Rot als Malum? Angelina Maier-Geiger Zur Geschichte einer Signalfarbe in Russland

 
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Rot als Malum? Angelina Maier-Geiger Zur Geschichte einer Signalfarbe in Russland
Angelina Maier-Geiger

Rot als Malum?
  Zur Geschichte einer
Signalfarbe in Russland
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?

       © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?

BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE
      UND KULTURGESCHICHTE
                   NEUE FOLGE
                       Begründet von

             HANS-BERND HARDER (†)
                     und
                 HANS ROTHE

                    Herausgegeben von

      ROLAND MARTI, PETER THIERGEN,
     LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY

                         Reihe A:
      SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN

                       Begründet von

               REINHOLD OLESCH (†)

                          Band 92

              © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
       ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?

          Rot als Malum?

Zur Geschichte einer Signalfarbe in Russland

                                 von

             Angelina Maier-Geiger

 BÖH LA U V E R L A G W I E N K ÖLN WEIMAR

              © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
       ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?

                  Gedruckt mit freundlicher Unterstützung
                     des Privatfonds Schulze-Thiergen

                           Inaugural-Dissertation
             in der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften
                  der Otto-Friedrich-Universität Bamberg
                               vorgelegt von
                     Angelina Maier-Geiger (geb. Maier)
                   Erstgutachter: Prof. Dr. Peter Thiergen
                     Zweitgutachter: Prof. Dr. Ada Raev
                      Mündliche Prüfung: 24. 07. 2017

          Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek:
    Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
     Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
               sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.

© 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln
  Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich
geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen
       bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

                              Umschlagabbildung:
   F. Maljavin, Ausschnitt aus dem Gemälde Lachen, 1899, Öl auf Leinwand,
          194 × 428 cm, International Gallery of Modern Art, Venedig

                Korrektorat: Felicitas Sedlmair, Göttingen
                        Satz: büro mn, Bielefeld
        Druck und Bindung: Hubert & Co. BuchPartner, Göttingen
                           Printed in the EU

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com

                           ISBN 978-3-412-52044-1

                         © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
                  ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?

                                                         Meinem Mann

       © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?

       © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?

                                                                                    Inhalt

Danksagung                    .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     9

1. .Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                      11
    1.1. Farbe als Motiv und Symbol und die Diskussion über die Farbe
         in der russischen Moderne .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                       24

2.. Rot – Farbe des Bösen?
. Zur farblichen Identifizierung des Bösen
    in der christlichen Ikonographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                        37

3.. Die verbale Semantik des Adjektivs rot in der russischen Sprache                                                                                                     .. . . . . .     63

4.. Zur Semantik von Rot in der russischen sakralen Kunst
    und im Kunsthandwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                              69

5.. Zur Semantik von Rot in den Zeugnissen der russischen
    „weltlichen“ Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                      89

6.. Rot als politisches Emblem                                             .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .     115

7.. Rot in den Werken der schönen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                                       143
    7.1. Die altrussische Literatur, die Literatur der Aufklärung
         und Anfänge der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                         143
    7.2. Rot der teuflischen Weiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                             157
    7.3. Rot des Menschengottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                   199
    7.4. Rot des Chaos .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                   225
         7.4.1. Untergang im „roten Chaos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                                    225
         7.4.2. Die Überwindung des „roten Chaos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                                                   247
    7.5. Rot des Wahnsinns .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                           288
    7.6. Rot der diktatorischen Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                                  320

8.. Schlusswort                      .........................................................................                                                                            347

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                                        ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
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8Inhalt

9.. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                      351
    Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                      351
    Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                          359
         I. Ausstellungskataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                             359
         II. Aufsätze und Monographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .                                                           360

10..Anhang                 ..............................................................................                                                                              383

11..Personenindex                        .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .    389

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                                      ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?

                                  Danksagung

Ich möchte allen, die diese Arbeit unterstützt und ermöglicht haben, tiefen und
herzlichen Dank aussprechen. Meinem lieben Mann und meiner Familie gilt
zunächst meine größte Dankbarkeit, da sie meine Beschäftigung mit dem Thema
über die Jahre mit großer Geduld, Zuneigung, Verständnis und tatkräftiger Unter-
stützung begleitet haben. Meinem Doktorvater, Prof. Dr. P. Thiergen, der nie
den Glauben an mich verloren hat und mich über die Jahre hinweg sowohl mit
wertvollen Hinweisen bedachte als auch mit anregenden Gesprächen erfreute,
möchte ich auch besonders danken. Prof. Dr. A. Raev danke ich für ihr aufrich-
tiges Interesse an dieser Arbeit und für ihre Fragen, die oft zur Vertiefung des
behandelten kunsthistorischen Stoffs beigetragen haben. Meiner Freundin und
treuen Korrekturleserin, Uta Gärtner M. A., möchte ich auch meinen tiefen Dank
aussprechen, da sie trotz ihrer beruflichen und familiären Belastung immer Zeit,
Geduld und Interesse für den schwierigen Text aufgebracht hat.
    Die Aufenthalte in Moskau und in St. Petersburg und die Arbeit in der Biblio-
thek der Ermitage, in der Öffentlichen Saltykov-­Ščedrin-­Bibliothek in St. Peters-
burg und in der Lenin-­Bibliothek in Moskau wären ohne die lieben Freunde
Dr. T. Ornatskaja und T. Mazitova nicht möglich gewesen. Ihnen bin ich in tiefer
Dankbarkeit verbunden.
    Last, not least gilt mein Dank dem Privatfonds Schulze-Thiergen für die Bereit-
stellung eines namhaften Druckkostenzuschusses.

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                  ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?

       © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln
ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?

                                   1. Einleitung

                            Da jede Untersuchung über die Farbe transdisziplinär sein muß,
                                wenn sie nicht allzu speziell oder allzu eng angelegt sein will,
                 ist die Kunstgeschichte der Farbe ein ungeheuer breites und reizendes Feld.
         Sie berührt die Philosophie und die Künste, die Literatur und die Wissenschaften,
              die Religionen und die Alltagskultur. […] Jede Kultur sieht die Farben anders,
                   und die Farbenlehre eröffnet jeweils Zugang zum gesamten Kultursystem.
       J. Le Rider, War die Klassik farbenfeindlich und die Romantik farbengläubig? (2002)

