Tauchgänge zur German Theory

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Geogr. Helv., 77, 85–96, 2022
https://doi.org/10.5194/gh-77-85-2022
© Author(s) 2022. This work is distributed under
the Creative Commons Attribution 4.0 License.

                                 Tauchgänge zur German Theory
                                Benedikt Korf1 , Eberhard Rothfuß2 , and Wolf-Dietrich Sahr3
                 1 Geographisches Institut, Universität Zürich, Winterthurerstraße 190, 8032 Zürich, Schweiz
             2 GeographischesInstitut, Universität Bayreuth, Universitätsstraße 30, 95440 Bayreuth, Deutschland
                   3 Departamento de Geografia, Universidade Federal do Paraná (UFPR), Curitiba, Brazil

                      Correspondence: Benedikt Korf (benedikt.korf@geo.uzh.ch), Eberhard Rothfuß
                    (eberhard.rothfuss@uni-bayreuth.de), and Wolf-Dietrich Sahr (wolf.sahr@gmail.com)
            Received: 14 July 2021 – Revised: 10 January 2022 – Accepted: 18 January 2022 – Published: 10 February 2022

       Kurzfassung. In this editorial, we sketch the intellectual agenda for a themed issue on German Theory. We
       understand German Theory as a creative and dialogical space to engage a multitude of thought styles, common
       in the Geisteswissenschaften and to bring them into conversations with anglophone, as much as francophone,
       lusophone, Italian, Spanish and other forms of Theory. This agenda promotes a ,provincialization‘ of anglophone
       Geography that is connecting these thought styles rather than confining them to bounded provinces in debate.
       „German Theory“, thus understood, is ultimately an entangled theory.

1   Provinzialisierung                                                 Der Begriff der „Provinzialisierung“ geht auf die bahnbre-
                                                                    chende Arbeit des indischen Historikers Dipesh Chakrabar-
Ist es nicht erstaunlich und bedauerlich, dass in der jünge-        ty (2000) in der postkolonialen Theorie zurück. „Provinzia-
ren deutschsprachigen Humangeographie eine Auseinander-             lisierung“ bedeutet für Chakrabarty, den Universalisierungs-
setzung mit Denkerinnen und Denkern deutscher Sprache               anspruch westlicher Theorie einzugrenzen und zu unterlau-
wie Theodor W. Adorno, Hans Blumenberg, Ernst Cassirer,             fen, indem die Kontextbedingungen ihrer Entstehung auf-
Helmuth Plessner, Hannah Arendt oder Walter Benjamin nur            gezeigt werden. Für das akademische Fach der Geographie
selten stattfindet, vermutlich weil diese in der anglophonen        steht diese „Provinzialisierung“ noch weitgehend aus: Nicht
Geographie nicht so sehr en vogue sind? In diesem Themen-           nur besteht weiterhin eine grosse Kluft in der akademischen
heft fragen wir uns: Was geht dabei an intellektueller Kreati-      Wissensproduktion zwischen globalem Norden und Süden
vität verloren? Und: Wie könnte diese Debatte auf die epis-         (Santos und Meneses, 2020); auch die theoretischen Debat-
temologische Situation bereichernd wirken?                          ten innerhalb des Nordens verdecken oft sprachliche Hier-
   Eine Beschäftigung mit der deutschsprachigen Geistestra-         archien und Asymmetrien in der Wissensproduktion. Zwar
dition wäre sicher kein selbstbezogenes „Einigeln“ in eine          warnt Ulrich Best (2009) zu Recht davor, beide Formen der
heile intellektuelle Vergangenheit nationalsprachlicher Wis-        „Peripherisierung“ auf die gleiche Stufe zu stellen, doch soll-
senschaften, sondern eher ein Blick „Zurück in die Zu-              ten dabei die diskursiven Relationen der Ungleichheit inner-
kunft“ – Rekonstruktion und Wiederaneignung verschütte-             halb des Nordens selbst nicht verschüttet werden.
ter und untergegangener intellektueller Denkwege. Inspiriert           Während die internen Diskursgeographien der frühen Na-
von Diskussionen, die ihren Ausgangspunkt 2017 in Semi-             tionalstaaten Frankreich und England sich vor allem auf
narräumen am Ufer des Zürichsees genommen haben, ver-               die Zentren London (mit Oxford/Cambridge) und Paris (mit
suchen wir, im Dialog mit der dominanten Theoriespra-               dem Quartier Latin) konzentrierten, haben die späten Natio-
che des anglophonen Mainstreams die deutschsprachige Hu-            nalstaaten Deutschland und Italien eine multipolarere Dis-
mangeographie zu provinzialisieren, um damit wieder mehr            kursgeographie entwickelt, welche sich in Italien auf Ve-
Pluralität und Gleichwertigkeit zwischen den sprachlichen           nedig, Mailand, Florenz, Rom und Neapel verteilte, oder
Denkprovinzen herzustellen (vgl. Fall, 2013; Korf et al.,           in Deutschland auf das „nationale“ Weimar und Leipzig,
2013; Houssay-Holzschuch und Milhaud, 2013; Houssay-                aber auch Königsberg, Breslau, Göttingen, Bonn, Heidel-
Holzschuch, 2020; Minca, 2000).

Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
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berg, Marburg, Freiburg, Tübingen usw. In Deutschland bil-       ry wird hier zum Baustein einer entangled theory1 , die
deten diese Mittelstädte eines vom Adel geförderten Kul-         einen kreativen und dialogischen Raum für vielfältige An-
turbürgertums neben den spätgeborenen Universitäten der          eignungsstile geisteswissenschaftlicher Theorien, „Denksti-
preussischen Hauptstadt Berlin und der bayerischen Haupt-        le“ und „Denkstimmungen“ (Fleck, 1980) schafft. Dies ist
stadt München wichtige intellektuelle Austrahlungspunkte.        zugleich ein Versuch, mit der anglophonen Theorie (und an-
Insofern ergibt sich aus dem historischen Potential der Multi-   deren) ins partnerschaftliche Gespräch zu kommen. Dazu
polarität durchaus eine Möglichkeit, intellektuelle Asymme-      möchten wir die in der deutschsprachigen Geistesgeschich-
trien besser zu verstehen, da sie Bestandteil auch der eigenen   te entstandenen Denkstile und -stimmungen bewusster und
Geschichte sind.                                                 für sich autonomer herausstellen.
   Bemerkenswert ist auch, dass sich durch die Dispersion           Das Projekt einer Provinzialisierung bleibt also nicht im
der deutschen Intellektuellen mit ihrem sprachlich isolier-      Formulieren eines klagenden Unbehagens gegenüber der an-
ten Diskurs Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts         glophonen Hegemonie stehen, sondern versteht sich als ein
eine ungeheure internationale Wirkung entfaltete, v. a. in       Angebot, atmosphärische und zeitgeschichtliche Zusammen-
die USA. Dieser Effekt, der z. B. auch die Geographen            hänge von Theory offenzulegen und ins internationale dis-
Franz Boas und Karl Sauer einschloss, wurde später durch         kursive Feld einzubringen. Dieser Ansatz scheint uns wichtig
die kulturelle und politische Diskriminierung der jüdisch-       für eine kosmopolitische Geographie (Korf et al., 2013; Min-
deutschen Geistestradition verstärkt, die mit der nationalso-    ca, 2013). Doch dazu bedarf es zunächst der Aneignung oder
zialistischen Machtergreifung zu einem Massenexodus jüdi-        Wiederaneignung des bislang vernachlässigten Repertoires.
scher Intellektueller und deren Denktraditionen in die USA          Die meisten Beiträge in diesem Themenheft werden sich
und andere vermeintlich sichere Länder führte. Prominente        mit der German Theory auf einer Meta-Ebene beschäftigen –
Beispiele sind hier die Frankfurter Schule oder der Wiener       als einem aus der Tradition der „Geisteswissenschaften“ her-
Kreis.                                                           vorgehenden Denkstil. Sie sprechen deshalb eine Sprache,
   Auch die intellektuelle Entwicklung des anglophonen Dis-      welche nicht immer direkt an den anglophonen Diskurs an-
kurses weist ihre besondere „Provinzialität“ auf. Dies hat der   schlussfähig ist. So ist z. B. das Fehlen eines adäquaten Be-
britische Literaturwissenschaftler Raymond Williams in sei-      griffes für Leib im Neu-Englischen, das nur die Semantik des
nen beiden Werken „Culture and Society 1780–1950“ (Wil-          body als Übersetzung von Leib und Körper zugleich kennt,
liams, 1960) und „The Long Revolution“ (Williams, 1961)          ein ganz wesentliches Hindernis, um in Englisch phänome-
herausragend dargestellt. Auf den britischen Inseln (und in      nologisch zu denken. Hier wäre eine lecture croisée geradezu
Neuengland) zeigt sich dabei, wie auch allgemeine Volksbil-      fundamental für die Debatte.
dungsprozesse (Alphabetisierung, Grundschulbildung, impe-           Deshalb konzentrieren wir uns in diesem Themenheft zu-
rialistische Ideologie etc.) Geistestraditionen beeinflussten,   nächst auf Ideen und Theorien, die aus diesem „geisteswis-
so dass die Wissenschaft im anglophonen Bereich stärker          senschaftlichen“ Denkstil entstanden sind, der vor allem in
popularisiert ist als in den elitären Wissenschaftstraditionen   der Hermeneutik, Phänomenologie und Philosophischen An-
Frankreichs und Deutschlands (vgl. hierzu Lepenies, 1985).       thropologie verortet ist. Hier sehen wir einen besonders gros-
   Heute erscheinen die Rezeptionsmuster des anglophonen         sen Nachholbedarf. Zwar wird Martin Heidegger, wichti-
Diskurses „global“, und deutschsprachige Denkerinnen und         ger, aber auch politisch kompromittierter Denker einer der
Denker sind für die deutschsprachige Geographie meist erst       Hermeneutik und der Phänomenologie anverwandten Phi-
dann satisfaktionsfähig, wenn diese in der anglophonen Geo-      losophie, gerne in der anglophonen Geographie rezipiert,
graphie reüssiert haben. So entstand z. B. das deutschsprachi-   meist aber ohne genauere Kenntnis des geistesgeschichtli-
ge Themenheft zu Peter Sloterdijk in der Geographica Hel-        chen oder politischen Horizonts seines Wirkens (Korf und
vetica erst, nachdem Sloterdijk von Stuart Elden (2011) und      Rowan, 2020; Hepach, 2021). Ein weiteres Desiderat wäre
Nigel Thrift (2009) prominent in den anglophonen Theorie-        auch die Wiederaneignung der Kritischen Theorie der Frank-
diskurs eingebracht worden war. Zugleich erfolgte das Auf-       furter Schule, die vereinzelt zwar in der anglophonen und
greifen der Arbeiten von Peter Sloterdijk in der anglophonen     auch deutschsprachigen Geographie aufgegriffen wird, meist
Geographie (Elden, 2011) meist ohne intensivere Beschäf-         jedoch ohne deren religionsphilosophischen Reflektionshori-
tigung mit dessen Verankerung im Denken der Philosophi-          zont, welcher über eine klassisch historisch-materialistische
schen Anthropologie (v. a. Max Scheler und Helmuth Pless-        Rezeption hinausgeht.
