle Schutzfaktoren zu identifi- und vor allem Bedeutsamkeit. Verstehbarkeit beschreibt zieren, die es Menschen ermöglichen, die Krise psychisch ein kognitives Verarbeitungsmuster und stellt die Fähig- gesund zu bewältigen. keit eines Menschen dar, Eindrücke – sowohl bekannte als auch unbekannte – als geordnete, strukturierte In- Was erhält Menschen (psychisch) gesund? formationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Dagegen Antonovskys Modell der Salutogenese ist Handhabbarkeit ein kognitiv-emotionales Verarbei- Die Frage nach Bedingungen, die dazu beitragen, dass tungsmuster, welches die Überzeugung eines Menschen Menschen gesund bleiben, findet meist wenig Beach- beschreibt, dass sich Probleme lösen lassen. Die letzte tung im Vergleich zur pathogenetisch-kurativen Pers- Komponente, die Bedeutsamkeit, beinhaltet das Aus- pektive. Nach jener werden Faktoren gesucht, die für maß, in dem ein Mensch das Leben als sinnvoll erachtet die Entstehung von Krankheiten verantwortlich sind. und es als lohnenswert empfindet, sich gewissen He- Antonovsky kritisierte bereits 1979 die rein pathoge- rausforderungen zu stellen (vgl. auch Bengel, 2001). netisch-kurative Betrachtungsweise, und in der Folge erhielt die Suche nach gesundheitsfördernden Faktoren, Die Ausprägung des Kohärenzgefühls bestimmt nach die »Salutogenese«, mehr Aufmerksamkeit. Diese Per- Antonovskys Ansatz mit, wie ein Individuum einen spektive wird heutzutage insbesondere im Bereich der Stressor bewertet. Ein hohes Kohärenzgefühl trägt dem- Prävention und Gesundheitsförderung vertreten. In den nach dazu bei, dass eine geringere Bedrohung wahr- salutogenetischen Ansätzen geht es nicht um die Ent- genommen wird und die Bewältigungsfähigkeiten und stehung und Erhaltung von Gesundheit als absolutem Ressourcen optimistisch eingeschätzt werden. Dagegen Zustand; vielmehr versteht Antonovsky (1979) Gesund- geht ein geringes Kohärenzgefühl mit dem Gefühl gerin- heit und Krankheit als zwei Endpunkte eines Kontinu- gerer Bewältigungsmöglichkeiten einher. Diese Zusam- ums. Stressoren, welche in unterschiedlich großer Zahl menhänge sind in zahlreichen Studien empirisch belegt reportpsychologie ‹45› 7+8|2020 und Stärke auf die Person einwirken, determinieren worden (Domscheidt, Schwab & Seidler, 2008; Hart, das Gesundheitsniveau einer Person. Sie werden nach Hittner & Paras, 1991; Lengning, Mackowiak, Steinhoff Antonovsky definiert als »demand made by the internal & Franke, 2009; Sack, Künsebeck & Lamprecht, 1997; or external environment of an organism that upsets its Ristkari, Sourander, Ronning & Helenius, 2006; Klepp, homeostasis, restoration of which depends on a non- Mastekaasa, Sørensen, Sandanger & Kleiner, 2007; Lus- automatic and not readily available energy-expending tig & Strauser, 2008). action« (Antonovsky, 1979, S. 72). 15
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