Zwar spricht Le Rider im Epigraph von der Farbenlehre im engen, kunsthisto-
rischen Sinn, die, im Kontext der anderen Erscheinungen der jeweiligen Kultur
betrachtet, einen umfassenden Einblick in einen Kulturkreis erlaubt, dennoch
kann seine Meinung auch in Bezug auf die Betrachtung einer Farbe innerhalb eines
Kulturkreises ausgeweitet werden, da die Beschäftigung mit einer Farbe ebenso
die sprachlichen, visuellen und manchmal sogar musikalischen Assoziationen,
Konnotationen und Codierungen aufdeckt. Damit ermöglicht sie, ein Bild von
der geistigen, sozialen, ethischen und ästhetischen Entwicklung eines Kultur-
kreises zu entwerfen und hilft, die Denkmuster und Emotionen seiner Vertreter
zu unterschiedlichen Zeiten zu verstehen.
     Das Motiv Farbe, das in seinen mannigfaltigen visuellen, sprachlichen und
musikalischen Formen innerhalb des russischen Kulturkreises fassbar ist, wird
in dieser Arbeit vorwiegend als sprachliches, literarisches und visuelles Zeichen
                                                                          ­­
behandelt. Dabei konzentriert sich die Arbeit auf die Betrachtung der Einzelfarbe
Rot innerhalb der Werke der schönen Literatur, der bildenden Kunst (Malerei),
im Kunsthandwerk und in der sprachlichen und visuellen politischen Propaganda.
Die Beziehung der schönen Literatur zur Farbe Rot, ihre rote Färbung steht im
Mittelpunkt des analytischen Interesses und wird im Hauptteil der Arbeit anhand
von Werkbeispielen dargestellt. Bei der Beschreibung und Deutung von Werken
aus verschiedenen literarischen Epochen konnte die literarische Vorliebe für die
Kennzeichnung des malum durch die Farbe Rot festgestellt werden, so dass von
einer thematischen Verbindung der Farbe mit dem Themenaspekt des Bösen
(v. a. als moralisches und soziales begriffen) gesprochen werden kann. Diese zen-
trale thematische Verbindung, die die Farbe Rot mit dem Bösen eingegangen
ist, wurde auch im Titel der vorliegenden Arbeit zum Ausdruck gebracht, um
diese besondere Farbkennzeichnung der Literatur deutlich zu benennen und sie
gleichzeitig von der Besetzung und Auffassung von Rot in den Volksbräuchen, in
der Staatssymbolik, in den kirchlichen und säkularen Kunstwerken abzugrenzen.

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Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?
12Einleitung

Die Literatur schlägt einen Sonderweg im Vergleich zu angrenzenden Kunstgat-
tungen oder zur staatlichen Propaganda ein, indem sie das Rot in ihrem Sinne
verwendet. Der Erkenntnis dieser einmaligen literarischen Einstellung gegenüber
der Farbe Rot dienen auch die dem Hauptteil vorangestellten Kapitel, die sich
mit der farblichen Symbolik der Volkskunst, der kirchlichen und säkularen Kunst
sowie mit der staatlichen Symbolik beschäftigen und damit anstreben, das für die
Kunst und für die breiten Massen der Bevölkerung charakteristische Verständnis
der Farbe Rot wiederzugeben.
    Die Rezeptionsarbeit an den literarischen Quellen brachte die Erkenntnis, dass
die einzelnen Literaturwerke unterschiedliche Aspekte des Bösen hervorheben
und mit dem Rot kennzeichnen. Die Bedeutung eines einzelnen solchen Aspektes
des malum für das literarische Werk und dessen Gehalt kommt in Überschriften
zu einzelnen Unterkapiteln des Hauptteils zum Ausdruck. Die Unterkapitel fas-
sen damit die Interpretationen zu Werken zusammen, w   ­ elche einen gemeinsamen
thema­tischen Schwerpunkt aufweisen und diesen rot markieren. So treffen in
einem Unterkapitel Literaturwerke aufeinander, die aus unterschiedlichen lite-
rarischen Epochen stammen. Das am frühesten publizierte bzw. geschriebene
Werk wird zuerst interpretiert, ihm folgen dann in chronologischer Reihenfolge
die Interpretationen der ­später entstandenen Werke. Damit kann der Leser den
frühesten Zeitpunkt feststellen, an dem das Rot als Kennzeichen eines bestimmten
thematischen Aspekts des Bösen eingesetzt wurde. Gleichzeitig kann er beobach-
ten, wie die Literaturwerke aus den unterschiedlichen Epochen miteinander nicht
nur auf der thematischen, sondern auch auf der motivischen und symbolischen
Ebene korrespondieren bzw. aufeinander Bezug nehmen. Das Einsetzen des Rot
als Kennzeichen eines gemeinsamen Themenkreises ist in d­ iesem Kontext oft ein
Hinweis auf die bestehende genetische Verwandtschaft der Texte.
    Die literarischen Werke, die im Hauptteil der Arbeit unter dem Aspekt der
Relevanz der Farbe Rot für ihre Motivik und Thematik untersucht werden, sind
folgende: N. V. Gogol’s Novelle Soročinskaja jarmarka [Jahrmarkt von Soročincy]
(1831), die aus der Romantik stammt und zu den ersten Werken gehört, die Rot zur
Kennzeichnung des Bösen einsetzen; F. M. Dostoevskijs Roman Besy [Dämonen]
(1871/72) und L. N. Tolstojs große Erzählung D’javol [Der Teufel] (1889 ent-
standen, 1911 veröffentlicht), die die Epoche des reifen Realismus in ihrem Ver-
hältnis zum Rot repräsentativ darstellen; V. M. Garšins zentrale Novelle Krasnyj
cvetok [Die rote Blume] (1883), die den symbolistischen Erzählstil vorwegnimmt
und die stilistische Neuorientierung der Prosa der Jahrhundertwende ankündigt;
L. N. Andreevs Erzählung Krasnyj smech [Das rote Lachen] (1905), die zu den
frühesten expressionistischen Werken der russischen Literatur zählt; A. Belyjs
Romane Serebrjanyj golub’ [Die silberne Taube] (1909) und Peterburg [Petersburg]

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                  ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?
Einleitung13

(1913/14), die zwei Teile einer geplanten Trilogie bilden und als zentrale epische
Werke des russischen Symbolismus angesehen werden; F. Sologubs Erzählung
Krasnogubaja gost’ja [Die Besucherin mit den roten Lippen] (1909), die die Klein-
prosa des Symbolismus repräsentiert; M. A. Bulgakovs Roman Master i Margarita
[Meister und Margarita] (1940 geschrieben, 1966/67 veröffentlicht) und seine
Erzählungen Rokovye jajca [Verhängnisvolle Eier] (1924 geschrieben) und Sobač ’e
serdce [Hundeherz] (1925 geschrieben), die als zentrale Werke der non-­konformen
sowjetischen Prosa bewusst an den Stil der vorangegangenen russischen Literatur
anknüpfen und sich dem Diktat der Vermittlung der kommunistischen Werte im
Sinne des verkündeten sozial-­realistischen Stils nicht beugen.
    All diese Werke gehören zu den repräsentativen Hauptwerken der russischen
Literatur, bilden diese in ihrer mannigfaltigen Stilausrichtung ab und ermög­
lichen gleichzeitig einen Einblick in die geistige Orientierung ihrer Schöpfer, die
in eigenen Werken auf die Fragen ihrer Zeit rekurrieren und zum philosophi-
schen, sozialen und politischen Diskurs ihrer Epoche entscheidend beitragen,
wie allein die Einträge zu ihren Namen in philosophischen und sozialgeschicht-
lichen Lexika belegen. Der Einsatz der Farbe Rot in diesen Werken ermöglicht
durchaus Rückschlüsse über die Bedeutung von Rot im gesamten Schaffen der
genannten Schriftsteller, wobei die Interpretation auch andere Werke der genann-
ten Autoren berücksichtigt, die eine evidente Rotmarkierung besitzen, ­welche für
das Erschließen des Werkgehalts von Bedeutung ist. Gleichzeitig werden auch
Werke anderer Schriftsteller besprochen, die motivische und thematische Paralle-
len zu den ausgewählten Texten aufweisen und ihre Entstehung beeinflusst haben
könnten. Die zentrale Stellung der ausgewählten Werke innerhalb der einzelnen
literarischen Epochen und die Berücksichtigung ihrer literarischen Umgebung in
der Interpretation lassen eine für die gesamte russische Literatur charakteristische
Tendenz bei der Verwendung von Rot feststellen, obwohl die lyrischen Werke in
ihrer Beziehung zum Rot nicht explizit behandelt werden. Der lyrische Einsatz
der Farbe Rot kommt in Untersuchungen zur Sprache, die sich der Farbsprache
einzelner Dichter widmen. Es sind ­solche Arbeiten wie die Dissertationsschriften
J. Peters’ Farbe und Licht. Symbolik bei Aleksandr Blok (1981) und S. Klövers Farbe,
Licht und Glanz als dichterische Ausdrucksmittel in der Lyrik Ivan Bunins (1992).
Das Interesse der symbolistischen Lyrik an Farbe bestätigt auch die Monographie
Kolor w poezji młodszych symbolistów rosyjskich – Aleksander Błok i Andrej Bieły
(1988) der polnischen Slavistin G. Bryś, während mehrere Aufsätze sowjetischer
und englischsprachiger Russisten wie R. Z. Miller-­Budnickajas Simvolika cveta i
sinėstetizm v poėzii. Na osnove liriki A. Bloka (1930), L. M. Čistjakovas K
                                                                          ­ rasnyj v
poėtičeskom jazyke V. V. Majakovskogo (1969), R. V. Alimpievas Realizacija kom-
ponentov semantičeskoj struktury slova krasnyj v sisteme obrazno-­poėtičeskoj reči