ner) und der Phänomenologie (vgl. Boos und Runkel, 2018).
   Vor diesem Hintergrund möchten wir mit diesem Themen-
heft eine hegemoniale Dynamik unterlaufen, die anglophone           1 In der deutschsprachigen Geschichtswissenschaft hat sich die-
Geographie unhinterfragt als „internationalen“ Standard und      ser Begriff schon seit längerem im Rahmen der Globalgeschichte
state-of-the-art akzepiert, dabei aber eigene Denktraditionen    eingebürgert, vgl. z. B. die Übersicht von Pernau (2011) zu unter-
negiert. Dabei verstehen wir Provinzialisierung nicht als        schiedlichen Verflechtsansätzen wie connected history, Transferge-
Rückzug in einen homogenen sprachlichen Diskursraum,             schichte, histoire croisée, entangled history (Conrad und Randeria,
sondern als interkonnektiven Provinzialismus. German Theo-       2002) oder Translokalität (S. 36–85).

Geogr. Helv., 77, 85–96, 2022                                                          https://doi.org/10.5194/gh-77-85-2022
B. Korf et al.: Tauchgänge zur German Theory                                                                                87

   Provinzialisierung muss unseres Erachtens über mehrere       chigen Wissenschaft (und auch der Humangeographie) wäh-
Stufen erfolgen. Da ist zum einen die Wiederentdeckung des      rend der beiden Weltkriege sukzessive – und politisch ge-
Untergegangenen oder Verschütteteten durch die Vereinseiti-     wollt – verloren, zumal sich auch andere, vorher eng mit der
gung des Eigenen, angesichts der Vereinseitung des hegemo-      deutschsprachigen Geographie verbundene Wissenschafts-
nialen Anderen. Dann erfolgt die Entselbstverständlichung       systeme, z. B. im skandinavischen Sprachraum, aber auch
dieses kolonialen Anderen. In einem weiteren Schritt er-        in den Niederlanden, zunehmend der englischen Sprache als
möglicht die relationale Verflechtung ein eher gleichwertiges   lingua franca zuwandten. Dadurch wurde aber nicht nur der
Gespräch, um schliesslich über ein erweitertes Bewusstsein      anglophone Denkstil aufgenommen, sondern es wurden auch
(Geist) auch die Möglichkeit einer Transzendenz zum Ande-       anglophone Theorien, Thematiken und Debatten bevorzugt.
ren zu eröffnen, so wie das Transzendente des Unbekannten       Katalysator dieser Entwicklungen war dann schliesslich die
und Übermächtigen in der Religion eingegrenzt wird, um den      extreme Konzentration der englischsprachigen Verlagshäu-
Raum zu öffnen für die Verbalisierung bisher verschlossener     ser, welche diese anglophone Hegemonie nicht nur kommer-
Konnektivitäten (Massey, 2005).                                 ziell stützen, sondern auch bewusst fördern und instrumenta-
                                                                lisieren.
                                                                   So zeigt sich in der kontinentaleuropäischen Geographie,
2   Vereinseitigung(en)                                         insbesondere in jenen europäischen Ländern, die über eine
                                                                relativ eigensprachliche geistesgeschichtliche Tradition ver-
Ausgangspunkt unserer Provinzialisierung ist die zunehmen-      fügen, v. a. in Deutschland, Frankreich, Italien und Spani-
de Hierarchisierung des akademischen Wissens in der Hu-         en, immer wieder ein gewisses Unbehagen über die „anglo-
mangeographie unter dem Primat der anglophonen Geogra-          phone Hegemonie“, welche die in den Milieus anglopho-
phie. Eine solche Hegemonie betrifft seit dem zweiten Welt-     ner Geographie(n) und Nachbarfächern gepflegten Denkstile
krieg viele Sozial- und Kulturwissenschaften sowie teilwei-     (Theorien, Schreibstile usw.) als universale Norm der „Inter-
se auch die Geisteswissenschaften. Wie oben erwähnt, ist        nationalität“ in der Geographie einfordern (Aalbers und Ros-
der Einfluss deutscher Geisteswissenschaften vor allem über     si, 2007; Houssay-Holzschuch und Milhaud, 2013; Houssay-
den brain-drain jüdisch-deutscher Intellektueller während       Holzschuch, 2020; Korf et al., 2013; Kitchin, 2005; Minca,
der Zeit des Nationalsozialismus in die USA und teilweise       2000; Paasi, 2005). Martin Müller (2021) hat detailliert das
auch nach Großbritannien dafür mitverantwortlich. Nicht nur     „linguistische Privileg“ aufgezeigt, welches sich in der Do-
die Mitglieder der Frankfurter Schule migrierten, sondern       minanz anglophoner Personen in den entscheidenden Schalt-
auch angesehene Denkerinnen und Denker aus dem Umfeld           stellen der Disziplin zeigt (z. B. editorships in journals oder
des Wiener Kreises, einige Neukantianer wie Ernst Cassirer,     von handbooks). Diese Personen bestimmen auch darüber
aber auch Schülerinnen und Schüler Heideggers wie Han-          (wenn auch vielleicht ungewollt), welche Form und welcher
nah Arendt, Hans Jonas, Karl Löwith, oder neo-konservative      Inhalt von Text zu Wort kommt.
