Qualitative Evaluierung der Chancenhäuser in der Wiener Wohnungslosenhilfe
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Forschungsbericht Qualitative Evaluierung der Chancenhäuser in der Wiener Wohnungslosenhilfe Transformationen, Herausforderungen und Möglichkeiten Forschungsteam und Autor*innen: Marc Diebäcker, Katrin Hierzer, Doris Stephan, Thomas Valina SOZIALES In Kooperation mit
Impressum: Autor*innen: Marc Diebäcker, Katrin Hierzer, Doris Stephan, Thomas Valina Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit (KOSAR) FH Campus Wien, Kelsenstraße 2, 1030 Wien Wien, Juni 2021 ISBN: 978-3-902614-68-1 In Kooperation mit dem Fonds Soziales Wien Alle Rechte vorbehalten. Die Verantwortung für die Inhalte des jeweiligen Beitrags liegt bei den Autor*innen. Medieninhaberin und Verlegerin: FH Campus Wien, Favoritenstraße 226, 1100 Wien, Austria www.fh-campuswien.ac.at
Qualitative Evaluierung der Chancenhäuser in der Wiener Wohnungslosenhilfe Transformationen, Herausforderungen und Möglichkeiten Marc Diebäcker Katrin Hierzer Doris Stephan Thomas Valina Kompetenzzentrum für Soziale Arbeit (KOSAR) FH Campus Wien, Kelsenstraße 2, 1030 Wien In Kooperation mit dem Fonds Soziales Wien
2 QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE Danksagung An dieser Stelle möchten wir jenen Personen unsere Für ihre Unterstützung im Forschungsprozess bedan- Wertschätzung und unseren Dank aussprechen, die ken wir uns bei Anna Aszódi, die fachlich fundiert Nut- dieses Forschungsprojekt mitgetragen haben. Unser zer*inneninterviews durchgeführt und transkribiert besonderer Dank gilt den Kolleg*innen der Chancen- hat. Auch Magdalena Danner und Caroline Lindner ha- häuser, die uns in der Ausnahmesituation der Pande- ben mit den Transkriptionen vieler Nutzer*inneninter- miebewältigung sehr offen empfangen sowie interes- views und Fokusgruppen zu einer breiten Datengrund- siert und stets hilfreich unterstützt haben. Sie in ih- lage beigetragen. Danke dafür! Zu danken haben wir rem Berufsalltag begleiten zu dürfen, ihre Antworten auch Stephanie Marx für das Korrektorat dieses For- auf unsere vielen Fragen und die vielen Gespräche mit schungsberichts, die uns in ihrer profunden und immer uns, in denen sie ihre Reflexionen geteilt haben, – dies hilfreichen Arbeitsweise ebenfalls eine große Hilfe alles war enorm lehrreich und ermöglichte uns tiefge- war. Dankbar sind wir auch Josef Bakic (Studiengangs- hende Einblicke in ihre Praxen. Ohne das starke Com- leiter BA Soziale Arbeit, FH Campus Wien) für die orga- mitment der vier beteiligten Einrichtungen von drei nisatorische Unterstützung und durch Freistellungen unterschiedlichen Trägerorganisationen und ihrer Mit- gezeigte Flexibilität, ohne die Forschen in Zeiten der arbeiter*innen wäre unser Forschungsvorhaben nicht Pandemie noch herausfordernder gewesen wäre. möglich gewesen. Ein großes Dankeschön geht an unsere Interviewpart- Wir danken den Kolleg*innen von stationären, ambu- ner*innen, die in der schwierigen Lebensphase der lanten und niederschwelligen Einrichtungen, den Mit- Wohnungslosigkeit bereit waren, ihre Erfahrungen arbeiter*innen vom Fachbereich Betreutes Wohnen, und Einschätzungen mit uns zu teilen. In Wertschät- Abteilung Wiener Wohnungslosenhilfe (WWH), und zung dieses wesentlichen Beitrags hegen wir die Hoff- dem Beratungszentrum Wohnungslosenhilfe (bzWO), nung, dass wir ihre Perspektive in diesem Bericht gut dass sie in den Fokusgruppen diskutiert und uns Ein- abbilden konnten. blick in ihre Ansichten und Perspektiven zur Verfügung gegeben haben.
QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE 3 Inhalt 1. Einleitung.. . . . . . . . ................................................. . . . . . . . 5 6.2.2 Anfrage- und Vergabeprozess . .......... 31 6.2.3 Barrieren beim Erstkontakt .. . . . . .......... 31 2. Executive Summary .. ..................................... . . . . . . . . 7 6.3 Einzug und Ankommen im Chancenhaus aus Sicht der Nutzer*innen.. . . . . . . . . . . . . . . . ........... 32 3. Wiener Chancenhäuser im Kontext der Forschung. . . . . . . ................................................. . . . . . . 14 7. Unterbringungsqualität.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 34 3.1 Internationaler Forschungsstand und 7.1 Grundbedürfnisversorgung.. . . . . . . . . . . . . . . . . .......... 34 Desiderate.................................................. . . . . . 14 7.2 Gesundheitliche Belastung und begrenzte 3.2 Wiener Chancenhäuser: Konzepte und Versorgungsstruktur.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .......... 34 Strategien .................................................. . . . . . 16 7.3 Zimmerbelegung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 36 4. Empirisch-qualitativer Forschungsprozess und 7.4 Zimmerausstattung und individuelle Methoden . . . . . . . ................................................. . . . . . 19 Aneignung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 37 4.1 Forschungszugang und Forschungsfragen.. . 19 7.5 Privatheit und Sicherheit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 37 4.2 Forschungsdesign und Projektphasen..... . . . . . 20 7.6 Gemeinschaftsflächen und soziale Begegnungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 38 5. Nutzer*innen der Chancenhäuser ............. . . . . . . 23 7.7 Tagesstruktur.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .......... 40 5.1 Soziodemographische Merkmale von 7.8 Partizipation und Nutzer*innen. . ............................................ . . . . . 23 Beschwerdemanagement.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 41 5.2 Bedarfslagen aus der Perspektive von 7.9 Hausordnung, Hausverbote und Soziale Nutzer*innen. . ............................................ . . . . . 24 Ordnung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .......... 41 5.3 Bedarfe der Nutzer*innen aus Sicht der Mitarbeitenden. . ........................................ . . . . . . 25 8. Fachliches Arbeiten .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .......... 44 8.1 Personalstruktur .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 44 6. Zugang in die Chancenhäuser....................... . . . . . 27 8.2 Gesundheitliche und pflegerische 6.1 Kapazitäten der Chancenhäuser .............. . . . . . 27 Versorgung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .......... 45 6.1.1 Hohe Auslastung und 8.3 Betreuung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .......... 46 Kapazitätsgrenzen ......................... . . . . . 27 8.3.1 Tätigkeiten der Betreuung. . . . . . . ........... 46 6.1.2 Zeitliche Befristung ....................... . . . . . . 28 8.3.2 Einzugsgespräch.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 47 6.1.3 (Nacht-)Notaufnahme ................... . . . . . . 29 8.3.3 (Soziale) Ordnung im Haus und 6.2 Der Anfrageprozess und Unterstützung im Alltag .. . . . . . . . . ........... 48 Zugangsmodalitäten zum Chancenhaus . . . . . . . 29 8.3.4 Beziehung und Kommunikation . ........ 49 6.2.1 Der Zugang aus 8.3.5 Fachliche Entwicklungsperspektiven Nutzer*innenperspektive .............. . . . . . 30 der Betreuung.. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ........... 49
