Sammlung der Rechtsprechung - EUR-Lex

 
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Sammlung der Rechtsprechung

                                       SCHLUSSANTRÄGE DES GENERALANWALTS
                                                  PRIIT PIKAMÄE
                                                vom 27. Oktober 2020 1

                                                 Rechtssache C-481/19

                                                         DB
                                                        gegen
                                Commissione Nazionale per le Società e la Borsa (Consob),
                                                      Beteiligte:
                                         Presidenza del Consiglio dei Ministri

               (Vorabentscheidungsersuchen der Corte costituzionale [Verfassungsgerichtshof, Italien])

      „Vorlage zur Vorabentscheidung – Rechtsangleichung – Marktmissbrauch – Richtlinie 2003/6/EG –
                 Art. 14 Abs. 3 – Verordnung (EU) Nr. 596/2014 – Art. 30 Abs. 1 Buchst. b –
        Fehlende Zusammenarbeit mit den zuständigen Behörden – Verwaltungsrechtliche Sanktionen
       und/oder andere verwaltungsrechtliche Maßnahmen – Grundrechtskonforme Auslegung – Art. 47
        und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union – Auskunftsverweigerungsrecht –
                                                Tragweite“

     1. In der vorliegenden Rechtssache ist der Gerichtshof mit einem Vorabentscheidungsersuchen der
     Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof, Italien) befasst, das sich auf die Auslegung und die
     Gültigkeit von Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates
     vom 28. Januar 2003 über Insider-Geschäfte und Marktmanipulation (Marktmissbrauch) 2 sowie von
     Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung (EU) Nr. 596/2014 des Europäischen Parlaments und des
     Rates vom 16. April 2014 über Marktmissbrauch (Marktmissbrauchsverordnung) und zur Aufhebung
     der Richtlinie 2003/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates und der Richtlinien
     2003/124/EG, 2003/125/EG und 2004/72/EG der Kommission 3 bezieht, die den Mitgliedstaaten die
     Verpflichtung auferlegen, Verstöße gegen die Pflicht zur Zusammenarbeit mit der für die
     Marktaufsicht zuständigen Behörde (im Folgenden: Aufsichtsbehörde) zu ahnden.

     2. Insbesondere möchte die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) vom Gerichtshof wissen, ob
     diese Vorschriften im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht (nemo tenetur se detegere), so
     wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union (im
     Folgenden: Charta) ergeben soll, ausgelegt werden können, und gegebenenfalls, welche Tragweite
     diesem Recht zuzuerkennen ist.

     1 Originalsprache: Französisch.
     2 ABl. 2003, L 96, S. 16.
     3 ABl. 2014, L 173, S. 1.

DE
             ECLI:EU:C:2020:861                                                                          1
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                           CONSOB

3. Zusammenfassend wird der Gerichtshof in seinem zu erlassenden Urteil Gelegenheit haben, sich zu
einer Reihe heikler Rechtsfragen zu äußern, insbesondere zur Anwendbarkeit des
Auskunftsverweigerungsrechts im Rahmen von Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung einer
Sanktion strafrechtlicher Natur führen können, sowie zur genauen Tragweite eines solchen Rechts,
deren Bestimmung durch eine vermeintliche diesbezügliche Diskrepanz zwischen der einschlägigen
Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (im Folgenden: EGMR) und der
Rechtsprechung des Gerichtshofs erschwert wird.

I. Rechtlicher Rahmen

A. EMRK

4. Art. 6 der am 4. November 1950 in Rom unterzeichneten Europäischen Konvention zum Schutz der
Menschenrechte und Grundfreiheiten (im Folgenden: EMRK) bestimmt:

„(1) Jede Person hat ein Recht darauf, dass … über eine gegen sie erhobene strafrechtliche Anklage von
einem unabhängigen und unparteiischen, auf Gesetz beruhenden Gericht in einem fairen Verfahren,
öffentlich und innerhalb angemessener Frist verhandelt wird.

…

(2) Jede Person, die einer Straftat angeklagt ist, gilt bis zum gesetzlichen Beweis ihrer Schuld als
unschuldig.

…“

B. Unionsrecht

1. Charta

5. Art. 47 Abs. 2 der Charta bestimmt:

„Jede Person hat ein Recht darauf, dass ihre Sache von einem unabhängigen, unparteiischen und zuvor
durch Gesetz errichteten Gericht in einem fairen Verfahren, öffentlich und innerhalb angemessener
Frist verhandelt wird. …“

6. Art. 48 Abs. 1 der Charta lautet:

„Jeder Angeklagte gilt bis zum rechtsförmlich erbrachten Beweis seiner Schuld als unschuldig.“

2. Richtlinie 2003/6

7. Art. 12 der Richtlinie 2003/6 sieht vor:

„(1) Die zuständige Behörde ist mit allen Aufsichts- und Ermittlungsbefugnissen auszustatten, die zur
Ausübung ihrer Tätigkeit erforderlich sind. Sie macht von diesen Befugnissen folgendermaßen
Gebrauch:

a) direkt,

2                                                                                            ECLI:EU:C:2020:861
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                           CONSOB

b) in Zusammenarbeit mit anderen Behörden oder den Marktteilnehmern,

c) indem sie als verantwortliche Behörde Aufgaben an diese anderen Behörden oder Marktteilnehmer
   überträgt oder

d) durch Antragstellung bei den zuständigen Justizbehörden.

(2) Unbeschadet des Artikels 6 Absatz 7 werden die in Absatz 1 des vorliegenden Artikels genannten
Befugnisse im Einklang mit dem innerstaatlichen Recht ausgeübt und beinhalten zumindest das Recht,

…

b) von jedermann Auskünfte anzufordern, auch von Personen, die an der Übermittlung von Aufträgen
   oder an der Ausführung der betreffenden Handlungen nacheinander beteiligt sind, sowie von deren
   Auftraggebern, und, falls notwendig, eine Person vorzuladen und zu vernehmen,

…“

8. Art. 14 dieser Richtlinie bestimmt:

„(1) Unbeschadet des Rechts der Mitgliedstaaten, strafrechtliche Sanktionen zu verhängen, sorgen die
Mitgliedstaaten entsprechend ihrem jeweiligen innerstaatlichen Recht dafür, dass bei Verstößen gegen
die gemäß dieser Richtlinie erlassenen Vorschriften gegen die verantwortlichen Personen geeignete
Verwaltungsmaßnahmen ergriffen oder im Verwaltungsverfahren zu erlassende Sanktionen verhängt
werden können. Die Mitgliedstaaten sorgen dafür, dass diese Maßnahmen wirksam, verhältnismäßig
und abschreckend sind.

(2) Die Kommission erstellt nach dem Verfahren des Artikels 17 Absatz 2 eine der Unterrichtung
dienende Aufstellung der Verwaltungsmaßnahmen und im Verwaltungsverfahren zu erlassenden
Sanktionen nach Absatz 1.

(3) Die Mitgliedstaaten legen im Einzelnen fest, wie die Verweigerung der Zusammenarbeit im
Rahmen von Ermittlungen im Sinne von Artikel 12 zu ahnden ist.

(4) Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass die zuständige Behörde Maßnahmen oder Sanktionen, die
wegen Verstößen gegen aufgrund dieser Richtlinie erlassene Vorschriften ergriffen bzw. verhängt
werden, öffentlich bekannt geben kann, es sei denn, diese Bekanntgabe würde Finanzmärkte erheblich
gefährden oder zu einem unverhältnismäßigen Schaden bei den Beteiligten führen.“

3. Verordnung Nr. 596/2014

9. In Art. 23 („Befugnisse der zuständigen Behörden“) der Verordnung Nr. 596/2014 heißt es:

„(1) Die zuständigen Behörde[n] nehmen ihre Aufgaben und Befugnisse wahlweise folgendermaßen
wahr:

a) unmittelbar,

b) in Zusammenarbeit mit anderen Behörden oder den Marktteilnehmern,

c) indem sie als verantwortliche Behörde[n] Aufgaben auf andere Behörden oder Marktteilnehmer
   übertragen,

ECLI:EU:C:2020:861                                                                                3
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                        CONSOB

d) durch Antrag bei den zuständigen Justizbehörden.

