Rot als Malum? Angelina Maier-Geiger Zur Geschichte einer Signalfarbe in Russland
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Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? BAUSTEINE ZUR SLAVISCHEN PHILOLOGIE UND KULTURGESCHICHTE NEUE FOLGE Begründet von HANS-BERND HARDER (†) und HANS ROTHE Herausgegeben von ROLAND MARTI, PETER THIERGEN, LUDGER UDOLPH und BODO ZELINSKY Reihe A: SLAVISTISCHE FORSCHUNGEN Begründet von REINHOLD OLESCH (†) Band 92 © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Rot als Malum? Zur Geschichte einer Signalfarbe in Russland von Angelina Maier-Geiger BÖH LA U V E R L A G W I E N K ÖLN WEIMAR © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Privatfonds Schulze-Thiergen Inaugural-Dissertation in der Fakultät Geistes- und Kulturwissenschaften der Otto-Friedrich-Universität Bamberg vorgelegt von Angelina Maier-Geiger (geb. Maier) Erstgutachter: Prof. Dr. Peter Thiergen Zweitgutachter: Prof. Dr. Ada Raev Mündliche Prüfung: 24. 07. 2017 Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Lindenstraße 14, D-50674 Köln Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: F. Maljavin, Ausschnitt aus dem Gemälde Lachen, 1899, Öl auf Leinwand, 194 × 428 cm, International Gallery of Modern Art, Venedig Korrektorat: Felicitas Sedlmair, Göttingen Satz: büro mn, Bielefeld Druck und Bindung: Hubert & Co. BuchPartner, Göttingen Printed in the EU Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN 978-3-412-52044-1 © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Meinem Mann © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Inhalt Danksagung .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 1. .Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 1.1. Farbe als Motiv und Symbol und die Diskussion über die Farbe in der russischen Moderne .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 24 2.. Rot – Farbe des Bösen? . Zur farblichen Identifizierung des Bösen in der christlichen Ikonographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 37 3.. Die verbale Semantik des Adjektivs rot in der russischen Sprache .. . . . . . 63 4.. Zur Semantik von Rot in der russischen sakralen Kunst und im Kunsthandwerk . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 5.. Zur Semantik von Rot in den Zeugnissen der russischen „weltlichen“ Malerei . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 6.. Rot als politisches Emblem .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 7.. Rot in den Werken der schönen Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 7.1. Die altrussische Literatur, die Literatur der Aufklärung und Anfänge der Romantik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 7.2. Rot der teuflischen Weiblichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 7.3. Rot des Menschengottes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 7.4. Rot des Chaos .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 7.4.1. Untergang im „roten Chaos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225 7.4.2. Die Überwindung des „roten Chaos“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 7.5. Rot des Wahnsinns .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 7.6. Rot der diktatorischen Staatsgewalt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 8.. Schlusswort ......................................................................... 347 © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? 8Inhalt 9.. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Primärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 I. Ausstellungskataloge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359 II. Aufsätze und Monographien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360 10..Anhang .............................................................................. 383 11..Personenindex .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389 © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Danksagung Ich möchte allen, die diese Arbeit unterstützt und ermöglicht haben, tiefen und herzlichen Dank aussprechen. Meinem lieben Mann und meiner Familie gilt zunächst meine größte Dankbarkeit, da sie meine Beschäftigung mit dem Thema über die Jahre mit großer Geduld, Zuneigung, Verständnis und tatkräftiger Unter- stützung begleitet haben. Meinem Doktorvater, Prof. Dr. P. Thiergen, der nie den Glauben an mich verloren hat und mich über die Jahre hinweg sowohl mit wertvollen Hinweisen bedachte als auch mit anregenden Gesprächen erfreute, möchte ich auch besonders danken. Prof. Dr. A. Raev danke ich für ihr aufrich- tiges Interesse an dieser Arbeit und für ihre Fragen, die oft zur Vertiefung des behandelten kunsthistorischen Stoffs beigetragen haben. Meiner Freundin und treuen Korrekturleserin, Uta Gärtner M. A., möchte ich auch meinen tiefen Dank aussprechen, da sie trotz ihrer beruflichen und familiären Belastung immer Zeit, Geduld und Interesse für den schwierigen Text aufgebracht hat. Die Aufenthalte in Moskau und in St. Petersburg und die Arbeit in der Biblio- thek der Ermitage, in der Öffentlichen Saltykov-Ščedrin-Bibliothek in St. Peters- burg und in der Lenin-Bibliothek in Moskau wären ohne die lieben Freunde Dr. T. Ornatskaja und T. Mazitova nicht möglich gewesen. Ihnen bin ich in tiefer Dankbarkeit verbunden. Last, not least gilt mein Dank dem Privatfonds Schulze-Thiergen für die Bereit- stellung eines namhaften Druckkostenzuschusses. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? 