4 QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE 8.4 Soziale Arbeit und Beratung..................... . . . . . 51 8.4.1 Tätigkeiten der Sozialarbeit........... . . . . . 51 8.4.2 Entwicklung von Wohnperspektiven als Prozess...................................... . . . . . . 53 8.4.3 Beziehung und Kommunikation .... . . . . . 55 8.5 Bezugsbetreuung als personenbezogene Fallführung.. ................................................ . . . . . 56 8.6 Begleitungen zu externen Terminen....... . . . . . . 57 8.7 Personalbeziehungen und Arbeitsbedingungen................................. . . . . . . 58 9. Operative Schnittstellen ............................. . . . . . . 60 9.1 Weiterführende Vernetzung und Schnittstellenarbeit ................................. . . . . . . 60 9.2 Gesundheitsversorgung.. .......................... . . . . . . 62 9.3 Ambulante Angebote und Nachtquartiere .......................................... . . . . . 63 9.4 Beratungszentrum Wohnungslosenhilfe (bzWO) . . . . . .................................................. . . . . . 64 9.5 Betreute Wohnangebote.......................... . . . . . . 66 9.6 Auszug und Mobile Wohnbetreuung....... . . . . . . 67 10. Resümee.. . . . . . . . . .................................................. . . . . . 70 Abkürzungsverzeichnis. . ....................................... . . . . . 72 Quellenverzeichnis................................................ . . . . . 73 Literaturverzeichnis............................................. . . . . . . 74
QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE 5 1. Einleitung Beginnend mit Sommer 2018 wurde mit der schrittwei- 2019 schließlich zur Kooperationsvereinbarung kam, sen Einführung von Chancenhäusern1 in der Wiener auf deren Grundlage das ursprüngliche Design weiter- Wohnungslosenhilfe (WWH) ein Angebot geschaffen, entwickelt und ausgeweitet wurde. Im Zentrum des das ganztägige, niederschwellige Versorgung für von Forschungsinteresses stand die Frage, wie sich der Zu- Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffene Menschen gang zum Angebot sowie Versorgungs- und Unter- sicherstellen sollte. Damit einher gingen weitreichen- stützungsleistungen in den Chancenhäusern ausge- de Veränderungen für die Adressat*innen und das staltet haben. Fachpersonal, aber auch für Schnittstellen zwischen unterschiedlichen Einrichtungen der Wohnungslosen- Im ersten Schritt analysierten wir den Fachdiskurs und hilfe sowie anderen niederschwelligen Einrichtungen. erstellten ein Research Review auf der Basis von eng- Im Praxisfeld war Verunsicherung wahrnehmbar und lischsprachigen Publikationen zu niederschwelligen es kam zu Diskursen in Bezug auf die Veränderungen, Angeboten der Wohnungslosenhilfe (Diebäcker/Hier- die mit der Etablierung der Chancenhäuser ausgelöst zer/Stephan/Valina 2020), wodurch fachliche Entwick- wurden. So wurden Herausforderungen, Erwartungen lungslinien und eine Einordnung des Angebotes der sowie Vor- und Nachteile für Nutzer*innen von Chan- Chancenhäuser im Forschungsfeld zur Akutversorgung cenhäusern diskutiert und beispielsweise Fragen zum wohnungs- und obdachloser Menschen möglich wur- niederschwelligen Zugang, zur Stabilisierung und Ent- de. Davon ausgehend konnten wir unsere Forschungs- wicklung von Zukunftsperspektiven, zur fachlichen perspektive konkretisieren. Die explorativ ausgerich- Begleitung und Betreuung sowie der Weitervermitt- tete, qualitative Evaluierung der Wiener Chancenhäu- lung in stabile Wohnsituationen aufgeworfen. ser verlief entlang von vier leitenden Forschungsfragen: Wie gestaltet sich der Zugang zum Chancenhaus und Die Debatten rund um diesen Veränderungsprozess welche Ausschlüsse oder Barrieren sind erkennbar? weckten unsere wissenschaftliche Neugierde. Aus un- Wie ist die Unterbringungsqualität in den Chancenhäu- seren praxisnahen und theoretischen Verankerungen sern und welche Bedarfe von Nutzer*innen werden in der Sozialen Arbeit, insbesondere in den Feldern gedeckt? Welche Unterstützungsleistungen werden in Wohnen, Wohnungslosigkeit und Wohnungslosenhilfe, den Chancenhäusern geboten und wie ist die fachliche formierten wir uns zu einem Forschungsteam. Wir dis- Betreuung und Beratung ausgestaltet? Wie haben sich kutierten Problemstellungen, Erkenntnisinteressen institutionelle Schnittstellen in der Wohnungslosenhil- und beantragten daraufhin eine Anschubfinanzierung fe mit Einführung der Chancenhäuser verändert und für ein Forschungsprojekt, das dankenswerterweise welche Herausforderungen sind damit verbunden? von der FH Campus Wien gefördert und am Kompe- tenzzentrum für Soziale Arbeit begonnen wurde. Mit Der aus diesen Fragen resultierende qualitative For- Blick auf den Strategiewechsel, der mit der Einführung schungszugang fokussierte sowohl die Nutzer*innen- der Chancenhäuser und einem Ersatz von Notschlaf- perspektive als auch die praxisorientierte, institutio- plätzen in der WWH einherging, tat sich eine For- nelle Innenperspektive. Zudem galt es, die Akteur*in- schungslücke auf, die wir mit einem Expert*innen-zen- nen-bezogene Außenperspektive an relevanten trierten Feldzugang schließen wollten. Im Rahmen un- institutionellen Schnittstellen der WWH einzubezie- seres Projekts stellte der Fonds Soziales Wien (FSW) hen. Die methodisch triangulative Erhebung basierte an uns die Anfrage, das Forschungsvorhaben auszu- auf vier einwöchigen Phasen von teilnehmenden Be- weiten. Im Prozess der Auftragsklärung sondierten wir obachtungen in den Chancenhäusern sowie vier Fo- die Forschungsinteressen, klärten Zugänge, Finanzie- kusgruppendiskussionen mit den Mitarbeiter*innen rung und Forschungsziele ab, sodass es im Dezember der jeweiligen Häuser. Weitere vier Fokusgruppen führten wir mit dem Fachbereich Betreutes Wohnen, 1 Chancenhaus Obdach Wurlitzergasse, Chancenhaus Obdach Favorita, Chancenhaus Haus Hermes des Wiener Roten Kreuz, Chancenhaus Abteilung Wiener Wohnungslosenhilfe des FSW, dem Grangasse der Caritas der Erzdiözese Wien Beratungszentrum Wohnungslosenhilfe (bzWO), nie-
6 QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE derschwelligen/ambulanten Angeboten sowie statio- finden sich in den jeweiligen Kapiteln und geben Ein- nären Einrichtungen der WWH durch. Der Blickwinkel blicke zur Umsetzung und Durchführung des Angebots von Nutzer*innen der Chancenhäuser wurde über die aus den unterschiedlichen Perspektiven der beteilig- teilnehmenden Beobachtungen und mittels 23 qualita- ten Akteur*innen. Wir hoffen mit diesem Bericht ei- tiver Interviews erhoben. nen Beitrag zu leisten, das innovative Angebot der Chancenhäuser in bedarfs- und qualitätsorientierter Das Ziel unseres Forschungsvorhabens ist der multi- sowie fachlicher Hinsicht weiterzuentwickeln. perspektivische Erkenntnisgewinn rund um das Ange- bot der Chancenhäuser. Zum Überblick stellen wir Marc Diebäcker, Katrin Hierzer, Doris Stephan und einige unserer Erkenntnisse und Empfehlungen dem Thomas Valina Bericht in einer Executive Summary voran. Die detail- lierten Ergebnisse zu den leitenden Forschungsfragen Wien, im Juni 2021
QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE 7 2. Executive Summary Folgend werden zentrale Ergebnisse, praxisnahe Lö- schiedlichen Chancenhäuser die Möglichkeit, den Zu- sungen sowie Empfehlungen der qualitativen Evaluie- gang zum eigenen Angebot zu strukturieren und zu rung der Wiener Chancenhäuser im Überblick darge- regulieren. Die Regelung zur Vergabe freier Wohnplät- stellt. Entsprechend der Forschungsfragen gehen wir ze ist dementsprechend vielfach das Ergebnis von in- dabei insbesondere auf die Aspekte Zugang, Unter- ner-organisatorischen Abklärungsprozessen der je- bringungsqualität, fachliches Arbeiten und institutio- weiligen Einrichtungen. Die daraus resultierende un- nelle Schnittstellen ein. einheitliche Gestaltung von Zugangsmodalitäten sowie der differierende Umgang mit Anfragen von außen Resümierend lässt sich festhalten, dass mit den Chan- führen teilweise zu Irritationen, Unsicherheiten und cenhäusern ein innovatives Angebot niederschwelliger erhöhtem Aufwand auf Seite der nachfragenden Stel- Akutunterbringung und -versorgung in der Wiener len und Nutzer*innen (siehe Kap. 6). Wohnungslosenhilfe (WWH) geschaffen wurde. Die Lebensumstände der Nutzer*innen vor dem Aufent- Inwiefern der Einsatz eines – bereits seit längerer Zeit halt in einem Chancenhaus sind höchst individuell und angekündigten – digitalen und frei zugänglichen Bu- werden von diesen als in vielerlei Hinsicht belastend chungstools die Transparenz hinsichtlich der Bedin- erlebt. Für die Dauer des Aufenthaltes konnten die gungen und des Zugangsprozesses nachhaltig verbes- Grundbedürfnisse der Nutzer*innen – Ruhe, Sicher- sert, kann an dieser Stelle nicht beantwortet werden. heit, Hygiene, Privatheit sowie ausreichend Nahrung – Ein für Nutzer*innen zentral zugängliches und über- weitgehend gedeckt werden. Die professionelle Be- sichtliches Zugangssystem, welches Akutaufnahmen treuung und fachlich qualifizierte Beratung in den jederzeit ermöglicht und Wartezeiten oder Abweisun- Häusern tragen wesentlich dazu bei, dass der durch gen aufgrund fehlender Kapazitäten verhindert, wäre die Wohnungslosigkeit entstandene Druck reduziert jedenfalls eine zentrale Verbesserung des Angebots. wird. Dadurch wird eine wesentliche Voraussetzung für die Entwicklung einer dauerhaften Wohnperspek- tive geschaffen. Die Leistungen sind für Nutzer*innen Einzug und Ankommen im Chancenhaus als allerdings an verpflichtende Betreuung und unmittel- Entlastung bare Beratung im Haus gekoppelt. Ein hoher Anpas- sungsdruck, die Unterordnung innerhalb einer institu- Das Chancenhaus ist für die Nutzer*innen mit der tionellen Ordnung und die aktive Zusammenarbeit mit Hoffnung auf Verbesserung ihrer akut belastenden Si- den Mitarbeiter*innen sind Voraussetzungen für den tuation verbunden. Doch die Frage nach ihrer künfti- Aufenthalt im Chancenhaus. Die Analyse der Nut- gen Wohnsituation ist in hohem Maße von sozialrecht- zer*innenperspektive zeigt zudem, dass der Zugang lichen Ansprüchen bzw. den Möglichkeiten auf Er- zum Chancenhaus teilweise von dem Gefühl begleitet werbsarbeit abhängig. Die konzeptuell vorgesehene, wird, versagt zu haben oder gescheitert zu sein. Woh- unmittelbar einsetzende Abklärungsphase stellt für nungslosigkeit ist für die Nutzer*innen mit einer Stig- manche Betroffene eine frühe Barriere und hinsicht- matisierung verbunden, die mit problematisierenden lich der Stabilisierung der Lebensverhältnisse kontra- gesellschaftlichen Fremdzuschreibungen behaftet ist. produktive Belastung dar. Nichtsdestotrotz wird das Ankommen im Chancenhaus von Nutzer*innen häufig erleichternd erlebt. Die Entschleunigung und die Mög- Unterschiede im Zugang zum Angebot lichkeit, Ruhe zu finden, werden dabei besonders her- vorgehoben. Die entlastende und stabilisierende Wir- Die Vergabe der Wohnplätze im Chancenhaus läuft kung eines sicheren, längeren und planbaren Aufent- häufig über die Vermittlung durch niederschwellige halts, wird auch von Mitarbeitenden betont (siehe Einrichtungen oder Beratungsstellen des Sozial- und Kap. 6.4). Gesundheitswesens. Gegenwärtig haben die unter-
8 QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE In einem ruhigen, privaten und willkommen-heißenden tung der Aufenthaltsdauer im Chancenhaus steht Setting werden ungestört erste Informationen geteilt jedoch der fachlich-reflexiven Herangehensweise ent- und Fragen beantwortet, um Unsicherheiten beim Ein- gegen. Eine bedarfs- und ressourcenorientierte Bera- zug Raum zu geben. Dieses sollte aus fachlicher Sicht tung, die sich an individuellen Belastungen ausrichtet in allen Chancenhäusern aufrechterhalten bleiben und gemeinsam mit den Betroffenen dauerhafte Per- bzw. hergestellt werden. Die gut etablierte, baldige spektiven entwickeln möchte, benötigt einen unab- Vermittlung an Sozialarbeiter*innen zur Erstberatung hängigen, wiewohl fachlich zu begründenden Ermes- ist für den Aufbau einer professionellen Arbeitsbezie- sensspielraum, der nicht im Vorhinein festlegbar ist. hung wesentlich. Wichtige Entlastungen und Wirkwei- sen des Angebots stehen allerdings in einem Span- nungsverhältnis zur zeitlichen Befristung des Aufent- Privatheit und Einzelzimmer als wichtige halts. Unterbringungsstandards Die Möglichkeit, ein Zimmer hinter sich abschließen zu Befristete Aufenthaltsdauer und schwierige können und dadurch ungestört zu sein, betonen Nut- Ermessenspielräume für die Sozialarbeit zer*innen als wertvollen Standard. Insbesondere für Personen, die zuvor prekär gewohnt haben – auf der Unsicherheiten von Nutzer*innen bezüglich einer un- Straße, in unsicheren Wohnverhältnissen oder Not- klaren Aufenthaltsdauer im Chancenhaus verweisen quartieren, wo sie dazu gezwungen waren, Raum mit auf eine strukturelle Rahmenbedingung des Ange- mehreren Menschen zu teilen –, stellt ein eigenes Zim- bots. Die konzeptuell festgelegte und im Nutzungs- mer im Chancenhaus einen Gegenpol zu den Strapazen vertrag verankerte Befristung des Aufenthaltes auf ihres sonstigen Alltags dar. Bewohner*innen haben drei Monate stellt keinen Mindestanspruch dar, son- überwiegend den Eindruck, sich im Chancenhaus an ei- dern ist an die Entwicklung einer individuellen Wohn- nem sicheren Ort zu befinden, an dem sie vor Unsi- perspektive gekoppelt. Auf Basis der Abklärung einer cherheiten, Belästigungen und Gewalt geschützt sind. längerfristigen Wohnperspektive, die stark an sozial- Die Unterbringung in Doppelzimmern, die in drei der rechtliche Ansprüche zur Unterstützung durch Ange- vier Chancenhäusern überwiegt, wird sowohl aus Nut- bote der WWH gebunden ist, und des jeweiligen Bera- zer*innen- als auch aus Mitarbeiter*innenperspektive tungsprozesses zwischen Nutzer*in und