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14Einleitung

(1974), S. D. Ciorans A Prism for the Absolute: The Symbolic Colors of Andrey
Bely (1978) und E. A. Samodelovas Simvolika cveta u S. A. Esenina i svadebnaja
poėzija Rajzanščiny (1992) die besondere Aufmerksamkeit der Dichtung der Jahr-
hundertwende der Farbe gegenüber unterstreichen und in Bezug auf einzelne
Autoren thematisieren. Die Herangehensweise und die Ergebnisse dieser For-
schung werden in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt, die sich jedoch auch
kritisch mit ihnen auseinandersetzt. So untersuchte R. V. Alimpieva in ihren
Aufsätzen Realizacija komponentov semantičeskoj struktury slova krasnyj v sisteme
obrazno-­poėtičeskoj reči (1974) und Semantičeskaja struktura slova belyj (1976) das
semantische Assoziationsfeld der beiden modernen Lexeme für die rote und die
weiße Farbe. Sie konnte aufgrund ihrer experimentellen Arbeit mit Sprachträgern
eine Bedeutungsskala aufstellen, die sie dann in Bezug auf die poetischen Werke
S. Esenins, A. Bloks, V. Brjusovs und V. Chlebnikovs anwandte, um teilweise Ver-
schiedenheiten in der Wahrnehmung der beiden Farben im allgemeinen russischen
Sprachbewusstsein und in der Lyrik der genannten Dichter festzustellen. Obwohl
ihre Untersuchung nicht die inhaltliche Aussage der Werke berücksichtigt und
damit die Verwendung der farbigen Lexeme isoliert von ihrer Bedeutung im gan-
zen Werkkontinuum betrachtet, konnte sie in der Lyrik der Jahrhundertwende
eine negative emotionale Wahrnehmung von Rot aufspüren. Am zweithäufigsten
wird die Farbe Rot in dieser Dichtung mit Unruhe und einem alarmierenden
Zustand assoziiert, wobei in der Wahrnehmung der einzelnen Dichter auch Unter-
schiede zu beobachten sind. Brjusov und Esenin verbinden wohl mit dem Rot
vorwiegend positive Empfindungen des Angenehmen, Starken, Festlichen, Revo-
lutionären, Jungen und Schönen, während in der Lyrik V. ­Chlebnikovs mit dem
Rot ambivalente Empfindungen verknüpft sind – sowohl die des Revolutionären
und Heißen als auch die des Unangenehmen und Groben. Bloks Einsatz des Rot
ist ebenfalls durch Ambivalenz gekennzeichnet, wie die Untersuchungen R. Z.
Miller-­Budnickajas, J. Peters’ und G. Bryś’ zusätzlich belegen. Sie attestieren den
Texten des Dichters eine Farbsemantik, die auf dem neoromantischen Weltbild
beruht und d­ ieses widerspiegelt. Das Reale wird als Gleichnis für die höhere Wirk-
lichkeit angesehen, die Farbe tritt als Symbol der mystisch aufgefassten Inhalte
auf und gibt diese bei seinem Auftreten wieder. Das Rot ist im Werk Bloks zu
unterschiedlichen Zeiten verschieden aufgefasst. Es erfährt wohl eine Negativie-
rung, es entwickelt sich von der Farbe der positiv bewerteten Transzendenz zur
Farbe der Katastrophe und des Dämonischen. Dieses ambivalente Verständnis
des Rot bei Blok steht im Zusammenhang mit dem Farbverständnis Belyjs, wie
es S. D. Cioran in seinem Aufsatz A Prism for the Absolute: The Symbolic Colors
of Andrey Bely (1978) in Bezug auf die Bedeutung der theoretischen Schrift Belyjs
Svjaščennye cveta (1903) für dessen eigenes Schaffen wie auch für die Dichter seiner

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Einleitung15

Generation und insbesondere Blok nachweist. A. Rejchmann bestätigte in seinem
Aufsatz Profanirovannye „Svjaščennye cveta“. Ser(ebrjan)yj golub’ Andreja Belogo
die Bedeutung dieser Schrift Belyjs auch für die Motivik und Symbolik seines
ersten großen Romans Serebrjanyj golub’.
    Sowohl die negativen als auch die positiven Konnotationen der Farbe Rot in
der Lyrik der Jahrhundertwende sah die sowjetische Forschung durch die soziale
und politische Situation dieser Zeit bedingt. So verknüpfte sie die negative Beset-
zung von Rot mit den schweren politischen Umbrüchen dieser Zeit, die sich in
der Niederlage im russisch-­japanischen Krieg von 1904, der ersten Revolution von
1905 und der Reaktion des Staates darauf äußerten und auf die Wahrnehmung von
Rot ausstrahlten.1 Auch die bürgerliche Revolution vom Februar 1917 und den
bolschewistischen Umsturz vom Oktober 1917 sah sie in der Lyrik widergespie-
gelt, wobei sich ihrer Ansicht nach die politische Zuordnung der Bolschewiken
zum linken Flügel der Sozialdemokratie auf die politische Symbolik der Partei
und die heraldische Farbgebung der sowjetischen Staatssymbole auswirkte und
somit die Verwendung von Rot in der Lyrik beeinflusste. Die Lyrik der prole-
tarisch gesinnten und damit dem bolschewistischen Putsch gegenüber positiv
eingestellten Dichter, wie etwa M. Gor’kij, V. Majakovskij, S. Esenin etc., trans-
portiert die positive politische Konnotation des revolutionären Rot und stilisiert
diese Farbe zum Symbol der Erneuerung. So ist diese Bedeutung von Rot für die
Lyrik M. Gor’kijs charakteristisch, der dem Rot Grau als Z
                                                         ­­ eichen der angepassten
und beschränkten Denkweise des Philisters und das Schwarz als Symbol der ego-
zentrischen Machtsucht entgegensetzte, wie G. A. Lilič in ihrem Aufsatz O slove
seryj v tvorčestve M. Gor’kogo nachweist.2 L. M. Čistjakova untersuchte in ihrem
Aufsatz Krasnyj v poėtičeskom jazyke V. V. Majakovskogo explizit die Verwendung
des Farbadjektivs „rot“ in der Lyrik V. Majakovskijs, in welcher der bolschewisti-
sche Umsturz gerne mit einer elementaren Gewalt verglichen wird, deren Stärke
der einer Lawine, eines Sturms oder eines Vulkanausbruchs gleicht. Dass diese
Metapher den revolutionären Umsturz meint, geht aus der Verbindung eines
Substantivs für eines der Elemente mit dem Adjektiv rot – krasnyj hervor, dessen
alleiniges Erscheinen eine Code-­Wirkung entfaltet und die Naturgewalt zum
Bild der Revolution apostrophiert: krasnyj val, krasnaja lavina, krasnaja burja,