(2) Zur Wahrnehmung ihrer Aufgaben gemäß dieser Verordnung müssen die zuständigen Behörden
nach nationalem Recht zumindest über die folgenden Aufsichts- und Ermittlungsbefugnisse verfügen:

…

b) von jeder Person, auch von solchen, die nacheinander an der Übermittlung von Aufträgen oder an
   der Ausführung der betreffenden Tätigkeiten beteiligt sind, sowie von deren Auftraggebern
   Auskünfte zu verlangen oder zu fordern und erforderlichenfalls zum Erhalt von Informationen
   eine Person vorzuladen und zu befragen;

…“

10. Art. 30 („Verwaltungsrechtliche Sanktionen und andere verwaltungsrechtliche Maßnahmen“) dieser
Verordnung bestimmt:

„(1) Unbeschadet strafrechtlicher Sanktionen und unbeschadet der Aufsichtsbefugnisse der
zuständigen Behörden nach Artikel 23 übertragen die Mitgliedstaaten im Einklang mit nationalem
Recht den zuständigen Behörden die Befugnis, angemessene verwaltungsrechtliche Sanktionen und
andere verwaltungsrechtliche Maßnahmen in Bezug auf mindestens die folgenden Verstöße zu
ergreifen:

…

b) Verweigerung der Zusammenarbeit mit einer Ermittlung oder einer Prüfung oder einer in
   Artikel 23 Absatz 2 genannten Anfrage.

…“

C. Italienisches Recht

11. Die Italienische Republik hat die Richtlinie 2003/6 umgesetzt durch Art. 9 der Legge n. 62 –
Disposizioni per l’adempimento di obblighi derivanti dall’appartenenza dell’Italia alle Comunità
europee. Legge comunitaria 2004 (Gesetz Nr. 62 mit Vorschriften zur Erfüllung der sich aus der
Zugehörigkeit Italiens zu den Europäischen Gemeinschaften ergebenden Verpflichtungen –
Gemeinschaftsgesetz von 2004) vom 18. April 2005 (GURI Nr. 96 vom 27. April 2005 – Supplemento
ordinario Nr. 76). Mit diesem Artikel sind zahlreiche Bestimmungen in den Testo unico delle
disposizioni in materia di intermediazione finanziaria, ai sensi degli articoli 8 e 21 della n. 52
(Einheitstext der Bestimmungen über die Finanzvermittlung gemäß den Art. 8 und 21 des Gesetzes
Nr. 52) vom 6. Februar 1996 (im Folgenden: Einheitstext), der im Decreto legislativo n. 58
(Gesetzesdekret Nr. 58) vom 24. Februar 1998 (Supplemento ordinario zur GURI Nr. 71 vom
26. März 1998) zu finden ist, aufgenommen worden, darunter Art. 187bis, der sich auf die
Ordnungswidrigkeit des Insidergeschäfts bezieht, und Art. 187quinquiesdecies, der die Sanktionen
betrifft, die bei Verweigerung der Zusammenarbeit im Rahmen einer Ermittlung verhängt werden
können.

4                                                                                         ECLI:EU:C:2020:861
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                          CONSOB

12. Art. 187bis des Einheitstexts in seiner für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens geltenden
Fassung war mit „Insidergeschäft“ überschrieben und hatte folgenden Wortlaut:

„(1) Unbeschadet strafrechtlicher Sanktionen, wenn die Tat eine Straftat ist, wird als
Verwaltungssanktion mit einer Geldbuße in Höhe von 20 000 Euro bis drei Millionen Euro belegt,
wer, wenn er aufgrund der Zugehörigkeit zum Verwaltungs-, Leitungs- oder Aufsichtsorgan des
Emittenten, der Beteiligung am Kapital des Emittenten oder der Ausübung einer Arbeit oder eines
Berufs oder der Erfüllung von Aufgaben (auch öffentlichen) über Insider-Informationen verfügt und

a) unter Nutzung dieser Informationen für eigene oder fremde Rechnung direkt oder indirekt
   Finanzinstrumente erwirbt oder veräußert oder andere Geschäfte damit tätigt;

b) diese Informationen an Dritte weitergibt, sofern die Offenlegung nicht im Rahmen der normalen
   Ausübung seiner Arbeit oder seines Berufs oder der Erfüllung seiner Aufgaben erfolgt;

c) auf der Grundlage dieser Informationen Dritten empfiehlt, ein in Abs. 1 Buchst. a genanntes
   Geschäft zu tätigen, oder sie dazu anstiftet.

(2) Die Sanktion nach Abs. 1 wird auch verhängt, wenn jemand, der aufgrund der Vorbereitung oder
Ausführung von Straftaten über Insider-Informationen verfügt, eine in Abs. 1 genannte Handlung
begeht.

…

(4) Die Sanktion nach Abs. 1 wird auch verhängt, wenn jemand, der über Insider-Informationen
verfügt und weiß oder bei durchschnittlicher Sorgfalt wissen könnte, dass es sich dabei um
Insider-Informationen handelt, eine in Abs. 1 genannte Handlung begeht.

(5) Die in den Abs. 1, 2 und 4 vorgesehenen Geldbußen als Verwaltungssanktionen werden bis zum
Dreifachen dieses Betrags oder bis zum Zehnfachen des Aufkommens oder des Gewinns aus der
Zuwiderhandlung, je nachdem, welcher Betrag höher ist, erhöht, wenn sie unter Berücksichtigung
persönlicher Eigenschaften des Täters oder der Höhe des Aufkommens oder des Gewinns aus der
Zuwiderhandlung trotz Verhängung des Höchstbetrags nicht angemessen erscheinen.

…“

13. In der für den Sachverhalt des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung war Art. 187quinquiesdecies
des Einheitstexts mit „Schutz der Aufsichtstätigkeit der Consob“ überschrieben und bestimmte:

„(1) Außer in den Fällen nach Art. 2638 des Codice civile [(italienisches Zivilgesetzbuch)] wird jeder,
der nicht fristgemäß den Anfragen der Consob entspricht oder die Ausübung ihrer Aufgaben
verzögert, mit einer Verwaltungsgeldbuße von 10 000 Euro bis 200 000 Euro bestraft.“

14. In seiner derzeit geltenden Fassung hat derselbe mit „Schutz der Aufsichtstätigkeiten der Banca
d’Italia und der Consob“ überschriebene Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts folgenden
Wortlaut:

„(1) Außer in den Fällen nach Art. 2638 des Codice civile [(italienisches Zivilgesetzbuch)] wird nach
diesem Artikel jeder bestraft, der nicht fristgemäß den Anfragen der Banca d’Italia [(Bank von Italien)]
und der Consob entspricht oder mit diesen Behörden zum Zweck der Erfüllung ihrer jeweiligen
Aufsichtsfunktionen nicht zusammenarbeitet oder die Ausübung derselben verzögert.

(1bis) Wird die Zuwiderhandlung von einer natürlichen Person begangen, so wird diese mit einer
Verwaltungsgeldbuße von 10 000 Euro bis fünf Millionen Euro bestraft.

