Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin

Die Seite wird erstellt Ben Forster
 
WEITER LESEN
Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
Foto: Patrick Assale – unsplash.com
Psychology of Pandemics
»The psychological ›footprint‹ will be larger than the medical ›footprint‹«

                 In seinem Buch »The Psychology of Pandemics« (2019) analysiert der klinische Psychologe Dr. Steven Taylor, Professor
                 an der University of British Columbia in Vancouver (Kanada), den Verlauf vergangener Infektionskrisen (z. B. SARS,
                 Influenza oder der sogenannten »Schweinegrippe«) und trägt Erkenntnisse der Psychologie zum Umgang mit Pandemien
                 und pandemiebezogenen Stressoren zusammen.

                 »Wenn die COVID-19-Pandemie für Sie unwirklich er-         bar vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie veröffent-
                 scheint, für mich war sie doppelt surreal«, schreibt der   lichen konnte. Denn so erhalten Psychologinnen und
                 Psychologe Steven Taylor in einem Artikel für die briti-   Psychologen, aber auch Mitarbeiterinnen und Mitarbei-
                 sche Zeitung »The Independent« im März 2020. »Fast         ter des Gesundheitswesens, Politikerinnen und Politiker
                 zwei Jahre lang hatte ich an einem Buch mit dem Ti-        sowie die Allgemeinbevölkerung die Möglichkeit, sich
                 tel ›The Psychology of Pandemics‹ gearbeitet, das im       die aktuell erlebbaren Auswirkungen der globalen Krise
                 Dezember 2019 veröffentlicht wurde. Einige Wochen          mittels psychologischer Expertise begreifbar zu machen.
                 nach der Veröffentlichung trat COVID-19 auf, und die
                 Ausbreitung erreichte pandemische Ausmaße.« Da fast        Individuelle emotionale Reaktionen
                 alles, was Taylor im letzten Kapitel über eine mögliche    Einen erheblichen Teil des Werkes widmet Taylor den
                 »nächste Pandemie« schreibt, wenig später so einge-        emotionalen Reaktionen, die in Zeiten einer Pandemie
                 troffen ist, mag das Buch bei manchen Leserinnen und       zu erwarten seien und die von Gleichgültigkeit oder
                 Lesern einen fast prophetischen Eindruck hinterlassen.     Leugnung über Distress und Angst bis hin zu Fatalis-
                 Taylor selbst kommentiert das allerdings nur mit: »Ob      mus reichen können. Der Großteil der Betroffenen zeige
                 das Buch prophetisch ist, wie manche behaupten? Nicht      dabei moderate Level von Angst, die in aller Regel zu
                 wirklich – es basiert auf Forschung.« Und er erklärt:      adaptivem Coping führten. Das Andauern von Unsi-
                 »Auch in früheren Pandemien gab es Rassismus, Panik-       cherheit, Veränderung oder Verlust durch die Krise
                                                                                                                                                                          reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

                 käufe, den Ansturm der ›besorgten Gesunden‹ auf die        könne jedoch insbesondere bei Personen mit wenig
                 Krankenhäuser und Menschen, die unter Selbstisolation      Stressresilienz oder psychischen Vorerkrankungen zu
                 und anderen Formen sozialer Distanzierung litten.«         ernsten Angststörungen und sogar einer posttrauma-
                                                                            tischen Belastungsstörung führen. Neben bestimmten
                 Wertvoller Zufall                                          Persönlichkeitseigenschaften, wie Neurotizismus und
                 Tatsächlich kann man es als einen besonders wertvollen     dessen Subdimensionen Eigenschaftsangst, Schadens-
                 Zufall ansehen, dass Steven Taylor sein Buch unmittel-     vermeidung oder Intoleranz von Unsicherheit, würden

                 4
Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
r e p o r t fokus
                                  auch kognitive Informationsverarbeitungsstile bezüg-      gen Aufmerksamkeitsgenerierung geeignet sein könne
                                  lich Gesundheitsrisiken und unrealistischer Optimismus    –, noch dürfe es möglich sein, psychologische Distanz
                                  die Vulnerabilität gegenüber emotionalem Stress be-       zum Geschehen zu entwickeln, wenn beispielsweise
                                  einflussen.                                               durch übermäßige Berichterstattung eine Form von
                                                                                            »Abstumpfung« einsetze.
                                  Verschwörungserzählungen in Pandemie-Zeiten

                                                                                                                                                                                              Foto: Christine Pietron
                                  Neben einer individuenzentrierten Aufarbeitung der        Nicht nur bezüglich eines angemessenen Kommunika-
                                  psychologischen Folgen einer Pandemie legt Taylor         tionskonzeptes und der Adhärenz gegenüber Hygiene-
                                  einen weiteren Fokus auf deren kollektive Auswirkun-      und Verhaltensmaßnahmen, sondern auch zum Umgang
                                  gen, was aktuell insbesondere für politische Entschei-    mit impfkritischen Personen gebe es aktuell keine ab-
                                  dungsträgerinnen und -träger relevant sein dürfte. Wie    schließende Lösung, wie Taylor in seinem Buch aus-
                                  im Rahmen der Corona-Krise nun verstärkt beobachtet       führt. Zwar könne man deren Reaktanz auf individueller     Steven Taylors »The
                                                                                                                                                       psychology of pande-
                                  werden kann, ist das Auftreten von Verschwörungs-         Ebene mit verlustbezogenen Ansprachen adressieren,
                                                                                                                                                       mics« erschien Ende
                                  erzählungen in Zeiten großer Unsicherheit kein selte-     evidenzbasierte Interventionen für einen größeren Rah-     Juni 2020 unter dem
                                  nes Phänomen. Häufig würden diese alternativen Er-        men fehlten aber bislang.                                  Titel »Die Pandemie als
                                  klärungsversuche auf epistemischen, existenziellen und                                                               psychologische Heraus-
                                  sozialen Motiven basieren und würden durch Faktoren       Psychologische Expertise nutzen                            forderung. Ansätze für
                                                                                                                                                       ein psychosoziales Kri-
                                  wie eine generelle Skepsis, Narzissmus, übermäßige        Auch für die Verarbeitung pandemiebezogenen Stres-
                                                                                                                                                       senmanagement« auch
                                  Sorgen über die eigene Gesundheit, mangelnde Me-          ses – u. a. für spezielle Zielgruppen wie Mitarbeiterin-   in deutscher Sprache
                                  dienkompetenz und Ablehnung wissenschaftlicher Er-        nen und Mitarbeiter des Gesundheitswesens – gebe es        (Psychosozial-Verlag).
                                  kenntnisse verstärkt. Ebenso wie Gerüchte erhielten       noch nicht ausreichend therapeutische Programme. Eine
                                  Verschwörungserzählungen durch Falschinformationen        Möglichkeit sei es, bereits bestehende gemeinschafts-
                                  in den sozialen Medien und eine »katastrophisierende«     weite Interventionen auf ihre Effektivität gegenüber
                                  Medienberichterstattung Aufwind. Insbesondere für         pandemiebezogenen Belastungen zu evaluieren, weitere
                                  letzteres spielten Prinzipien des Modelllernens bis hin   Forschung sei aber unbedingt notwendig.
                                  zur Angstübertragung eine Rolle.
                                                                                            Psychologische Expertise werde außerdem benötigt,
                                  Verschwörungserzählungen zu entkräften, könne nahezu      um Methoden zu entwickeln, mittels derer infektions-
                                  unmöglich sein, da Gegenargumente sich optimal in die     bezogene Fremdenfeindlichkeit und andere Formen von
                                  konspirative Theorie einfügen würden. Taylor weist in     Diskriminierung reduziert werden könnten – ein Aspekt,
                                  Rekurs auf bestehende Studienergebnisse daher darauf      dessen Dringlichkeit auch durch die Corona-Krise er-
                                  hin, dass die Bevölkerung mit Informationen versorgt      neut sehr deutlich wird.
                                  werden müsse, die den Verschwörungsglauben entkräf-
                                  ten, noch bevor sich dieser ausbilden könne. Zusätz-      Nach der Pandemie ist vor der Pandemie
                                  lich könne die Förderung kritisch-analytischen Denkens    »Je mehr ich über Pandemien las, desto mehr wurde mir
                                  Menschen dazu befähigen, zwischen falschen Theorien       klar, dass sie im Wesentlichen psychologische Phäno-
                                  und faktischen Informationen zu differenzieren.           mene sind. Bei Pandemien geht es nicht nur um Viren,
                                                                                            die Menschen infizieren. Pandemien werden durch das
                                  Faktoren gelungener Risikokommunikation                   Verhalten der Menschen verursacht oder eingedämmt«,
                                  Eine gelungene Risikokommunikation sei daher eine der     so Steven Taylor im »Independent«. Da also insbeson-
                                  wichtigsten Maßnahmen, um die Allgemeinbevölkerung        dere die Psychologie wichtig sei, um zu verstehen, wie
                                  zur Einhaltung der notwendigen Verhaltensregeln zu        Menschen auf die Gefahren einer Pandemie reagieren
                                  motivieren. Mithilfe der richtigen Informationen solle    und mit diesen umgehen, liege es nicht ausschließlich,
                                  sie zu angemessenem und eigenverantwortlichem Ge-         aber auch in der Verantwortung von Psychologinnen          Literatur:
                                  sundheits- und Sicherheitsverhalten befähigt werden.      und Psychologen, aus der momentanen Krisensitua-           RNZ (2020). Steven Taylor: The
                                                                                                                                                       psychology of pandemics. Radio
                                  Im Falle einer Pandemie seien dies nicht nur Fakten zum   tion zu lernen und ihre Expertise vor allem langfristig    New Zealand (21.02.2020). Verfüg-
                                                                                                                                                       bar unter (am 09.06.2020): www.
                                  Virus und zu Infektionsrisiken, sondern insbesondere      auf breiter gesellschaftlicher Ebene einzubringen. »Die    rnz.co.nz/national/programmes/
                                  auch Wissen zu Coping-Strategien, zum Umgang mit          aktuelle Pandemie bietet die Gelegenheit, sich auf die     saturday/audio/2018739528/
                                                                                                                                                       steven-taylor-the-psychology-of-
                                  Stigmata und zur Förderung von Resilienz sowie psy-       nächste vorzubereiten«, meint Taylor in einem Interview    pandemics
                                                                                                                                                       Shultz, J. M., Espinel, Z., Flynn,
                                  choedukative Materialien zu Angst, Trauer, Depression,    mit Radio New Zealand und mahnt, weniger »kurz-            B. W., Hoffmann, Y. & Cohen, R.
                                  Frustration usw.                                          sichtig« zu sein. »Denn nach dieser Pandemie wird es       E. (2008). DEEP PREP: All-hazards
                                                                                                                                                       disaster behavioral health training.
                                                                                            weitere geben, das ist unvermeidlich.«                     Miami, FL: DEEP Center.
                                                                                                                                                       Taylor, S. (2019). The psychology
                                  Mit Blick auf Erfahrungswerte aus vergangenen Pan-                                                                   of pandemics. Preparing for the
                                  demien weist Taylor darauf hin, dass neben logischen      Die Auswirkungen der Corona-Krise lassen sich mit-         next global outbreak of infectious
reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