Denker, z. B. Leo Strauss und Eric Voegelin. Auch in der           Dabei geht es nicht nur darum, richtiges Englisch zu
Geographie gab es einen solchen brain-drain: erinnert sei       schreiben, sondern auch im Sinne der Doxa nach Bour-
nur an Alfred Philippson (Sandner, 1990) und Leo Waibel         dieu (1978) implizite Schreibregeln zu befolgen und elo-
(Schenk, 2013), deren Exilierung bis heute nur wenig in         quent herrschende Diskursbezüge zu bedienen. Die implizite
der deutschsprachigen Geographie debattiert wird. In diesem     Leseerwartung anglophoner Akademikerinnen und Akade-
Prozess ging das genuin deutschsprachige intellektuelle Mi-     miker zeigt sich, so Juliet Fall (2013), in der Erwartung, wie
lieu teilweise verloren, denn nur wenige – am prominentes-      ein adäquater Text zu formulieren und zu strukturieren sei,
ten wohl Theodor W. Adorno und Max Horkheimer als Be-           und welche oft modischen, d. h. die Journals in den letzten
gründer der Frankfurter Schule oder Karl Löwith, der einem      zwei bis drei Jahren bestimmenden Debatten bedient werden
Ruf an die Universität Heidelberg folgte – kehrten nach dem     sollen. Sind frankophone oder deutschsprachige Denkstile
zweiten Weltkrieg nach Deutschland zurück.                      hiermit nicht kompatibel, werden sie gern als „provinziell“,
   Parallel dazu entwickelte sich Englisch als Kolonialspra-    „old hat“ oder „old-fashioned“, ja vielleicht sogar als „out
che (und in einem geringeren Masse auch Französisch,            of date“ entwertet bzw. schlicht ignoriert. Dieser Vereinseiti-
Spanisch und Portugiesisch) mit dem Commonwealth und            gung des (theoretischen) Denkstils setzen wir als Taktik der
den (ehemaligen) Kolonien und Dominions zu einem multi-         Provinzialisierung eine Vereinseitung auf der anderen Seite
lokalen und multiethnischen Resonanzraum. Dieser ist zwar       entgegen, die sich diese eigensprachlichen Denkstile bewusst
auch von internen Ungleichgewichten und postkolonialen          wiederaneignet.
Abhängigkeiten geprägt, bietet aber bis heute Akademike-
rinnen und Akademikern aus den ehemaligen Kolonien ein
sprachlich kompatibles Forum, in dem sie ihre eigene Positi-    3   Entselbstverständlichung
on als entangled history (Conrad und Randeria, 2002) in kri-
tischer Abgrenzung mit der ehemaligen Kolonialmacht ein-        Ein Problem ist sicherlich, dass anglophone Geographinnen
bringen. Ein ähnlicher Resonanzraum ging der deutschspra-       und Geographen die Folgen ihrer Vereinseitigung des Denk-

https://doi.org/10.5194/gh-77-85-2022                                                         Geogr. Helv., 77, 85–96, 2022
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stils für die Theoriearbeit kaum bedenken. Die Provinziali-       ten der frankophonen Kulturgeographie – kurioserweise über
sierung der anglophonen Geographie erfordert deshalb Tak-         den Umweg der New Cultural Geography – größere Akzep-
tiken zur Entselbstverständlichung ihres Denkstils. Schlott-      tanz (Chivallon, 2003; Fall, 2007; Graefe, 2013; Housssay-
mann und Hannah (2016) sind diesen Fragen auf interessan-         Holzschuch und Milhaud, 2013). Auch Yves Lacoste ging
te Art nachgegangen. Sie praktizierten eine lecture croisée:      es nicht anders mit seinem bahnbrechenden Interview mit
Schlottmann las als deutschsprachige Geographin einen an-         Michel Foucault, dem Arbeitskollegen aus Vincennes, wel-
glophonen Schlüsseltext der geographischen Tradition (von         ches in der ersten Nummer von Hérodote 1977 veröffentlicht
John Wiley) und Hannah als anglophoner Geograph einen             wurde und lange in der französischen Geographie unbeachtet
deutschsprachigen (von Ulrich Eisel). Dabei zeigten sich bei-     blieb (Calbérac, 2021).