ECLI:EU:C:2020:861                                                                                    5
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                          CONSOB

(1ter) Wird die Zuwiderhandlung von einer Gesellschaft oder einer Einrichtung begangen, so wird
diese mit einer Verwaltungsgeldbuße von 10 000 Euro bis fünf Millionen Euro oder von bis zu 10
Prozent des Umsatzes bestraft, wenn dieser Betrag über fünf Millionen Euro liegt und der Umsatz
gemäß Art. 195 Abs. 1bis bestimmbar ist. Unbeschadet der Bestimmungen für Gesellschaften und
Einrichtungen, denen gegenüber die Zuwiderhandlungen festgestellt werden, wird die
Verwaltungsgeldbuße nach Abs. 1bis in den in Art. 190bis Abs. 1 Buchst. a vorgesehenen Fällen gegen
die Vertreter und das Personal der Gesellschaft oder Einrichtung verhängt.

(1quater) Übersteigt der vom Täter nach der Zuwiderhandlung erlangte Vorteil die in diesem Artikel
festgelegten Grenzen, wird die Verwaltungsgeldbuße auf das Doppelte des Betrags des erlangten
Vorteils erhöht, sofern dieser Betrag bestimmbar ist.“

II. Sachverhalt des Rechtsstreits, Ausgangsverfahren und Vorlagefragen

15. Mit Entscheidung Nr. 18199 vom 18. Mai 2012 verhängte die Commissione Nazionale per le
Società e la Borsa (Consob) (Nationale Unternehmens- und Börsenaufsichtsbehörde, Italien) gegen DB
Geldbußen wegen der Ordnungswidrigkeit des Insidergeschäfts, die sich aus zwei Teilen, nämlich
Insidergeschäften und der unrechtmäßigen Weitergabe von Insider-Informationen zwischen dem 19.
und 26. Februar 2009, zusammensetzt. Sie erlegte ihm darüber hinaus eine Geldbuße in Höhe von
50 000 Euro wegen der verwaltungsrechtlichen Zuwiderhandlung nach Art. 187quinquiesdecies des
Einheitstexts auf, weil er mehrmals den Zeitpunkt für die Anhörung, zu der er in seiner Eigenschaft
als über den Sachverhalt informierte Person geladen worden war, verschoben und sich geweigert
hatte, die an ihn gerichteten Fragen zu beantworten, als er dort erschienen war. Außerdem verhängte
die Consob gegen DB die in Art. 187quater Abs. 1 des Einheitstexts genannte Sanktion der
vorübergehenden Aberkennung der Zuverlässigkeit für eine Dauer von 18 Monaten und verfügte
gemäß Art. 187sexies des Einheitstexts die Beschlagnahme des entsprechenden Gewinns bzw. der bei
seiner Erzielung eingesetzten Mittel.

16. Im Rahmen des Ausgangsverfahrens, das zur vorliegenden Vorlage geführt hat, erhob DB zunächst
Einspruch vor der Corte d’appello di Roma (Berufungsgericht Rom, Italien) und machte u. a. die
Rechtswidrigkeit der gemäß Art. 187quinquiesdecies des Gesetzesdekrets Nr. 58 vom 24. Februar 1998
gegen ihn verhängten Sanktion geltend. Nachdem dieser Einspruch zurückgewiesen worden war, legte
DB Kassationsbeschwerde ein. Mit Beschluss vom 16. Februar 2018 warf die Corte suprema di
cassazione (Kassationsgerichtshof, Italien) zwei inzidente Fragen der Verfassungsmäßigkeit auf, die
von der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) geprüft werden sollten.

17. Die erste Frage bezieht sich auf Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts in der Fassung von Art. 9
des Gesetzes Nr. 62 vom 18. April 2005, soweit diese Vorschrift die Weigerung, fristgemäß den
Anfragen der Consob zu entsprechen, bzw. die Verzögerung der Ausübung ihrer Aufgaben auch in
Bezug auf die Person sanktioniert, der die Consob in Ausübung ihrer Aufsichtsfunktionen ein
Insidergeschäft zur Last legt.

18. In ihrer Vorlageentscheidung weist die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) darauf hin,
dass Art. 187quinquiesdecies gegen mehrere Grundsätze verstoße, von denen sich einige aus dem
nationalen Recht (das Recht auf Verteidigung und der Grundsatz der Gleichheit der Parteien im
Prozess, die in Art. 24 Abs. 2 bzw. Art. 111 Abs. 2 der italienischen Verfassung vorgesehen seien),
andere aus dem Völkerrecht und dem Unionsrecht (das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6
EMRK, Art. 14 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sowie Art. 47 der
Charta) ergäben, wobei ein Verstoß gegen die letztgenannten Artikel gemäß Art. 11 und Art. 117
Abs. 1 der italienischen Verfassung zur Verfassungswidrigkeit der betreffenden Vorschrift führen
könne.

6                                                                                           ECLI:EU:C:2020:861
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19. Es sei nicht davon auszugehen, dass das aus den geltend gemachten verfassungsrechtlichen
Bestimmungen sowie den Bestimmungen des Unionsrechts und des Völkerrechts hergeleitete
„Auskunftsverweigerungsrecht“ als solches die Weigerung einer Person, zu der von der Consob
verfügten Anhörung zu erscheinen, oder ihr verspätetes Erscheinen zu dieser Anhörung rechtfertigen
könne, sofern das Recht der genannten Person, die in der Anhörung möglicherweise an sie
gerichteten Fragen nicht zu beantworten, anders als im vorliegenden Fall garantiert sei.

20. Der Wortlaut von Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts sowohl in seiner zum Zeitpunkt des
Sachverhalts geltenden als auch in seiner derzeitigen Fassung erfasse nämlich auch den Fall, dass die
persönliche Anhörung gegenüber einer Person verfügt werde, die die Consob auf der Grundlage der
in ihrem Besitz befindlichen Informationen bereits als mögliche Urheberin einer Zuwiderhandlung
identifiziert habe, deren Feststellung in ihre Zuständigkeit falle. Daher sei zu ermitteln, ob das
Auskunftsverweigerungsrecht nicht nur im Rahmen von Strafverfahren anwendbar sei, sondern auch
in den von der Consob im Rahmen ihrer Aufsichtstätigkeit verfügten Anhörungen. Das sowohl auf
Art. 24 der italienischen Verfassung als auch auf Art. 6 EMRK in der Auslegung durch den EGMR
gestützte Vorbringen spreche für eine Bejahung dieser Frage.

21. Eine entgegengesetzte Schlussfolgerung bringe die Gefahr mit sich, dass der mutmaßliche Urheber
einer Ordnungswidrigkeit, die zu einer Sanktion „strafrechtlicher“ Natur führen könne, aufgrund der
Pflicht zur Zusammenarbeit mit der Aufsichtsbehörde de facto auch zur Erhebung einer
strafrechtlichen Anklage gegen ihn beitragen könne. Insidergeschäfte stellten im italienischen Recht
nämlich sowohl Ordnungswidrigkeiten (Art. 187bis des Einheitstexts) als auch Straftaten (Art. 184 des
Einheitstexts) dar. Die einschlägigen Verfahren könnten – wie bei DB tatsächlich der Fall – parallel in
Gang gesetzt und geführt werden, sofern dies mit dem Grundsatz ne bis in idem vereinbar sei 4.

22. Darüber hinaus würden die damit aufgeworfenen Zweifel auch durch die Rechtsprechung des
EGMR zu Art. 6 EMRK bekräftigt.

23. Da Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts in Durchführung einer spezifischen Verpflichtung aus
Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 in die italienische Rechtsordnung aufgenommen worden sei und
heute die genaue Umsetzung von Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 darstelle,
drohe es in Anbetracht des Umstands, dass die beiden erwähnten Vorschriften den Aufsichtsbehörden
der Mitgliedstaaten auch die Pflicht aufzuerlegen schienen, eine Person, die Geschäfte getätigt habe, die
den Tatbestand in die Zuständigkeit dieser Behörden fallender Zuwiderhandlungen erfüllten, und in
einer Anhörung die Aussage verweigere, mit einer Sanktion zu belegen, gegen das Unionsrecht zu
verstoßen, wenn Art. 187quinquiesdecies für verfassungswidrig erklärt werden sollte. Daher könne
man an der Vereinbarkeit einer solchen Sanktionspflicht mit den Art. 47 und 48 der Charta zweifeln,
die in den gleichen wie den sich aus Art. 6 EMRK und Art. 24 der italienischen Verfassung
ergebenden Grenzen ebenfalls ein Grundrecht des Einzelnen anzuerkennen schienen, sich nicht selbst
zu belasten und nicht dazu gezwungen zu werden, Erklärungen abzugeben, die den Charakter von
Geständnissen hätten.