Sozialarbei- problematisiert. Mangelnde Privatheit, fehlende Rück- ter*in soll letztere im Rahmen ihres fachlichen zugsmöglichkeit, soziale Konflikte, beengte Raumver- Ermessenspielraums über den konkreten Zeitpunkt hältnisse, fehlende Intimsphäre oder eine gemein- des Auszugs einer Person entscheiden. Der Hand- schaftliche Nutzung von Sanitäranlagen stellen we- lungsdruck spitzt sich oftmals zu, wenn die Nachfrage sentliche Einschränkungen dar (siehe Kap. 7.3 und Kap. das Angebot verfügbarer Plätze übersteigt, oder die 7.4). Betroffenen mangels sozialrechtlicher Ansprüche ak- tuell keine alternative Wohnmöglichkeit zum Aufent- Die Bereitstellung von Einzelzimmern und das Ermögli- halt im Chancenhaus haben. Diese Entscheidungen chen von Privatsphäre sind daher ein wesentliches werden von den Mitarbeitenden generell als ethisch Merkmal für eine gute Unterbringungsqualität, die für herausfordernd beschrieben. In diesem Spannungs- eine künftige Ausweitung des Angebots dringend feld haben die jeweiligen Einrichtungen divergierende empfohlen wird. Bezüglich der infrastrukturellen Aus- Umgangs- und Arbeitsweisen entwickelt (siehe Kap. stattung sind leicht zugängliche Lagermöglichkeiten 6.3 und 8.4.2). sowie kostenloses WLAN unverzichtbar, um Besitz- stand verwahren und Außenkommunikation unkompli- Die grundsätzliche Zielsetzung des Angebots, Men- ziert ermöglichen zu können. Mit Blick auf lebenswelt- schen, die von akuter Wohnungslosigkeit betroffen liche Bezüge und soziale Kontakte, insbesondere mit sind, möglichst rasch in dauerhafte, qualitätsvolle den Kindern der Nutzer*innen, sollten auch die Be- Wohnungen und andere Folgewohnformen zu vermit- suchsmöglichkeiten ausgeweitet werden. teln, gilt es wertzuschätzen. Eine allgemeine Befris-
QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE 9 Den Ausbau freizeit- und tagestrukturierender institutioneller Ressourcen an Grenzen. Die etablier- Aktivitäten forcieren ten Liaisondienste von Ärzt*innen des neuner- haus-Teams, des Psychosozialen Dienstes (PSD), des Freizeit- und tagesstrukturierende Aktivitäten für Be- Instituts für Frauen- und Männergesundheit FEM oder wohner*innen von Chancenhäusern anzubieten, trifft MEN stellen dringend notwendige Versorgungsleistun- laut Mitarbeitenden auf eine hohe Nachfrage. Insbe- gen dar, insbesondere für Menschen, die über keine sondere nach einer ruhigen Phase des Ankommens, in aufrechte Krankenversicherung verfügen. Der vielfach der häufig die eigene Erschöpfung dominiert, scheinen thematisierte, hohe physische wie auch psychisch in- freiwillige, interne und leicht verfügbare Beschäfti- duzierte Pflegebedarf von Bewohner*innen kann in gungsmöglichkeiten sowie aus der Einrichtung heraus- den Chancenhäusern nur unzureichend gedeckt wer- reichende Aktivitäten wesentlich, um Formen des eige- den (siehe Kap. 7.2, Kap. 8.2 und Kap. 9.2). nen Aktiv- und Wirksam-Seins erleben zu können. Die Implementierung kostenloser Angebote ist in den je- Resümierend ist festzuhalten, dass die vorhandenen weiligen Häusern unterschiedlich ausgeprägt, was teil- Ressourcen und Kapazitäten für die medizinische und weise auf die Covid-19-bedingten Einschränkungen, pflegerische Versorgung sowohl von den Bewoh- aber auch auf begrenzte finanzielle Mittel und Perso- ner*innen als auch Mitarbeiter*innen und Leitungen nalressourcen zurückgeführt wird (siehe Kap. 7.6). in den Chancenhäusern als unzureichend wahrgenom- men werden. Eine hausinterne Verankerung von (zu- Aus fachlicher Perspektive ist der derzeitige Imple- sätzlich psychiatrisch ausgebildeter) diplomierter Ge- mentierungsstand entsprechender Angebote in den sundheits- und Krankenpflege im Stammpersonal er- meisten Häusern ausbaufähig. Mit Blick auf die spezi- achten wir als eine wesentliche qualitätsverbessernde fischen Bedarfe und unterschiedlichen Ressourcen von Maßnahme für alle Chancenhäuser. Damit ließe sich Nutzer*innen scheint uns ein starkes programmati- eine leicht zugängliche, kontinuierliche Gesundheits- sches Bekenntnis zu tagesstrukturierenden Angebo- versorgung für alle Nutzer*innen vor Ort gewährleis- ten von Seiten des Fachbereichs Betreutes Wohnen, ten. Mit Blick auf die medizinische Versorgung scheint Abteilung Wiener Wohnungslosenhilfe des FSW sowie uns eine Aufstockung der ärztlichen Liaisondienste ein trägerübergreifender, konzeptueller Entwicklungs- wichtig. Insbesondere für Menschen, die von Woh- prozess zielführend. Um das Ausmaß freizeit- und ta- nungslosigkeit betroffen sind und über wenig unter- gesstrukturierender Aktivitäten im Anschluss an die stützende Ressourcen in ihrem persönlichen Umfeld Covid-19-Pandemie den Bedarfen anzupassen, werden verfügen, besteht eine eklatante Versorgungslücke angesichts der generell hohen Auslastung der Betreu- zwischen stationärer Behandlung in Krankenhäusern ung zusätzliche Ressourcen erforderlich sein. und mobiler medizinscher Nachbetreuung. Einzige Al- ternative scheint für diese Menschen der Umzug in ein Pflegeheim, der aber vielfach an fehlenden sozial- Gesundheitliche Belastungen und begrenzte rechtlichen Ansprüchen scheitert. Zudem kann ein medizinische und pflegerische Versorgung Mangel an psychiatrischer Akutversorgung und Nach- betreuung sowie an therapeutischen und psychologi- Ein erheblicher Anteil der Bewohner*innen der Chan- schen Unterstützungsangeboten konstatiert werden. cenhäuser ist gesundheitlich belastet – vielfältige phy- sische und psychische Krankheitsbilder verdeutlichen die besondere Vulnerabilität der Personen. Gesund- Anspruchsvolle Betreuungstätigkeit erfordert heitliche Beeinträchtigungen bedeuten für Betroffene fachliche Weiterbildung erhebliche Einschränkungen in ihrer Lebensqualität, wirken sich negativ auf ihre Alltagsbewältigung aus Mit ihrer 24-Stunden-Verfügbarkeit und den vielfälti- und machen sich während des Aufenthaltes im Chan- gen Aufgabenbereichen ist das Betreuungsteam die cenhaus bemerkbar. Eine bestmögliche medizinische zentrale Anlaufstelle für Nutzer*innen im Haus. Sie und pflegerische Versorgung wird zwar in den Chan- sind gefordert, alle Anliegen professionell aufzuneh- cenhäusern angestrebt, stößt aber vielfach mangels men und sind oft als erstes mit Krisen, Emotionen und
