Schule bei jedem Wetter - Schule am Wald
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16 KÖRPER & SEELE Schule bei jedem Wetter Ihr Schulzimmer hat weder Dach noch Wände, als Unterrichtshelfer dienen Steine und Stecken, und die Lehrerin lädt zum Mittagessen vom Lagerfeuer. Derzeit besuchen Schweizer Primarschulkinder die ersten Waldschulen Europas. Petra Horat Gutmann Erinnern Sie sich noch an die ersten Waldkindergär- ten in der deutschsprachigen Bildungslandschaft ten? Der erste anerkannte Waldkindergarten in fest verwurzelt. Seit kurzem gibt es gar die ersten Deutschland startete 1993 in Flensburg, in Brütten öffentlichen Waldkindergärten, die Kindern aus al- bei Winterthur wurde 1998 der erste Waldkinder- len sozialen Schichten offen stehen. garten der Schweiz gegründet. Zwanzig Jahre ist Von der breiten Öffentlichkeit weitgehend unbe- das also her. «Eine rot-grüne Schnapsidee!», wet- merkt hat sich in den letzten Jahren eine weitere terten damals die Gegner. «Endlich gehen unsere Neuerung ihren Weg gebahnt: In der Schweiz sind Kinder wieder in den Wald!», freuten sich die Befür- die ersten Waldschulen Europas entstanden. Hier worter. Inzwischen haben sich die Waldkindergär- können Kinder der ersten bis sechsten Primarklasse Ein Klassenzimmer der anderen Art: Beim Unterricht in der freien Natur sind die Kinder ausgeglichen und motiviert.
KÖRPER & SEELE 17 (diese Schulstufe besuchen Kinder von etwa sechs Buchtipp und Adressen Waldkinder bis 13 Jahren) dem Unterricht an einem bis vier Wochentagen in der freien Natur folgen. Buch: «Wie Kinder heute wachsen – Natur als Eine solche Bildungsstätte ist die «Schule am Wald» Entwicklungsraum» von Herbert Renz-Polster und in Zürich-Witikon. Ihre Gründerinnen Martina De Lusi Gerald Hüther. Beltz Verlag 2013 (38) und Nannette Bratteler (39) hatten zuvor als Lehrerinnen an herkömmlichen Schulen beobach- Adressen Schweiz: tet, dass sich der Unterricht im Freien äusserst posi- Schule am Wald (1. bis 4. Klasse) tiv auf die Kinder auswirkt. «Befreit von Stuhl und Trichtenhausenstr. 231, CH-8053 Zürich-Witikon Bank sind die Kinder ausgeglichen, interessiert, mo- Tel. +41 (0)44 381 68 86/+41 (0)77 433 68 86 tiviert und voller Tatendrang», sagt Martina De Lusi. E-Mail: kontakt@schule-am-wald.ch Internet: schule-am-wald.ch Das Wetter ist kein Thema Waldschule St. Gallen (1. u. 2. Klasse) Jeden Dienstag um acht ziehen die beiden Lehre- Tel. +41 (0)71 222 50 11 rinnen mit «ihren» vierzehn Buben und Mädchen in E-Mail: info@waldkinder-sg.ch, den Zolliker Wald – bei jeder Witterung, auch wenn Internet: www.waldkinder-sg.ch es regnet oder schneit. «Das Wetter ist für Kinder Waldschule Baden (1. u. 2. Klasse) selten ein Thema», erklärt Nannette Bratteler. «Sie Tel. +41 (0)56 534 68 98 sind draussen so in ihre Aktivitäten vertieft, dass E-Mail: buero@naturspielwald.ch sie sich weder an Regen noch an Schnee oder Kälte Internet: www.naturspielwald.ch stören.» Deutschland: In Deutschland gibt es noch keine Immer mit dabei: Die beiden Mischlingshunde Leo Waldschulen nach Schweizer Art. Es gibt jedoch und Nepomuk. «Sie bringen den Kindern viel Freu- vereinzelt Schulen, die ein grünes «Outdoor-Klas- de. Die Kinder lieben sie, und sie lieben die Kin- senzimmer» oder ein Stück «Lernwald» besitzen. der», erklärt Martina De Lusi. «Der Hund ist das einzige Tier, das ganz auf den Menschen bezogen ist. Deshalb ist er wie kein anderes Tier geeignet, send Meter gehen. Alles ist sinnlich greifbar und Beziehung, Vertrauen und Respekt vor dem Ande- praxisorientiert. ren zu vermitteln.» Die blosse Anwesenheit von Das gilt auch für das Mittagessen. Statt rasch ein Leo und Nepomuk reiche, um die Atmosphäre zu Sandwich oder eine Fertigmahlzeit zu verzehren, entspannen und den sozialen Zusammenhalt zu wird das Essen gemeinsam frisch zubereitet: Die stärken. Sehr aktive Kinder würden ruhiger, wenn Kinder holen die