24. In diesem Zusammenhang gibt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) an, die
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum Auskunftsverweigerungsrecht im
Bereich der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen zu kennen, die dadurch, dass sie den Täter zur
Beantwortung reiner Tatsachenfragen verpflichte, gleichwohl darauf hinauslaufe, die Tragweite des
Grundsatzes nemo tenetur se detegere signifikant einzuschränken, da dieser Grundsatz in Strafsachen
das Recht des Betroffenen beinhalte, sich mit seinen Aussagen nicht – auch nicht indirekt – selbst zu
belasten. Diese Rechtsprechung – die in Bezug auf juristische und nicht auf natürliche Personen sowie
weitgehend vor Annahme der Charta und deren Erhebung in den Rang der Verträge ergangen sei –
erscheine nur schwer vereinbar mit der „strafrechtlichen“ Natur der in der italienischen

4 Vgl. insoweit Urteil vom 20. März 2018, Garlsson Real Estate u. a. (C-537/16, EU:C:2018:193, Rn. 42 bis 63).

ECLI:EU:C:2020:861                                                                                               7
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
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Rechtsordnung vorgesehenen verwaltungsrechtlichen Sanktionen für Insidergeschäfte, die der
Gerichtshof im Urteil Di Puma und Zecca 5 selbst anerkannt habe. Diese Natur scheine auf die
Notwendigkeit hinzudeuten, dem mutmaßlichen Täter Garantien zuzugestehen, die mit denen
vergleichbar seien, die ihm in Strafsachen zugestanden würden.

25. Die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) vertritt ferner die Ansicht, die Rechtsprechung
des Gerichtshofs stehe nicht voll und ganz im Einklang mit der Rechtsprechung des EGMR, der dem
Auskunftsverweigerungsrecht des Beschuldigten – auch im Rahmen von Verwaltungsverfahren zur
Verhängung von Sanktionen „strafrechtlicher“ Natur – im Gegenteil eine größere Tragweite
zuzuerkennen scheine.

26. Da der Gerichtshof und der Unionsgesetzgeber bislang nicht auf die Frage eingegangen sind, ob die
Art. 47 und 48 der Charta im Hinblick auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 6 EMRK
vorschreiben, die Existenz dieses Rechts auch im Rahmen von Verwaltungsverfahren anzuerkennen,
die zur Verhängung von Sanktionen „strafrechtlicher“ Natur führen könnten, hält es das vorlegende
Gericht – bevor es sich zu der ihm unterbreiteten Frage der Verfassungsmäßigkeit äußert – für
erforderlich, den Gerichtshof anzurufen, damit dieser es über die Auslegung und erforderlichenfalls
die Gültigkeit von Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6, soweit er zeitlich noch anwendbar ist, und
Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 im Hinblick auf die Art. 47 und 48 der Charta
aufklärt. Insbesondere sei festzustellen, ob diese Vorschriften es einem Mitgliedstaat gestatteten,
denjenigen nicht mit einer Sanktion zu belegen, der sich weigere, auf Fragen der Aufsichtsbehörde zu
antworten, aus denen sich seine Verantwortlichkeit für eine mit strafrechtlichen oder
verwaltungsrechtlichen Sanktionen „strafrechtlicher“ Natur bewehrte Zuwiderhandlung ergeben
könne.

27. Unter diesen Umständen hat die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) beschlossen, das
Verfahren auszusetzen und dem Gerichtshof folgende Fragen zur Vorabentscheidung vorzulegen:

1. Sind Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6, soweit er zeitlich noch anwendbar ist, und Art. 30 Abs. 1
   Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 dahin auszulegen, dass sie es den Mitgliedstaaten gestatten,
   denjenigen nicht mit einer Sanktion zu belegen, der sich weigert, auf Fragen der zuständigen
   Behörde zu antworten, aus denen sich seine Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen
   „strafrechtlicher“ Natur bewehrte Zuwiderhandlung ergeben kann?

2. Sind im Fall der Verneinung der ersten Frage Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6, soweit er zeitlich
   noch anwendbar ist, und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 mit den Art. 47
   und 48 der Charta, auch im Licht der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
   Menschenrechte (EGMR) zu Art. 6 EMRK und der gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der
   Mitgliedstaaten, vereinbar, soweit sie vorschreiben, denjenigen mit einer Sanktion zu belegen, der
   sich weigert, auf Fragen der zuständigen Behörde zu antworten, aus denen sich seine
   Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen „strafrechtlicher“ Natur bewehrte
   Zuwiderhandlung ergeben kann?

III. Verfahren vor dem Gerichtshof

28. Diese Fragen sind Gegenstand schriftlicher Erklärungen von DB, der italienischen und der
spanischen Regierung, des Rates der Europäischen Union, des Europäischen Parlaments sowie der
Europäischen Kommission gewesen.

29. Dieselben Verfahrensbeteiligten haben in der Sitzung vom 13. Juli 2020 mündlich verhandelt.

5 Urteil vom 20. März 2018 (C-596/16 und C-597/16, EU:C:2018:192).

8                                                                                                    ECLI:EU:C:2020:861
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                                  CONSOB

IV. Würdigung

A. Zulässigkeit der Vorlagefragen

30. In seinen Schriftsätzen stellt der Rat fest, dass auf den in der Ausgangsrechtssache in Rede
stehenden Sachverhalt, worauf die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) in der
Vorlageentscheidung selbst hinweise, nur die Richtlinie 2003/6 zeitlich anwendbar sei, obwohl die
Angelegenheit derzeit durch die Verordnung Nr. 596/2014 geregelt werde, die diese Richtlinie
aufgehoben und ersetzt habe, ohne jedoch anderweitig mit der Situation in Verbindung zu stehen, die
dem betreffenden nationalen Verfahren zugrunde liege.

31. Unter Hervorhebung der Tatsache, dass die einzige für die Ausgangsrechtssache relevante
Vorschrift Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 sei, scheine die Corte costituzionale
(Verfassungsgerichtshof), so der Rat, implizit anzuerkennen, dass die Antworten auf ihre Fragen nach
der Auslegung und Gültigkeit von Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 für die
Entscheidung des der Rechtssache zugrunde liegenden Rechtsstreits nicht erforderlich seien, sondern
im Wesentlichen dazu dienten, die Rechtslage für die Zukunft zu klären.

32. Daher ist einleitend zu fragen, ob auch Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014
relevant ist, wenn es darum geht, der Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) zu ermöglichen,
über die Vorlage der Corte suprema di cassazione (Kassationsgerichtshof) zu entscheiden.

33. Hierzu sei zunächst darauf hingewiesen, dass nach ständiger Rechtsprechung eine Vermutung für
die Entscheidungserheblichkeit der Vorlagefragen des nationalen Gerichts spricht, die es zur
Auslegung des Unionsrechts in dem rechtlichen und sachlichen Rahmen stellt, den es in eigener
Verantwortung festgelegt und dessen Richtigkeit der Gerichtshof nicht zu prüfen hat. Diese
Vermutung lässt sich nur in außergewöhnlichen Fällen entkräften, nämlich dann, wenn die erbetene
Auslegung des Unionsrechts oder die Gültigkeitsprüfung offensichtlich in keinem Zusammenhang mit
der Realität oder dem Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits steht, wenn das Problem hypothetischer
Natur ist oder wenn der Gerichtshof nicht über die tatsächlichen und rechtlichen Angaben verfügt,
die für eine zweckdienliche Beantwortung der ihm vorgelegten Fragen sowie für das Verständnis der
Gründe erforderlich sind, aus denen das nationale Gericht der Ansicht ist, dass die Beantwortung
dieser Fragen erforderlich ist, um den bei ihm anhängigen Rechtsstreit entscheiden zu können 6.