10 QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE Affekten von Bewohner*innen konfrontiert, die sie ten, qualitätsvollen und leistbaren Wohnangebot – einschätzen und austarieren müssen, um eine ange- stehen häufig sehr begrenzte, überwiegend auf Leis- nehme, sichere und offene Atmosphäre im Haus zu tungen der WWH beschränkte und über bzWO vermit- vermitteln und zu wahren. Kernaufgaben der Betreu- telte Möglichkeiten gegenüber. In diesem für die ungsarbeit sind die Organisation von Abläufen inner- Sozialarbeiter*innen nicht auflösbaren Spannungsfeld halb der Einrichtung, die Unterstützung bei Alltagsge- bemühen sie sich im dialogischen Prozess, die psycho- staltung und -bewältigung sowie die Kontrolle und sozialen Bedarfe zu decken sowie die materielle Siche- Umsetzung einer konfliktfreien Ordnung. Die Berufs- rung von Nutzer*innen zu gewährleisten und suchen gruppe agiert damit im zugespitzten doppelten Man- Lösungen. Jedoch stellen diese für Nutzer*innen zum dat zwischen Unterstützung und Kontrolle und ist auf- Teil nur einen mehr oder weniger guten Kompromiss grund ihrer relativen Nähe zu den Bewohner*innen dar bzw. führen bei einer nicht realisierbaren Wohn- und ihrer quasi-ständigen Verfügbarkeit gefordert, perspektive und bei Auszug aus dem Chancenhaus zu Vertrauen und eine belastbare Beziehung aufzubauen Frustration und Ausgrenzungserfahrungen. (siehe Kap. 8.3). Ein adäquater Umgang mit den kom- plexen, oftmals herausfordernden Situationen erfor- Die Übersiedlung von Nutzer*innen in eine weiterfüh- dert ein hohes Maß an Reflexionsfähigkeit, machtkriti- rende Folgewohnform ist eine komplexe und heraus- schem Bewusstsein und ethikbasierten Entscheidun- fordernde Phase des Übergangs. Berücksichtigend, gen seitens der Betreuer*innen. Mit Blick auf ihre dass Betroffene den Verlust der Wohnung und das unterschiedlichen Vorerfahrungen sowie aufgrund he- Nichtverfügen über eigenen Raum in ihrer Biografie terogener Ausbildungs- und Qualifikationsprofile er- als teils traumatischen Bruch erleben, gilt es, tem- kennen wir einen Fort- und Weiterbildungsbedarf, um poräre Übergangssituationen innerhalb der WWH zu professionelle Kompetenzen der Berufsgruppe auf der vermeiden und den Weg zurück in eine erwünschte Wissens-, Persönlichkeits- und Methodenebene zu oder zumindest kompromisshafte neue Wohnsituation fördern und abzusichern. fachlich zu begleiten. Die im Konzept verankerte Be- gleitung des Übergangs vom Chancenhaus in eine an- dere Wohnform inklusive Nachbetreuung scheint bis- Sozialarbeiterische Beratung in weilen allerdings kaum umgesetzt. Da das Kontakthal- Übergangssituationen und strukturellen ten auf Wunsch und bei Bedarf der Nutzer*innen Spannungsfeldern wesentlich zur Stabilisierung des eigenständigen Woh- nens beiträgt, wird die Implementierung einer tem- Die engmaschige Beratung durch die Soziale Arbeit ist porären, fachlichen Nachbegleitung des Aus- und im angestrebten Entwicklungs- und Abklärungspro- Umzugs empfohlen. Dabei gilt es, den wichtigen Über- zess der Wohnperspektive von zentraler Bedeutung. gang zu freiwilligen, mobilen Nachbetreuungsangebo- Die unterschiedlichen biografischen Erfahrungen und ten der WWH abzusichern und letztere im Sinne des Bedarfe von Nutzer*innen erfordern ein breites Wis- Rechts auf Wohnen auch für Personen ohne sozial- sen in der Beratung, das in unterschiedlichen Settings rechtliche Ansprüche zu öffnen. Anwendung findet. Erstgespräche kurz nach Einzug, kontinuierliche Beratungstermine im Rahmen der Be- zugsbetreuung sowie kurzfristige Beratungsgesprä- Hausverbote als fachlich sensible Entscheidungen che im Zuge des Journaldienstes oder ‚zwischen Tür und Angel‘ bei dringenden Anliegen strukturieren das Ein niederschwelliger Zugang zu Einrichtungen bein- Tätigkeitsfeld der Sozialarbeiter*innen. Sie werden haltet auch einen möglichst voraussetzungslosen Auf- von Nutzer*innen überwiegend positiv bewertet und enthalt. Die Nutzung eines Chancenhauses ist an Hau- auch von Kolleg*innen anderer Einrichtungen als fach- sordnungen, die einen integralen Bestandteil der Nut- lich kompetent beschrieben. zungsvereinbarung darstellen, gebunden. Formelle Normen werden von den Mitarbeitenden konkreti- Berechtigten Wünschen von Bewohner*innen – nach siert, weitere informelle Verhaltensnormen werden einem bedarfsgerechten, eigenständigen, dauerhaf- vermittelt und Kooperationsbereitschaft wird jeden-
QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE 11 falls vorausgesetzt. Verstöße gegen die hausinternen zungsmaßnahme dar, die die Durchlässigkeit der Regeln können zu Maßregelungen, Verweisen oder Einrichtung nach außen fördert und einer Innenfokus- Hausverboten führen. sierung präventiv begegnet. Durch den Ortswechsel, die offenere Interaktion und die zusätzliche Zeit kön- Sanktionen in Form von Hausverboten sind äußerst nen nicht nur die Beziehungen zwischen Fachkräften sensible Entscheidungen, die neben einer Unterbre- und Nutzer*innen vertieft, sondern auch Formen insti- chung oder Beendigung des Aufenthalts im Chancen- tutioneller Diskriminierung verhindert sowie das Erfah- haus einen massiven Einfluss auf die weitere Perspek- ren von Selbstwirksamkeit gestützt werden. Eine Be- tivenplanung von Nutzer*innen haben können. Aus- zugsbetreuung, bei der jede*r Nutzer*in einer verant- schlüsse durch Hausverbote führen Nutzer*innen in wortlichen Fachkraft der Sozialen Arbeit zugeordnet die Obdachlosigkeit oder zu einem zwangsweisen ist und die eine personenzentrierte Begleitung über Wechsel, sowohl zwischen niederschwelligen als auch den gesamten Aufenthalt sicherstellt, ist in allen vier stationären Angeboten der Wohnungslosenhilfe. Da- Chancenhäusern verankert. Die zum Teil implementier- bei handelt es sich von Seiten der Mitarbeiter*innen te Co-Bezugsbetreuung von Sozialarbeiter*in und Be- um fachlich reflektierte und diskutierte Entscheidun- treuer*in sehen wir als qualitätssicherndes Instrument gen. Erhöhte Arbeitsbelastungen können diese Ent- an, da der lebensweltliche Bezug mit Blick auf die ak- scheidungen mitprägen (siehe Kap. 7.8). tuelle Unterbringungssituation erweitert, unterschied- liche Einschätzungen geteilt sowie die Verantwortung Hausverbote sind für Selbst- und Fremdschutz sowie bei schwierigen Entscheidungen zwischen den Berufs- als Sanktion bei gewalttätigem und gefährdendem gruppen geteilt wird (siehe Kap. 8.5 und Kap 8.6). Verhalten notwendig, um die Sicherheit in Chancen- häusern aufrecht zu erhalten. Sie sollten aber im Sin- Mit Blick auf Entwicklungspotentiale des gesamten ne eines niederschwelligen Aufenthalts nicht in Form fachlichen Personals in Chancenhäusern, empfehlen von kurzzeitigen oder kumulativen Ordnungsmaßnah- wir die Umsetzung regelmäßiger, trägerübergreifen- men gesetzt werden. In Anbetracht dessen sind Haus- der Austauschformate auch für Basismitarbeiter*in- verbote wie auch andere kontrollierende und regulie- nen, um über Herausforderungen ins Gespräch zu rende Interventionen im Unterbringungsalltag, insbe- kommen, Expertise auszutauschen, Qualifikationsbe- sondere mit Blick auf die Privatsphäre (siehe Kap. 7.5 darfe und neue Entwicklungen zu eruieren sowie eine und Kap. 8.3.3), reflexiv auf ihre Notwendigkeit zu prü- Kultur des Voneinander-Lernens in der Akutversor- fen und von Mitarbeitenden mit Vorsicht und Sensibi- gung von wohnungslosen Menschen zu institutionali- lität zu setzen. sieren. Insbesondere für den professionellen Umgang mit psychisch belasteten Personen sind laufende Wei- terbildungsangebote für das gesamte Personal zu ver- Fachliche Innovationen und ankern. Entwicklungspotentiale Mit Blick auf die fachliche Praxis von Betreuung und Schnittstellenarbeit in der WWH und die Sozialarbeit zeigen sich in einer vergleichenden Pers- Verwaltung manifester Wohnungslosigkeit pektive vielfältige, innovative Schwerpunktsetzungen, die wir für eine trägerübergreifende Weiterentwick- Der Blick auf das Angebot der Chancenhäuser und de- lung des Angebots als wesentlich erachten. Neben der ren Schnittstellen verdeutlicht, dass die personen- bereits empfohlenen Verankerung von Gesundheits- und bedarfsorientierte Entwicklung und Realisierung und Krankenpflege, sind mit der Begleitung und der von Wohnperspektiven über vielfältige Kontakte und Bezugsbetreuung zwei weitere Aspekte relevant: Für Abstimmungsprozesse mit Mitarbeitenden anderer den Aufenthalt im Chancenhaus stellen versierte Be- Einrichtungen verläuft. Dabei zeigen sich aus Perspek- gleitungen von Nutzer*innen außer Haus, z.B. zu Be- tive der Chancenhäuser WWH-interne Kreisläufe, in hörden, Krankenhäusern oder psychosozialen Einrich- denen Wohnungslosigkeit lediglich verwaltet wird, die tungen, – als freiwilliges Angebot – eine Unterstüt- nachhaltige Deckung des Wohnbedarfes jedoch für