de immer wieder irritiert über den Denk- und Schreibstil der         Nun kann man mit dieser Situation der Hegemonie einer
jeweils „anderen“ Tradition. Auch wenn sie diese Irritation       anglisierten Theory auf zweierlei Weise umgehen: Entweder
als eine potenzielle Bereicherung ihres eigenen Denkens se-       führt es zur Klage über einen „Verlust“, mit dem Wunsch,
hen, erscheinen einige Asymmetrien: Für Matthew Hannah            die ursprüngliche „Tiefe“ der französischen Denker wieder
ist das Aufgreifen der Irritation nur optional, während es        an die Oberfläche zu holen, oder man begreift es als eine Be-
für Schlottmann selbstverständlich ist, sich mit anglophonen      reicherung der Theoriediskussion in alle Richtungen, hori-
Texten auseinanderzusetzen, um international gehört und ge-       zontal und vertikal. Wir plädieren für den zweiten Weg, wol-
lesen zu werden (Schlottmann und Hannah, 2016:98).                len jedoch nicht bei der anglophonen Rezeption stehen blei-
   Auch das Projekt einer German Theory schlägt Takti-            ben und diese unhinterfragt als internationalen Standard ak-
ken der Entselbstverständlichung der anglophonen Geogra-          zeptieren. Stattdessen möchten wir im Sinne einer entangled
phie vor. German Theory wird nicht einfach als deutschspra-       theory der anglophonen Rezeption anderssprachige Diskurs-
chige Theorie oder als in der deutschsprachigen Geistesge-        geographien an die Seite stellen.
schichte verankerte Theorie verstanden, wie dies z. B. Stein-
metz (2006) vorschlägt, sondern wir wollen German Theory
als entangled theory verstehen – als eine Theorie, die sich im    4   Verflechtungen: Entangled Theory
Dialog verflicht, jedoch eingebettet bleibt in die deutschspra-
chige Geistesgeschichte2 . Dabei spielt der Terminus German       Theory im Allgemeinen kann nach unserem Dafürhalten in
Theory auf eine Rezeptionsdynamik an, welche im Kontext           der heutigen globalen Situation immer nur als entangled
des Poststrukturalismus unter dem Titel French Theory de-         theory verstanden werden. Dabei kommt der Ausdruck
battiert wurde: Hier war es die Rezeption wichtiger franzö-       entangled theory dem nahe, was Claudio Minca als cosmo-
sischsprachiger poststrukturalistischer Autorinnen und Auto-      politan theory bezeichnet hat. In Analogie zur French Theory
ren (Deleuze, Derrida, Foucault, Lacan etc.), welche die eng-     schlägt Minca für die Rezeption von Agamben, Negri, Es-
lischsprachigen Cultural Studies inspirierten, wobei die zitie-   posito und anderen italienischen Denkerinnen und Denkern
renden Autorinnuen und Autoren von den originalen Entste-         in den anglophonen Cultural Studies den Begriff der Itali-
hungskontexten abstrahierten und eine eigene, oft einseitige      an Theory vor und betont: „Italian Theory, is (. . . ) ultimately,
Interpretation der Texte vorgeschlagen hatten, sozusagen als      a ,cosmopolitan‘ theory that has travelled and been shaped
Oberflächenphänomen des Textes, welches den originalen            fundamentally through its travels“ (Minca, 2018:11). Minca
Kontext in den Untergrund verbannte (Bruckner, 2021:14).          zeigt, dass die anglophone Aneignung anderssprachiger Mi-
Diese Operation ist entscheidend, um die internationale Deu-      lieus auch neue Impulse für die theoretische Diskussion ins-
tungshoheit für die sogenannte French Theory zu beanspru-         gesamt geben kann und in diesem speziellen Fall auch wieder
chen; denn eigentlich ist diese Theory nicht „französisch“,       die italienische Politische Philosophie inspirierte. Auch Itali-
sondern „anglophon“ (vgl. dazu Cusset, 2008).                     an Theory ist also keine theoretische Einbahnstraße, sondern
   Interessanterweise wurden „Michel Foucault“ und post-          vielmehr genau das, was wir als entangled theory bezeichnen
strukturalistische Theorien gerade in der frankophonen Geo-       möchten.