34. Im vorliegenden Fall beruht das Vorbringen des Rates meines Erachtens auf der Feststellung, dass
die Vorlageentscheidung dem in Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung des Gerichtshofs genannten
Erfordernis insoweit nicht genüge, als in dieser Entscheidung weder die Gründe dargelegt würden, die
die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof) dazu bewegt hätten, nach der Auslegung und
Gültigkeit der Verordnung Nr. 596/2014 zu fragen, einerseits, noch ein Zusammenhang zwischen
dieser Verordnung und den auf den Ausgangsrechtsstreit anwendbaren Rechtsvorschriften hergestellt
werde, andererseits. Diese Lücken hätten, so der Rat, zur Folge, den Gerichtshof zur Abgabe einer
Stellungnahme zu hypothetischen Fragen zu veranlassen, und führten daher zur teilweisen
Unzulässigkeit des vorliegenden Vorabentscheidungsersuchens.

35. Ich kann mich diesem Standpunkt aus folgenden Gründen nicht anschließen.

36. Was den ersten Teil bezüglich des Erfordernisses in Art. 94 Buchst. c der Verfahrensordnung
angeht, so stelle ich fest, dass die erbetene Auslegung, wie die Corte costituzionale
(Verfassungsgerichtshof) in der Vorlageentscheidung deutlich macht, dadurch gerechtfertigt ist, dass
eine etwaige Erklärung der Verfassungswidrigkeit von Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts auch

6 Vgl. beispielsweise Urteil vom 12. Dezember 2019, Slovenské elektrárne (C-376/18, EU:C:2019:1068, Rn. 24 und die dort angeführte
  Rechtsprechung).

ECLI:EU:C:2020:861                                                                                                              9
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                                      CONSOB

Gefahr liefe, die Sanktionspflicht zu verletzen, die sich derzeit aus Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der
Verordnung Nr. 596/2014 ergibt. Damit erkennt die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof)
meines Erachtens implizit an, dass sich ihre Entscheidung nicht nur auf Art. 187quinquiesdecies des
Einheitstexts in seiner zum Zeitpunkt des Sachverhalts des Ausgangsverfahrens geltenden Fassung,
sondern auch auf dieselbe Vorschrift in ihrer derzeit geltenden Fassung beziehen wird. Wie die
Kommission in ihren schriftlichen Erklärungen feststellt, ergibt sich nämlich aus Art. 27 der Legge
n. 87 – Norme sulla costituzione e sul funzionamento della Corte costituzionale (Gesetz Nr. 87 –
Vorschriften über die Verfassung und die Arbeitsweise des Verfassungsgerichtshofs) vom 11. März
1953 (GURI Nr. 62 vom 14. März 1953), dass die Corte costituzionale (Verfassungsgerichtshof), wenn
sie einem Antrag oder einer Klage stattgibt, der bzw. die sich auf die Verfassungsmäßigkeit eines
Gesetzes oder einer Verordnung mit Gesetzeskraft bezieht, sich innerhalb der Grenzen des
Klagegegenstands nicht nur zu den verfassungswidrigen Rechtsvorschriften, sondern auch zu denen
äußert, deren Verfassungswidrigkeit die Folge der getroffenen Entscheidung ist. Die Tatsache, dass in
der Vorlageentscheidung nicht ausdrücklich auf diese Vorschrift verwiesen wird, die die Tragweite
von Entscheidungen abgrenzt, mit denen dem Normenkontrollantrag bzw. der Normenkontrollklage
in einer Weise stattgegeben wird, die denen anderer Verfassungsgerichtshöfe in der Union sicherlich
nicht fremd ist, erscheint jedoch kaum ausreichend, um die Schlussfolgerung zu rechtfertigen, wonach
dem ersten Teil des genannten Erfordernisses nicht Genüge getan sei.

37. Was den zweiten Teil betrifft, so genügt die Feststellung, dass die betreffende innerstaatliche
Vorschrift, nämlich Art. 187quinquiesdecies des Einheitstexts, wie die Corte costituzionale
(Verfassungsgerichtshof) in der Vorlageentscheidung darlegt, zum Zeitpunkt des Sachverhalts des
Ausgangsverfahrens Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 umgesetzt hat und zum gegenwärtigen
Zeitpunkt Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 umsetzt. Es trifft zwar zu, dass es
sich bei dem „auf das Ausgangsverfahren anwendbaren Recht“ um Art. 187quinquiesdecies des
Einheitstexts in seiner die Richtlinie 2003/6 umsetzenden Fassung handelt, es trifft aber auch zu, dass
der Zusammenhang zwischen der Verordnung Nr. 596/2014 und dem auf das Ausgangsverfahren
anwendbaren Recht unter Berücksichtigung der Kohärenz zwischen den Bestimmungen der Richtlinie
2003/6 und denen der erwähnten Verordnung nach meinem Dafürhalten als hergestellt betrachtet
werden muss.

38. Deshalb schlage ich dem Gerichtshof vor, die Fragen für zulässig zu erklären.

B. Begründetheit

1. Umformulierung der Vorlagefragen

39. Aus der Lektüre der Vorlageentscheidung geht hervor, dass die Corte costituzionale
(Verfassungsgerichtshof) u. a. Klarstellungen dazu erhalten möchte, welche Tragweite sie dem
Auskunftsverweigerungsrecht natürlicher Personen aufgrund der vermeintlichen diesbezüglichen
Diskrepanz zwischen der Rechtsprechung des EGMR und der Rechtsprechung des Gerichtshofs
zuzuerkennen hat 7.

40. In Anbetracht der Formulierung der Vorlagefragen sowie des Abhängigkeitsverhältnisses zwischen
der Antwort auf die erste Frage und der Prüfung der zweiten liefe diese Problematik meines Erachtens
Gefahr, vom Gerichtshof in seinem anstehenden Urteil nicht geprüft zu werden.

41. Um dem vorlegenden Gericht eine sachdienliche Antwort geben zu können, die es ihm ermöglicht,
den Inhalt seines Normenkontrollurteils auszuarbeiten, erscheint es mir daher erforderlich, die Fragen,
die es dem Gerichtshof unterbreitet hat, neu zu formulieren.

7 Vgl. Nr. 9.2 der Vorlageentscheidung.

10                                                                                                      ECLI:EU:C:2020:861
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                                     CONSOB

42. Die dem Gerichtshof zur Verfügung stehende Möglichkeit, die ihm vorgelegten Fragen
umzuformulieren, findet nämlich im Rahmen des durch Art. 267 AEUV eingeführten Verfahrens der
Zusammenarbeit zwischen den nationalen Gerichten und dem Gerichtshof ihre Rechtfertigung darin,
dass es dem Gerichtshof obliegt, dem nationalen Gericht eine für die Entscheidung des bei diesem
anhängigen Verfahrens sachdienliche Antwort zu geben 8.

43. Andererseits scheint mir die Umformulierung von Vorlagefragen generell eine heikle
Angelegenheit zu sein, die ein hohes Maß an Umsicht seitens des Gerichtshofs erfordert, um jeden
Eingriff in die Zuständigkeit des vorlegenden Gerichts zu vermeiden, das allein die Erheblichkeit der
Rechtsfragen, die in dem Rechtsstreit aufgeworfen worden sind, mit dem es befasst ist, sowie die
Erforderlichkeit einer Vorabentscheidung für den Erlass seines Urteils zu beurteilen hat 9.