12 QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE viele nicht erreichbar scheint. Insbesondere gilt dies beitete Eigenmotivation und Perspektiven eigenstän- für Personen, die über nicht ausreichende Anspruchs- digeren Wohnens nicht zu gefährden. voraussetzungen auf Leistungen der WWH verfügen, oder die aufgrund ihrer besonderen Belastungen von institutionellen Ausschlüssen betroffen sind. Diese Fehlende Kapazitäten in den Chancenhäusern pendeln oftmals zwischen Chancenhäusern, Tageszen- und sektorübergreifende Politik gegen tren, Winterpaket und karitativen Einrichtungen. Ihre Wohnungslosigkeit Wohnungslosigkeit verfestigt sich im niederschwelli- gen Angebotsbereich und die Betroffenen sind mit Strukturelle Rahmenbedingungen der Chancenhäuser permanenten Übergängen konfrontiert, ohne dass sind seit ihrer schrittweisen Einführung die hohe sich dabei eine langfristige Perspektive auf gesicher- Nachfrage nach einem Unterbringungsplatz und eine ten Wohnraum eröffnet. permanent hohe Auslastung. Dies führt sowohl zu zu- gespitzten Handlungsvollzügen innerhalb der Chan- Interviewte Fachkräfte der Wiener Wohnungslosenhil- cenhäuser als auch zu ressourcenintensiven Abstim- fe teilen eine fachliche Position, die an dem Recht auf mungsprozessen bei Zugang und Auszug. Wohnen für alle, insbesondere für ihre diversen Nut- zer*innengruppen, ausgerichtet ist. Der möglichst vo- Für die hohe Nachfrage nach einem Unterbringungs- raussetzungslose Zugang sowie eine bedarfsgerechte platz im Chancenhaus sind Wohnplatzverluste inner- Versorgung stehen daher im Mittelpunkt der Schnitt- halb der WWH mitursächlich. Einerseits wurde die Ein- stellenarbeit in der WWH. Kapazitätsgrenzen sowie führung der Chancenhäuser von einer gleichzeitigen, unterschiedliche Barrieren und Ausschlüsse aus Leis- möglicherweise zu schnellen Reduktion von Notquar- tungsangeboten sind daher Anlässe für die oftmals tiersplätzen begleitet. Andererseits führt das Aus- gut eingespielten Kontakte. Dabei bildet die beim sprechen von Hausverboten oder die schnelle Wieder- bzWO verankerte Prüfung von Leistungsansprüchen belegungspraxis bei temporärer Abwesenheit in stati- einen Fokus der Reflexion der Mitarbeiter*innen: Ab- onären Angeboten der WWH zu Ausschlüssen, von lehnungen oder die Zuweisung nicht-adäquater Ange- denen insbesondere Nutzer*innen mit diskontinuierli- bote werden seit Jahren problematisiert. Mit Blick auf chen, krisenhaften Verläufen betroffen sind (siehe die Schnittstelle zwischen bzWO und Chancenhäusern Kap. 6.2).2 Grundlegend für die angespannte Lage der scheint sich der direkte Kontakt in einem Drei-Perso- Wohnplatzversorgung sind Ausschließungseffekte des nen-Setting bewährt zu haben, da die*der Nutzer*in Wiener Wohnungsmarktes, die vor allem auf fehlender so eine parteilich-fachliche Unterstützung der Sozial- Leistbarkeit beruhen und bei Arbeitsplatz- und Ein- arbeit erhält und die bedarfsorientierte Treffsicher- kommensverlusten, familiären oder persönlichen Kri- heit von bzWO-Entscheidungen verbessert wird. Die sen, materiellen und gesundheitlichen Belastungen Vermittlung von Nutzer*innen in einige große statio- zum Verlust der Wohnung oder Delogierung führen. näre Einrichtungen des Übergangswohnens, deren Un- Die Gegebenheiten des privaten, gemeinnützigen und terbringungsqualität oder auch Beratungsintensität kommunalen Wohnbaus sind auch dafür verantwort- als schlechter bewertet wird, zeigt, dass Angebote mit lich, dass eigenständige und dauerhafte Wohnangebo- geringerer Auslastungskapazität zunehmend als Zwi- te aus der WWH nicht vermittelt werden können – was schenstation innerhalb der WWH positioniert werden auch in den Chancenhäusern zu einem Rückstau und (siehe Kap. 10.1 und Kap. 10.2). einer hohen Auslastung führt. Aus fachlicher Sicht sind in der Krisensituation akuter Nach der weitgehend erfolgreichen Implementierung Wohnungslosigkeit grundsätzlich Übergänge innerhalb des Angebots der Wiener Chancenhäuser und den da- der WWH ohne eine weiterführende und dauerhafte Wohnperspektive, die sich ressourcenorientiert an der 2 Mit Blick auf Formen verdeckter Wohnungslosigkeit ist mit der Etablie- Eigenständigkeit der Nutzer*innen ausrichtet, zu ver- rung der Chancenhäuser zudem eine ansteigende Nachfrage von Per- sonen zu vermuten, die bisher prekär und ungesichert in privaten Ab- meiden. Wünschen von Nutzer*innen auf Verbleib im hängigkeitsverhältnissen wohnen, was angesichts fehlender Daten Chancenhaus ist Vorrang zu gewähren, auch um erar- von uns nicht belegt werden kann.
QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE 13 mit zusammenhängenden positiven Effekten in der Im Sinne der sozialpolitischen Prävention müssen De- Akutversorgung von wohnungslos gewordenen Perso- logierungen in den unterschiedlichen Wohnungs- nen, sehen wir die Stadt Wien und den Fachbereich marktsegmenten verhindert werden, deutlich höhere Betreutes Wohnen, Abteilung Wiener Wohnungslosen- Kapazitäten an leistbaren, unbefristeten Wohnungen hilfe, in zweierlei Hinsicht gefordert. Zum einen emp- bereitgestellt und über freiwillige und mobile Bera- fehlen wir, die Kapazitäten der Chancenhäuser weiter tungs- und Betreuungsleistungen inklusives dauerhaf- zu erhöhen sowie entsprechende Ressourcen bereit- tes Wohnen sichergestellt werden (BAWO 2020: 22). zustellen, um qualitätsvolle Unterbringung sowie ei- Mit Blick auf die derzeit bestehenden Angebote der nen hohen Standard an professioneller Arbeit und WWH scheinen aus unserer Sicht die Kapazitäten der Entwicklung mit der besonders vulnerablen Personen- mobilen Wohnbegleitung nicht ausreichend, um den gruppe der wohnungslosen Menschen sicherzustellen. existierenden Bedarf decken zu können. Die Inan- Zum anderen gilt es, an den Schnittstellen der Sozial- spruchnahme dieser Leistungen sollte möglichst nie- politik, insbesondere zwischen Wohnpolitik, Gesund- derschwellig (ohne weitere Anspruchsprüfungen), heitsversorgung und Wohnungslosenhilfe, sektor- freiwillig und unbefristet nutzbar gemacht werden. übergreifende Strategien zu entwickeln.