graphie lange mit grosser Zurückhaltung bzw. Abwehr an-              In der Tat sind Italian Theory oder French Theory auch
gegangen (Claval and Staszak, 2004:319). So beschreibt Ju-        eng mit Denkanstössen aus der geisteswissenschaftlichen
liet Fall (2007) eingehend, wie der Genfer Geograph Clau-         German Theory verflochten. So wurden die Arbeiten von
de Raffestin mit seiner Foucault-Rezeption nur wenig Re-          Agamben, Derrida, Foucault und anderer Denkerinnen und
sonanz in der frankophonen Geographie fand. Erst nachdem          Denker der French und Italian Theory ganz wesentlich durch
auch in der französischen Akademia die Bedeutung der Re-          die Schriften Martin Heideggers, Friedrich Nietzsches, aber
zeption der „internationalen Theoriedebatte“ als Gütekrite-       auch Walter Benjamins beeinflusst. Nicht vergessen wer-
rium angenommen wurde, erfuhr „Foucault“ in den Debat-            den sollte hier auch die verspätete Rezeption Georg Wil-
                                                                  helm Friedrich Hegels in Frankreich, welche durch die ein-
    2 Eher in unserem Sinn verwendet Hannes Bajohr den Be-        flussreichen Vorlesungen des russischstämmigen Philoso-
griff „German Theory“ in einer Rezension zu einem Buch über       phen Alexandre Kojève an der Ecole Pratique des Hautes
Hans Blumenbergs Mythentheorie (vgl. Bajohr, 2015:358).           Etudes einer ganzen Generation französischer Intellektuel-

Geogr. Helv., 77, 85–96, 2022                                                           https://doi.org/10.5194/gh-77-85-2022
B. Korf et al.: Tauchgänge zur German Theory                                                                                 89

ler vermittelt wurden (Eribon, 1993; Dosse, 2017). Jean-          gen, es handelt sich nach dem Hype um Foucault und die
Luc Nancy spricht in diesem Zusammenhang davon, dass              French Theory um eine „Rückkehr zur Zukunft“, eine Pro-
sich „Frankreich zwischen den beiden Weltkriegen tatsäch-         vinzialisierung des britischen Kontexts.
lich sehr stark philosophisch eingedeutscht hat“ (Badiou und
Nancy, 2017:12), und nennt in diesem Zusammenhang auch
                                                                  5   Leerstellen
die Nähe Batailles zu Heidegger. Und Alain Badiou erkennt
in diesen Konstellationen einen „französisch-deutschen Mo-
                                                                  Als Vorbereitung zum Versuch einer Wiederaneignung
ment . . . , [der] sich langsam in einen französischen verwan-
                                                                  möchten wir noch kurz über die Gründe für die Nichtrezepti-
delt hat, bis zu dem Punkt, Frankreich in Amerika zu re-
                                                                  on der deutschsprachigen Geistesgeschichte in der Geogra-
präsentieren“ (das wäre dann die French Theory). In jün-
                                                                  phie spekulieren (vgl. dazu auch: Korf und Verne, 2016).
gerer Zeit haben sich auch zwischen der deutschsprachigen
                                                                  Die Tradition der „Geistesgeschichte“ hat ihre Urspünge im
und französischsprachigen Geographie interessante Vernet-
                                                                  Denken des Idealismus (Hegel und seine „Phänomenologie
zungen und debats croisées ergeben, u. a. in der Disziplin-
                                                                  des Geistes“) und der Romantik (Schelling mit seiner Polari-
geschichte oder in der Kulturgeographie (z. B. Germes et al.,
                                                                  tät zwischen Natur und Geist in seiner „Naturphilosophie“).
2011).
                                                                  Diesen Kontrast hat schliesslich Wilhelm Dilthey (1970) zu
   Betrachtet man mit der Brille der entangled theory jünge-
                                                                  einem methodologischen Gerüst ausgebaut und sich damit
re Theoriedebatten in der anglophonen Geographie, könnte
                                                                  für den tiefen Graben zwischen Natur- und Geisteswissen-
man auch von einer British Theory sprechen. So greift zum
                                                                  schaften verantwortlich gemacht, der auch althergekommene
Beispiel Nigel Thrift einerseits die French Theory auf (vor al-
                                                                  Brücken in der Geographie einriss.
lem die Arbeiten von Gilles Deleuze), verknüpft diese ande-
                                                                     Schon seit den 1960er Jahren haben es deshalb vor al-
rerseits aber mit Ludwig Wittgenstein (z. B. in Thrift, 2007),
                                                                  lem die geisteswissenschaftlichen Denkstile in der deutsch-
wobei zu diskutieren wäre, welcher Theory-Baustein des ur-
                                                                  sprachigen Geographie besonders schwer. Dies hängt sicher
sprünglich österreichischen Wittgenstein hier gemeint ist.
                                                                  zum einen mit der Fachgeschichte zusammen, welche im
Doreen Massey (2005) wiederum beschäftigt sich in ihren
                                                                  19. Jahrhundert, noch vor Friedrich Ratzel, die Geographie
Arbeiten eingehend mit Henri Bergson, bezieht aber gleich-
                                                                  als (materialistische) Erdwissenschaft verstand. Erst die Ein-
zeitig auch Alfred North Whitehead (1979 [1929]) ein. Auch
                                                                  führung des Raumparadigmas durch Friedrich Ratzel selbst,
hier handelt es sich also um eine entangled theory, welche
                                                                  zum Beispiel in der „Anthropogeographie“, Kapitel 11 (Rat-
die Anregungen aus der French Theory mit eigenen Denksti-
                                                                  zel, 1921 [1882]:148–164), in der „Politischen Geographie“
len verflicht, besonders aus dem Feld der analytischen Phi-
                                                                  (Ratzel, 1923 [1987]:249–343) oder im nachträglich heraus-
losophie, dem u. a. auch Bertrand Russell zuzurechnen ist
                                                                  gegebenen „Raum und Zeit in der Geographie und Geolo-
(vgl. Akehurst, 2010).