1. Einleitung Da jede Untersuchung über die Farbe transdisziplinär sein muß, wenn sie nicht allzu speziell oder allzu eng angelegt sein will, ist die Kunstgeschichte der Farbe ein ungeheuer breites und reizendes Feld. Sie berührt die Philosophie und die Künste, die Literatur und die Wissenschaften, die Religionen und die Alltagskultur. […] Jede Kultur sieht die Farben anders, und die Farbenlehre eröffnet jeweils Zugang zum gesamten Kultursystem. J. Le Rider, War die Klassik farbenfeindlich und die Romantik farbengläubig? (2002) Zwar spricht Le Rider im Epigraph von der Farbenlehre im engen, kunsthisto- rischen Sinn, die, im Kontext der anderen Erscheinungen der jeweiligen Kultur betrachtet, einen umfassenden Einblick in einen Kulturkreis erlaubt, dennoch kann seine Meinung auch in Bezug auf die Betrachtung einer Farbe innerhalb eines Kulturkreises ausgeweitet werden, da die Beschäftigung mit einer Farbe ebenso die sprachlichen, visuellen und manchmal sogar musikalischen Assoziationen, Konnotationen und Codierungen aufdeckt. Damit ermöglicht sie, ein Bild von der geistigen, sozialen, ethischen und ästhetischen Entwicklung eines Kultur- kreises zu entwerfen und hilft, die Denkmuster und Emotionen seiner Vertreter zu unterschiedlichen Zeiten zu verstehen. Das Motiv Farbe, das in seinen mannigfaltigen visuellen, sprachlichen und musikalischen Formen innerhalb des russischen Kulturkreises fassbar ist, wird in dieser Arbeit vorwiegend als sprachliches, literarisches und visuelles Zeichen behandelt. Dabei konzentriert sich die Arbeit auf die Betrachtung der Einzelfarbe Rot innerhalb der Werke der schönen Literatur, der bildenden Kunst (Malerei), im Kunsthandwerk und in der sprachlichen und visuellen politischen Propaganda. Die Beziehung der schönen Literatur zur Farbe Rot, ihre rote Färbung steht im Mittelpunkt des analytischen Interesses und wird im Hauptteil der Arbeit anhand von Werkbeispielen dargestellt. Bei der Beschreibung und Deutung von Werken aus verschiedenen literarischen Epochen konnte die literarische Vorliebe für die Kennzeichnung des malum durch die Farbe Rot festgestellt werden, so dass von einer thematischen Verbindung der Farbe mit dem Themenaspekt des Bösen (v. a. als moralisches und soziales begriffen) gesprochen werden kann. Diese zen- trale thematische Verbindung, die die Farbe Rot mit dem Bösen eingegangen ist, wurde auch im Titel der vorliegenden Arbeit zum Ausdruck gebracht, um diese besondere Farbkennzeichnung der Literatur deutlich zu benennen und sie gleichzeitig von der Besetzung und Auffassung von Rot in den Volksbräuchen, in der Staatssymbolik, in den kirchlichen und säkularen Kunstwerken abzugrenzen. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? 12Einleitung Die Literatur schlägt einen Sonderweg im Vergleich zu angrenzenden Kunstgat- tungen oder zur staatlichen Propaganda ein, indem sie das Rot in ihrem Sinne verwendet. Der Erkenntnis dieser einmaligen literarischen Einstellung gegenüber der Farbe Rot dienen auch die dem Hauptteil vorangestellten Kapitel, die sich mit der farblichen Symbolik der Volkskunst, der kirchlichen und säkularen Kunst sowie mit der staatlichen Symbolik beschäftigen und damit anstreben, das für die Kunst und für die breiten Massen der Bevölkerung charakteristische Verständnis der Farbe Rot wiederzugeben. Die Rezeptionsarbeit an den literarischen Quellen brachte die Erkenntnis, dass die einzelnen Literaturwerke unterschiedliche Aspekte des Bösen hervorheben und mit dem Rot kennzeichnen. Die Bedeutung eines einzelnen solchen Aspektes des malum für das literarische Werk und dessen Gehalt kommt in Überschriften zu einzelnen Unterkapiteln des Hauptteils zum Ausdruck. Die Unterkapitel fas- sen damit die Interpretationen zu Werken zusammen, w elche einen gemeinsamen thematischen Schwerpunkt aufweisen und diesen rot markieren. So treffen in einem Unterkapitel Literaturwerke aufeinander, die aus unterschiedlichen lite- rarischen Epochen stammen. Das am frühesten publizierte bzw. geschriebene Werk wird zuerst interpretiert, ihm folgen dann in chronologischer Reihenfolge die Interpretationen der später entstandenen Werke. Damit kann der Leser den frühesten Zeitpunkt feststellen, an dem das Rot als Kennzeichen eines bestimmten thematischen Aspekts des Bösen eingesetzt wurde. Gleichzeitig kann er beobach- ten, wie die Literaturwerke aus den unterschiedlichen Epochen miteinander nicht nur auf der thematischen, sondern auch auf der motivischen und symbolischen Ebene korrespondieren bzw. aufeinander Bezug nehmen. Das Einsetzen des Rot als Kennzeichen eines gemeinsamen Themenkreises ist in d iesem Kontext oft ein Hinweis auf die bestehende genetische Verwandtschaft der Texte. Die literarischen Werke, die im Hauptteil der Arbeit unter dem Aspekt der Relevanz der Farbe Rot für ihre Motivik und Thematik untersucht werden, sind folgende: N. V. Gogol’s Novelle Soročinskaja jarmarka [Jahrmarkt von Soročincy] (1831), die aus der Romantik stammt und zu den ersten Werken gehört, die Rot zur Kennzeichnung des Bösen einsetzen; F. M. Dostoevskijs Roman Besy [Dämonen] (1871/72) und L. N. Tolstojs große Erzählung D’javol [Der Teufel] (1889 ent- standen, 1911 veröffentlicht), die die Epoche des reifen Realismus in ihrem Ver- hältnis zum Rot repräsentativ darstellen; V. M. Garšins zentrale Novelle Krasnyj cvetok [Die rote Blume] (1883), die den symbolistischen Erzählstil vorwegnimmt und die stilistische Neuorientierung der Prosa der Jahrhundertwende ankündigt; L. N. Andreevs Erzählung Krasnyj smech [Das rote Lachen] (1905), die zu den frühesten expressionistischen Werken der russischen Literatur zählt; A. Belyjs Romane Serebrjanyj golub’ [Die silberne Taube] (1909) und Peterburg [Petersburg] © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Einleitung13 (1913/14), die zwei Teile einer geplanten Trilogie bilden und als zentrale epische Werke des russischen Symbolismus angesehen werden; F. Sologubs Erzählung Krasnogubaja gost’ja [Die Besucherin mit den roten Lippen] (1909), die die Klein- prosa des Symbolismus repräsentiert; M. A. Bulgakovs Roman Master i Margarita [Meister und Margarita] (1940 geschrieben, 1966/67 veröffentlicht) und seine Erzählungen Rokovye jajca [Verhängnisvolle Eier] (1924 geschrieben) und Sobač ’e serdce [Hundeherz] (1925 geschrieben), die als zentrale Werke der non-konformen sowjetischen Prosa bewusst an den Stil der vorangegangenen russischen Literatur anknüpfen und sich dem Diktat der Vermittlung der kommunistischen Werte im Sinne des verkündeten sozial-realistischen Stils nicht beugen. All diese Werke gehören zu den repräsentativen Hauptwerken der russischen Literatur, bilden diese in ihrer mannigfaltigen Stilausrichtung ab und ermög lichen gleichzeitig einen Einblick in die geistige Orientierung ihrer Schöpfer, die in eigenen Werken auf die Fragen ihrer Zeit rekurrieren und zum philosophi- schen, sozialen und politischen Diskurs ihrer Epoche entscheidend beitragen, wie allein die Einträge zu ihren Namen in philosophischen und sozialgeschicht- lichen Lexika belegen. Der Einsatz der Farbe Rot in diesen Werken ermöglicht durchaus Rückschlüsse über die Bedeutung von Rot im gesamten Schaffen der genannten Schriftsteller, wobei die Interpretation auch