  1 Vgl. dazu etwa R. V. Alimpieva, Realizacija komponentov semantičeskoj struktury slova
    krasnyj v sisteme obrazno-­poėtičeskoj reči, vyp. 1, Leningrad 1974, S. 107 – 128.
  2 Vgl. G. A. Lilič, O slove seryj v tvorčestve M. Gor’kogo, in: Slovoupotreblenie i stil’ M. Gor’kogo,
    Leningrad 1962, S. 120 – 136. Siehe auch S. V. Trifonova, O prjamom i obraznom upotre-
    blenii slova goluboj u M. Gor’kogo, in: Slovoupotreblenie i stil’ M. Gor’kogo, Leningrad
    1962, S. 136 – 147.

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16Einleitung

krasnaja lava etc. Das Bekenntnis des Landes zur roten Ideologie drückt sich in
den allgegenwärtigen verbalen und visuellen Rotfärbungen aus, die Majakovskij
aufgreift und auch selbst gestaltet: Krasnyj flag, krasnaja kavalerija, krasnyj platok,
krasnoe znamja, aber auch krasnyj Leningrad, krasnaja derevnja, krasnyj gorod,
krasnyj SSSR, krasnaja Moskva etc. sind alle positiv durch die Farbe Rot gekenn-
zeichnete Erscheinungen des sowjetischen Alltags. Mit ­diesem Rot der positiven
revolutionären Veränderung kontrastiert in seiner Lyrik das Rot, mit dem die
Körperteile korpulenter Spießbürger belegt werden. Damit ist eindeutig nega-
tive Expressivität verbunden, wie es L. M. Čistjakova in ihrem Aufsatz darstellt.3
Positiv und politisch gefärbt tritt die Farbe Rot auch in der Lyrik der sogenann-
ten Bauerndichter – krest’janskie poėty – S. Esenin und N. Kljuev auf, die die
Erneuerung des Landes nach der kommunistischen Umwälzung mit dem Motiv
des roten Pferdes verbinden, wobei ­dieses Leitmotiv sowohl in der heidnischen
als auch in der christlichen Symbolik beheimatet ist und die Verschmelzung der
beiden Bildwelten im bäuerlichen Bewusstsein zusätzlich dokumentiert. Darauf
verweist V. G. Bazanov in seinem Aufsatz K simvolike Krasnogo konja, als er von
den folkloristischen Wurzeln des Leitmotivs in dieser Lyrik spricht.4
     Diese durch die politische Entwicklung Russlands nach der Oktoberrevolu-
tion stark beeinflusste Lyrik scheint nicht nur auf den politischen und sozialen
Umbruch dieser Epoche zu rekurrieren, sondern v. a. die literarische Entwicklung
der Moderne und deren Bestrebung, die Ausdruckskraft der Sprache durch neue
Mittel zu steigern, zu berücksichtigen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit der
vorangegangenen Literaturepochen in Bezug auf die Farbe Rot aufzugreifen, um
sie in ihrem Sinne zu gestalten. Das Schaffen der sowjetischen Dichter und Schrift-
steller steht zweifellos nicht herausgerissen aus dem Kontext der literarischen
Entwicklung da, auch dann nicht, wenn die Literatur ein für sie charakteristisches
Merkmal nicht mehr erwartungsgemäß einsetzt oder eine tief in ihr verwurzelte
Tendenz aufgibt. Worauf sie auch in d­ iesem Fall rekurriert, wird in dieser Arbeit
gezeigt, die sich mit der Farbe Rot seit ihrem markanten Aufkommen in der Lite-
ratur der Romantik beschäftigt, um dann der bewusst sparsamen, aber deutlichen
Färbung durch das Rot in den Werken des Realismus nachzugehen und die inten-
sive Verwendung von Rot in der nachfolgenden Zeit der Moderne darzustellen.

  3 Vgl. L. M. Čistjakova, Krasnyj v poėtičeskom jazyke V. V Majakovskogo, in: Trudy po
    russkomu jazyku, Leningrad 1969, S. 202 – 230 (= Učenye zapiski gosudarstvennogo
    pedagogičeskogo instituta imeni A. I. Gercena, Bd. 324).
  4 Vgl. V. G. Bazanov, K simvolike Krasnogo konja, in: Literatura i živopis’, Leningrad 1982,
    S. 188 – 204. Zur Symbolik des roten Pferdes in der russischen Folklore siehe ausführ-
    licher im Kapitel Rot – Farbe des Bösen?

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Einleitung17

    Die charakteristische Rotfärbung wird an Werken gezeigt, deren Auswahl
natürlich begrenzt werden musste, so dass mehrere auch in ihrer Betonung der
Farbigkeit deutlich hervortretende Werke nur am Rande erwähnt werden können.
Zu ihnen gehören ­solche repräsentativen Werke wie z. B. V. Odoevskijs Sala-
mandra (1841) oder Kosmorama (1841), die ihre Protagonisten mit roter Farbe
ausstatten, um den Leser zu sensibilisieren und durch d­ ieses visuelle Symbol zu
warnen. Damit bestätigen sie die in der Romantik aufgekommene und bald sehr
verbreitete Funktion der Farbe Rot, nämlich auf die Gefahren hinzuweisen, die
von einem oder mehreren Protagonisten ausgehen. Auf beide Erzählungen geht
N. V. Kožuchovskaja in ihrem Aufsatz Svet i kolorit v chudožestvennom mire V. F.
Odoevskogo ein, obwohl sie die allegorische Bedeutung des alchemistischen Prozes-
ses, der in der Erzählung Salamandra beschrieben wird, außer Acht lässt und damit
die Symbolik der Farbe Rot als Z ­­ eichen der nicht vollzogenen, aber angestrebten
Metamorphose und der Annäherung an das Absolute nicht herausarbeitet.5 Die-
ser Aufsatz ist im Sammelband Cvet i svet v chudožestvennom proizvedenii (1990)
erschienen, dessen Beiträge sich alle mit dem Titelthema auseinandersetzen – mit
der Farbe und dem Licht innerhalb der Werke der schönen Literatur. Sowohl
einzelne Werke einzelner Schriftsteller wie B. Pil’njaks Povest’ nepogašennoj luny
als auch das ganze Œuvre einzelner Autoren wie M. Bulgakov oder M. Prišvin
werden innerhalb eines Aufsatzes nach der Bedeutung der farbigen Dominanten
untersucht. So teilt L. Grigor’eva in ihrem Aufsatz O smysloobrazujuščej roli cveta
v „Povesti nepogašennoj luny“ B. Pil’njaka ihre Beobachtungen zur Semantik der
roten, schwarzen, weißen und grauen Farbe in der Erzählung Pil’njaks Povest’
nepogašennoj luny mit und stellt fest, dass alle diese Farben negative Emotionen
hervorrufen, die mit dem Tod und der Gewalt als Thema der Erzählung zusam-
menhängen.6 Die Farbe Rot tritt hier nicht im Sinne der postrevolutionären Pro-
paganda als Farbe der Erneuerung und der Erfüllung der Hoffnungen aller Werk-
tätigen auf, sondern als Farbe des im Bürgerkrieg vergossenen Blutes und als Farbe
der Vergeltung. Ähnlich negativ besetzt ist die Farbe Rot in B. Pil’njaks Novelle
Krasnoe derevo (1929), in der Rot zunächst den Möbeln aus Fernambukholz oder
anderen Rothölzern zugeordnet ist, die die Möbelhändler in der Provinz billig
einkaufen, um sie dann in der Hauptstadt mit Profit zu veräußern. Das rote Holz