44. Im vorliegenden Fall haben einige Verfahrensbeteiligte eine Umformulierung der ersten Frage
dahin gehend vorgeschlagen, dass mit ihr im Wesentlichen in Erfahrung gebracht werden soll, ob
Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 im
Licht der Art. 47 und 48 der Charta dahin auszulegen sind, dass sie es den Mitgliedstaaten gestatten,
denjenigen nicht mit einer Sanktion zu belegen, der sich weigert, auf Fragen der Aufsichtsbehörde zu
antworten, aus denen sich seine Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen mit
strafrechtlichem Charakter bewehrte Zuwiderhandlung ergeben kann.

45. Eine solche Umformulierung läuft nach meinem Dafürhalten auf eine Verfälschung des
Gegenstands der ersten Frage, die sich auf die bloße Möglichkeit der Mitgliedstaaten bezieht, die
genannten Vorschriften beim Erlass von Übergangs- oder Durchführungsmaßnahmen im Einklang mit
dem Auskunftsverweigerungsrecht auszulegen, und de facto auf eine Umgehung der Problematik im
Zusammenhang mit der Gültigkeit der betreffenden Vorschriften hinaus, die Gegenstand der zweiten
Frage ist.

46. Um ein solches Ergebnis zu vermeiden, muss sich die Umformulierung meines Erachtens auf die
Frage beziehen, ob Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung
Nr. 596/2014 in Anbetracht des Wortlauts dieser Vorschriften grundrechtskonform und insbesondere
im Einklang mit dem Auskunftsverweigerungsrecht, das sich aus den Art. 47 und 48 der Charta
ergeben soll, ausgelegt werden können oder ob eine solche Auslegung hingegen contra legem wäre.
Falls die Antwort positiv ausfällt, wird selbstverständlich jeglicher Zweifel an der Gültigkeit der
Vorschriften im Hinblick auf die genannten Artikel der Charta ausgeschlossen sein. Überdies muss
diese Umformulierung dem Gerichtshof die Möglichkeit geben, sich zur Problematik im
Zusammenhang mit der genauen Tragweite des Auskunftsverweigerungsrechts, die in Nr. 39 der
vorliegenden Schlussanträge dargelegt wird, zu äußern.

47. Im Licht der vorstehenden Erwägungen schlage ich dem Gerichtshof vor, die beiden Vorlagefragen
des vorlegenden Gerichts wie folgt umzuformulieren:

Welche Tragweite ist dem Auskunftsverweigerungsrecht natürlicher Personen, wie es sich aus den
Art. 47 und 48 der Charta ergibt, in Anbetracht der Rechtsprechung des EGMR und der
Rechtsprechung des Gerichtshofs im Bereich der wettbewerbswidrigen Verhaltensweisen für den Fall
zu verleihen, dass Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung
Nr. 596/2014 im Einklang mit diesem Recht ausgelegt werden können?

8 Vgl. Urteil vom 14. Mai 2020, T-Systems Magyarország u. a. (C-263/19, EU:C:2020:373, Rn. 45 und die dort angeführte Rechtsprechung).
9 Vgl. Urteil vom 22. Februar 2018, Kubota (UK) und EP Barrus (C-545/16, EU:C:2018:101, Rn. 18 und die dort angeführte Rechtsprechung).

ECLI:EU:C:2020:861                                                                                                                        11
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                                      CONSOB

2. Prüfung der umformulierten Frage

48. Entsprechend der inneren Logik der umformulierten Frage werde ich prüfen, ob eine im Einklang
mit dem Auskunftsverweigerungsrecht stehende Auslegung in Anbetracht des Wortlauts der
betreffenden Artikel möglich ist; in diesem Fall könnte die Gültigkeit dieser Vorschriften daher nicht
in Frage gestellt werden. Das hängt von der Frage ab, ob die genannten Vorschriften dahin zu
verstehen sind, dass sie den Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, Personen mit einer Sanktion zu
belegen, die sich weigern, auf Fragen der Aufsichtsbehörde zu antworten, aus denen sich ihre
Verantwortlichkeit für eine mit Verwaltungssanktionen mit strafrechtlichem Charakter 10 bewehrte
Zuwiderhandlung ergeben kann (Abschnitt b). Zu bemerken ist jedoch, dass diese Frage eine
bejahende Antwort auf die Frage voraussetzt, ob das Auskunftsverweigerungsrecht nicht nur im
Rahmen von Strafverfahren anwendbar ist, sondern auch in Verwaltungsverfahren, die zur
Verhängung der erwähnten Sanktionen führen können. Obwohl das vorlegende Gericht mehrere
Argumente vorbringt, die für eine solche Antwort sprechen, scheint es den Gerichtshof darum zu
ersuchen, diesbezüglich jeglichen Restzweifel auszuschalten. Ich werde daher als Erstes auf diesen
Punkt eingehen (Abschnitt a). Schließlich werde ich dazu Stellung nehmen, welche Tragweite dem
Auskunftsverweigerungsrecht, wie es sich aus den Art. 47 und 48 der Charta ergibt, in diesem
Zusammenhang zu verleihen ist (Abschnitt c).

a) Anerkennung des Auskunftsverweigerungsrechts in Verwaltungsverfahren, die zur Verhängung
von Sanktionen mit strafrechtlichem Charakter führen können

49. Zunächst ist zu beachten, dass weder in Art. 47 Abs. 2 (Recht auf ein faires Verfahren) noch in
Art. 48 Abs. 1 (Unschuldsvermutung) der Charta ausdrücklich ein Auskunftsverweigerungsrecht
verankert ist.

50. Entsprechend der Homogenitätsklausel in Art. 52 Abs. 3 der Charta, wonach die in dieser
verankerten Rechte, die den durch die EMRK garantierten Rechten entsprechen, „die gleiche
Bedeutung und Tragweite [haben müssen], wie sie ihnen [in dem entsprechenden Artikel der EMRK]
verliehen wird“, heißt es jedoch in den Erläuterungen zur Charta der Grundrechte im Hinblick auf
deren Art. 47 Abs. 2, dass die sich aus Art. 6 Abs. 1 EMRK ergebenden Garantien „in der Union
entsprechend [gelten]“, und im Hinblick auf Art. 48 Abs. 1, dass dieses Recht „dieselbe Bedeutung
und dieselbe Tragweite“ wie das Recht hat, das in Art. 6 Abs. 2 EMRK verankert ist 11.

51. Zwar enthält auch der Wortlaut von Art. 6 EMRK keinen Verweis auf das
Auskunftsverweigerungsrecht; es sei aber darauf hingewiesen, dass das Auskunftsverweigerungsrecht
und der Schutz vor Selbstbelastung als Bestandteil des Auskunftsverweigerungsrechts, wie der EGMR
wiederholt entschieden hat, trotz des Fehlens einer solchen ausdrücklichen Anerkennung
„international allgemein anerkannte Grundsätze [sind], die im Mittelpunkt des in Art. 6 EMRK
verankerten Begriffs eines fairen Verfahrens stehen“ 12.

52. Was den sachlichen Anwendungsbereich von Art. 6 EMRK angeht, so geht aus seinem Wortlaut
hervor, dass der strafrechtliche Geltungsbereich dieser Vorschrift immer dann Anwendung findet,
wenn es um eine „strafrechtliche Anklage“ geht.

10 Ich habe den Ausdruck „strafrechtliche Natur“, auf den die Vorlagefrage Bezug nimmt, durch den Ausdruck „strafrechtlicher Charakter“ ersetzt,
   da sich der Vorlageentscheidung entnehmen lässt, dass Ersterer als Folge der Tatsache betrachtet wird, dass die Kriterien des Urteils vom
   5. Juni 2012, Bonda (C-489/10, EU:C:2012:319), erfüllt sind.
11 ABl. 2007, C 303, S. 17.
12 Vgl. EGMR, 25. Februar 1993, Funke/Frankreich (CE:ECHR:1993:0225JUD001082884, § 44), und EGMR, 28. Oktober 1994, Murray/Vereinigtes
   Königreich (CE:ECHR:1996:0208JUD001873191, § 45).