                                                                                                                                                       disease. Newcastle: Cambridge
                                  immer auch emotionale Aspekte in der Kommunikation        hilfe von Taylors Buch und anhand des Verlaufs und         Scholars Publishing.
                                                                                                                                                       Taylor, S. (2020). I’ve spent years
                                  bedient werden müssten. Gelungene Risikokommuni-          der Folgen früherer Pandemien zwar erahnen, wie der        studying the psychology of pan-
                                  kation müsse also dafür sorgen, dass das tatsächliche     langfristige »Fußabdruck« des Corona-Virus tatsächlich     demics. This is what you need
                                                                                                                                                       to know about COVID-19. The
                                  Gesundheitsrisiko in der Bevölkerung als solches wahr-    aussieht, wird sich aber noch zeigen.                      Independent (17.03.2020). Ver-
                                                                                                                                                       fügbar unter (am 09.06.2020):
                                  genommen und als glaubwürdig empfunden werde.                                                                        www.independent.co.uk/voices/
                                  Dabei solle jedoch weder großflächig Angst induziert      Christin Schörk                                            coronavirus-covid-19-pande-
                                                                                                                                                       mic-psychology-research-predic-
                                  werden – auch wenn dies als Strategie zur kurzfristi-     Referentin für Berufspolitik                               tions-a9406876.html

                                                                                                                                                  5
Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
Foto: Markus Spiske – unsplash.com
»Präventionsmaßnahmen werden
nicht selten Opfer ihres Erfolgs«
       Der Psychologe Philipp Schmid ist an der Auswertung »COVID-19 Snapshot Monitorings« beteiligt. Im Interview spricht
       er über erste Ergebnisse, aber auch sein anderes weiteres Forschungsgebiet: Impfskepsis, Wissenschaftsleugnung und
       Verschwörungstheorien.

       Was ist das Ziel des »COVID-19 Snapshot                       sind es nun einmal nicht gewohnt, beim Einkaufen eine
       Monitorings« (COSMO)?                                         Maske zu tragen oder auf Abstand zu gehen.
       Unser Ziel ist es, wiederholt Einblick zu erhalten, wie die
       Bevölkerung die Corona-Pandemie wahrnimmt und wie             Was ist zu tun, um Menschen diesbezüglich zu
       sich die psychologische Lage entwickelt. Das soll u. a.       helfen?
       dabei helfen, Kommunikationsstrategien zu entwickeln          Denkbar wäre der Ansatz des Nudgings, indem wir also
       und Falschinformationen und Aktionismus vorzubeu-             die Entscheidungsumgebung einer Person so verändern,
       gen. Dafür haben wir in einer seriellen Querschnittstu-       dass sie tun kann, was sie eigentlich auch tun will. Ich
       die seit Anfang März jede Woche bis zu 1.000 Personen         hatte z. B. am Anfang Probleme damit, beim Einkaufen
       befragt: zu Themen wie Risikowahrnehmung, Wissen,             zwei Meter Abstand zu halten, allein vom Schätzen her:
       aber auch Sorgen und Emotionen.                               Wie viel sind denn zwei Meter? Oder ich wollte nur
                                                                     schnell an das Regal, vor dem jemand anderes gerade
       Was sind die bisher zentralen Ergebnisse?                     nicht fertig wurde … In solchen Fällen hilft das Auf-
       In dieser Pandemie-Situation wird noch einmal deut-           zeichnen von Abständen auf dem Boden des Marktes.
       lich, dass Information alleine nicht ausreicht: Obwohl        Das ist ein einfacher visueller Reiz, der hilft, sich an die
       die meisten Menschen in Deutschland offenbar gut              Regel zu erinnern und sie korrekt umzusetzen. Ebenso
       über das Corona-Virus informiert sind und auch dar-           kann man mit Informationen nudgen, etwa durch das
       über, wie man sich im Alltag schützen kann, führt das         Kommunizieren der sozialen Norm. Unsere neueste
       nicht zwangsläufig dazu, dass sie das korrekte Verhalten      Umfrage hat z. B. gezeigt, dass 82 Prozent der Befragten
       zeigen. So wissen z. B. 89 Prozent der Menschen, dass         im Alltag eine Maske tragen. Eine solche normative
       sie bei Krankheitssymptomen in Quarantäne bleiben             Information kann als eine Art einfache Heuristik die Ent-
       sollten, aber nur 63 Prozent tun das tatsächlich. Das         scheidungsfindung erleichtern. Sie vermittelt einen ge-
       hat zum einen mit Prioritäten zu tun, die wir auch bei        wissen sozialen Druck, und sie erleichtert das Abwägen:
       banalen Alltagshandlungen setzen: Wenn wir z. B. ein-         Wenn das so viele machen, scheint es ja sinnvoll zu sein!
       kaufen gehen, denken wir zuerst an unseren Einkaufs-          Zudem kann das Wissen um so eine Norm unterstüt-
                                                                                                                                                                     reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

       zettel, an das Müsli, das wir auf keinen Fall vergessen       zend wirken: Wenn mir z. B. in einen Laden zwei Leute
       dürfen, und vielleicht den Pfandbon in unserer Tasche.        ohne Maske entgegenkommen, möchte ich nicht der
       Das Tragen einer Maske rückt – obwohl wir wissen, dass        Außenseiter sein, der eine trägt. Wenn ich aber weiß,
       es wichtig ist – dadurch in den Hintergrund, was dazu         dass sich eigentlich die Mehrheit an die Regel hält, dass
       führen kann, dass wir es unter Umständen vergessen.           also diese beiden die Ausnahme sind, gehe ich selbst-
       Zum anderen ist es generell schwierig, Gewohnheiten           bewusster mit meiner Maske durch den Laden – und
       zu durchbrechen und neues Verhalten zu etablieren. Wir        setze damit auch wieder ein Zeichen.