  5 N. V. Kožuchovskaja, Svet i kolorit v chudožestvennom mire V. F. Odoevskogo, in: Cvet i
    svet v chudožestvennom proizvedenii. Mežvuzovskij sbornik naučnych trudov, Syktyvkar
    1990, S. 13 – 21.
  6 L. Grigor’eva, O smysloobrazujuščej roli cveta v „Povesti nepogašennoj luny“ B. Pil’njaka,
    in: Cvet i svet v chudožestvennom proizvedenii. Mežvuzovskij sbornik naučnych trudov,
    Syktyvkar 1990, S. 67 – 76.

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18Einleitung

kann aber auch als Metapher für die Lebensumstände und die Wirklichkeit der
Provinzbewohner im „roten“, postrevolutionären Russland gesehen werden. Die
Besitzer der Möbel aus rotem Holz führen ein tristes, durch überlebte patriarcha-
lische Konventionen und Traditionen bestimmtes Leben, das keine Hoffnungen
auf eine Besserung ihrer Situation zulässt. Oft sind sie bettelarm, obwohl sie wert-
volle und sogar museale Gegenstände besitzen, die eine geschichtsträchtige Ver-
gangenheit haben. In der neuen postrevolutionären Wirklichkeit werden diese
Gegenstände wie auch ihre Besitzer nicht mehr geschätzt oder gebraucht. Für die
Vergangenheit und die Geschichte, die sich in den roten Hölzern manifestiert,
interessieren sich nur die Möbelhändler, die nicht wie die neuen Machthaber die
Zerstörung der Zeugnisse der alten, vorrevolutionären Welt anstreben, sondern
diese sammeln und sich deshalb sonderbar, närrisch verhalten, so dass sie mit den
Narren in Christo – jurodivye – verglichen werden können. Somit steht das rote
Holz für die Geschichtsvergessenheit der neuen Zeit und für die Gleichgültig-
keit gegenüber den einzelnen menschlichen Schicksalen. Es offenbart eine tiefe
Verankerung in den alten Denk- und Handlungsmustern und karikiert die kom-
munistische Überzeugung von der Veränderung der geistigen Haltung unter der
Einwirkung der kommunistischen Daseinsumstände.
    Pil’njak wagt es, die Doktrin des kommunistischen Staates und die neue Gesell-
schaftsform zu hinterfragen, indem er ein schonungsloses Bild des provinziel-
len Lebens – die Anpassung der Schwachen und die Brutalität der Starken, die
Korruption und das Stehlen staatlichen Eigentums – zeichnet. Sowohl dadurch
als auch durch seinen zurückhaltenden Farbauftrag, der nur durch das Rot des
Holzes belebt wird, nähert er sich Bulgakov und dessen Gesellschaftskritik, die
dieser u. a. in den zwei großen Erzählungen Rokovye jajca (1924 geschrieben)
und Sobač’e serdce (1925 geschrieben) übt. Sie werden zusammen mit Bulgakovs
großem Roman Master i Margarita (1929 – 40) im Kapitel Rot der diktatorischen
Staatgewalt dieser Arbeit ausführlich behandelt.
    Ein anderes Literaturwerk, das sich nicht kritisch mit der kommunistischen
Gesellschaftsform auseinandersetzt, sondern der Frage nach den Ursachen der
revolutionären Umwälzung nachgeht, ist A. Solženicyns Romanzyklus Krasnoe
koleso (1971 – 1988), der die auffällige rote Farbe in seinem Titel entsprechend der
politischen Symbolik des revolutionären Rot einsetzt. Dabei sieht Solženicyn
das rote Rad nicht erst während des bolschewistischen Umsturzes vom Oktober
1917 zum Rollen gebracht, sondern bereits im Frühjahr 1917, als in Petrograd
die bürgerliche Revolution ausbricht. Der Schriftsteller experimentiert mit der
Gattung des historischen Romans und zitiert im Text Zeitungsausschnitte und
historische Dokumente wie die Reden der Abgeordneten des damaligen russi-
schen Parlaments, um den Eindruck der Authentizität der geschilderten Vorgänge

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Einleitung19

und die Richtigkeit der gefällten Urteile über die vorrevolutionären Ereignisse zu
untermauern. Die vier großen Teile des Romans, die als uzly – Knoten bezeichnet
werden, gehen dem Scheitern der Reformen Stolypins, den schweren Niederlagen
im ­Ersten Weltkrieg, den ersten revolutionären Protesten und Kundgebungen
nach und diagnostizieren eine schwerwiegende professionelle Unfähigkeit der
Führungsschicht und eine verhängnisvolle Willensschwäche der historischen
Hauptakteure angesichts der herannahenden Katastrophe von 1917. Solženicyn
ist überzeugt, dass die geschichtlichen Ereignisse nicht unabhängig vom Willen
und den Fähigkeiten des Einzelnen im Sinne Tolstojs und dessen Darstellung in
Vojna i mir ihren Gang nehmen, sondern zu beeinflussen sind. So wäre die Revo-
lution vom Frühjahr 1917 nicht ausgebrochen und damit das rote Rad nicht zum
Rollen gebracht worden, wenn die Führungsschicht ihre Rolle effektiver ausge-
führt, die gebildete Schicht der Bevölkerung die Revolution und ihre Zerstörung
nicht romantisiert und die ungebildeten Massen ihre Aggression gegen die ihnen
fremde Kultur und den Besitz der gebildeten und besser gestellten Intelligenz im
christlichen Sinne als Sünde begriffen und gezügelt hätten. Das rote Rad ist damit
ein negatives Symbol der ausbrechenden politischen und sozialen Katastrophe,
die sich bereits im Frühjahr 1917 abzeichnet, als das Rot der roten Bändchen und
Fahnen zur dominierenden Farbe der Straßenlandschaft avanciert. Die Konnota-
tion der Farbe Rot als einer unheilverkündenden bestätigt sich erneut, da sie der
rohen Gewalt, der Brutalität, dem Kleinmut, der Unfähigkeit, dem Selbstbetrug
und der Realitätsverkennung als Merkmalen des Frühlings von 1917 zugeordnet
ist und ihre landesweite Ausbreitung während der Ereignisse vom Oktober 1917
vorwegnimmt.
    Trotz der intensiven und zeitaufwendigen Quellenrecherche, die die Entste-
hung dieser Arbeit begleitete, sind wohl auch Werke unerkannt und unerwähnt
geblieben, die durchaus die Analyse bereichern bzw. die Ergebnisse der Unter-
suchung untermauern und bestätigen würden oder, wie das Poem M. Cvetaevas
Krasnyj byčok (1928) eindrucksvoll illustriert, auch das zunächst als negativ ver-
standene und verwendete Symbol der roten Farbe letztlich als ein ambivalentes
Symbol gestalten, das sich einer eindeutigen Wertung entzieht. Der rote Stier des
Poems ist zwar eindeutig als Symbol des tötenden Bolschewiken zu verstehen,
dennoch kann dessen Handeln nicht verurteilt werden, da der Stier und somit
der Soldat der roten Armee unreflektiert, ja verstandeslos handelt.7 In ­diesem
Sinne ist auch der musische Genius Cvetaevas im Poem Na Krasnom kone (1921)
als eine ambivalent zu verstehende Figur dargestellt, die einerseits das lyrische Ich

  7 Vgl. dazu auch O. Revzina, Poėma Mariny Cvetaevoj „Krasnyj byčok“: po tu storonu dobra
    i zla, in: Poėmy Mariny Cvetaevoj „Egoruška“ i „Krasnyj byčok“, Moskva 1995, S. 119 – 126.