12                                                                                                                     ECLI:EU:C:2020:861
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                                    CONSOB

53. Es ist allgemein bekannt, dass der EGMR den Begriff „Strafsachen“ weit ausgelegt hat, mit dem
Ziel, nicht nur Verfahren zu erfassen, die zur Verhängung von Sanktionen führen könnten, die vom
nationalen Gesetzgeber in den strafrechtlichen Bereich eingeordnet werden, sondern auch solche, die,
obwohl sie von diesem Gesetzgeber als administrativ, fiskalisch oder disziplinarisch eingestuft werden,
einen im Wesentlichen strafrechtlichen Charakter aufweisen. Eine solche autonome Auslegung beruht
auf den Kriterien, die seit dem Urteil Engel 13 entwickelt und anschließend vom Gerichtshof im Urteil
Bonda 14 herangezogen worden sind, nämlich der Einordnung der Zuwiderhandlung im nationalen
Recht, der Art dieser Zuwiderhandlung und dem Schweregrad der angedrohten Sanktion (im
Folgenden: Kriterien des Urteils Bonda).

54. Diese Kriterien, so wie sie in der Rechtsprechung des EGMR charakterisiert worden sind, sollten
wir kurz Revue passieren lassen 15.

55. Das erste Kriterium, das die Einordnung der Zuwiderhandlung nach nationalem Recht betrifft, ist
nicht einschlägig, wenn es um eine Sanktion geht, die als administrativ eingestuft wird 16. In einem
solchen Fall ist es erforderlich, zwei andere Kriterien zu prüfen.

56. Das zweite Kriterium, mit dem die wahre Natur der Zuwiderhandlung erfasst werden soll, wird auf
der Grundlage einer Reihe von Faktoren bestimmt, wobei eine Zuwiderhandlung u. a. dann
strafrechtlicher Natur sein wird, wenn sich die im nationalen Recht vorgesehene Sanktion an die
Öffentlichkeit im Allgemeinen und nicht an eine kleine, eng abgegrenzte Personengruppe wendet 17,
wenn der Tatbestand mit präventiven oder repressiven Zielsetzungen normiert worden ist 18, anstatt
lediglich auf den Ausgleich von Vermögensschäden ausgerichtet zu sein 19, und wenn die nationale
Sanktionsvorschrift ein Rechtsgut schützt, das normalerweise durch das Strafrecht geschützt wird 20.

57. Das dritte Kriterium bezieht sich u. a. auf den Schweregrad der angedrohten Sanktion, wobei dieser
anhand der Sanktion, mit der die betreffende Person von vornherein belegt werden kann, und nicht
anhand der tatsächlich verhängten Sanktion bestimmt wird 21. Freiheitsstrafen sind schon per
Definition strafrechtlicher Natur 22, und dasselbe ist bei Geldstrafen der Fall, die in
Ersatzfreiheitsstrafen umgewandelt werden können, wenn sie nicht entrichtet werden, oder die einen
Eintrag im Strafregister zur Folge haben 23.

58. Das zweite und das dritte Kriterium sind grundsätzlich alternativ. Ein kumulativer Ansatz kann
jedoch gewählt werden, wenn es eine getrennte Betrachtung der einzelnen Kriterien nicht erlaubt,
hinsichtlich des Vorliegens einer strafrechtlichen Anklage zu einem klaren Ergebnis zu gelangen 24.

13 EGMR, 8. Juni 1976, Engel u. a./Niederlande (CE:ECHR:1976:0608JUD000510071, § 82).
14 Urteil vom 5. Juni 2012 (C-489/10, EU:C:2012:319, Rn. 37 bis 43). Vgl. auch Urteil vom 26. Februar 2013, Åkerberg Fransson (C-617/10,
   EU:C:2013:105, Rn. 35).
15 Für eine umfassende Darstellung dieser Elemente vgl. Schlussanträge der Generalanwältin Kokott in der Rechtssache Bonda (C-489/10,
   EU:C:2011:845, Nrn. 47 bis 50) und Schlussanträge des Generalanwalts Campos Sánchez-Bordona in der Rechtssache Menci (C-524/15,
   EU:C:2017:667, Nrn. 44 bis 48).
16 EGMR, 8. Juni 1976, Engel u. a./Niederlande (CE:ECHR:1976:0608JUD000510071, § 82).
17 EGMR, 2. September 1998, Lauko/Slowakei (CE:ECHR:1998:0902JUD002613895, § 58).
18 EGMR, 25. Juni 2009, Maresti/Kroatien (CE:ECHR:2009:0625JUD005575907, § 59).
19 EGMR, 23. November 2006, Jussila/Finnland (CE:ECHR:2006:1123JUD007305301, § 38).
20 EGMR, 4. März 2014, Grande Stevens u. a./Italien (CE:ECHR:2014:0304JUD001864010, § 90).
21 EGMR, 4. März 2014, Grande Stevens u. a./Italien (CE:ECHR:2014:0304JUD001864010, § 98).
22 EGMR, 8. Juni 1976, Engel u. a./Niederlande (CE:ECHR:1976:0608JUD000510071, § 82).
23 EGMR, 31. Mai 2011, Zugic/Kroatien (CE:ECHR:2011:0531JUD000369908, § 68).
24 EGMR, 23. November 2006, Jussila/Finnland (CE:ECHR:2006:1123JUD007305301, §§ 30 und 31).

ECLI:EU:C:2020:861                                                                                                                   13
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
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59. Ergibt die Prüfung dieser Kriterien, dass das fragliche Verwaltungsverfahren zu einer Sanktion
führen könnte, die zum „Strafrechtsbereich“ gehört, gelangt die gesamte Bandbreite der dem
strafrechtlichen Geltungsbereich von Art. 6 EMRK zugeordneten Garantien zur Anwendung,
einschließlich des Auskunftsverweigerungsrechts. Wenn der EGMR feststellt, dass die Sanktion, die
am Ende des zu prüfenden Verfahrens verhängt werden kann, strafrechtlichen Charakter hat, fragt er
sich nämlich nicht noch, ob das betreffende spezifische Recht anwendbar ist, da diese Anwendbarkeit
die unabwendbare Folge einer solchen Einordnung der Sanktion ist 25.

60. Jedenfalls ist hervorzuheben, dass das Auskunftsverweigerungsrecht, wie das vorlegende Gericht zu
Recht bemerkt, bereits mehrfach Personen zuerkannt worden ist, die im Rahmen von Verfahren zur
Feststellung     verwaltungsrechtlicher    Zuwiderhandlungen     nicht    auf    die    Fragen    der
Verwaltungsbehörden geantwortet hatten. Bei diesen Gelegenheiten hat der EGMR gerade den
strafrechtlichen Charakter der Sanktionen, die von der Verwaltungsbehörde für die von ihr
untersuchten Zuwiderhandlungen verhängt werden konnten, als entscheidend angesehen 26.

61. Unter Berücksichtigung des Vorstehenden ist der Schluss zu ziehen, dass, wenn die untersuchten
Sanktionen anhand der Kriterien des Urteils Bonda als strafrechtlich eingestuft werden, die
Anerkennung des Auskunftsverweigerungsrechts automatisch erfolgt.

b) Möglichkeit, die in Rede stehenden                                          Vorschriften           im      Einklang          mit       dem
Auskunftsverweigerungsrecht auszulegen

62. In diesem Stadium ist festzustellen, ob Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1
Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 in Anbetracht ihres Wortlauts im Einklang mit dem
Auskunftsverweigerungsrecht ausgelegt werden können, d. h. dahin gehend, dass sie den
Mitgliedstaaten nicht vorschreiben, denjenigen mit einer Sanktion zu belegen, der sich weigert, auf
Fragen der Aufsichtsbehörde zu antworten, aus denen sich seine Verantwortlichkeit für eine mit
Verwaltungssanktionen mit strafrechtlichem Charakter bewehrte Zuwiderhandlung ergeben kann. Nur
wenn sich dies bestätigen sollte, wäre die Frage nach der Gültigkeit dieser Bestimmungen im Hinblick
auf die Art. 47 und 48 der Charta nämlich zu bejahen.