andere Werke der genann- ten Autoren berücksichtigt, die eine evidente Rotmarkierung besitzen, welche für das Erschließen des Werkgehalts von Bedeutung ist. Gleichzeitig werden auch Werke anderer Schriftsteller besprochen, die motivische und thematische Paralle- len zu den ausgewählten Texten aufweisen und ihre Entstehung beeinflusst haben könnten. Die zentrale Stellung der ausgewählten Werke innerhalb der einzelnen literarischen Epochen und die Berücksichtigung ihrer literarischen Umgebung in der Interpretation lassen eine für die gesamte russische Literatur charakteristische Tendenz bei der Verwendung von Rot feststellen, obwohl die lyrischen Werke in ihrer Beziehung zum Rot nicht explizit behandelt werden. Der lyrische Einsatz der Farbe Rot kommt in Untersuchungen zur Sprache, die sich der Farbsprache einzelner Dichter widmen. Es sind solche Arbeiten wie die Dissertationsschriften J. Peters’ Farbe und Licht. Symbolik bei Aleksandr Blok (1981) und S. Klövers Farbe, Licht und Glanz als dichterische Ausdrucksmittel in der Lyrik Ivan Bunins (1992). Das Interesse der symbolistischen Lyrik an Farbe bestätigt auch die Monographie Kolor w poezji młodszych symbolistów rosyjskich – Aleksander Błok i Andrej Bieły (1988) der polnischen Slavistin G. Bryś, während mehrere Aufsätze sowjetischer und englischsprachiger Russisten wie R. Z. Miller-Budnickajas Simvolika cveta i sinėstetizm v poėzii. Na osnove liriki A. Bloka (1930), L. M. Čistjakovas K rasnyj v poėtičeskom jazyke V. V. Majakovskogo (1969), R. V. Alimpievas Realizacija kom- ponentov semantičeskoj struktury slova krasnyj v sisteme obrazno-poėtičeskoj reči © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? 14Einleitung (1974), S. D. Ciorans A Prism for the Absolute: The Symbolic Colors of Andrey Bely (1978) und E. A. Samodelovas Simvolika cveta u S. A. Esenina i svadebnaja poėzija Rajzanščiny (1992) die besondere Aufmerksamkeit der Dichtung der Jahr- hundertwende der Farbe gegenüber unterstreichen und in Bezug auf einzelne Autoren thematisieren. Die Herangehensweise und die Ergebnisse dieser For- schung werden in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt, die sich jedoch auch kritisch mit ihnen auseinandersetzt. So untersuchte R. V. Alimpieva in ihren Aufsätzen Realizacija komponentov semantičeskoj struktury slova krasnyj v sisteme obrazno-poėtičeskoj reči (1974) und Semantičeskaja struktura slova belyj (1976) das semantische Assoziationsfeld der beiden modernen Lexeme für die rote und die weiße Farbe. Sie konnte aufgrund ihrer experimentellen Arbeit mit Sprachträgern eine Bedeutungsskala aufstellen, die sie dann in Bezug auf die poetischen Werke S. Esenins, A. Bloks, V. Brjusovs und V. Chlebnikovs anwandte, um teilweise Ver- schiedenheiten in der Wahrnehmung der beiden Farben im allgemeinen russischen Sprachbewusstsein und in der Lyrik der genannten Dichter festzustellen. Obwohl ihre Untersuchung nicht die inhaltliche Aussage der Werke berücksichtigt und damit die Verwendung der farbigen Lexeme isoliert von ihrer Bedeutung im gan- zen Werkkontinuum betrachtet, konnte sie in der Lyrik der Jahrhundertwende eine negative emotionale Wahrnehmung von Rot aufspüren. Am zweithäufigsten wird die Farbe Rot in dieser Dichtung mit Unruhe und einem alarmierenden Zustand assoziiert, wobei in der Wahrnehmung der einzelnen Dichter auch Unter- schiede zu beobachten sind. Brjusov und Esenin verbinden wohl mit dem Rot vorwiegend positive Empfindungen des Angenehmen, Starken, Festlichen, Revo- lutionären, Jungen und Schönen, während in der Lyrik V. Chlebnikovs mit dem Rot ambivalente Empfindungen verknüpft sind – sowohl die des Revolutionären und Heißen als auch die des Unangenehmen und Groben. Bloks Einsatz des Rot ist ebenfalls durch Ambivalenz gekennzeichnet, wie die Untersuchungen R. Z. Miller-Budnickajas, J. Peters’ und G. Bryś’ zusätzlich belegen. Sie attestieren den Texten des Dichters eine Farbsemantik, die auf dem neoromantischen Weltbild beruht und d ieses widerspiegelt. Das Reale wird als Gleichnis für die höhere Wirk- lichkeit angesehen, die Farbe tritt als Symbol der mystisch aufgefassten Inhalte auf und gibt diese bei seinem Auftreten wieder. Das Rot ist im Werk Bloks zu unterschiedlichen Zeiten verschieden aufgefasst. Es erfährt wohl eine Negativie- rung, es entwickelt sich von der Farbe der positiv bewerteten Transzendenz zur Farbe der Katastrophe und des Dämonischen. Dieses ambivalente Verständnis des Rot bei Blok steht im Zusammenhang mit dem Farbverständnis Belyjs, wie es S. D. Cioran in seinem Aufsatz A Prism for the Absolute: The Symbolic Colors of Andrey Bely (1978) in Bezug auf die Bedeutung der theoretischen Schrift Belyjs Svjaščennye cveta (1903) für dessen eigenes Schaffen wie auch für die Dichter seiner © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Einleitung15 Generation und insbesondere Blok nachweist. A. Rejchmann bestätigte in seinem Aufsatz Profanirovannye „Svjaščennye cveta“. Ser(ebrjan)yj golub’ Andreja Belogo die Bedeutung dieser Schrift Belyjs auch für die Motivik und Symbolik seines ersten großen Romans Serebrjanyj golub’. Sowohl die negativen als auch die positiven Konnotationen der Farbe Rot in der Lyrik der Jahrhundertwende sah die sowjetische Forschung durch die soziale und politische Situation dieser Zeit bedingt. So verknüpfte sie die negative Beset- zung von Rot mit den schweren politischen Umbrüchen dieser Zeit, die sich in der Niederlage im russisch-japanischen Krieg von 1904, der ersten Revolution von 1905 und der Reaktion des Staates darauf äußerten und auf die Wahrnehmung von Rot ausstrahlten.1 Auch die bürgerliche Revolution vom Februar 1917 und den bolschewistischen Umsturz vom Oktober 1917 sah sie in der Lyrik widergespie- gelt, wobei sich ihrer Ansicht nach die politische Zuordnung der Bolschewiken zum linken Flügel der Sozialdemokratie auf die politische Symbolik der Partei und die heraldische Farbgebung der sowjetischen Staatssymbole auswirkte und somit die Verwendung von Rot in der Lyrik beeinflusste. Die Lyrik der prole- tarisch gesinnten und damit dem bolschewistischen Putsch gegenüber positiv eingestellten Dichter, wie etwa M. Gor’kij, V. Majakovskij, S. Esenin etc., trans- portiert die positive politische Konnotation des revolutionären Rot und stilisiert diese Farbe zum Symbol der Erneuerung. So ist diese Bedeutung von Rot für die Lyrik