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20Einleitung

zum schöpferischen Tun animiert, andererseits aber Opfer dafür verlangt. Die
Brutalität und Kompromisslosigkeit des Genius drückt sich in der Farbe seines
Pferdes aus, die ihre gesamte Konnotationsbreite im kulturellen Gedächtnis des
russischen Lesers ansprechen und entfalten möchte.8
    Zu diesen Werken, die die Eindeutigkeit der farbigen Symbolik bewusst
negieren, gehört auch E. Zamjatins Roman My (1921), in dem die Farbe Rot
sowohl der Wirklichkeit des totalitären Staates als auch der unkontrollierten
Welt der vergangenen Staatsform angehört. In seinem anti-­utopischen Roman
beabsichtigt Zamjatin nicht nur die parodistische Wiedergabe des Kontroll-
wahns in einer Diktatur, die zum Wohle aller Menschen errichtet wurde und
die aus dem Prinzip der Gleichheit alle ihre Bürger ihrer Namen beraubt und
einer totalen Kontrolle unterstellt, sondern auch die Darstellung einer bunten,
von der Intention des Autors unabhängigen Wirklichkeit der Farben und For-
men, die den Gegebenheiten in der Natur und im realen Leben entspricht. Die
Farben und Formen sind damit einer politischen, sozialen und moralischen
Opposition enthoben, obwohl diese charakteristisch für die Darstellung der
beiden Welten des Romans ist.9
    Dennoch darf die Feststellung der nicht absolut negativen und sogar vereinzelt
positiv zu verstehenden Konnotation der Farbe Rot, wie sie z. B. in der Erzählung
A. Kuprins Poedinok (1905) verwirklicht und mit der Liebe als dem Hauptthema
der Erzählung verbunden ist,10 nicht darüber hinwegtäuschen, dass die russische
Literatur gerade der Expressivität des Liebesgefühls, die mit der Farbe Rot gekenn-
zeichnet wird, öfter mit Misstrauen begegnet und sie als Gefahrenquelle sieht.
Außer den Werken, die im Hauptteil dieser Arbeit in ­diesem Kontext interpretiert
werden, sei hier auf die Erzählungen N. Leskovs Ovcebyk (1862), Žitie odnoj baby
(1863) und Starye gody v sele Plodomasove (1869) verwiesen, die die Opposition der
schöpferischen und zerstörerischen Liebe thematisieren und durch den Gegen-
satz der Farben Weiß und Rot sehr subtil andeuten. Leskov ordnet die Farben
nicht einer bestimmten Figur leitmotivisch zu, sondern setzt nur einige situative
Farbtupfer, die dennoch im Kontext der Handlung eine symbolische Bedeutung
erlangen und zur Personencharakteristik beitragen, worauf auch M. Maslova in

  8 Dazu E. Revzin, Poėma Mariny Cvetaevoj „Na Krasnom kone“ v kontekste evropejskogo
    modernizma, in: Poėmy Mariny Cvetaevoj „Egoruška“ i „Krasnyj byčok“, Moskva 1995,
    S. 78 – 82.
  9 Vgl. dazu S. S. Hoisington/L. Imbery, Zamjatin’s Modernist Palette: Colors and their
    Function in We, in: Slavic and East European Journal, Bd. 36, 1992, S. 159 – 171.
 10 Vgl. dazu L. Jurkina, Simvolika sveta i cveta v povesti A. I. Kuprina „Poedinok“, in: Cvet i
    svet v chudožestvennom proizvedenii. Mežvuzovskij sbornik naučnych trudov, Syktyvkar
    1990, S. 36 – 45.

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ihrem Aufsatz Ljubov’ sozidajuščaja i ljubov’ razrušajuščaja v rannich proizvede-
nijach N. S. Leskova hinweist.11
    Alle hier bereits erwähnten Monographien, Sammelbände und Artikel haben
die vorliegende Arbeit fruchtbar beeinflusst, da sie sowohl durch ihre Herange-
hensweise als auch durch ihre Ergebnisse wichtige Impulse für die Untersuchung
der literarischen Farbbedeutung gaben – auch dann, wenn sie wie die Arbeiten
A. P. Vasilevičs Cvetonaimenovanija kak charakteristika jazyka pisatelja (k ­metodike
issledovanija) (1981) und E. A. Nekrasovas Priemy jazykovoj izobrazitel’nosti v
stichotvornych tekstach (1991) allein die sprachlichen Funktionen der farblichen
Adjektive am Beispiel der Sprache der schönen Literatur beschreiben und an
der Bedeutung der Farben in einem literarischen Kontinuum nicht interessiert
sind. Aber nicht nur sie waren für die analytische Arbeit prägend, sondern auch
andere in die Bibliographie aufgenommene Publikationen, von denen einige
besonders erwähnt werden sollen. Es sind die beeindruckenden Untersuchungen
J. Gages Die Sprache der Farben. Bedeutungswandel der Farbe in der bildenden
Kunst (1999) und Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart
(1994)12, die auch einen reichen bibliographischen Anhang zum Thema Farbe in
der westeuropäischen Kunst enthalten. Gage betrachtet die Farbe in einem großen
kulturhistorischen Zusammenhang und zieht ästhetische, religiöse, heraldische,
politische etc. Zeugnisse und Dokumente heran, um die Stellung der Farbe zu
verschiedenen Kunstepochen zu beleuchten, wie es auch M. Pastoureau in seiner
Arbeit Couleurs, images, symboles. Études d’histoire et d’anthropologie (1989)13 ein-
drucksvoll in Bezug auf die westeuropäische mittelalterliche Farbsemantik tut,
während J. Le Rider in seiner Monographie Farben und Wörter. Geschichte der
Farbe von Lessing bis Wittgenstein (2000)14 den literarischen, philosophischen und
ästhetischen Diskurs Westeuropas in Bezug auf die Stellung der Farbe zu verschie-
denen literarischen Epochen herausarbeitet und damit eine vertiefende und ergän-
zende Untersuchung zu S. Skards The Use of Color in Literature (1944)15 ­vorlegt.