63. Hierzu ist zunächst kurz der rechtliche Kontext zu umreißen, in den sich die Vorschriften, die
Gegenstand dieser Frage sind, einfügen.

64. Die Richtlinie 2003/6 soll den Marktmissbrauch bekämpfen. Wie aus ihren Erwägungsgründen 2
und 12 hervorgeht, verbietet sie Insider-Geschäfte sowie solche, die auf Marktmanipulation abzielen,
um die Integrität der Finanzmärkte sicherzustellen und das Vertrauen der Anleger in diese Märkte zu
stärken, ein Vertrauen, das insbesondere darauf beruht, dass die Anleger einander gleichgestellt sind
und gegen die unrechtmäßige Verwendung einer Insider-Information geschützt werden 27.

25 Vgl. u. a. EGMR, 4. März 2014, Grande Stevens u. a./Italien (CE:ECHR:2014:0304JUD001864010, § 101); in diesem Urteil schließt der EGMR
   die Prüfung der Anwendbarkeit von Art. 6 EMRK mit folgenden Worten: „… haben die gegen die Kläger verhängten Geldbußen nach Ansicht
   des Gerichtshofs strafrechtlichen Charakter, so dass im vorliegenden Fall der strafrechtliche Geltungsbereich von Art. 6 § 1 Anwendung findet“
   (Hervorhebung nur hier).
26 Vgl. EGMR, 3. Mai 2001, J. B./Schweiz (CE:ECHR:2001:0503JUD003182796) (Ermittlungsverfahren wegen Steuerhinterziehung), EGMR,
   4. Oktober 2005, Shannon/Vereinigtes Königreich (CE:ECHR:2005:1004JUD000656303) (Verfahren wegen falscher Buchführung und
   betrügerischer Absprache), und EGMR, 5. April 2012, Chambaz/Schweiz (CE:ECHR:2012:0405JUD001166304) (Ermittlungsverfahren wegen
   Steuerhinterziehung).
27 Urteile vom 23. Dezember 2009, Spector Photo Group und Van Raemdonck (C-45/08, EU:C:2009:806, Rn. 47), vom 7. Juli 2011, IMC Securities
   (C-445/09, EU:C:2011:459, Rn. 27), vom 28. Juni 2012, Geltl (C-19/11, EU:C:2012:397, Rn. 33), und vom 11. März 2015, Lafonta (C-628/13,
   EU:C:2015:162, Rn. 21).

14                                                                                                                      ECLI:EU:C:2020:861
SCHLUSSANTRÄGE   VON   HERRN PIKAMÄE – RECHTSSACHE C-481/19
                                                                      CONSOB

65. Damit dieser Rechtsrahmen hinreichende Wirkung entfaltet, müssen alle Verstöße gegen die
gemäß der Richtlinie 2003/6 erlassenen Verbote unverzüglich aufgedeckt und geahndet werden 28. In
diesem Zusammenhang führt Art. 14 der Richtlinie die Erfordernisse auf, an die die Mitgliedstaaten
ihr nationales Sanktionssystem anzupassen haben.

66. Obwohl die Verordnung Nr. 596/2014 die gleichen Ziele verfolgt wie die Richtlinie 2003/6 29, soll
mit ihr u. a. dadurch ein einheitlicherer und stärkerer Rechtsrahmen geschaffen werden, dass die
Aufsichts-, Ermittlungs- und Sanktionsbefugnisse der Aufsichtsbehörde gestärkt werden 30. Im
Sanktionsbereich erweitert Art. 30 dieser Verordnung die Bandbreite der Anforderungen, an die die
Mitgliedstaaten ihr nationales System anpassen müssen.

67. Was die Vorschriften betrifft, die der Gerichtshof in der vorliegenden Rechtssache auszulegen hat,
ist zu beachten, dass die Mitgliedstaaten gemäß Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 im Einzelnen
festlegen müssen, wie die Verweigerung der Zusammenarbeit im Rahmen von Ermittlungen der
Aufsichtsbehörde zu ahnden ist. Aufgrund des in diesem Artikel vorgenommenen ausdrücklichen
Verweises auf Art. 12 derselben Richtlinie ist die in Rede stehende Vorschrift in Verbindung mit
Art. 12 auszulegen, der, was den Mindestinhalt der Befugnisse der Aufsichtsbehörde angeht, in seinem
Abs. 2 Buchst. b bestimmt, dass diese Befugnisse das Recht einschließen müssen, „von jedermann
Auskünfte anzufordern, auch von Personen, die an der Übermittlung von Aufträgen oder an der
Ausführung der betreffenden Handlungen nacheinander beteiligt sind, sowie von deren Auftraggebern,
und, falls notwendig, eine Person vorzuladen und zu vernehmen“ 31. Mit anderen Worten besagt Art. 12
der Richtlinie 2003/6, dass der Kreis von Personen, denen gegenüber das erwähnte Recht der
Aufsichtsbehörde ausgeübt werden kann, grundsätzlich unbegrenzt ist.

68. Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014 sieht im Wesentlichen vor, dass die
Mitgliedstaaten der Aufsichtsbehörde die Befugnis übertragen müssen, verwaltungsrechtliche
Sanktionen und Maßnahmen in Bezug auf die „Verweigerung der Zusammenarbeit mit einer
Ermittlung oder einer Prüfung oder einer … Anfrage“ zu verhängen. Da dieser Art. 30 der Verordnung
Nr. 596/2014 ausdrücklich auf Art. 23 derselben Verordnung verweist, ist er notwendigerweise in
Verbindung mit der letztgenannten Vorschrift auszulegen, die in ihrem Abs. 2 den Mindestinhalt der
Aufsichts- und Ermittlungsbefugnisse der Aufsichtsbehörde dahin gehend festlegt, dass diese
Befugnisse u. a. die Befugnis einschließen, „von jeder Person, auch von solchen, die nacheinander an
der Übermittlung von Aufträgen oder an der Ausführung der betreffenden Tätigkeiten beteiligt sind,
sowie von deren Auftraggebern Auskünfte zu verlangen oder zu fordern und erforderlichenfalls zum
Erhalt von Informationen eine Person vorzuladen und zu befragen“ 32.

69. Die semantische Kraft des Pronomens „jedermann“ und des Adjektivs „jede“ in Verbindung mit der
Tatsache, dass es den Mitgliedstaaten nicht ausdrücklich verboten ist, Personen, aus deren Antworten
sich ihre Verantwortlichkeit für eine in die Zuständigkeit der Aufsichtsbehörde fallende
Zuwiderhandlung ergeben kann, wegen Verweigerung der Zusammenarbeit mit einer Sanktion zu
belegen, könnte den schriftlichen Erklärungen der italienischen Regierung zufolge eine Auslegung von
Art. 14 Abs. 3 der Richtlinie 2003/6 und Art. 30 Abs. 1 Buchst. b der Verordnung Nr. 596/2014
rechtfertigen, wonach die Mitgliedstaaten verpflichtet wären, die genannten Personen auch auf
administrativem Wege mit einer Sanktion zu belegen.

70. Ich bin gleichwohl davon überzeugt, dass eine solche Schlussfolgerung falsch ist.

28   Vgl. 38. Erwägungsgrund der Richtlinie 2003/6.
29   Vgl. 24. Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 596/2014.
30   Vgl. vierter Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 596/2014.
31   Hervorhebung nur hier.
32   Hervorhebung nur hier.

ECLI:EU:C:2020:861                                                                                      15
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