M. Gor’kijs charakteristisch, der dem Rot Grau als Z eichen der angepassten und beschränkten Denkweise des Philisters und das Schwarz als Symbol der ego- zentrischen Machtsucht entgegensetzte, wie G. A. Lilič in ihrem Aufsatz O slove seryj v tvorčestve M. Gor’kogo nachweist.2 L. M. Čistjakova untersuchte in ihrem Aufsatz Krasnyj v poėtičeskom jazyke V. V. Majakovskogo explizit die Verwendung des Farbadjektivs „rot“ in der Lyrik V. Majakovskijs, in welcher der bolschewisti- sche Umsturz gerne mit einer elementaren Gewalt verglichen wird, deren Stärke der einer Lawine, eines Sturms oder eines Vulkanausbruchs gleicht. Dass diese Metapher den revolutionären Umsturz meint, geht aus der Verbindung eines Substantivs für eines der Elemente mit dem Adjektiv rot – krasnyj hervor, dessen alleiniges Erscheinen eine Code-Wirkung entfaltet und die Naturgewalt zum Bild der Revolution apostrophiert: krasnyj val, krasnaja lavina, krasnaja burja, 1 Vgl. dazu etwa R. V. Alimpieva, Realizacija komponentov semantičeskoj struktury slova krasnyj v sisteme obrazno-poėtičeskoj reči, vyp. 1, Leningrad 1974, S. 107 – 128. 2 Vgl. G. A. Lilič, O slove seryj v tvorčestve M. Gor’kogo, in: Slovoupotreblenie i stil’ M. Gor’kogo, Leningrad 1962, S. 120 – 136. Siehe auch S. V. Trifonova, O prjamom i obraznom upotre- blenii slova goluboj u M. Gor’kogo, in: Slovoupotreblenie i stil’ M. Gor’kogo, Leningrad 1962, S. 136 – 147. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? 16Einleitung krasnaja lava etc. Das Bekenntnis des Landes zur roten Ideologie drückt sich in den allgegenwärtigen verbalen und visuellen Rotfärbungen aus, die Majakovskij aufgreift und auch selbst gestaltet: Krasnyj flag, krasnaja kavalerija, krasnyj platok, krasnoe znamja, aber auch krasnyj Leningrad, krasnaja derevnja, krasnyj gorod, krasnyj SSSR, krasnaja Moskva etc. sind alle positiv durch die Farbe Rot gekenn- zeichnete Erscheinungen des sowjetischen Alltags. Mit diesem Rot der positiven revolutionären Veränderung kontrastiert in seiner Lyrik das Rot, mit dem die Körperteile korpulenter Spießbürger belegt werden. Damit ist eindeutig nega- tive Expressivität verbunden, wie es L. M. Čistjakova in ihrem Aufsatz darstellt.3 Positiv und politisch gefärbt tritt die Farbe Rot auch in der Lyrik der sogenann- ten Bauerndichter – krest’janskie poėty – S. Esenin und N. Kljuev auf, die die Erneuerung des Landes nach der kommunistischen Umwälzung mit dem Motiv des roten Pferdes verbinden, wobei dieses Leitmotiv sowohl in der heidnischen als auch in der christlichen Symbolik beheimatet ist und die Verschmelzung der beiden Bildwelten im bäuerlichen Bewusstsein zusätzlich dokumentiert. Darauf verweist V. G. Bazanov in seinem Aufsatz K simvolike Krasnogo konja, als er von den folkloristischen Wurzeln des Leitmotivs in dieser Lyrik spricht.4 Diese durch die politische Entwicklung Russlands nach der Oktoberrevolu- tion stark beeinflusste Lyrik scheint nicht nur auf den politischen und sozialen Umbruch dieser Epoche zu rekurrieren, sondern v. a. die literarische Entwicklung der Moderne und deren Bestrebung, die Ausdruckskraft der Sprache durch neue Mittel zu steigern, zu berücksichtigen und gleichzeitig die Aufmerksamkeit der vorangegangenen Literaturepochen in Bezug auf die Farbe Rot aufzugreifen, um sie in ihrem Sinne zu gestalten. Das Schaffen der sowjetischen Dichter und Schrift- steller steht zweifellos nicht herausgerissen aus dem Kontext der literarischen Entwicklung da, auch dann nicht, wenn die Literatur ein für sie charakteristisches Merkmal nicht mehr erwartungsgemäß einsetzt oder eine tief in ihr verwurzelte Tendenz aufgibt. Worauf sie auch in d iesem Fall rekurriert, wird in dieser Arbeit gezeigt, die sich mit der Farbe Rot seit ihrem markanten Aufkommen in der Lite- ratur der Romantik beschäftigt, um dann der bewusst sparsamen, aber deutlichen Färbung durch das Rot in den Werken des Realismus nachzugehen und die inten- sive Verwendung von Rot in der nachfolgenden Zeit der Moderne darzustellen. 3 Vgl. L. M. Čistjakova, Krasnyj v poėtičeskom jazyke V. V Majakovskogo, in: Trudy po russkomu jazyku, Leningrad 1969, S. 202 – 230 (= Učenye zapiski gosudarstvennogo pedagogičeskogo instituta imeni A. I. Gercena, Bd. 324). 4 Vgl. V. G. Bazanov, K simvolike Krasnogo konja, in: Literatura i živopis’, Leningrad 1982, S. 188 – 204. Zur Symbolik des roten Pferdes in der russischen Folklore siehe ausführ- licher im Kapitel Rot – Farbe des Bösen? © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Einleitung17 Die charakteristische Rotfärbung wird an Werken gezeigt, deren Auswahl natürlich begrenzt werden musste, so dass mehrere auch in ihrer Betonung der Farbigkeit deutlich hervortretende Werke nur am Rande erwähnt werden können. Zu ihnen gehören solche repräsentativen Werke wie z. B. V. Odoevskijs Sala- mandra (1841) oder Kosmorama (1841), die ihre Protagonisten mit roter Farbe ausstatten, um den Leser zu sensibilisieren und durch d ieses visuelle Symbol zu warnen. Damit bestätigen sie die in der Romantik aufgekommene und bald sehr verbreitete Funktion der Farbe Rot, nämlich auf die Gefahren hinzuweisen, die von einem oder mehreren Protagonisten ausgehen. Auf beide Erzählungen geht N. V. Kožuchovskaja in ihrem Aufsatz Svet i kolorit v chudožestvennom mire V. F. Odoevskogo ein, obwohl sie die allegorische Bedeutung des alchemistischen Prozes- ses, der in der Erzählung Salamandra beschrieben wird, außer Acht lässt und damit die Symbolik der Farbe Rot als Z eichen der nicht vollzogenen, aber angestrebten Metamorphose und der Annäherung an das Absolute nicht herausarbeitet.5 Die- ser Aufsatz ist im Sammelband Cvet i svet v chudožestvennom proizvedenii (1990) erschienen, dessen Beiträge sich alle mit dem Titelthema auseinandersetzen – mit der Farbe und dem Licht innerhalb der Werke der schönen Literatur. Sowohl einzelne Werke einzelner Schriftsteller wie B. Pil’njaks Povest’ nepogašennoj luny als auch das ganze Œuvre einzelner Autoren wie M. Bulgakov oder M. Prišvin werden innerhalb eines Aufsatzes nach der Bedeutung der farbigen Dominanten untersucht. So teilt L. Grigor’eva in ihrem Aufsatz O smysloobrazujuščej roli cveta v „Povesti nepogašennoj luny“ B. Pil’njaka ihre Beobachtungen zur Semantik der roten, schwarzen, weißen und grauen Farbe in der Erzählung Pil’njaks Povest’ nepogašennoj luny mit und stellt fest, dass alle diese Farben negative Emotionen hervorrufen, die mit dem Tod und der Gewalt als Thema der Erzählung zusam- menhängen.6 Die Farbe Rot tritt hier nicht im Sinne der postrevolutionären Pro- paganda als Farbe der Erneuerung und der Erfüllung der Hoffnungen aller Werk- tätigen auf, sondern als Farbe des im Bürgerkrieg vergossenen Blutes und als Farbe der Vergeltung. Ähnlich negativ besetzt ist die Farbe Rot in B. Pil’njaks Novelle Krasnoe derevo (1929), in der Rot zunächst den Möbeln aus Fernambukholz oder anderen Rothölzern zugeordnet ist, die die Möbelhändler in der Provinz billig einkaufen, um sie dann in der Hauptstadt mit Profit zu veräußern. Das rote Holz 5 N. V. Kožuchovskaja, Svet i kolorit v chudožestvennom mire V. F. Odoevskogo, in: Cvet i svet v chudožestvennom proizvedenii. Mežvuzovskij sbornik naučnych trudov, Syktyvkar 1990, S. 13 – 21. 