       6
Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
r e p o r t fokus
                                  Gab es Ergebnisse, die Sie beunruhigt haben?               gewettert und setzt dieses Verhalten im Leugnen des
                                  Im Gegenteil: Es hat mich beruhigt, dass die meisten       Klimawandels fort. Auch finanzielle Interessen spielen
                                  Befragten den Eindruck haben, dass die Menschen in         eine Rolle, denn mit den Sorgen der Menschen lässt
                                  ihrem Umfeld zusammenhalten. Obwohl wir uns also zu-       sich Geld verdienen, etwa durch Buchverkäufe, Kurse,
                                  nehmend abgekapselt haben, ist das Gemeinschaftsge-        Coachings usw. Zudem gibt es psychologische Motive,
                                  fühl erhalten geblieben. Korrekterweise sollten wir also   die diese Gruppen verbinden: Z. B. hängt der Glaube
                                  von »physical distancing« sprechen, nicht von »social      an Verschwörungstheorien mit gesteigerten Narziss-
                                  distancing«. Des Weiteren wird in unseren Befragungen      muswerten zusammen. Das drückt sich darin aus, dass
                                  die Aussage, dass Menschen nichts tun können, um die       diese Personen immer diejenigen sein wollen, die mehr
                                  Lage positiv zu beeinflussen, eher abgelehnt. Das heißt,   wissen als die anderen, die hinter den Vorhang schauen
                                  die Befragten empfinden weiterhin Selbstwirksamkeit        und die größeren Zusammenhänge sehen.
                                  und haben das Gefühl, mit den Maßnahmen etwas zu
                                  bewirken. Ich denke, da können wir viel über globale       Ich kann mir vorstellen, dass es extrem viel
                                  Probleme allgemein lernen: Auch die Maßnahmen gegen        Gegenwind bedeutet, einer randständigen,
                                  den Klimawandel hängen ja davon ab, dass die Men-          vielleicht irrationalen Theorie anzuhängen.
                                  schen überzeugt sind, mit ihrem Verhalten etwas ändern     Das kommt darauf an. Meistens schaffen sich diese
                                  zu können und als globale Community zu agieren. In         Personen in einem Bereich – offline oder online – eine
                                  dieser Pandemie sehen wir, dass das möglich ist: In der    gewisse Echokammer, in der sie gehört und bestätigt
                                  Gemeinschaft können wir auch große Probleme lösen.         werden. Das ist eine ständige Inzucht der eigenen Über-
                                                                                             zeugungen. Es ist aber auch so, dass Nonkonformität
                                  Nun sind die derzeitigen Gefahren und Ängste               zum Selbstbild gehört. Das kennt ja eigentlich jeder:
                                  viel näher an uns dran, als es etwa bei den                diesen einen Onkel, der immer gegen alles ist und alles
                                  Auswirkungen des Klimawandels der Fall ist.                besser weiß.
                                  Da gebe ich Ihnen recht: Die Konkretheit des Ereignis-
                                  ses ist sehr entscheidend, und die globale Erwärmung       Davon hab ich mehrere.
                                  ist individuell nicht wirklich spürbar für die Menschen    Ich auch (lacht).
                                  – außer dass der Sommer immer schöner wird.
                                  Leider ist es auch so, dass Präventionsmaßnahmen nicht     Nun ist ja nicht alles, was dieser Onkel sagt, gleich
                                  selten Opfer ihres Erfolgs werden. Wenn sie sehr gut       eine Verschwörungstheorie. Wie würden Sie diesen
                                  funktionieren – so wie die Corona-Maßnahmen bei uns        Begriff definieren?
                                  –, sieht man die Gefahr, das mögliche Leid ja nicht, und   Laut Karen Douglas sind Verschwörungstheorien Ver-
                                  es scheint keinen Grund mehr zu geben, die Maßnah-         suche, die Ursachen bedeutender sozialer und politi-
                                  men aufrechtzuerhalten. Das ist ein Problem, das wir       scher Ereignisse und Umstände mit Behauptungen über
                                  aus dem Bereich der Impfskepsis kennen.                    geheime Handlungen von zwei oder mehr mächtigen
                                                                                             Akteuren zu erklären. Sie werden oft mit Regierungen
                                  Sie forschen an der Universität Erfurt zu                  assoziiert, können aber jede Gruppe beschuldigen, die
                                  Impfskepsis. Welchen Zusammenhang                          als mächtig oder bösartig wahrgenommen wird. Für
                                  sehen Sie zwischen Impfablehnung und den                   eine Verschwörungstheorie braucht es also ein paar Re-
                                  Verschwörungstheorien, die sich derzeit rund               zeptanteile: Es müssen zwei oder mehr Leute involviert
                                  um die Verbreitung des Corona-Virus ranken?                sein, es geht um ein soziales oder politisches Großereig-
                                  Anscheinend gibt es Überschneidungen zwischen              nis und um mächtige Akteure. Nicht gesagt ist, ob die
                                  den jeweiligen Personengruppen.                            Theorien wahr oder falsch sind. Auch wenn sie in der
                                  Wir sehen da viele Ähnlichkeiten, egal, ob es um Ver-      Regel sehr unwahrscheinlich sind, werden wir es zum
                                  schwörungstheorien, Impfskepsis oder das Leugnen des       Teil nie mit letzter Sicherheit wissen.
                                  Klimawandels oder der Evolution geht – nicht unbe-
                                  dingt bei den Menschen, aber bezüglich der Rhetorik        Oft gibt es aber doch Evidenz, die gegen die
                                  und in den verfolgten Zielen. Eine britische Studie von    Theorie spricht.
                                  Karen Douglas et al. (2012) zeigt, dass Personen, die      Menschen, die einer Verschwörungstheorie anhängen,
                                  denken, dass Lady Diana noch lebt, auch eher glauben,      argumentieren auf so etwas meist mit einer Art infi-
                                  dass sie ermordet wurde.                                   nitem Regress im Sinne von: Die Evidenz, die du vor-
                                                                                             bringst, ist Teil der Verschwörung. Sie verletzen mit
                                  Wie bitte?                                                 ihrer Konstruktion Prinzipien, die wissenschaftlichem
                                  Das klingt paradox, ergibt aber Sinn, wenn man sich        Arbeiten zugrunde liegen, oder auch einfache Regeln
                                  überlegt, was dahintersteht: das übergeordnete Ziel,       der Wahrscheinlichkeit, wie etwa »Hanlon's Razor«:
reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

                                  gegen die etablierte Meinung zu sein, gegen die offi-      »Never attribute to malice that which can be adequately
                                  zielle Version. Und warum? Da gibt es unterschiedliche     explained by stupidity.«
                                  Motive. Bestimmte politische Strömungen versuchen,
                                  etablierte Säulen der Gesellschaft und damit das Ver-      »Schreibe nicht der Böswilligkeit zu, was durch
                                  trauen zu erschüttern und sich damit einen politischen     Dummheit hinreichend erklärbar ist.«
                                  Vorteil zu schaffen. Nicht zuletzt hat US-Präsident        Natürlich ist es vorstellbar, dass die Corona-Pandemie
                                  Trump während seines Wahlkampfes gegen das Impfen          noch nicht unter Kontrolle ist, weil die Regierungen

                                                                                                                                                     7
Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
die Menschen krank machen wollen, um etwa einen              Debatten, für die man ein gutes Training braucht und
                                                        Impfstoff vertreiben zu können. Das wäre die »Boshaf-        sehr fit sein muss.
                                                        tigkeits-Erklärung«. Es könnte aber auch sein, dass die
                                                        Regierungen nicht effizient genug (zusammen)arbeiten.        Zumal die andere Seite sehr geübt ist …
                                                        Das ist die »Dummheits-Erklärung«. Wenn wir mal ehr-         Ja, denn wie Sie schon gesagt haben: Diese Menschen
Foto: Theresa Köhler