Kochutensilien aus dem mitge- die Hunde dabei seien; zurückgezogene Kinder kä- führten Leiterwagen, sie putzen und rüsten Karot- men mehr aus sich heraus. ten und Salat, sammeln Holz, zünden ein Feuer an und kochen Getreide oder Teigwaren. Nach dem Alles ist praktisch Essen werden Besteck, Geschirr und Kochutensilien Sobald die Klasse ihre Destination im Wald erreicht wieder im Leiterwagen verstaut. Dort sind auch hat – etwa den Sonnenplatz, den Regenplatz oder Seile, Blachen, Hängematten und Werkzeuge un- das Waldsofa – verzehren die Kinder das mitge- tergebracht – von der Ahle über den Bohrer bis zu brachte «Znüni» und lernen dann bis kurz vor Mit- Hammer und Säge. tag voller Hingabe. Sie sammeln Steine und Tann- zapfen, um mit ihnen zu zählen und zu rechnen, Mit Tannenzapfen bezahlen legen mit Stecklein Buchstaben und geometrische Nach dem Essen sind freies Spiel und Basteln ange- Formen auf dem Moos aus, vergleichen und be- sagt. Begeistert wühlen die Kinder im Waldboden, sprechen ihre Werke, wiegen Steine, vermessen sägen, hämmern und denken sich Spiele aus – Baumstämme und Wurzelstöcke und erfahren, was etwa das «Wald-Restaurant», in dem Beeren, Nüs- «ein Kilometer» ist, indem sie schrittezählend tau- se und Wildkräuter auf Blättern serviert werden. Mai 2015 Gesundheits-Nachrichten
18 KÖRPER & SEELE Bezahlt wird mit Steinchen, Tannenzapfen und an- Verlorengegangen: Das Recht zum Streunen deren kleinen Schätzen, die der Wald hergibt. Die Bewohner der westlichen Industrienationen Gegen zwei geht's weiter mit dem Unterricht: Die verbringen nur noch einen Bruchteil so viel Zeit in älteren Kinder halten Präsentationen, die kleineren der Natur wie ihre Vorfahren, schreibt der US-ame- lauschen gebannt. Über den Köpfen zwitschern die rikanische Umweltjournalist Richard Louv in sei- Vögel, die Sonne blitzt durchs Laub, es riecht nach nem Bestseller «Das letzte Kind im Wald» (s. a. GN Erde und Holz. Zwischen den Präsentationen toben 5/2012). Der britische Kinderarzt Dr. William Bird sich die Kinder kurz aus und konzentrieren sich da- ging dieser Aussage anhand der Lebensgewohn- nach erneut auf ihre Aufgaben. Auch Hefte, Stifte heiten einer Familie in Sheffield (GB) während vier und Blätter sind in den Wald mitgekommen. Sie Generationen nach. Das Ergebnis: bleiben nur bei Regen zu Hause. Halb vier. Die Atmosphäre im Schulzimmer unter 20 Meter hohen Buchen, Fichten und Tannen ist ent- spannt. «Wir sind hier ebenso glücklich wie die Kin- der», sagt Nannette Bratteler, während die Kinder ihre Sachen zusammensuchen, um gemeinsam nach Hause zu ziehen – zufrieden und voller Energie. Grenzen erfahren, geborgen sein Die Lehrerinnen der Waldschule werden öfters ge- fragt, ob ihre Kinder nicht Probleme beim Übertritt in die Oberstufe hätten. Das Gegenteil treffe zu, sagen De Lusi und Bratteler. Ihre Schüler hätten Der Urgrossvater George Thomas legte 1926 als den Wechsel ans Gymnasium und die Sekundar- Achtjähriger zehn Kilometer zu seinem Lieblings- schule bisher immer problemlos geschafft. «Die Angelplatz ohne erwachsene Begleitung zurück. Er Naturpädagogik reduziert den Lehrplan ja nicht. Sie verbrachte die meiste Zeit draussen beim Spielen bereichert ihn und vermittelt den Kindern wichtige und Höhlenbauen, wurde Handwerker und geht Kompetenzen fürs Leben.» mit 88 noch gerne zu Fuss. Sein Schwiegersohn Tatsächlich belegen internationale Studien, dass Jack marschierte 1950 mit acht Jahren anderthalb das Spielen und Lernen in der Natur vielfältige po- Kilometer zum nächsten Wald. Auch zur Schule sitive Wirkungen hat: Es stärkt die körperliche und ging er zu Fuss. Georges Enkelin Vicky durfte in ih- die emotionale Widerstandskraft, verbessert die rem achten Lebensjahr 1979 im Umfeld des Grund- motorischen Fähigkeiten und fördert die Kreativität stücks Fahrrad fahren, mit Freunden im Park spie- sowie die Fähigkeit des flexiblen