 11 M. Maslova, Ljubov’ sozidajuščaja i ljubov’ razrušajuščaja v rannich proizvedenijach N. S.
    Leskova, in: Russkaja literatura, Nr. 4, 2002, S. 148 – 157.
 12 Die beiden Publikationen J. Gages erschienen zunächst in englischer Originalfassung
    unter den Titeln: Colour and Meaning. Art, science and symbolism, London 1999 und
    Colour and Culture. Practice and Meaning from Antiquity to Abstraction, Boston 1994.
 13 M. Pastoureau, Couleurs, images, symboles. Etudes d’histoire et d’anthropologie, Paris 1989;
    siehe auch ders., Dictionnaire des couleurs de notre temps, Paris 1992.
 14 Die Monographie J. Le Riders trägt in der Originalausgabe den Titel: Les couleurs et les
    mots, Paris 1997.
 15 S. Skard, The Use of Color in Literature. A Survey of Research, in: Proceedings of the Ame-
    rican Philosophical Society, Bd. 90, 1946, S. 163 – 249. Diese Arbeit enthält eine reiche

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Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?
22Einleitung

Die jüngste Zeit bestätigt das anhaltende Forschungsinteresse am Phänomen
Farbe und v. a. auch an der umfassenden, kulturhistorischen Betrachtungsweise
­dieses Phänomens, dessen Erscheinungsformen und Wirkungen gerne innerhalb
einer Kulturepoche untersucht und beschrieben werden, wie es die Veröffent­
lichungen I. Bennewitzs und A. Schindlers (Hg.) Farbe im Mittelalter (2012) und
W. Papes (Hg.) Die Farben der Romantik (2014) dokumentieren. Innerhalb der
russischsprachigen Forschung, die sich rege mit den sprachlichen Funktionen der
Farbwörter, mit der Geschichte der Farbbezeichnungen und den grammatischen
und lexikalischen Besonderheiten der phraseologischen Redewendungen mit
Farbadjektiven beschäftigt, gibt es dennoch nur vereinzelte Publikationen, die sich
mit der Stellung der Farbe in der Kunst beschäftigen oder gar eine umfassende
Darstellung zur Farbe innerhalb einer Kulturepoche anstreben. So stellt N. ­Volkov
in seiner Monographie Cvet v živopisi (1965) die physischen und malerischen
Eigenschaften der Farben in einem Bild dar, die er anhand von Bildbeispielen
aus einigen klassischen Kunstepochen erläutert. Dabei berücksichtigt er Werke
 der russischen Kunst und erwähnt auch die schriftlich fixierten Aussagen der
bildenden Künstler über die Farbe, ohne jedoch auf die epochenspezifische Ein-
stellung gegenüber der Farbe einzugehen und damit den künstlerischen Diskurs
in einem großen geistesgeschichtlichen Rahmen zu sehen. Seine Darstellung ist
auch zeitlich bis zum Aufkommen der Avantgarde beschränkt.
    Der Sammelband Cvet v iskusstve avangarda (2011) ist die erste russischspra-
 chige Publikation, die sich an die Untersuchung der Farbe im Kontext einer Kunst-
und Literaturepoche wagt. Die zusammengefassten Aufsätze ermöglichen einen
ersten Überblick über die durch Farben und den Farbendiskurs geprägte Zeit
 der russischen Avantgarde, wobei die Schöpfungen und Kunstreflexionen der
Maler und Graphiker Kandinskij, Malevič, Filonov, Lisickij, Kirnarskij wie auch
Gedichte Zabolockijs und T. Čurilins im Mittelpunkt der Betrachtung der Auto-
ren stehen. Zwar werden im Beitrag A. Mirzaevs zur Lyrik Čurilins die farbigen
Adjektive losgelöst von ihrem Kontext innerhalb eines konkreten Werkes betrach-
tet, dafür aber statistisch gezählt und entsprechend ihrer Häufigkeit psychologisch
im Sinne von Max Lüscher und in Anlehnung an Ergebnisse in dessen Farbtest
gedeutet.16 Andere Aufsätze enthalten aber wertvolle Beobachtungen zur ikono-
graphischen Verwandtschaft und Semantik einzelner Motive in der Kunst und im

    Bibliographie mit Angaben zu Untersuchungen, die sich mit der Farbe als physiologische
    Erscheinung und als Thema von Psychologie, Ästhetik, Etymologie, Folklore, Malerei
    und der westeuropäischen Literatur auseinandersetzen.
 16 A. M. Mirzaev, Cvet i ego „bytovanie“ v poėzii Tichona Čurilina, in: Cvet v iskusstve avan-
    garda, S.-Peterburg 2012, S. 32 – 45.

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Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?
Einleitung23

Kunsthandwerk der Avantgarde. So geht D. Kozlov in seinem Aufsatz dem Motiv
des Dreiecks nach, das sich in die runde Scheibe einkeilt. Den Ursprung d­ ieses
mit einer politischen Aussage verknüpften Motivs wie auch seine Verbreitung in
den unterschiedlichen Kunstgattungen stellt der Forscher in den Mittelpunkt
seiner Überlegungen. Die Farbigkeit der beiden zentralen plastischen Formen,
die das Plakat Lisizkijs Klinom krasnym bej belych – Mit dem roten Keil schlage die
Weißen – (1919 – 20) bestimmt, scheint die plastische Opposition der Rundung
und des Keils zu untermauern.17 Der metaphysischen Grundlage der Anschauung
Kandinskijs sind zwei Aufsätze gewidmet, wobei N. Firtič in seinem Beitrag die
apophatische Theologie eines Dionysos Pseudo-­Areopagita, die Kandinskij wohl
durch die Lehre und Schriften R. Steiners vermittelt wurde, zur Deutung von
dessen Werk Dama v Moskve (1912) und auch zur Interpretation von Malevičs
spätkubistischem, alogischem Bild Angličanin v Moskve (1914) heranzieht und
damit die geistige Grundlage der suprematistischen Sprache des Schwarzen Qua-
drats (1915), wie sie bereits Hansen-­Löve in seinem Aufsatz Gott ist nicht gestürzt!
Mensch und/als Gott bei Kazimir Malevič (2002) charakterisiert hat,18 anspricht.19
    Abschließend soll noch der Ausstellungskatalog Rot in der russischen Kunst
(1998) genannt werden, der eine erste Zusammenstellung der Gemälde, Ikonen
und Zeugnisse des Kunsthandwerkes aus der Sammlung des Russischen Museums
in St. Petersburg wiedergibt, die eine starke rote Dominante in ihrer Farbgebung
aufweisen. Damit ist dieser Katalog, wenn ich recht sehe, die erste wissenschaft-
lich begleitete Publikation zur Farbe Rot innerhalb der russischen Kunst und
der Volkskunst, obwohl die wissenschaftlichen Kommentare die Kriterien der
getroffenen Auswahl der Werke nicht thematisieren und die Frage nach der Stel-
lung der Farbe innerhalb einer Kunstepoche oder im Schaffen eines konkreten
Künstlers nicht berühren.
    Die hier erwähnten wie auch in der Untersuchung zitierten Forschungsarbeiten
zur künstlerischen und kulturhistorischen Stellung der Farbe beeindrucken und
begeistern durch ihr reiches Material und durch ihre sorgfältige Analyse, die den
historischen und künstlerischen Kontext in die Darstellung der farbigen Seman-
tik miteinbezieht. Ihre semantische Herangehensweise, die die Farbe oft als tex-
tuelles Zeichen
        ­­       betrachtet, das in sich bedeutende und über sich hinausgehende

 17 D. V. Kozlov, „Klinom krasnym bej belych“ L. M. Lisickogo: K voprosu ob istolkovanii
     formal’nogo motiva, in: Cvet v iskusstve avangarda, S.-Peterburg 2012, S. 5 – 18.
 18 A. A. Hansen-­Löve, Gott ist nicht gestürzt! Mensch und/als Gott bei Kazimir Malevič, in:
    Wiener Slawistischer Almanach 50, 2002, S. 153 – 216.
 19 N. G. Firtič, Svet i t’ma: k duchovnomu videniju cveta u Vasilija Kandinskogo i Kazimira
    Maleviča („Dama v Moskve“ i „Angličanin v Moskve“), in: Cvet v iskusstve avangarda,
    ­S.-Peterburg 2012, S. 137 – 149.