6 L. Grigor’eva, O smysloobrazujuščej roli cveta v „Povesti nepogašennoj luny“ B. Pil’njaka, in: Cvet i svet v chudožestvennom proizvedenii. Mežvuzovskij sbornik naučnych trudov, Syktyvkar 1990, S. 67 – 76. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? 18Einleitung kann aber auch als Metapher für die Lebensumstände und die Wirklichkeit der Provinzbewohner im „roten“, postrevolutionären Russland gesehen werden. Die Besitzer der Möbel aus rotem Holz führen ein tristes, durch überlebte patriarcha- lische Konventionen und Traditionen bestimmtes Leben, das keine Hoffnungen auf eine Besserung ihrer Situation zulässt. Oft sind sie bettelarm, obwohl sie wert- volle und sogar museale Gegenstände besitzen, die eine geschichtsträchtige Ver- gangenheit haben. In der neuen postrevolutionären Wirklichkeit werden diese Gegenstände wie auch ihre Besitzer nicht mehr geschätzt oder gebraucht. Für die Vergangenheit und die Geschichte, die sich in den roten Hölzern manifestiert, interessieren sich nur die Möbelhändler, die nicht wie die neuen Machthaber die Zerstörung der Zeugnisse der alten, vorrevolutionären Welt anstreben, sondern diese sammeln und sich deshalb sonderbar, närrisch verhalten, so dass sie mit den Narren in Christo – jurodivye – verglichen werden können. Somit steht das rote Holz für die Geschichtsvergessenheit der neuen Zeit und für die Gleichgültig- keit gegenüber den einzelnen menschlichen Schicksalen. Es offenbart eine tiefe Verankerung in den alten Denk- und Handlungsmustern und karikiert die kom- munistische Überzeugung von der Veränderung der geistigen Haltung unter der Einwirkung der kommunistischen Daseinsumstände. Pil’njak wagt es, die Doktrin des kommunistischen Staates und die neue Gesell- schaftsform zu hinterfragen, indem er ein schonungsloses Bild des provinziel- len Lebens – die Anpassung der Schwachen und die Brutalität der Starken, die Korruption und das Stehlen staatlichen Eigentums – zeichnet. Sowohl dadurch als auch durch seinen zurückhaltenden Farbauftrag, der nur durch das Rot des Holzes belebt wird, nähert er sich Bulgakov und dessen Gesellschaftskritik, die dieser u. a. in den zwei großen Erzählungen Rokovye jajca (1924 geschrieben) und Sobač’e serdce (1925 geschrieben) übt. Sie werden zusammen mit Bulgakovs großem Roman Master i Margarita (1929 – 40) im Kapitel Rot der diktatorischen Staatgewalt dieser Arbeit ausführlich behandelt. Ein anderes Literaturwerk, das sich nicht kritisch mit der kommunistischen Gesellschaftsform auseinandersetzt, sondern der Frage nach den Ursachen der revolutionären Umwälzung nachgeht, ist A. Solženicyns Romanzyklus Krasnoe koleso (1971 – 1988), der die auffällige rote Farbe in seinem Titel entsprechend der politischen Symbolik des revolutionären Rot einsetzt. Dabei sieht Solženicyn das rote Rad nicht erst während des bolschewistischen Umsturzes vom Oktober 1917 zum Rollen gebracht, sondern bereits im Frühjahr 1917, als in Petrograd die bürgerliche Revolution ausbricht. Der Schriftsteller experimentiert mit der Gattung des historischen Romans und zitiert im Text Zeitungsausschnitte und historische Dokumente wie die Reden der Abgeordneten des damaligen russi- schen Parlaments, um den Eindruck der Authentizität der geschilderten Vorgänge © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Einleitung19 und die Richtigkeit der gefällten Urteile über die vorrevolutionären Ereignisse zu untermauern. Die vier großen Teile des Romans, die als uzly – Knoten bezeichnet werden, gehen dem Scheitern der Reformen Stolypins, den schweren Niederlagen im Ersten Weltkrieg, den ersten revolutionären Protesten und Kundgebungen nach und diagnostizieren eine schwerwiegende professionelle Unfähigkeit der Führungsschicht und eine verhängnisvolle Willensschwäche der historischen Hauptakteure angesichts der herannahenden Katastrophe von 1917. Solženicyn ist überzeugt, dass die geschichtlichen Ereignisse nicht unabhängig vom Willen und den Fähigkeiten des Einzelnen im Sinne Tolstojs und dessen Darstellung in Vojna i mir ihren Gang nehmen, sondern zu beeinflussen sind. So wäre die Revo- lution vom Frühjahr 1917 nicht ausgebrochen und damit das rote Rad nicht zum Rollen gebracht worden, wenn die Führungsschicht ihre Rolle effektiver ausge- führt, die gebildete Schicht der Bevölkerung die Revolution und ihre Zerstörung nicht romantisiert und die ungebildeten Massen ihre Aggression gegen die ihnen fremde Kultur und den Besitz der gebildeten und besser gestellten Intelligenz im christlichen Sinne als Sünde begriffen und gezügelt hätten. Das rote Rad ist damit ein negatives Symbol der ausbrechenden politischen und sozialen Katastrophe, die sich bereits im Frühjahr 1917 abzeichnet, als das Rot der roten Bändchen und Fahnen zur dominierenden Farbe der Straßenlandschaft avanciert. Die Konnota- tion der Farbe Rot als einer unheilverkündenden bestätigt sich erneut, da sie der rohen Gewalt, der Brutalität, dem Kleinmut, der Unfähigkeit, dem Selbstbetrug und der Realitätsverkennung als Merkmalen des Frühlings von 1917 zugeordnet ist und ihre landesweite Ausbreitung während der Ereignisse vom Oktober 1917 vorwegnimmt. Trotz der intensiven und zeitaufwendigen Quellenrecherche, die die Entste- hung dieser Arbeit begleitete, sind wohl auch Werke unerkannt und unerwähnt geblieben, die durchaus die Analyse bereichern bzw. die Ergebnisse der Unter- suchung untermauern und bestätigen würden oder, wie das Poem M. Cvetaevas Krasnyj byčok (1928) eindrucksvoll illustriert, auch das zunächst als negativ ver- standene und verwendete Symbol der roten Farbe letztlich als ein ambivalentes Symbol gestalten, das sich einer eindeutigen Wertung entzieht. Der rote Stier des Poems ist zwar eindeutig als Symbol des tötenden Bolschewiken zu verstehen, dennoch kann dessen Handeln nicht verurteilt werden, da der Stier und somit der Soldat der roten Armee unreflektiert, ja verstandeslos handelt.7 In diesem Sinne ist auch der musische Genius Cvetaevas im Poem Na Krasnom kone (1921) als eine ambivalent zu verstehende Figur dargestellt, die einerseits das lyrische Ich 7 Vgl. dazu auch O. Revzina, Poėma Mariny Cvetaevoj „Krasnyj byčok“: po tu storonu dobra i zla, in: Poėmy Mariny Cvetaevoj „Egoruška“ i „Krasnyj byčok“, Moskva 1995, S. 119 – 126. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? 20Einleitung zum schöpferischen Tun animiert, andererseits aber Opfer dafür verlangt. Die Brutalität und Kompromisslosigkeit des Genius drückt sich in der Farbe seines Pferdes aus, die ihre gesamte Konnotationsbreite im kulturellen Gedächtnis des russischen Lesers ansprechen und entfalten möchte.8 Zu diesen Werken, die die Eindeutigkeit der farbigen Symbolik bewusst negieren, gehört auch E. Zamjatins Roman My (1921), in dem die Farbe Rot sowohl der Wirklichkeit des totalitären Staates als auch der unkontrollierten Welt der vergangenen Staatsform angehört. In seinem anti-utopischen Roman beabsichtigt Zamjatin nicht nur die parodistische Wiedergabe des Kontroll- wahns in einer Diktatur, die zum Wohle aller Menschen errichtet wurde und die aus dem Prinzip der Gleichheit alle ihre Bürger ihrer Namen beraubt und einer totalen Kontrolle unterstellt, sondern auch die Darstellung einer bunten, von der Intention des Autors unabhängigen Wirklichkeit der Farben und For- men, die den Gegebenheiten in der Natur und im realen Leben entspricht. Die Farben und Formen sind damit einer politischen, sozialen und moralischen Opposition enthoben, obwohl diese charakteristisch für die Darstellung der beiden Welten des Romans ist.9 Dennoch darf die Feststellung der nicht absolut negativen und sogar vereinzelt positiv zu verstehenden Konnotation der Farbe Rot, wie sie z. B. in der Erzählung A. Kuprins Poedinok (1905) verwirklicht und mit der Liebe als dem Hauptthema der Erzählung verbunden ist,10 nicht darüber hinwegtäuschen, dass die russische Literatur gerade der Expressivität des Liebesgefühls, die mit der Farbe Rot gekenn- zeichnet wird, öfter mit Misstrauen begegnet und sie als Gefahrenquelle sieht. Außer den Werken, die im Hauptteil dieser Arbeit in diesem Kontext interpretiert werden, sei hier auf die Erzählungen N. Leskovs Ovcebyk (1862), Žitie odnoj baby (1863) und Starye gody v sele Plodomasove (1869) verwiesen, die die Opposition der schöpferischen und zerstörerischen Liebe thematisieren und durch den Gegen- satz der Farben Weiß und Rot sehr subtil andeuten. Leskov ordnet die Farben nicht einer bestimmten Figur leitmotivisch zu, sondern setzt nur einige situative Farbtupfer, die dennoch im Kontext der Handlung eine symbolische Bedeutung erlangen und zur Personencharakteristik beitragen, worauf auch M. Maslova in 8 Dazu E. Revzin, Poėma Mariny Cvetaevoj „Na Krasnom kone“ v kontekste evropejskogo modernizma, in: Poėmy Mariny Cvetaevoj „Egoruška“ i „Krasnyj byčok“, Moskva 1995, S. 78 – 82. 9 Vgl. dazu S. S. Hoisington/L. Imbery, Zamjatin’s Modernist Palette: Colors and their Function in We, in: Slavic and East European Journal, Bd. 36, 1992, S. 159 – 171. 10 Vgl. dazu L. Jurkina, Simvolika sveta i cveta v povesti A. I. Kuprina „Poedinok“, in: Cvet i svet v chudožestvennom proizvedenii. Mežvuzovskij sbornik naučnych trudov, Syktyvkar 1990, S. 36 – 45. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Einleitung21 ihrem Aufsatz Ljubov’ sozidajuščaja i ljubov’ razrušajuščaja v rannich proizvede- nijach N. S. Leskova hinweist.11 Alle hier bereits erwähnten Monographien, Sammelbände und Artikel haben die vorliegende Arbeit fruchtbar beeinflusst, da sie sowohl durch ihre Herange- hensweise als auch durch ihre Ergebnisse wichtige Impulse für die Untersuchung der literarischen Farbbedeutung gaben – auch dann, wenn sie wie die Arbeiten A. P. Vasilevičs Cvetonaimenovanija kak charakteristika jazyka pisatelja (k metodike issledovanija) (1981) und E. A. Nekrasovas Priemy jazykovoj izobrazitel’nosti v stichotvornych tekstach (1991) allein die sprachlichen Funktionen der farblichen Adjektive am Beispiel der Sprache der schönen Literatur beschreiben und an der Bedeutung der Farben in einem literarischen Kontinuum nicht interessiert sind. Aber nicht nur sie waren für die analytische Arbeit prägend, sondern auch andere in die Bibliographie aufgenommene Publikationen, von denen einige besonders erwähnt werden sollen. Es sind die beeindruckenden Untersuchungen J. Gages Die Sprache der Farben. Bedeutungswandel der Farbe in der bildenden Kunst (1999) und Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart (1994)12, die auch einen reichen bibliographischen Anhang zum Thema Farbe in der westeuropäischen Kunst enthalten. Gage betrachtet die Farbe in einem großen kulturhistorischen Zusammenhang und zieht ästhetische, religiöse, heraldische, politische etc. Zeugnisse und Dokumente heran, um die Stellung der Farbe zu verschiedenen Kunstepochen zu beleuchten, wie es auch M. Pastoureau in seiner Arbeit Couleurs, images, symboles. Études d’histoire et d’anthropologie (1989)13 ein- drucksvoll in Bezug auf die westeuropäische mittelalterliche Farbsemantik tut, während J. Le Rider in seiner Monographie Farben und Wörter. Geschichte der Farbe von Lessing bis Wittgenstein (2000)14 den literarischen, philosophischen und ästhetischen Diskurs Westeuropas in Bezug auf die Stellung der Farbe zu verschie- denen literarischen Epochen herausarbeitet und damit eine vertiefende und ergän- zende Untersuchung zu S. Skards The Use of Color in Literature (1944)15 vorlegt. 11 M. Maslova, Ljubov’ sozidajuščaja i ljubov’ razrušajuščaja v rannich proizvedenijach N. S. Leskova, in: Russkaja literatura, Nr. 4, 2002, S. 148 – 157. 12 Die beiden Publikationen J. Gages erschienen zunächst in englischer Originalfassung unter den Titeln: Colour and Meaning. Art, science and symbolism, London 1999 und Colour and Culture. Practice and Meaning from Antiquity to Abstraction, Boston 1994. 