Problemlösens. len sowie zur Schule und zum Schwimmbad Auch Symptome der Aufmerksamkeitsdefizit- und gehen. Ihr Sohn, Urenkel Edward, verbringt nur Hyperaktivitäts-Störung ADHS lassen sich durch wenig Zeit ausserhalb des Gartens; er darf bis ans eine naturnahe Erziehung reduzieren. Ende der Strasse gehen (knapp 300 Meter). Er wird Andere Forschungsarbeiten unterstreichen die mit dem Auto zur Schule gebracht und lernt in sei- überdurchschnittliche Förderung der Kommunika ner Freizeit Klavier und Skifahren. Am Wochenende tionsfähigkeit. Laut Experten dürfte dies damit zu- werden Velos ins Auto gepackt, damit die Familie sammenhängen, dass «Waldkinder» mangels vor- gemeinsam auf dem Land Fahrrad fahren kann. gefertigtem Spielzeug selbst Aktivitäten und Spiele Edwards Mutter ist besorgt, er könne verloren ge- ausdenken und miteinander aushandeln müssen. hen, einen Verkehrsunfall haben oder entführt Hinzu kommt, dass Lösungen im Wald meist nur werden, aber auch darüber, dass sein Leben weni- gemeinsam umgesetzt werden können – etwa für ger reich sei als das früherer Generationen. den Bau einer Hütte oder das Stauen eines Bachs. Fest steht, dass Kinder in der Natur Erfahrungen Gesundheits-Nachrichten Mai 2015
KÖRPER & SEELE 19 Unterricht im Freien schult die Sinne und die Aufmerksamkeit, trainiert Geschicklichkeit und Kraft; kurz: macht schlau und stark. machen können, die sie angesichts der technisier- Kinder in der Natur «schwer kontrollierbar» seien. ten und digitalisierten Welt dringend brauchen, wie Laut Martina De Lusi und Nannette Bratteler lässt der deutsche Kinderarzt, Wissenschaftler und Autor sich diese Gefahr durch ein einfaches Gegenmittel Dr. Herbert Renz-Polster erklärt: «Man braucht nur reduzieren: «Klare Regeln, die konsequent durch- zu beobachten, wie Kinder in der Natur aufblühen. gesetzt werden.» An ihrer Waldschule lautet eine Im unstrukturierten, natürlichen Umfeld werden sie dieser Regeln, dass Holzstecken nicht als Waffen zu wirklichen Entdeckern und Gestaltern. Sie bauen benutzt werden dürfen, sondern ausschliesslich Beziehungen auf zu Orten, zu Bäumen, Pflanzen, konstruktiv, also zum Beispiel als Baumaterial, Zei- Tieren, Menschen. Da entwickelt sich Geborgenheit gestäbe oder Grillspiesse. und oft ein Gefühl von Heimat. Natur ist für Kinder Des Weiteren gibt es zahlreiche Eltern, die den Kon- ein enorm wichtiger Entwicklungsraum, auch um in takt zum Wald selber weitgehend verloren haben aller Freiheit ihre Grenzen zu erfahren und sich an und sich vor Zecken, Giftpflanzen und Unfallgefahr Widerständen zu üben.» fürchten, die im Wald auf die Kinder «lauern». Herbert Renz-Polster sagt dazu: «Viele Eltern haben «Schlammkluft» inklusive kein Problem damit, ihre Kinder im Skiurlaub die Dass die Natur den Kindern gut tut, spüren auch die schwarzen Pisten runterfahren zu lassen, obwohl Eltern, die ihre Sprösslinge in die Waldschule schi- dort viel mehr passieren kann. Die meisten Gefah- cken und dafür die «Schlammkluft» der Kinder und ren beim Spielen im Wald sind dagegen gut kon- die höheren Schulgebühren der privat finanzierten trollierbar.» Bildungsstätten in Kauf nehmen. Hauptsache, ihre Die Zeckengefahr könne man zum Beispiel durch Kinder können mit allen Sinnen in einer natürlichen einen abendlichen «Körpercheck» bannen, Vergif- Umgebung lernen! tungen durch Waldbeeren oder Pflanzen seien Rari- täten. Auch Unfälle kämen im Wald viel seltener Die Wälder waren mein Ritalin. Die vor als in Innenräumen und auf Schulhöfen, wo der Natur beruhigte mich. Richard Louv Kopf rasch an einer Tischkante oder auf Beton auf- schlage. «Ausserdem erwerben die Kinder draus- Dennoch wecken Waldschulen auch Ängste. Lehrer sen ja auch Kompetenzen. Sie werden geschickt und Behördenvertreter befürchten etwa, dass die und stark. Das schützt vor Risiken.» Mai 2015 Gesundheits-Nachrichten
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