                                                        lich sind, ist – insbesondere bei der derzeitigen amerika-   haben oft Gegenwind und sind entsprechend trainiert,
                                                        nischen Regierung unter Trump – die Annahme von In-          mit ihm umzugehen. Sie sind meist rhetorisch bewan-
                                                        effizienz wesentlich naheliegender als ein ausgeklügelter    dert, können schnell ausweichen und wissen, wie sie
                                                        Plan, der Tausende von Menschen involvieren würde.           im Gespräch das Ruder an sich reißen. Glücklicherweise
                                                        Das zweite Prinzip, das oft verletzt wird, ist der so-       gibt es auf der Seite der Vernunftorientierten sehr kom-
                       Philipp Schmid ist
                       wissenschaftlicher Mitar-        genannte »burden of proof«, die Beweislast für die Ar-       petente Menschen, die unseren Ansatz erstaunlich
                       beiter an der Professur für      gumentierende bzw. den Argumentierenden. Im Engli-           schnell erfolgreich anwenden.
                       Sozial-, Organisations- und
                                                        schen sagt man: »Extraordinary claims require extraor-
                       Wirtschaftspsychologie der
                       Universität Erfurt.              dinary evidence.« Wenn ich also eine absurde Theorie         Inwiefern ist es kontraproduktiv, wenn die Medien
                                                        aufstelle, muss ich auch absurd gute Evidenz dafür           über Verschwörungstheorien oder auch die
                       E philipp.schmid@uni-erfurt.de
                                                        vorbringen, ansonsten bleibt es eine ziemlich unhalt-        Demonstrationen gegen die Corona-Maßnahmen
                                                        bare Aussage. Aber das tun die wenigstens Menschen,          berichten? Denn eigentlich betrifft das ja nur eine
                                                        die einer Verschwörungstheorie anhängen. Das geht so         kleine Gruppe von Menschen.
                                                        weit, dass sie die Abwesenheit von Evidenz als Beweis        Ich hatte, wenn ich die Berichterstattung sah, in den
                                                        ansehen, im Sinne von: Diese Verschwörung ist so gut,        vergangenen Wochen manchmal den Eindruck, dass die
                                                        dass keine Evidenz ans Tageslicht kommt.                     Hälfte der Bevölkerung völlig wahnsinnig ist. Das wird
                                                                                                                     aber durch Daten nicht gestützt: Der Glaube an Ver-
                                                        Wie ist dem beizukommen?                                     schwörungstheorien ist weiterhin relativ stabil niedrig.
                                                        Unterscheiden muss man auf jeden Fall zwischen Hardli-       »Wissenschaft im Dialog« hat zudem in einer Umfrage
                                                        nern und Menschen, die schlichtweg verunsichert, aber        gezeigt, dass das Vertrauen in die Wissenschaft über die
                                                        in einem direkten Gespräch durchaus zugänglich sind.         Pandemie-Zeit sogar gestiegen ist. Das heißt, der Groß-
                                                        Ich würde behaupten, dass jeder Mensch – tagesform-          teil der Menschen vertraut auf die Wissenschaft und
                                                        abhängig – mal die eine oder andere Verschwörungsthe-        agiert rational. Aber es ist natürlich Fokus der Medien,
                                                        orie glaubt. Das ist nichts Pathologisches, sondern sehr     immer neue Dinge zu berichten, und Verschwörungs-
                                                        normal. In der Regel relativiert sich das, wenn man noch     theorien und die Menschen, die daran glauben, sind nun
                                                        einmal darüber nachdenkt oder gegenteilige Evidenz           mal interessant. Ich sehe da die Gefahr der »false ba-
                                                        hört. Aber es gibt eben auch Extremisten, die solche         lance«, der medialen Verzerrung, bei der dieser Minder-
                                                        Theorien nicht nur entwickeln, sondern auch versu-           heitsmeinung zu viel Gewicht gegeben wird. Und meine
                                                        chen, sie zu verbreiten und in den Medien zu platzieren.     Befürchtung ist, dass durch diese falsche Gewichtung
                                                        Unsere Forschung zeigt, dass es nicht reicht, so etwas       komische soziale Normen kommuniziert werden – als sei
                                                        einfach zu ignorieren, man muss dagegenhalten, sonst         es etabliert, diesen Unsinn zu glauben. Für Menschen,
                                                        können die Theorien ihren schädlichen Einfluss weiter        die sehr verunsichert sind, kann das gefährlich sein.
                                                        entfalten, etwa auf die Impfbereitschaft der Menschen.
                                                        2Wie macht man das sinnvollerweise?                          Sehen Sie dabei auch eine bleibende Gefahr für
                                                        Es gibt im Prinzip zwei Wege. Der eine ist: korrekte         die Gesundheit in der Gesellschaft, etwa weil sich
                                                        Fakten kommunizieren. Das funktioniert unseren Stu-          impfskeptische Menschen noch mehr durchsetzen?
                                                        dien zufolge gut. Der zweite Weg besteht darin, die          Es gibt Studien, die belegen, dass Verschwörungstheo-
                                                        rhetorischen Techniken zu hinterfragen. Wissenschafts-       rien risikoreiches Verhalten in Bezug auf Aids erhöhen.
                                                        leugnende nutzen in der Regel fünf Techniken: Erstens        Die Impfbereitschaft sinkt, die Skepsis gegenüber Er-
                                                        werden falsche Expertinnen und Experten zitiert, also        kenntnissen zum Klimawandel erhöht sich, politisches
                                                        Personen, die zwar einen Doktortitel haben, aber auf ei-     Engagement sinkt, prosoziales Verhalten nimmt ab …
                                                        nem ganz anderen Gebiet. Zweitens gibt es unmögliche         Also ja, man kann Verschwörungstheorien als eine große
                                                        Erwartungen, etwa dass eine Impfung zu 100 Prozent           Gefahr sehen. Dennoch glaube ich, dass diese Gefahr
                                                        sicher sein muss – obwohl ja kein medizinisches Produkt      nicht von der breiten Bevölkerung ausgeht, sondern
                                                        hundertprozentig sicher ist. Zudem gibt es drittens eine     von einflussreichen Einzelpersonen wie etwa Donald
                                                        gewisse Selektivität, indem z. B. einzelne Studien aus       Trump, der den öffentlichen Dialog mit seinen Theo-
                                                        Metaanalysen herausgezogen werden. Viertens werden           rien vergiftet. Und diese Pandemie – das sogenannte
                                                        logische Fehler gemacht. Und fünftens werden Ver-            »postfaktische Zeitalter« – hat schon vor COVID-19 be-
                                                        schwörungstheorien zur Erklärung herangezogen. Das           gonnen. Um dem entgegenzutreten, brauchen wir die
                                                                                                                                                                                reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

                                                        Gute an der Demaskierung dieser rhetorischen Tech-           Zusammenarbeit von allen Freunden der Weisheit, egal,
                                                        niken ist, dass sie über alle möglichen Inhaltsbereiche      ob aus Psychologie, Medizin oder Pädagogik. Und diese
                                                        hinweg funktioniert: Impfen, Klimawandel, Evolution,         Herausforderung kann nur gemeistert werden, wenn wir
                                                        Pandemie ... Wenn man das einmal draufhat, kann man          als Disziplin neben der Wissenschaft auch die Wissen-
                                                        schnell identifizieren, was an einem vorgebrachten           schaftskommunikation wahrnehmen und stärken.
                                                        Argument komisch war und was die richtige Antwort
                                                        wäre. Schriftlich ist das natürlich einfacher als in Live-   Das Gespräch führte Susanne Koch.

                                                        8
Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
r e p o r t fokus

                                  Psychologie-Organisationen bieten der
                                  Politik Unterstützung bei der weiteren
                                  Bewältigung der COVID-19-Krise an
                                  Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), die Deutsche Gesellschaft für Psy-
                                  chologie (DGPs), die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK) und das Leibniz-Zentrum für Psychologische
                                  Information und Dokumentation (ZPID) äußern sich in einem Statement-Papier zu Herausforderungen, Zielen
                                  und Maßnahmen im Umgang mit der Pandemie und bieten der Politik ihre Unterstützung an.