                                                                  gie“ (Ratzel, 1907), hat zu einer philosophischen Weitung
   Eine Auseinandersetzung mit einer solchen British Theo-
                                                                  der Geographie geführt. Der primitiv-positivistische Ansatz
ry beschäftigt sich, viel mehr als die French und German
                                                                  des Dritten Reichs und dessen kurzsschlussartige Synthe-
Theory, auch eingehender mit dem sozialtheoretischen Mi-
                                                                  se von Boden, Volk und Raum, welche fatalerweise schon
lieu, neben dem geistesgeschichtlichen. Dies hat, wie oben
                                                                  von Ratzel in Teilen vorgedacht wurde (vgl. Klinke, 2022;
erwähnt, vor allem Raymond Williams in grosser Ausführ-
                                                                  Schultz, 1998), hat dann jedoch jegliche theoretische Debat-
lichkeit getan, der auch ein prägender Autor der New Cul-
                                                                  te innerhalb der deutschsprachigen Geographie zum Einsturz
tural Geography war (Mitchell, 2000; Horton und Kraftl,
                                                                  gebracht.
2014), was wiederum den meisten Mitgliedern der deutsch-
                                                                     Nach dem Krieg, der totalen Niederlage und dem intel-
sprachigen „Neuen Kulturgeographie“ entgangen ist. Beson-
                                                                  lektuellen Ruin weiter Teile der deutschen Hochschulgeo-
ders interessant ist in diesem Zusammenhang, dass die Bri-
                                                                  graphie (trotz des anderslautenden Verdikts von Carl Troll)
tish Theory, im Gegensatz zur kontinentalen, sich vor allem
                                                                  wurde theoretisches Arbeiten erst wieder über einen szien-
mit Fragen des Materialismus, Empirismus und der Mathe-
                                                                  tistischen Ansatz möglich, welcher aus dem englischsprachi-
matik auseinandersetzt und dabei nicht den französischen
                                                                  gen Diskurs rückimportiert werden musste (Bartels, 1968;
Strukturalismus zum Vorbild nimmt, sondern klassische Au-
                                                                  Sedlacek, 1982). Markantestes Beispiel dafür ist sicher die
toren des Empirimus (Locke, Hume, Hobbes) und dann vor
                                                                  Zentrale-Orte-Theorie Walter Christallers. Auch im Folgen-
allem A. N. Whitehead. Aus dieser Tradition wird auch der
                                                                  den wurden fast alle theoretisch gewandeten Ansätze in der
neu-materialistische Ansatz in der British Theory verständ-
                                                                  deutschsprachigen Geographie zunächst über den englisch-
lich, dem v. a. in den Debatten um das Anthropozän (Ca-
                                                                  sprachigen Diskurs zurückgeholt, wie die Triade von quanti-
stree, 2017) und die Non-representational Theory (Lorimer,
                                                                  tativer, marxistischer und humanistischer Geographie in den
2008) eine besondere Rolle zukommt3 . Fast könnte man sa-
                                                                  pologie (z. B. Plessner, 1980 [1928]; Scheler, 2016 [1928]),
   3 Hier ergeben sich wiederum neue Anknüpfungspunkte an         die hier jedoch nicht näher ausgeführt werden können.
die „Theoretische Biologie“ (von Uexküll, 1920) und die mit
ihr verbundenen Überlegungen zur Philosophischen Anthro-

https://doi.org/10.5194/gh-77-85-2022                                                          Geogr. Helv., 77, 85–96, 2022
90                                                                              B. Korf et al.: Tauchgänge zur German Theory

1960er und 1970er Jahren zeigt. Dem traditionellen deutsch-         aus dem Feld der Bewusstseinskonzepte. Im material turn
sprachigen Diskurs der Geographie dagegen blieb das „nicht-         nun hat der Begriff mind seinen Platz über die Tradition
theoretische“ Feld eines traditionalistischen Konventionalis-       G. H. Meads (1973 [1934]), Whiteheads (1979 [1929]) oder
mus vorbehalten.                                                    Batesons (1985 [1971]) gefunden, und so führt dieser Import
   In der Weimarer Republik gab es jedoch eine durchaus             in der deutschsprachigen Geographie (inklusive seiner fran-
lebhafte geisteswissenschaftliche Debatte in der Geographie,        zösischen Grundlagen à la Bruno Latour) dazu, dass die wei-
welche in stillerer Form auch in Fragmenten durch die Zeiten        tergehende deutsche Konnotation von „Geist“ inkompatibel
des nationalsozialistischen Regimes hindurchgerettet wur-           mit einer Rematerialisierung der Humangeographie (Kazig
de (Sahr und Arantes, 2012). Dies wurde jedoch von den              und Weichhart, 2009) erschien.