14 QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE 3. Wiener Chancenhäuser im Kontext der Forschung Mit der Implementierung der Wiener Chancenhäuser sen aus dem Wohnungsmarkt häufig mit wachsender wurde im Jahr 2018 ein neues Angebot für die Akutun- Obdach- und Wohnungslosigkeit konfrontiert sind. terbringung und -versorgung von Menschen, die von Dabei ist die Wohnungslosenhilfe vielerorts gefordert, Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen sind, ge- rasche und qualitätsvolle Unterstützung für Menschen schaffen. Im Folgenden wird das Konzept der Chan- in dieser Krisensituation anzubieten. Häufig steht die cenhäuser im aktuellen Forschungsstand eingebettet Wohnungslosenhilfe als letztes sozialstaatliches Netz und es werden zentrale Analysedimensionen für das dabei vor der Herausforderung, gemeinsam mit den Forschungsvorhaben dargelegt. Betroffenen weiterführende und dauerhafte Perspek- tiven des eigenständigen Wohnens zu entwickeln und dem Recht auf Wohnen Geltung zu verschaffen. Auf- 3.1 Internationaler Forschungsstand und grund gesellschaftlicher Exklusionsdynamiken, sozial- Desiderate politischer Rahmenbedingungen oder individueller Ausgrenzungserfahrungen ist die Gefahr groß, den Der deutschsprachige Fachdiskurs zur temporären Bedarfen von Nutzer*innen nicht entsprechen zu kön- Akutversorgung von wohnungs- und obdachlosen nen. Inadäquate niederschwellige Angebote und be- Menschen ist limitiert, insbesondere qualitativ ausge- grenzte Unterstützungsleistungen tragen dann selbst richtete Forschungsvorhaben sind kaum publiziert. Mit zur Verfestigung von Wohnungslosigkeit bei. dem Ziel, das relativ neue Angebot der Chancenhäuser der Wiener Wohnungslosenhilfe (WWH) im Fachdiskurs Die Analyse der Studien zeigt, dass der unmittelbare einzuordnen, erstellten wir ein Research Review zu und voraussetzungslose Zugang zu einer niederschwel- niederschwelligen Angeboten in der Wohnungslosen- ligen Akuteinrichtung wesentlich ist, um auf Notsitua- hilfe. Der hier dargestellte Forschungsüberblick wurde tionen und verdeckte Wohnungslosigkeit mit einem of- bereits in Band 24 von soziales-kapital veröffentlicht fenen, bedarfsorientierten Angebot reagieren zu kön- (vgl. Diebäcker/Hierzer/Stephan/Valina 2020).3 Bezug- nen. Qualitative und quantitative Studien zu nehmend auf diese Ergebnisse können Aspekte her- niederschwelligen Einrichtungen der Wohnungslosen- vorgehoben werden, die für eine qualitative Evaluie- hilfe weisen jedoch auf vielfältige Barrieren für akut rung der Wiener Chancenhäuser wesentlich sind. wohnungslose Menschen hin. Gesellschaftliche Stigma- tisierung, persönliche Scham, Ausschlüsse aus sozial- Die internationalen Forschungen zeigen, dass Institu- staatlichen Leistungen oder negative Erfahrungen mit tionen des lokalen Sozialstaats aufgrund von sozialen institutionellen Unterbringungsformen rahmen die je- Polarisierungen, prekären Lebenslagen und Ausschlüs- weils individuellen Notlagen (vgl. Ha/Narendorf/Santa Maria/Bezette-Flores 2015: 28; Ha/Thomas/Narendorf/ 3 Die Analyse bezieht sich auf sozialwissenschaftliche Forschungsbei- Santa Maria 2018: 482; Jost/Levitt/Porcu 2011: 251f.). träge der Jahre 2010 bis 2019 in englischsprachigen Fachjournals. „In Die Abhängigkeit von Hilfesuchenden oder die Degra- methodischer Hinsicht wurde die Recherche auf Beiträge in Fachzeit- schriften eingrenzt, als Suchmaschinen verwendeten wir base (Biele- dierung von vulnerablen Personen zu Bittsteller*innen, feld Academic Search Engine), den Karlsruher virtuellen Katalog, Gesis der regulierte Zugang, mangelnde Wahl- und Entschei- (Leibniz Institut für Sozialwissenschaften), Science Direct, Jstor (Jour- nal Storage), Taylor & Francis, Oxford Academic sowie Social Care On- dungsmöglichkeiten oder fehlende Ressourcen von line. In einem ersten Schritt wurden 4060 Treffer (inkl. Mehrfachnen- Einrichtungen bedingen Ausgrenzungserfahrungen, nungen) erzielt, auf Basis der qualitativen Analyse der jeweiligen Ab- die für die Betroffenen mit persönlicher Abweisung stracts wählten wir 369 Fachbeiträge aus. Teilweise griffen wir auf facheinschlägige Housing-Plattformen (FEANTSA, Canadian Homeless und Unverlässlichkeit des institutionellen Netzes ver- Hub, Housing Solutions Plattform) zurück und identifizierten einige bunden sind (vgl. Busch-Geertsema/Sahlin 2007: 71; Ha zusätzliche Forschungsbeiträge sowie relevante Policy Papers; fall- weise wurde der Publikationszeitraum über 2010 hinaus ausgeweitet. et al. 2015: 29; Diebäcker et al. 2020: 120f.). Im Rahmen der inhaltlich-analytischen Auseinandersetzung erwiesen sich 50 Beiträge als relevant.“ (Diebäcker/Hierzer/Stephan/Valina In mehreren Studien wird die Qualität der Unterbrin- 2020: 117) gung als ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung
QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE 15 einer stabilen Wohnperspektive betont (vgl. Busch-Ge- zer*innen fachlich nicht zu empfehlen. Meist wird für ertsema/Sahlin 2007: 75; Gřundělová/Stanková 2019: ein umfassenderes, die Grundbedürfnisse sicherndes 3; Jost et al. 2011: 253–256). Beispielsweise argumen- und ressourcenstärkeres Angebot argumentiert, für tiert Victoria Burns (2016: 15), dass Einrichtungen der das ein persönlicher Zugang zu beratenden Fachkräf- Wohnungslosenhilfe ihre Angebotsstruktur auf spezi- ten, die den Übergangsprozess zu einer dauerhaften fische Wohnqualitäten wie Komfort, Privatheit, Sicher- Wohnsituation begleiten, wesentlich ist (vgl. Hurtu- heit oder ein hohes Maß an Selbstkontrolle der eige- bise et al. 2009: 15; Gilderbloom et al. 2013: 4; nen Lebensführung ausrichten müssen, um überhaupt Busch-Geertsema und Sahlin 2007: 72f.). Beratungs- bedürfnisorientierte, bedarfsgerechte und wirkungs- und Unterstützungsangebote oder Beschäftigungs- volle Maßnahmen für akut wohnungslose Menschen möglichkeiten stellen wichtige institutionelle Anknüp- setzen zu können. In Forschungsbeiträgen wird be- fungspunkte während des Tages dar, um Betroffene in tont, dass die temporäre Unterbringung von Nut- ihrer prekären Lebenssituation zu entlasten sowie mit zer*innen in Gemeinschaftsunterkünften oder Mehr- ihnen über Perspektiven ins Gespräch zu kommen (vgl. bettzimmern für Nutzer*innen mit mangelnder Privat- z.B. Busch-Geertsema/Sahlin 2007: 73; Humphries/ heit, fehlenden Wahlmöglichkeiten sowie Verlusten an Canham 2019: 15; Spiro/Dekel/Peled 2009: 268; Diebä- Autonomie, Eigenkontrolle und Intimität verbunden ist cker et al. 2020: 121). − negative psychische und emotionale Auswirkungen sind die Folge (vgl. McMordie 2018: 6–7; Asmoredjo et Hausordnungen und Einrichtungsregeln beschränken al. 2017: 786; Neale/Stevenson 2013: 535f., Busch-Ge- Zugang und Aufenthalt in vielen Einrichtungen, formu- ertsema/Sahlin 2007: 73, Gilderbloom/Squires/Wuerst- lieren sie doch häufig Ausschlusskriterien (z.B. Verbot le 2013: 7; Stenius-Ayoade 2018: 1092). Privater Raum, der Mitnahme von Haustieren, Konsumverbot von das Verwahren persönlicher Gegenstände sowie ei- Suchtmitteln), die für viele Nutzer*innen nicht zu ak- genständige Aneignungs- und Ausdrucksmöglichkei- zeptieren