                                  Nach der erfolgreichen Eindämmung der Ausbreitung
                                  des Virus ist derzeit eine Aufmerksamkeitsverschiebung
                                  zu den wirtschaftlichen und sozialen Sorgen zu beob-
                                  achten. Dabei kann ein Stimmungswandel drohen, der
                                  den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die aktive
                                  Mitarbeit der Bevölkerung an den weiterhin erforder-
                                  lichen Maßnahmen zur Krisenbewältigung untergraben
                                  kann. Ernste Warnsignale sind das Auftreten von Ver-
                                  schwörungserzählungen und Sorglosigkeit im Umgang
                                  mit der Ansteckungsgefahr.
                                  Die zentralen Psychologie-Organisationen in Deutsch-
                                  land fordern die Bundesregierung daher auf, psychologi-
                                  sche Expertise verstärkt bei den Maßnahmen zur weite-
                                  ren Bewältigung der COVID-19-Krise zu berücksichtigen
                                  und bieten dazu ihre Unterstützung an. Für die Kernthe-
                                  men »Stimmungswandel«, »Schutzverhalten«, »psychi-
                                  sche Folgen«, »gesellschaftlicher Zusammenhalt« sowie

                                                                                                                                                                       Foto: Cottonbro – pexels.com, bearbeitet durch DP V
                                  »Bedeutsamkeit der Datengrundlage« benennen BDP,
                                  DGPs, BPtK und ZPID die jeweiligen Herausforderungen
                                  und Ziele und schlagen konkrete Maßnahmen vor.
                                  Gerade im Hinblick auf eine mögliche zweite Welle der
                                  COVID-19-Pandemie stellt das Schaffen von Akzeptanz
                                  in der Bevölkerung für weitere Einschränkungen eine He-
                                  rausforderung dar. Hier spielt die Psychologie eine bedeut-
                                  same Rolle, indem sie Hinweise gibt, wie Maßnahmen
                                  angemessen und nachvollziehbar kommuniziert werden
                                  sollten und welche Zielgruppen besonders relevant sind.
                                  Für die langfristigen psychischen Folgen der COVID-
                                  19-Krise ist es von äußerster Bedeutung, ob die gegen-
                                  wärtigen Ereignisse im Nachhinein als kollektive Bewäl-       Lage« der Bevölkerung. Die Organisationen sprechen
                                  tigungserfahrung und damit als gemeinsames Erfolgs-           sich daher dafür aus, bestehende repräsentative Erhe-
                                  erlebnis oder als Misserfolgserlebnis mit Betonung ge-        bungsinfrastrukturen für die Psychologie zu öffnen und
                                  sellschaftlicher Unterschiede und negativer Erfahrungen       langfristig zu sichern. Die so ermittelbaren Befunde kön-
                                  im Gedächtnis abgespeichert werden.                           nen rasche evidenzbasierte Maßnahmen ermöglichen,
                                  Für eine gelingende Bewältigung müssen etwa Unter-            wie z. B. zur Unterstützung vulnerabler Zielgruppen mit
                                  stützungsangebote für verschiedene Zielgruppen dauer-         besonderem Informations-, Schutz- und Förderbedarf,
reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

                                  haft zur Verfügung gestellt werden. Gleichzeitig sollte       und damit zur Herstellung von Vertrauen in Institutio-
                                  eine ausgewogene Berichterstattung mit der Betonung           nen und zur Förderung des gesellschaftlichen Zusam-
                                  von Aktivitäten und Erfolgen unterschiedlichster Be-          menhalts beitragen.
                                  völkerungsgruppen angestrebt werden.
                                  Zur Beurteilung der hier genannten, aber auch der be-         Dr. Meltem Avci-Werning, Präsidentin des BDP
                                  reits ergriffenen Interventionen, fehlt es in Deutsch-
                                  land an einer Datengrundlage über die »psychologische         Christin Schörk, Referentin für Berufspolitik

                                                                                                                                                       9
Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
Foto: Julia M. Cameron – pexels.com
Kontakt, Beziehung, Resonanz
Herausforderungen für Lernende und Lehrende – gerade in Zeiten der Pandemie

               Beziehung ist die Voraussetzung für erfolgreiches Lernen   lage hatten, jeden Tag bei ihr vorstellig zu werden,
               in der Schule. Diese Tatsache ist mittlerweile weltweit    nun persönliche Briefe. Sie gibt Rückmeldung über
               bekannt. Beziehung im Unterricht zu gestalten, ist nicht   bisherige individuelle Fortschritte, formuliert aber
               immer einfach, aber allein durch physische Präsenz in      auch die Erwartung und bekundet gleichzeitig Zu-
               vielfältiger Weise möglich: durch direkte Ansprache,       trauen, dass sich die Kinder auch in Zeiten, in denen
               Lächeln, das Schauen über die Schulter, wohlwollen-        sie zu Hause lernen, so gut es geht bemühen werden.
               des oder tröstendes Berühren am Arm, auffordernde,         Das ist ein Ausdruck von Beziehung, den die Kinder
               freundliche, auch mal missbilligende Blicke, Vier-Augen-   wahrlich anfassen und erleben können.
               Gespräche und vieles mehr. Doch wie können Lehrkräfte
               mit Schülerinnen und Schülern in Beziehung bleiben,        Die Klassenlehrerin der dritten Klasse einer Grund-
               also Resonanz und Präsenz zeigen, wenn zu Hause ge-        schule nutzt ihre Fahrradtouren, um Arbeitsmate-
               lernt und die Schule nur tageweise besucht wird und        rial bei Familien, die keinen PC und Drucker haben,
               physische Präsenz daher nicht oder aufgrund der Hygie-     persönlich auszuliefern. Sie wird von der kritischen
                                                                                                                                                                        reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

               nepläne nur eingeschränkt möglich ist? Technische Hilfs-   Elternschaft in ihrem Engagement präsenter wahr-
               mittel sind nur ein Aspekt, die innere Haltung und dar-    genommen als je zuvor.
               aus abgeleitetes Handeln sind weitaus entscheidender.
                                                                          Ein Lehrer der sechsten Klasse eines Gymnasiums for-
                Gelungene Beispiele aus der Praxis                        dert seine Schülerinnen und Schüler auf, ihm Briefe
                Eine Schulleiterin schreibt Schülerinnen und Schü-        zu schreiben: über ihr Befinden und Erleben in Bezug
                lern, die aufgrund besonderer Regelverstöße die Auf-      auf die Pandemie, die Ausgangbeschränkungen und

               10
Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
r e p o r t fokus
                                   die Schulschließung. Die Schülerinnen und Schüler          Schülern als auch zu den Eltern, stellt Lehrkräfte in Zei-
                                   spüren sein persönliches Interesse und äußern sich         ten der Krise vor besondere Herausforderungen. Tele-
                                   viel offener als am Telefon oder in der Gruppe bei der     fon, E-Mail, Video- und Messenger-Dienste zu nutzen,
                                   Videokonferenz. Der Lehrer kann auf das Erfahrene          fordert von Lehrkräften neben der Aufbereitung des
                                   und seine Einschätzung der Situation später gezielt        Arbeitsmaterials, dem Zeitaufwand und der Einstellung
                                   in Einzelgesprächen eingehen.                              auf ausgefeilte Hygienepläne noch weiteres Engage-
                                                                                              ment: die Fähigkeit zur eigenen Selbstorganisation in
                                   Dem Kollegium einer Ganztagsgrundschule ist es             diesem ungewohnten Kontext, eine reflektierte Eigen-
                                   gelungen, durch beharrliche Telefonate und die             wahrnehmung, soziales Bewusstsein und Freude an der
                                   Nutzung von Messenger-Diensten Kontakt zu allen            Verwendung von Handwerkszeug zum Beziehungsma-
                                   Familien zu halten – auch mit jenen, die man schon         nagement. Doch wenn sie sich darauf einlassen, kön-
                                   »aufgegeben« hatte. Die Beziehung von Lehrkräften          nen sie helfen, diese zunehmend wichtiger werdenden
                                   zu Eltern war noch nie so intensiv, das zeigen die         Aspekte emotionaler Intelligenz auch bei ihren Schüle-
                                   vielen positiven Rückmeldungen der Mütter und              rinnen und Schülern zu entwickeln.
                                   Väter. Man plant, diese Errungenschaft mit einem
                                   gemeinsamen Fest zu feiern, sobald dies möglich            Aufgabe der Schulpsychologie ist es, Lehrkräfte und
                                   sein wird.                                                 Schulen in ihrer Verantwortung für die Schülerinnen
                                                                                              und Schüler zu unterstützen. In Zeiten der Pandemie
                                                                                              bedeutet dies vor allem:
                                  Beziehungssignale senden, Struktur schaffen                 ƒ in Kontakt (sowohl zu Schulleitungen als auch zu
                                  Klare Beziehungssignale können in einer Situation wie          Lehrkräften) bleiben oder ihn suchen
                                  der Corona-Pandemie derzeit wohl noch am besten             ƒ Informationen sammeln: Erfragen der aktuellen Si-
                                  durch Telefonate gesendet werden. Grund hierfür ist            tuation vor Ort (z. B. Kontaktstatus zu Schülerinnen
                                  die unterschiedliche digitale Ausstattung der Familien.        und Schülern, Umgang mit deren Fragen und Befin-
                                  Telefonate können im wöchentlichen bis im Einzelfall           den, Unsicherheiten, Ängsten, Sorgen oder deren
                                  auch täglichen Rhythmus (im Sinne eines individuellen          Abtauchen bzw. Nichterreichbarkeit, Befangenheit
                                  Nachteilsausgleichs) erfolgen. Die Lehrkräfte signalisie-      beim Wiederkehren an die Schule, Best-Practice-
                                  ren so zusätzlich zum eingeschränkten Präsenzunterricht        Lösungen)
                                  neben Kontrolle auch Interesse, Sorge, Verantwortung        ƒ psychologische Beratung und Unterstützung an-
                                  und individuelle Unterstützung. Die Stimme der Leh-            bieten: Neben den technischen und hygienischen
                                  rerin oder Lehrers zu hören, macht deren Wirken für            Herausforderungen zum Schutz vor Krankheit tre-
                                  Schülerinnen und Schüler erlebbar.                             ten zunehmend die psychischen und emotionalen
                                                                                                 Auswirkungen der massiven Einschränkungen, be-
                                  Der Anruf gibt zudem einen wichtigen Impuls zur                sonders für Kinder und Jugendliche, in den Vorder-
                                  Strukturierung. Letztere entfällt ohne Stundenplan und         grund
                                  Schulbesuch nämlich komplett. Der Wecker am Morgen          ƒ Übertragen bisheriger Beratungsinhalte auf die
                                  allein schafft keine Struktur für den gesamten Vormittag       aktuelle Situation: Betonung der Bedeutung von
                                  oder gar Tag. Das Haus verlassen, den Ort wechseln, das        Beziehung, Aufrechterhaltung und Gestaltung der
                                  Schulgebäude aufsuchen und dessen Räumlichkeiten,              Beziehung zu Schülerinnen und Schülern sowie zur
                                  Organisation und Zeitplan nutzen – dies sind wichtige          Elternschaft durch angepasste Kontaktaufnahme,
                                  strukturelle externe Bedingungen für das In-die-Gänge-         Präsenz und Resonanz
                                  kommen, die in Phasen des Zu-Hause-Lernens weg-             ƒ Fallbesprechungen anbieten, z. B. zur Gestaltung
                                  fallen.                                                        der Beziehung zu Schülerinnen und Schülern mit
                                                                                                 besonderem Förderbedarf im Bereich emotionaler
                                  Wenn Impulse durch die Lehrkräfte ausbleiben, ist es           und sozialer Entwicklung oder bei einem Verdacht
                                  an den Müttern und Vätern und ggf. an den älteren              auf Kindeswohlgefährdung
                                  Geschwistern, entsprechend zu handeln. Oder es bleibt       ƒ Supervision und Coaching für Lehrkräfte anbieten,
                                  den Schülerinnen und Schülern komplett selbst über-            wenn es z. B. darum geht, mit dem Druck umzu-
                                  lassen, sich zu motivieren und zu strukturieren und ans        gehen, die Fragen der Schülerinnen und Schüler
                                  Lernen und Arbeiten zu kommen. Dann kann allerdings            beantworten zu müssen, oder zum Umgang mit der
                                  schon das Abrufen der E-Mail mit dem Wochenplan                eigenen Unsicherheit und Angst bzw. zur Nutzung
                                  bzw. dessen Download eine unüberwindbare Hürde                 von Ressourcen und Regelwissen zur Wiedererlan-
                                  sein, vor allem wenn Playstation und Tablet so viele           gung von Handlungssicherheit
                                  attraktivere Angebote und schnellere Rückmeldungen          ƒ ausgiebige Nutzung von Telefon, Telefonkonferen-
reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