13 M. Pastoureau, Couleurs, images, symboles. Etudes d’histoire et d’anthropologie, Paris 1989; siehe auch ders., Dictionnaire des couleurs de notre temps, Paris 1992. 14 Die Monographie J. Le Riders trägt in der Originalausgabe den Titel: Les couleurs et les mots, Paris 1997. 15 S. Skard, The Use of Color in Literature. A Survey of Research, in: Proceedings of the Ame- rican Philosophical Society, Bd. 90, 1946, S. 163 – 249. Diese Arbeit enthält eine reiche © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? 22Einleitung Die jüngste Zeit bestätigt das anhaltende Forschungsinteresse am Phänomen Farbe und v. a. auch an der umfassenden, kulturhistorischen Betrachtungsweise dieses Phänomens, dessen Erscheinungsformen und Wirkungen gerne innerhalb einer Kulturepoche untersucht und beschrieben werden, wie es die Veröffent lichungen I. Bennewitzs und A. Schindlers (Hg.) Farbe im Mittelalter (2012) und W. Papes (Hg.) Die Farben der Romantik (2014) dokumentieren. Innerhalb der russischsprachigen Forschung, die sich rege mit den sprachlichen Funktionen der Farbwörter, mit der Geschichte der Farbbezeichnungen und den grammatischen und lexikalischen Besonderheiten der phraseologischen Redewendungen mit Farbadjektiven beschäftigt, gibt es dennoch nur vereinzelte Publikationen, die sich mit der Stellung der Farbe in der Kunst beschäftigen oder gar eine umfassende Darstellung zur Farbe innerhalb einer Kulturepoche anstreben. So stellt N. Volkov in seiner Monographie Cvet v živopisi (1965) die physischen und malerischen Eigenschaften der Farben in einem Bild dar, die er anhand von Bildbeispielen aus einigen klassischen Kunstepochen erläutert. Dabei berücksichtigt er Werke der russischen Kunst und erwähnt auch die schriftlich fixierten Aussagen der bildenden Künstler über die Farbe, ohne jedoch auf die epochenspezifische Ein- stellung gegenüber der Farbe einzugehen und damit den künstlerischen Diskurs in einem großen geistesgeschichtlichen Rahmen zu sehen. Seine Darstellung ist auch zeitlich bis zum Aufkommen der Avantgarde beschränkt. Der Sammelband Cvet v iskusstve avangarda (2011) ist die erste russischspra- chige Publikation, die sich an die Untersuchung der Farbe im Kontext einer Kunst- und Literaturepoche wagt. Die zusammengefassten Aufsätze ermöglichen einen ersten Überblick über die durch Farben und den Farbendiskurs geprägte Zeit der russischen Avantgarde, wobei die Schöpfungen und Kunstreflexionen der Maler und Graphiker Kandinskij, Malevič, Filonov, Lisickij, Kirnarskij wie auch Gedichte Zabolockijs und T. Čurilins im Mittelpunkt der Betrachtung der Auto- ren stehen. Zwar werden im Beitrag A. Mirzaevs zur Lyrik Čurilins die farbigen Adjektive losgelöst von ihrem Kontext innerhalb eines konkreten Werkes betrach- tet, dafür aber statistisch gezählt und entsprechend ihrer Häufigkeit psychologisch im Sinne von Max Lüscher und in Anlehnung an Ergebnisse in dessen Farbtest gedeutet.16 Andere Aufsätze enthalten aber wertvolle Beobachtungen zur ikono- graphischen Verwandtschaft und Semantik einzelner Motive in der Kunst und im Bibliographie mit Angaben zu Untersuchungen, die sich mit der Farbe als physiologische Erscheinung und als Thema von Psychologie, Ästhetik, Etymologie, Folklore, Malerei und der westeuropäischen Literatur auseinandersetzen. 16 A. M. Mirzaev, Cvet i ego „bytovanie“ v poėzii Tichona Čurilina, in: Cvet v iskusstve avan- garda, S.-Peterburg 2012, S. 32 – 45. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Einleitung23 Kunsthandwerk der Avantgarde. So geht D. Kozlov in seinem Aufsatz dem Motiv des Dreiecks nach, das sich in die runde Scheibe einkeilt. Den Ursprung d ieses mit einer politischen Aussage verknüpften Motivs wie auch seine Verbreitung in den unterschiedlichen Kunstgattungen stellt der Forscher in den Mittelpunkt seiner Überlegungen. Die Farbigkeit der beiden zentralen plastischen Formen, die das Plakat Lisizkijs Klinom krasnym bej belych – Mit dem roten Keil schlage die Weißen – (1919 – 20) bestimmt, scheint die plastische Opposition der Rundung und des Keils zu untermauern.17 Der metaphysischen Grundlage der Anschauung Kandinskijs sind zwei Aufsätze gewidmet, wobei N. Firtič in seinem Beitrag die apophatische Theologie eines Dionysos Pseudo-Areopagita, die Kandinskij wohl durch die Lehre und Schriften R. Steiners vermittelt wurde, zur Deutung von dessen Werk Dama v Moskve (1912) und auch zur Interpretation von Malevičs spätkubistischem, alogischem Bild Angličanin v Moskve (1914) heranzieht und damit die geistige Grundlage der suprematistischen Sprache des Schwarzen Qua- drats (1915), wie sie bereits Hansen-Löve in seinem Aufsatz Gott ist nicht gestürzt! Mensch und/als Gott bei Kazimir Malevič (2002) charakterisiert hat,18 anspricht.19 Abschließend soll noch der Ausstellungskatalog Rot in der russischen Kunst (1998) genannt werden, der eine erste Zusammenstellung der Gemälde, Ikonen und Zeugnisse des Kunsthandwerkes aus der Sammlung des Russischen Museums in St. Petersburg wiedergibt, die eine starke rote Dominante in ihrer Farbgebung aufweisen. Damit ist dieser Katalog, wenn ich recht sehe, die erste wissenschaft- lich begleitete Publikation zur Farbe Rot innerhalb der russischen Kunst und der Volkskunst, obwohl die wissenschaftlichen Kommentare die Kriterien der getroffenen Auswahl der Werke nicht thematisieren und die Frage nach der Stel- lung der Farbe innerhalb einer Kunstepoche oder im Schaffen eines konkreten Künstlers nicht berühren. Die hier erwähnten wie auch in der Untersuchung zitierten Forschungsarbeiten zur künstlerischen und kulturhistorischen Stellung der Farbe beeindrucken und begeistern durch ihr reiches Material und durch ihre sorgfältige Analyse, die den historischen und künstlerischen Kontext in die Darstellung der farbigen Seman- tik miteinbezieht. Ihre semantische Herangehensweise, die die Farbe oft als tex- tuelles Zeichen betrachtet, das in sich bedeutende und über sich hinausgehende 17 D. V. Kozlov, „Klinom krasnym bej belych“ L. M. Lisickogo: K voprosu ob istolkovanii formal’nogo motiva, in: Cvet v iskusstve avangarda, S.-Peterburg 2012, S. 5 – 18. 18 A. A. Hansen-Löve, Gott ist nicht gestürzt! Mensch und/als Gott bei Kazimir Malevič, in: Wiener Slawistischer Almanach 50, 2002, S. 153 – 216. 19 N. G. Firtič, Svet i t’ma: k duchovnomu videniju cveta u Vasilija Kandinskogo i Kazimira Maleviča („Dama v Moskve“ i „Angličanin v Moskve“), in: Cvet v iskusstve avangarda, S.