bzw. einzuhalten sind (vgl. Labreque/Walsh ten sind für die psychische Gesundheit und den Erhalt 2011: 88). Oft stellen Einrichtungsregeln bzw. soziale des Selbstwertes für wohnungslose Personen beson- Normen, die in hohem Maße von Mitarbeiter*innen ders bedeutsam, da sie wichtige identitätswahrende, vorgegeben werden – selten werden diese partizipativ biographische Anhaltspunkte bilden und perspekti- entwickelt –, und damit verbundene Sanktionen für visch für eine angestrebte Normalität eigenständigen wohnungslose Menschen ein großes Hindernis für Wohnens stehen (vgl. Pable 2013: 274–284). Die unter- Kontaktaufbau und Hilfeannahme dar. Die Rechte von schiedlichen, biographisch geprägten Sicherheitsbe- Nutzer*innen sind in der Regel eingeschränkt und das dürfnisse von Nutzer*innen und wie diese in einer Ein- Alltagsleben der Nutzer*innen ist reglementiert, die richtung für möglichst alle gesichert werden, stellt Verfügungsmacht der Mitarbeiter*innen hingegen ist eine Herausforderung institutioneller Kontrolle dar hoch und erfordert eine hohe Anpassungsleistung der und beeinflusst zugleich die Zufriedenheit mit der Un- Nutzer*innen (vgl. Busch-Geertsema/Sahlin 2007: terbringung. Daher gilt es, nicht nur einen konstrukti- 70f.). Aufgrund dieser Exklusionsbeobachtungen argu- ven Umgang mit sozialen Differenzen und Distinktio- mentieren Autor*innen, dass strikte Regelauslegun- nen in einer Einrichtung zu finden, sondern immer wie- gen, Verweise, Ausgangs- oder Besuchsverbote in nie- der auch erlebte Diskriminierungen durch Gewalt, derschwelligen, temporären Akutunterbringungen zu Einschüchterung oder Diebstahl – vor oder während vermeiden sind (vgl. z.B. McMordie 2018: 11; Ha et al. der Wohnungslosigkeit – zu begleiten und die Bewäl- 2015: 5; Busch-Geertsema/Sahlin 2007: 70f.; Diebäcker tigung solcher Krisen zu ermöglichen (vgl. z.B. McMor- et al. 2020: 123f.). die 2018: 9; McLeod/Walsh 2014: 65; Diebäcker et al. 2020: 121–123). Die Analyse der Forschungsliteratur zeigt, dass fach liches Arbeiten in niederschwelligen Unterbringungs- Die Möglichkeit eines 24-Stunden-Aufenthalts wird in angeboten der Wohnungslosenhilfe eine relevante Fachbeiträgen als wichtiger Standard der Akutversor- Forschungslücke darstellt. Insbesondere die Bezie- gung von wohnungslosen Menschen betont. Reine hungsverhältnisse zwischen Nutzer*innen und Sozial- Nächtigungsquartiere sind für die Mehrzahl von Nut- arbeiter*innen bzw. Betreuer*innen in institutionellen
16 QUALITATIVE EVALUIERUNG DER CHANCENHÄUSER IN DER WIENER WOHNUNGSLOSENHILFE Settings der niederschwelligen Wohnungslosenhilfe pflegerische Betreuung und eine dauerhafte und eigen- sind kaum beforscht. In einigen Studien wird für eine ständige Wohnperspektive (vgl. Humphries/Canham qualitätsvolle Akutversorgung von wohnungslosen 2019: 2, 14; auch McLeod/Walsh 2014: 30–32; Diebäcker Personen eine multiprofessionelle, reflexive Zusam- et al. 2020: 126). menarbeit der Berufsgruppen und die Weiterentwick- lung von fachlichen Kompetenzen als wesentlich erach- tet (vgl. Gaboardi et al 2019: 8; Hurtubise et al. 2009: 3.2 Wiener Chancenhäuser: Konzepte und 7; Mullen/Leginsky 2010: 107–109). Damit Unterstüt- Strategien zung von Nutzer*innen angenommen werden kann, wird die hohe Bedeutung einer tragfähigen, kontinu- Die zentralen konzeptuellen Ankerpunkte der Chan- ierlichen Beziehung zwischen ihnen und den Mitarbei- cenhäuser sind der voraussetzungslose, direkte und tenden betont (vgl. Black et al. 2018: 10; Ha et al. 2015: offene Zugang (auch für Personen ohne sozialrechtli- 32; Ploeg et al. 2008: 593). Gleichbehandlung, Nicht-Ver- che Ansprüche), die Möglichkeit des 24-Stunden-Auf- urteilung und Partizipation (vgl. McLeod/Walsh 2014: enthalts und die „professionelle Beratung und Betreu- 31) sowie Zeit und aktive Aufmerksamkeit sind für Kon- ung ab dem ersten Tag“ (FSW 2019a: 56). So sollen Be- taktaufbau und Beziehungsqualität äußerst relevant troffene umgehend fachliche Unterstützung erhalten (vgl. Archard/Murphy 2015: 9f.). Eine intensive und und Zukunftsperspektiven entwickeln. Innerhalb von ganzheitliche Fallarbeit im One-to-one-Setting wird als drei Monaten soll laut Konzept die weitere Wohnpers- eine wesentliche Voraussetzung für die Krisenbewälti- pektive der Nutzer*innen abgeklärt werden und ein gung und Perspektivenplanung für stabile Wohn- und Großteil von ihnen in adäquaten Wohnverhältnissen Lebenssituationen und die Vermeidung von Ausgren- leben können (vgl. ebd.: 56). Erklärtes Ziel des Pro- zungs- oder Hospitalisierungseffekten in stationären gramms ist, der Verfestigung von Wohnungslosigkeit Angeboten angesehen (vgl. Robinson 2003: 39–40, 42; entgegenzuwirken (vgl. FSW 2020b: 23). Gřundělová/Stanková 2019: 1f.). Auf den immanenten Widerspruch zwischen einer kurzen Wohndauer in nie- Obdach Wien, eine gemeinnützige GmbH des FSW, er- derschwelligen Einrichtungen und dem Anspruch, in öffnete im Sommer 2018 das erste Chancenhaus für dieser Zeit eine tragfähige Arbeitsbeziehung aufzu- akut wohnungslose alleinstehende Personen und Paa- bauen, wird in vielen Beiträgen nicht näher eingegan- re in der Wurlitzergasse in 1170 Wien (150 Plätze). Im gen (vgl. Diebäcker et al. 2020: 124–126). Oktober 2018 folgte das Chancenhaus Hermes des Wiener Roten Kreuz, ebenfalls für alleinstehende Er- Die analysierten Forschungsbeiträge behandeln nur sel- wachsene und Paare (150 Plätze). Für die Zielgruppen ten institutionelle Schnittstellen von Angeboten der der Familien und Frauen stellt das Chancenhaus Ob- Akutversorgung, die für Prozesse des Übergangs, wie dach Favorita seit dem Frühjahr 2019 150 Plätze zur den Zugang und den späteren Auszug von Nutzer*in- Verfügung. Mit der Eröffnung des Chancenhauses nen, bedeutsam sind (vgl. Turley et al. 2014: 15–18). Der Grangasse der Caritas Wien im November 2019 ent- Anschluss an Krankenhausaufenthalte oder das Entlas- standen weitere 834 Plätze für Männer. Im Januar 2021 sungsmanagement des Strafvollzugs (vgl. Gaboardi et − außerhalb des Untersuchungszeitraumes und daher al. 2019: 8; Podymow et al. 2006: 382), die Koordination nicht Gegenstand dieser Studie − wurden mit dem zwischen stationären Pflege- und Betreuungseinrich- Chancenhaus Kerschensteinergasse des Arbeiter-Sa- tungen, die Abstimmung zwischen niederschwelligen mariter-Bundes weitere 72 Plätze für Frauen, Männer und stationären Angeboten der Wohnungslosenhilfe und Paare bereitgestellt (vgl. FSW 2020a). Mit Stand oder die Bereitstellung von Wohnungen des privaten, Ende Juni 2021 sind 611 Wohnplätze in Chancenhäu- sozialen und kommunalen Wohnungsmarktes sind häu- sern der Stadt Wien verfügbar.5 fig mit institutionellen und organisatorischen Grenzzie- hungen verbunden. (vgl. Walsh/Graham/Shier 2009: 4 Sechs weitere Plätze sind im Konzept der Nachtnotaufnahme veran- 66f.). Teilweise verbleiben Nutzer*innen in Akuteinrich- kert. tungen oder im niederschwelligen System der Woh- 5 Die Ausweisung der Plätze erfolgt in allen Häusern in einem binären nungslosenhilfe, ohne angemessene, medizinische oder Geschlechtersystem.
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