                                  bereithalten oder wenn eine Impulssteuerungsschwäche           zen, Videokonferenzen, E-Mail usw.
                                  selbstständiges Arbeiten generell erschwert.                ƒ Entwicklung neuer Konzepte und Herangehenswei-
                                                                                                 sen für Beratung und Diagnostik
                                  Herausforderungen für Lehrkräfte und
                                  Schulpsychologie                                            Andrea Spies
                                  Kontakt aufzubauen, Beziehung zu gestalten und in           Vorstand Sektion »Schulpsychologie«
                                  Resonanz zu gehen, sowohl zu den Schülerinnen und

                                                                                                                                                      11
Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
»Wenn Sie sich am Montagmorgen

                                                                                                                                       Foto: Engin Akyurt – unsplash.com
fühlen, als sei Freitagabend«
Stress in Zeiten der Corona-Pandemie

                »Giving psychology away«: Dr. Bruce Perry erklärt in leicht verständlichen Videos, was Corona-Pandemie und der damit
                verbundene Stress mit uns machen und wie wir unsere Resilienz stärken können. Manuel Lentz im Gespräch mit einem
                der wichtigsten US-amerikanischen Traumatherapeuten.

               Was ist der Hintergrund der von Ihnen                          Durch die Corona-Einschränkungen kommen nicht
               produzierten Videoreihe?                                       nur viele unerwartete Probleme und Stressoren
               Es gibt viele Menschen, die von der derzeitigen Situation      hinzu, es fallen auch Ressourcen weg.
               überfordert sind. Das spüren wir nicht nur in der Arbeit       Gute soziale Beziehungen etwa – eine der wichtigsten
               mit Familien und traumatisierten Kindern und Jugend-           Ressourcen. Mit anderen Menschen Zeit zu verbringen,
               lichen. Auch für medizinisches Personal, das an vor-           zu reden und zu lachen, andere zu berühren und zu um-
               derster Front gegen das Virus kämpft, ist diese Zeit sehr      armen – das alles macht, dass wir uns erfrischt und besser
               belastend. Wegen der Kontaktbeschränkungen können              reguliert fühlen. Ein Online-Meeting kann eine direkte
               zudem pädagogische und therapeutische Fachkräfte zum           Interaktion, den physischen Kontakt nicht ersetzen. Durch
               Teil ihre Arbeit nicht fortsetzen, nicht mit allen Klientin-   die Abstandsregelungen kommt es zu einer Art »Ausfran-
               nen und Klienten in Verbindung bleiben. Das belastet           sung« des sozialen Gefüges vieler Menschen. Und das
               nicht nur die Betroffenen, sondern auch die, die ihnen         gilt nicht nur für Alleinstehende. Viele Beschäftigte im
               helfen wollen. Ich hoffe, dass meine Arbeit Menschen           US-Gesundheitswesen etwa isolieren sich freiwillig von
               dabei unterstützen kann, mit der derzeitigen Situation         ihren Familien, um diese nicht anzustecken ...
               zurechtzukommen.
                                                                              … und nehmen sich damit ausgerechnet in einer
               In Ihren Videos sagen Sie, dass auch Menschen, die             besonders belastenden Zeit eine Ressource.
               an sich gut mit Stress umgehen können, jetzt zum               Ja, das ist hart. Medizinische Fachkräfte sehen immer
               Teil Probleme haben, die Situation zu bewältigen.              wieder Menschen sterben, aber derzeit passiert das
               Den alltäglichen Stress, also moderate, kontrollierbare        noch häufiger, und die Hilflosigkeit ist größer.
               und vorhersehbare Stressoren, können die meisten von
               uns gut bewältigen, und mit der Bewältigung sammeln            Auch aus physiologischer Sicht ist das alles andere
               wir Erfahrungen, die uns wiederum belastbarer, resi-           als gesund.
               lienter machen. Aber ganz gleich, wie gut Sie reguliert        Wie wir wissen, führt lang anhaltender Stress zu einer
               sind, wenn Sie extremen Stress erleben, immer wieder           Schwächung des Immunsystems. So macht uns ironi-
               aus Ihren Routinen gedrängt werden oder fortwährend            scherweise unsere Angst vor dem Virus anfälliger für das
               mit Herausforderungen konfrontiert sind, die sich Ihrer        Virus selbst. Zudem wird unser Schlaf gestört, ebenso
               Kontrolle entziehen, wird Sie das erschöpfen.                  wie die Fähigkeit, uns zu mobilisieren. Ich hatte sicher
                                                                              vergleichsweise wenig Stress und fühle mich dennoch
               Stress wie diese Pandemie …                                    derzeit oft erschöpft.
               Viele von uns haben das Glück, dass sie vor Beginn
               der Pandemie eher auf der Seite der Resilienz standen.         Dabei ist es Montagmorgen!
                                                                                                                                                                           reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