-Peterburg 2012, S. 137 – 149. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? 24Einleitung I nformation birgt, die uns das künstlerische Schaffen oder aber auch die E instellung der Epoche der Farbe gegenüber erschließt und damit unser Verständnis für die historische Epoche erweitert, ermutigte eine umfassende, kultursemantische Betrachtung von Rot innerhalb des russischen Kulturkreises zu wagen, die die Zeugnisse der russischen Volkskunst, der bildenden Kunst und der politischen Emblematik berücksichtigt, deren Semantik als das den Kulturkreis prägende Kon- zept im Sinne des semiotischen Konzeptualismus begriffen werden kann, während die Semantik von Rot in der russischen Literatur, die so sehr von dieser Konzeption abweicht und die bis jetzt wissenschaftlich nicht gefasst und für die Sprachträger unverbalisiert, ja verborgen geblieben ist, aufgedeckt und aufgearbeitet wird.20 1.1 Farbe als Motiv und Symbol und die Diskussion über die Farbe in der russischen Moderne Farbe tritt in literarischen Werken zunächst an einen Gegenstand, an eine Natur- erscheinung oder an ein physisches Merkmal gebunden auf und hebt durch ihr Erscheinen die genannten Motive hervor. Sowohl der wiederholte Gebrauch eines solchen Motivs als auch das kurze Aufleuchten der Farbe bei einer einmaligen Erwähnung eines dieser Motive kann vom Autor mit einer Bedeutung versehen 20 Farbe wird als kulturelles und deshalb als textuelles oder sprachliches Zeichen verstanden, da die Kultursemiotik die kulturellen und geschichtlichen Ereignisse als Text begreift, der mit Hilfe sprachlicher Zeichen gedeutet werden kann. Die Kultur lässt sich damit auf Grund dieser Zeichen organisieren und beschreiben, da diese die Information des kulturellen Textes zu bewahren und zu vermitteln ermöglichen. Dazu siehe etwa B. A. Uspenskij, Istorija i semiotika, in: ders., Izbrannye trudy. Semiotika istorii. Semiotika kul’tury, Bd. 1, Moskva 1994, S. 9 – 49, S. 10 f. Das Verständnis von Farbe als kulturellem Zeichen berührt bereits den Begriff des Kon- zepts im Sinne eines übergeordneten Begriffs, der sich zunächst als sprachliches Lexem manifestiert, um auf die Assoziations- und Bedeutungsreihen zu verweisen, die sich mit ihm innerhalb eines sprachlichen Kulturkreises verbinden. Die theoretischen Überlegungen zu Konzepten der Kultur wurden vor kurzem durch erste Lexika zu diesen geistigen Konstan- ten der Kultur ergänzt. Für den russischen Kulturkreis sei hier die beeindruckende Arbeit Ju. S. Stepanovs Konstanty: Slovar’ russkoj kul’tury. Opyt issledovanija, Moskva 1997 erwähnt. Ein Artikel zur Farbe Rot, die sich als einer der konstanten Schlüsselbegriffe der russischen Kultur begreifen lässt, würde das semiotische Wörterbuch sinnvoll ergänzen. Zum Konzept als Konstrukt der Semiotik siehe: S. A. Askol’dov, Koncept i slovo, in: Russ- kaja slovesnost’. Ot teorii slovesnosti k strukture teksta, Moskva 1997, S. 267 – 279 und D. S. Lichačev, Konceptosfera russkogo jazyka, in: Russkaja slovesnost’. Ot teorii slovesnosti k strukture teksta, Moskva 1997, S. 280 – 287. © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
Angelina Maier-Geiger: Rot als Malum? Farbe als Motiv und Symbol25 werden, die sich beim aufmerksamen und oft erst wiederholten Lesen erschließt. So setzt z. B. S. Zweig in seiner Schachnovelle (1942) nur wenige Farbtupfer ein – die leuchtende rote Farbe tritt bei der Beschreibung einer ekstatischen Erregung auf, die ein von der Gestapo eingesperrter Schachspieler in seiner Isolationshaft während seiner wiederholten imaginären Schachpartien erlebt. Die Gefahr, die diese Erregung birgt, wird durch das Rot zum Ausdruck gebracht, so dass der „rote Nebel“, in dem sich der Schachspielende befindet, nicht mehr nur auf seine Ent- rückung während des Spiels, sondern auch auf den bereits krankhaften Zustand seiner Wahrnehmung hinweist. Die rote Farbe verändert die Metapher des Nebels und gibt ihr eine Färbung des Grauens. Im Gegensatz zum sparsamen Farbauftrag Zweigs und dessen nur einige seltene Male erwähnten Motiv des roten Nebels setzt G. Hauptmann in seiner Novelle Bahnwärter Thiel (1888) das Rot deutlich und in solch einer Breite ein, dass der dritte Teil der Erzählung als Drama in Rot bezeichnet werden kann. In diesem Teil, dessen erzählte Zeit drei Tage umfasst, zeichnet der Autor den aus- brechenden Wahnsinn seines Helden, der den Unfalltod seines erstgeborenen Sohnes nicht verkraftet und seine Ehefrau und ihr gemeinsames Kind erschlägt. Der Wahnsinn, dessen erste Anzeichen bereits am Tage vor dem Unfalltod des Jungen geschildert werden, bemächtigt sich dann als „roter Nebel“ des Denkens des Mannes, der seiner Ehefrau die Schuld am Unglück seines ersten Kindes gibt. Dennoch ist die Metapher des roten Nebels hier nicht der erste Hinweis auf das sich anbahnende Unheil, sondern sie scheint zu den atmosphärischen Erschei- nungen, die den Helden während der drei Tage umgeben, zu gehören und diese zu vervollständigen – dem glühenden Sonnenuntergang des ersten Tages, an dem der Mann zum ersten Mal halluziniert, der vom Gewitter und von roten Zuglich- tern bestimmten Nacht, dem von der blutroten Sonne beschienenen Morgen des zweiten Tages und anschließend der roten Abenddämmerung des dritten Tages, in der der unglückliche Vater seine zweite Halluzination hat, um anschließend in der vom purpurnen Mond beschienenen Nacht seine Familie zu ermorden. Die atmosphärischen Erscheinungen scheinen den geistigen Zustand des Mannes widerzuspiegeln, gleichzeitig ist die atmosphärische Apotheose der Farbe Rot, die alle handelnden Figuren umhüllt, ein frühes Zeichen des herannahenden Unheils. Der rote Nebel und die rot gefärbten Naturerscheinungen verstärken den Eindruck der Gefährdung des Helden. Dennoch stellen diese nicht nur die far- bige Metapher eines verstörten Geistes dar. Durch die wiederholte und sich ste- tig erweiternde Verwendung der Farbe Rot erreicht der Autor eine besondere Expressivität des Bildes, die gleichzeitig die Farbe selbst als bedeutungstragendes Element und Zeichen wahrnehmen lässt – als Zeichen des sich ausbreitenden Wahnsinns. Damit erweitert die Farbe ihre Bedeutung, sie selbst wird zum „Text“, © 2021 by Böhlau Verlag GmbH & Cie. KG, Köln ISBN Print: 9783412520434 — ISBN E-Book: 9783412520441
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