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24Einleitung

I­ nformation birgt, die uns das künstlerische Schaffen oder aber auch die E
                                                                           ­ instellung
 der Epoche der Farbe gegenüber erschließt und damit unser Verständnis für die
 histo­rische Epoche erweitert, ermutigte eine umfassende, kultur­semantische
 Betrachtung von Rot innerhalb des russischen Kulturkreises zu wagen, die die
Zeugnisse der russischen Volkskunst, der bildenden Kunst und der politischen
 Emblematik berücksichtigt, deren Semantik als das den Kulturkreis prägende Kon-
 zept im Sinne des semiotischen Konzeptualismus begriffen werden kann, während
 die Semantik von Rot in der russischen Literatur, die so sehr von dieser Konzeption
 abweicht und die bis jetzt wissenschaftlich nicht gefasst und für die Sprachträger
 unverbalisiert, ja verborgen geblieben ist, aufgedeckt und aufgearbeitet wird.20

          1.1 Farbe als Motiv und Symbol und die Diskussion
               über die Farbe in der russischen Moderne

Farbe tritt in literarischen Werken zunächst an einen Gegenstand, an eine Natur-
erscheinung oder an ein physisches Merkmal gebunden auf und hebt durch ihr
Erscheinen die genannten Motive hervor. Sowohl der wiederholte Gebrauch eines
solchen Motivs als auch das kurze Aufleuchten der Farbe bei einer einmaligen
Erwähnung eines dieser Motive kann vom Autor mit einer Bedeutung versehen

 20 Farbe wird als kulturelles und deshalb als textuelles oder sprachliches ­­Zeichen verstanden,
    da die Kultursemiotik die kulturellen und geschichtlichen Ereignisse als Text begreift,
    der mit Hilfe sprachlicher Zeichen
                                    ­­        gedeutet werden kann. Die Kultur lässt sich damit
    auf Grund dieser ­­Zeichen organisieren und beschreiben, da diese die Information des
    kulturellen Textes zu bewahren und zu vermitteln ermöglichen. Dazu siehe etwa B. A.
    Uspenskij, Istorija i semiotika, in: ders., Izbrannye trudy. Semiotika istorii. Semiotika
    kul’tury, Bd. 1, Moskva 1994, S. 9 – 49, S. 10 f.
      Das Verständnis von Farbe als kulturellem Zeichen
                                                      ­­        berührt bereits den Begriff des Kon-
    zepts im Sinne eines übergeordneten Begriffs, der sich zunächst als sprachliches Lexem
    manifestiert, um auf die Assoziations- und Bedeutungsreihen zu verweisen, die sich mit ihm
    innerhalb eines sprachlichen Kulturkreises verbinden. Die theoretischen Überlegungen zu
    Konzepten der Kultur wurden vor kurzem durch erste Lexika zu diesen geistigen Konstan-
    ten der Kultur ergänzt. Für den russischen Kulturkreis sei hier die beeindruckende Arbeit
    Ju. S. Stepanovs Konstanty: Slovar’ russkoj kul’tury. Opyt issledovanija, Moskva 1997 erwähnt.
    Ein Artikel zur Farbe Rot, die sich als einer der konstanten Schlüsselbegriffe der russischen
    Kultur begreifen lässt, würde das semiotische Wörterbuch sinnvoll ergänzen.
      Zum Konzept als Konstrukt der Semiotik siehe: S. A. Askol’dov, Koncept i slovo, in: Russ-
    kaja slovesnost’. Ot teorii slovesnosti k strukture teksta, Moskva 1997, S. 267 – 279 und D. S.
    Lichačev, Konceptosfera russkogo jazyka, in: Russkaja slovesnost’. Ot teorii slovesnosti k strukture
    teksta, Moskva 1997, S. 280 – 287.

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Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum?
Farbe als Motiv und Symbol25

werden, die sich beim aufmerksamen und oft erst wiederholten Lesen erschließt.
So setzt z. B. S. Zweig in seiner Schachnovelle (1942) nur wenige Farbtupfer ein –
 die leuchtende rote Farbe tritt bei der Beschreibung einer ekstatischen Erregung
auf, die ein von der Gestapo eingesperrter Schachspieler in seiner Isolationshaft
während seiner wiederholten imaginären Schachpartien erlebt. Die Gefahr, die
diese Erregung birgt, wird durch das Rot zum Ausdruck gebracht, so dass der „rote
Nebel“, in dem sich der Schachspielende befindet, nicht mehr nur auf seine Ent-
rückung während des Spiels, sondern auch auf den bereits krankhaften Zustand
seiner Wahrnehmung hinweist. Die rote Farbe verändert die Metapher des Nebels
und gibt ihr eine Färbung des Grauens.
    Im Gegensatz zum sparsamen Farbauftrag Zweigs und dessen nur einige
seltene Male erwähnten Motiv des roten Nebels setzt G. Hauptmann in seiner
Novelle Bahnwärter Thiel (1888) das Rot deutlich und in solch einer Breite ein,
 dass der dritte Teil der Erzählung als Drama in Rot bezeichnet werden kann. In
­diesem Teil, dessen erzählte Zeit drei Tage umfasst, zeichnet der Autor den aus-
brechenden Wahnsinn seines Helden, der den Unfalltod seines erstgeborenen
Sohnes nicht verkraftet und seine Ehefrau und ihr gemeinsames Kind erschlägt.
Der Wahnsinn, dessen erste Anzeichen bereits am Tage vor dem Unfalltod des
Jungen geschildert werden, bemächtigt sich dann als „roter Nebel“ des Denkens
 des Mannes, der seiner Ehefrau die Schuld am Unglück seines ersten Kindes gibt.
Dennoch ist die Metapher des roten Nebels hier nicht der erste Hinweis auf das
sich anbahnende Unheil, sondern sie scheint zu den atmosphärischen Erschei-
nungen, die den Helden während der drei Tage umgeben, zu gehören und diese
zu vervollständigen – dem glühenden Sonnenuntergang des ersten Tages, an dem
 der Mann zum ersten Mal halluziniert, der vom Gewitter und von roten Zuglich-
tern bestimmten Nacht, dem von der blutroten Sonne beschienenen Morgen des
zweiten Tages und anschließend der roten Abenddämmerung des dritten Tages,
in der der unglückliche Vater seine zweite Halluzination hat, um anschließend in
 der vom purpurnen Mond beschienenen Nacht seine Familie zu ermorden. Die
atmosphärischen Erscheinungen scheinen den geistigen Zustand des Mannes
widerzuspiegeln, gleichzeitig ist die atmosphärische Apotheose der Farbe Rot, die
alle handelnden Figuren umhüllt, ein frühes ­­Zeichen des herannahenden Unheils.
    Der rote Nebel und die rot gefärbten Naturerscheinungen verstärken den
Eindruck der Gefährdung des Helden. Dennoch stellen diese nicht nur die far-
bige Metapher eines verstörten Geistes dar. Durch die wiederholte und sich ste-
tig erweiternde Verwendung der Farbe Rot erreicht der Autor eine besondere
Expressivität des Bildes, die gleichzeitig die Farbe selbst als bedeutungstragendes
Element und ­­Zeichen wahrnehmen lässt – als ­­Zeichen des sich ausbreitenden
Wahnsinns. Damit erweitert die Farbe ihre Bedeutung, sie selbst wird zum „Text“,

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