               Aber auch ein sehr belastbarer Mensch kann auf Dauer           Ja (lacht) ... Wenn Sie sich am Montagmorgen fühlen,
               seine Reserven aufbrauchen. Derzeit sehen wir selbst           als sei Freitagabend, dann wissen Sie, dass es in letzter
               bei ausgezeichneten Klinikerinnen und Klinikern, wie           Zeit ein bisschen zu viel war.
               sie sich erschöpfen. Wie geht es da erst Menschen, die
               schon vorher vulnerabel waren, denen es an finanziellen        Wie können nun die Videos und das darin
               Reserven, sozialem Kapital oder schlichtweg den Fähig-         vermittelte Wissen helfen?
               keiten zur Stressbewältigung fehlt?                            Ich persönlich schlafe eigentlich recht viel, dennoch
                                                                              fühle ich mich derzeit nicht erfrischt. Das ist nicht
                12
Psychology of Pandemics - "The psychological footprint will be larger than the medical footprint " - Psychologische Hochschule Berlin
r e p o r t fokus
                                  schön, mein Vorteil in dieser Situation ist aber: Ich weiß,   und Weise. Im Zustand der Ruhe haben wir Zugang
                                  dass das vorübergehen wird. Das hilft mir sehr. Wenn          zu bestimmten Systemen im Cortex, der uns verwehrt
                                  Menschen ihre Stressreaktionen nicht verstehen, kann          bleibt, wenn wir gestresst oder verängstigt sind. Wir
                                  sie das noch mehr ängstigen: »Was ist mit meinem Kör-         denken besser und klarer in Ruhe und Gelassenheit.
                                  per? Stimmt etwas nicht mit mir?« Wir vermitteln in den       Und so besteht einer der Vorteile von Achtsamkeit da-
                                  Videos: »Ja, ihr werdet Angst haben, und das hat Folgen       rin, dass sie uns rationaler und weniger emotional und
                                  für euren Körper. Aber das ist okay.«                         reaktiv macht. Das ist etwas, das wir jetzt brauchen.

                                                                                                                                                                                          Foto: privat
                                  Ein weiterer Punkt, den wir thematisieren: Je mehr wir        Leider ist es Mangelware.
                                  fernsehen und die Nachrichten verfolgen, desto mehr
                                  ängstigen wir uns und deregulieren. Stattdessen sollten       Ehrlich gesagt hatte ich auch vor der Pandemie                Dr. Bruce Perry gilt
                                  wir versuchen, uns zu regulieren: einen Spaziergang ma-       schon oft das Gefühl, in einer sehr hektischen,               als einer der wichtigsten
                                  chen, uns künstlerisch oder handwerklich betätigen, ein       stressigen Zeit, einer kompetenz- und                         Traumatherapeuten der
                                                                                                                                                              USA und ist Begründer
                                  Buch lesen. Meine Frau war kürzlich völlig aufgewühlt         leistungsgetriebenen Gesellschaft zu leben.                   des »neurosequenziellen
                                  durch die Bilder aus Italien. Aber sie kann ja aus der        In unserer geschäftigen westlichen Welt, in der oft ein       Ansatzes in der Trauma-
                                  Ferne nicht wirklich etwas tun, um zu helfen, schon gar       Termin den anderen jagt, leiden viele Menschen unter          therapie«.
                                  nicht, indem sie sich selbst aufreibt.                        einem chronisch erhöhten Stresslevel, das sie daran hin-      www.bdperry.com
                                                                                                dert, kreativ, produktiv und reflektiert zu sein. Viele Un-
                                  Meiner Mutter ging es ähnlich: Sie kommt aus                  ternehmen stellen wirklich begabte Menschen ein, lassen
                                  Ecuador, das vom Corona-Virus schwer getroffen                sie dann aber unter Bedingungen arbeiten, unter denen
                                  wurde. Die Regierung hat unzureichend reagiert,               sie sich nicht entfalten können. Nur wenn Menschen
                                  es kam so schlimm, dass Leichen auf die Straße                Raum und Zeit zum Nachdenken haben, können sie ihr
                                  gelegt wurden, weil die Leichenhallen voll waren.             Potenzial ausschöpfen. Aber es ist vermutlich schwer zu
                                  Als meine Mutter diese Nachrichten sah, war sie               verstehen, dass Sie mehr von ihren Mitarbeitenden be-
                                  sofort im Alarmzustand und grübelte, wie sie                  kommen, wenn Sie sie bitten, weniger zu arbeiten.
                                  helfen könne. Fakt ist aber: Das, was dort gerade
                                  gebraucht wird, ist nichts, was sich aus der Ferne            Allerdings.
                                  beschaffen ließe. Tu, was du tun kannst, aber sei             Die kreativsten Arbeitsgruppen verfügen über riesige Blö-
                                  dir bewusst, dass du manchmal nichts tun kannst –             cke freier und unstrukturierter Zeit, in denen die Leute
                                  und dass das in Ordnung ist.                                  nur nachdenken, Gespräche führen und Dinge tun, die
                                  Das ist eine wichtige Beobachtung. Bei solchen Ereig-         nicht wirklich etwas mit dem Auftrag der Organisation zu
                                  nissen ist es eine zentrale Frage, wie man mit Dingen         tun haben – doch am Ende stehen hervorragende Ideen.
                                  umgeht, die man gerade nicht bewältigen, nicht ändern
                                  kann. Wir sollten ergründen: Was können wir tatsächlich       Wie ist es bei Ihnen, welche Regulierungsstrategien
                                  tun? Und was können wir tun, um eines Tages in der Lage       nutzen Sie derzeit?
                                  zu sein, zu helfen? Dazu gehört es, die Situation erst ein-   Ich höre Musik, wenn ich arbeite, oder gehe in der Natur
                                  mal selbst zu überstehen. Viele Menschen richten viel zu      spazieren, wann immer ich die Möglichkeit habe. Über-
                                  viel Energie auf Dinge aus, die sie nicht ändern können.      haupt sind rhythmische somatosensorische Aktivitäten
                                                                                                – Musizieren, rhythmisches Atmen oder rhythmische Be-
                                  Sie raten den Menschen, eine gewisse Routine zu               wegungen wie Gehen, Joggen oder Tanzen – perfekt, um
                                  durchlaufen, um den Corona-Stress zu reduzieren.              sich zu regulieren. In der westlichen Welt haben wir die
                                  Wir empfehlen, sich zunächst zu fragen: Was ist im Mo-        seltsame Vorstellung, dass es richtig sei, beim Arbeiten zu
                                  ment meine größte Angst? Sie würden dann vielleicht           sitzen. Fakt ist, dass man kognitive Probleme besser lösen
                                  sagen: »Ich bin ein 28-jähriger, gesunder Mensch. Habe        kann, wenn man dabei geht. Albert Einstein lief zweiein-
                                  ich Angst, an den Folgen einer Corona-Infektion zu ster-      halb Stunden am Tag, Newton spazierte, wenn er über
                                  ben? Nicht wirklich. Habe ich Angst, dass jemand, den         Probleme nachdachte. Es gibt auch viele andere Möglich-
                                  ich liebe, stirbt? Das ist nicht ganz unrealistisch.« Und     keiten, aber: Bauen Sie ein wenig Rhythmus in Ihren Tag
                                  dann überlegen Sie: Was können Sie dagegen tun? Bars          ein, es wird Ihnen helfen, sich regulierter zu fühlen.
                                  und Partys vermeiden beispielsweise, Hände waschen,
                                  eine Maske tragen und vorsichtig sein, wenn Sie ein-          Gibt es noch etwas, was Sie ergänzen möchten?
                                  kaufen gehen. Und Sie merken, dass es ganz konkrete,          Ja! Wir sind heute dank moderner Technologien auf eine
                                  umsetzbare Dinge gibt, die Sie tun können. Der Schlüs-        Art und Weise verbunden, wie wir es noch nie waren.
                                  sel zu einer besseren Stressregulation ist, vor allem über    Ihre Familie stammt aus Ecuador, Sie sind Deutscher, le-
                                  die Dinge nachzudenken, über die Sie Kontrolle haben.         ben in den Niederlanden und sprechen mit mir, obwohl
                                                                                                ich gerade in Tennessee bin. Solche Begegnungen gab es
reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

                                  In Ihren Videos geht es auch viel um Achtsamkeit              früher nicht. Ich hoffe, dass wir in der Lage sind, zu er-
                                  und die damit verbundenen Vorteile.                           kennen, dass aus dieser Situation Wachstum entstehen
                                  Achtsamkeitsübungen helfen, sich zu zentrieren, in der        kann, dass sie uns etwas lehren kann, so schmerzhaft
                                  Gegenwart zu sein und den Augenblick zu schätzen.             diese Erfahrung auch ist.
                                  Zudem spielen sie eine Rolle für das, was wir »state-
                                  dependent functioning« nennen: Gehirn und Körper              Das Gespräch führte Manuel Lentz, seit 2017 engagiert im
                                  funktionieren je nach Zustand auf unterschiedliche Art        BDP (Twitter: @ManoLorca).

                                                                                                                                                        13
Psychische Gesundheit und
Wohlbefinden in Zeiten von Corona
                                                                        Foto: Engin Akyurt – unsplash.com

Erste Befunde aus der #stayhealthy-Studie
      Anke Lengning1, Katrin Rakoczy1, Elisabeth Jenisch2,
                                                                reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

      Mareile Opwis3 & Jennifer Schmidt1

      1 HSD Hochschule Döpfer, University of Applied Sciences
      2 Universität Bremen
      3 FernUniversität Hagen

      14
r e p o r t fachwissenschaftlicher teil
                                  Die Corona-Pandemie betrifft das physische und psychi-          Auf diese inneren und äußeren Einflüsse reagiert der Or-
                                  sche Wohlbefinden von Menschen weltweit. Ein Ende der           ganismus mit einem Zustand der Spannung, der in Ab-
                                  Krise und ihrer Auswirkungen – gerade auch auf das psy-         hängigkeit von der Effizienz der Spannungsbewältigung
                                  chische Wohlbefinden – ist bisher noch nicht abzusehen.         pathologische, neutrale oder heilsame Auswirkungen
                                  Nicht nur Einzelpersonen und Familien werden vor ganz           haben kann. Bei unzureichender Spannungsbewältigung
                                  neue Herausforderungen in fast allen Lebensbereichen            kommt es zum Stresssyndrom und zu einer Verschie-
                                  gestellt, auch viele Berufsgruppen (z. B. Lehrkräfte) und       bung der Position des Individuums auf dem »Health
                                  die Gesellschaft als Ganzes werden mit völlig unbekann-         Ease/Disease«-Kontinuum in Richtung Krankheit. Die
                                  ten Situationen konfrontiert. In rasanter Geschwindigkeit       im Rahmen der Corona-Pandemie weltweit erlassenen
                                  wurde eine Vielzahl an Studien zu gesellschaftlichen und        politischen, rechtlichen und sozialen Einschränkungen
                                  sozialen Auswirkungen der Corona-Pandemie gestartet.            sowie die persönlichen Erkrankungsängste können im
                                  Der Rat für Sozial- und Wirtschaftsdaten führt alleine 125      Sinne Antonovskys als Stressoren, welche den Organis-
                                  Studien auf, die sich mit der Corona-Pandemie und ihren         mus herausfordern, eingeordnet werden.
                                  Auswirkungen befassen (RatSWD, 2020). Aus diesen Stu-
                                  dien liegen bereits erste Ergebnisse zum Erleben von Be-        Die zentrale Frage im salutogenetischen Ansatz lautet:
                                  troffenen in bestimmten Bereichen, z. B. im Bildungssek-        Wie ist es möglich, eine adäquate Spannungsbewälti-
                                  tor (vgl. Anger et al., 2020), zum sozialen Miteinander (vgl.   gung zu erreichen und sich somit dem positiven Pol des
                                  Akkon Hochschule für Humanwissenschaften, 2020) oder            Kontinuums, der Gesundheit, zu nähern? Voraussetzung
                                  zu Auswirkungen auf gesellschaftliche Entwicklungen, wie        hierfür ist das Vorhandensein bestimmter generalisierter
                                  der Erwerbssituation von verschiedenen Personengrup-            Widerstandsressourcen, wie z. B. materieller Wohlstand,
                                  pen (vgl. Bünning, Hipp & Munnes, 2020), vor. Ein bisher        Wissen, Intelligenz, Ich-Identität sowie Selbstvertrauen,
                                  vernachlässigtes Thema betrifft die Frage: Welche Fakto-        Rationalität und Weitsicht beim Lösen von Problemen.
                                  ren tragen dazu bei, dass Menschen einen produktiven            Aber auch soziale Unterstützungssysteme sowie intakte
                                  Umgang mit den pandemiebedingten Belastungen fin-               Sozialstrukturen und eine funktionierende Gesellschaft
                                  den und psychisch gesund bleiben? Gerade dieses Thema           werden dazugezählt. Solche Ressourcen sowie spezifi-
                                  scheint jedoch äußerst relevant und vielversprechend, da        sche Lebenserfahrungen stärken den sogenannten Ko-
                                  aus entsprechenden Erkenntnissen Maßnahmen abgelei-             härenzsinn bzw. das Kohärenzgefühl (vgl. Franke, 2012).
                                  tet werden können, um individuelle Schutzfaktoren zu
                                  stärken und so den Umgang mit pandemiebedingten Be-             Unter Kohärenzgefühl versteht man nach Antonovsky
                                  lastungen zu erleichtern. Hier setzt die #stayhealthy-Stu-      (1979) eine allgemeine Grundhaltung gegenüber der
                                  die an. Sie bezieht sich auf das Modell der Salutogenese        Welt und dem eigenen Leben. Sie setzt sich zusammen
                                  von Antonovsky (z. B. 1979) und die Bindungstheorie nach        aus den Komponenten: Verstehbarkeit, Handhabbarkeit
                                  Bowlby (1969), um individuelle Schutzfaktoren zu identifi-      und vor allem Bedeutsamkeit. Verstehbarkeit beschreibt
                                  zieren, die es Menschen ermöglichen, die Krise psychisch        ein kognitives Verarbeitungsmuster und stellt die Fähig-
                                  gesund zu bewältigen.                                           keit eines Menschen dar, Eindrücke – sowohl bekannte
                                                                                                  als auch unbekannte – als geordnete, strukturierte In-
                                  Was erhält Menschen (psychisch) gesund?                         formationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Dagegen
                                  Antonovskys Modell der Salutogenese                             ist Handhabbarkeit ein kognitiv-emotionales Verarbei-
                                  Die Frage nach Bedingungen, die dazu beitragen, dass            tungsmuster, welches die Überzeugung eines Menschen
                                  Menschen gesund bleiben, findet meist wenig Beach-              beschreibt, dass sich Probleme lösen lassen. Die letzte
                                  tung im Vergleich zur pathogenetisch-kurativen Pers-            Komponente, die Bedeutsamkeit, beinhaltet das Aus-
                                  pektive. Nach jener werden Faktoren gesucht, die für            maß, in dem ein Mensch das Leben als sinnvoll erachtet
                                  die Entstehung von Krankheiten verantwortlich sind.             und es als lohnenswert empfindet, sich gewissen He-
                                  Antonovsky kritisierte bereits 1979 die rein pathoge-           rausforderungen zu stellen (vgl. auch Bengel, 2001).
                                  netisch-kurative Betrachtungsweise, und in der Folge
                                  erhielt die Suche nach gesundheitsfördernden Faktoren,          Die Ausprägung des Kohärenzgefühls bestimmt nach
                                  die »Salutogenese«, mehr Aufmerksamkeit. Diese Per-             Antonovskys Ansatz mit, wie ein Individuum einen
                                  spektive wird heutzutage insbesondere im Bereich der            Stressor bewertet. Ein hohes Kohärenzgefühl trägt dem-
                                  Prävention und Gesundheitsförderung vertreten. In den           nach dazu bei, dass eine geringere Bedrohung wahr-
                                  salutogenetischen Ansätzen geht es nicht um die Ent-            genommen wird und die Bewältigungsfähigkeiten und
                                  stehung und Erhaltung von Gesundheit als absolutem              Ressourcen optimistisch eingeschätzt werden. Dagegen
                                  Zustand; vielmehr versteht Antonovsky (1979) Gesund-            geht ein geringes Kohärenzgefühl mit dem Gefühl gerin-
                                  heit und Krankheit als zwei Endpunkte eines Kontinu-            gerer Bewältigungsmöglichkeiten einher. Diese Zusam-
                                  ums. Stressoren, welche in unterschiedlich großer Zahl          menhänge sind in zahlreichen Studien empirisch belegt
reportpsychologie ‹45› 7+8|2020

                                  und Stärke auf die Person einwirken, determinieren              worden (Domscheidt, Schwab & Seidler, 2008; Hart,
                                  das Gesundheitsniveau einer Person. Sie werden nach             Hittner & Paras, 1991; Lengning, Mackowiak, Steinhoff
                                  Antonovsky definiert als »demand made by the internal           & Franke, 2009; Sack, Künsebeck & Lamprecht, 1997;
                                  or external environment of an organism that upsets its          Ristkari, Sourander, Ronning & Helenius, 2006; Klepp,
                                  homeostasis, restoration of which depends on a non-             Mastekaasa, Sørensen, Sandanger & Kleiner, 2007; Lus-
                                  automatic and not readily available energy-expending            tig & Strauser, 2008).
                                  action« (Antonovsky, 1979, S. 72).

                                                                                                                                                        15
Sie können auch lesen