Nachkriegsgeographen und den ganz wenigen Geographin-                  Stattdessen scheint derzeit eher das Gespenst eines anti-
nen rundweg ignoriert, ja, vielleicht waren diese Debatten-         humanistischen Affekts die Rezeptionsdynamik in der Hu-
kontexte nicht einmal bekannt. Die Situation ähnelt also            mangeographie zu bestimmen. Sicher kann dies zunächst
durchaus dem oben erwähnten Verhältnis der französischen            auf eine anti-humanistische Lesart Foucaults aus seiner mitt-
Geographinnen und Geographen zum Poststrukturalismus in             leren Phase zurückgeführt werden, so vor allem auf sein
den 1970er und 1980er Jahren. Die Einbeziehung der An-              berühmtes Schlussdiktum aus „Die Ordnung der Dinge“:
gewandten Geographie schliesslich führte nach Wardenga et           „[. . . ] der Mensch verschwindet wie am Meeresufer ein Ge-
al. (2011) in den 1980er Jahren zur Präferenz der Fachver-          sicht im Sand“ (Foucault, 1971:462), welches für die Grün-
bände für eine szientistisch und pragmatisch orientierte So-        dungsphase der Neuen Kulturgeographie stilbildend war
cial Theory (z. B. in der Regional Science, vgl. auch Wirth,        (vgl. z. B. Gebhardt et al., 2003:15; Sahr, 2003b; Glasze und
1979), welche in den Diplomstudiengängen explizit ange-             Mattissek, 2009:28; kritisch dazu: Hannah, 2010). Anderer-
wandt wurde.                                                        seits wird dieser anti-humanistische Affekt auch im Denkstil
   Auch in der seit der Jahrtausendwende stattfindenden Re-         des material turn, more-than-human und posthuman geogra-
zeption des cultural turn wurden die Geisteswissenschaften          phies fortgesetzt (vgl. Schurr und Strüver, 2016).
wieder vorschnell ignoriert, weil die Debatte hier über den            Eine solche post-humanistische, materialistische Lesart
Import der French Theory, ausgeborgt von der anglophonen            von Subjektivität und Bewusstsein, wie sie in der anglopho-
Geographie, geführt wurde (vgl. Korf, 2021). Hermeneuti-            nen Geographie weit verbreitet ist, entwickelte sich insbe-
sche Ansätze dagegen schienen out of date zu sein und fristen       sondere im Umkreis von Steve Pile und Nigel Thrift (1995)
bis heute in der Humangeographie ein Schattendasein, aus-           in engem Austausch mit den Neurowissenschaften. So be-
genommen einige vereinzelte Interpretationsansätze von Bir-         treibt die non-representational theory eine Art „Neuro-
kenhauer (1987), Pohl (1986) und Tzschaschel (1986), wel-           Kulturgeographie“ (Korf, 2012). Diese erklärte nicht nur dis-
che selbst kurioserweise die Humanistic Geography impor-            kurstheoretische Ansätze schon vor einiger Zeit für „tot“
tierten. Erst der etwas differenziertere Blick auf die Pluralität   (Thrift und Dewsbury, 2000; Lorimer, 2008), sondern ver-
„epistemologischer Inseln“ (Sahr, 2003a) und die dezidier-          zichtete auch auf eine Auseinandersetzung mit der Bewusst-
ten Versuche zur Inkorporierung hermeneutischer Traditio-           seinsphilosophie (Husserl) und mit der Philosophischen An-
nen durch Rothfuß (2009), Verne (2012) oder Zahnen (2015)           thropologie (Dörfler und Rothfuß, 2018).
eigneten sich deutschsprachige Geistesgeschichte explizit an.          Dadurch ist eine wichtige Einsicht der Lehre der Bewußt-
Beide Rezeptionsdynamiken, der Szientismus und die Angli-           seinsphilosophie seit Hegel (1970/86 [1807]) sowie jene der
fizierung, verhinderten jedoch, so zumindest unser Eindruck,        Phänomenologie seit Husserl (1976 [1936]) verloren gegan-
eine grundlegendere Auseinandersetzung mit den Geistes-             gen. Beide haben auf ihre je spezifische (und unterschied-
wissenschaften und blockierten einen nachhaltigen Einzug in         liche) Weise darzulegen versucht, daß einzig und allein der
humangeographisches Denken und Forschen.                            Mensch ein Bewußtsein über sich, andere und die Natur
                                                                    ausbilden könne, was als rein menschliche Fähigkeit begrif-
                                                                    fen werden müsse. Welt sei subjektive Verarbeitung objek-
6    Körper, Bewusstsein und Geist                                  tiver Zusammenhänge: Diese Idee ist schon bei Fichte an-
                                                                    gedacht, wird bei Hegel in das Selbstbewußtsein übersetzt
In der jüngeren Theoriedebatte hat der material turn dazu ge-       und nimmt von hier aus seinen Weg als einzigartige reflexive
führt, dass das, was in den klassischen Geisteswissenschaf-         Aufmerksamkeitsstruktur des Menschen auf sich selbst und
ten als Geist bezeichnet wurde, als inkompatibel mit der            seine „Stellung im Kosmos“ (Scheler, 2016 [1928]).
neuesten Theoriediskussion angesehen wird. „Geist“ wird,               Zugleich sei auch erwähnt, dass in der philosophischen
wie oben erwähnt, mit Hegel in Verbindung gebracht. Hier            Anthropologie von Helmuth Plessner die Bewußtseinsphilo-
jedoch taucht – ähnlich wie beim Leib/Körper-Problem –              sophie von Husserl durchaus kritisch betrachtet wird. Pless-
zum Englischen ein Übersetzungsgraben auf. Denn das, was            ner charakterisiert zwar Bewußtsein nicht nur als die we-
deutsch als „Geist“ verstanden wird, teilt sich im Engli-           sentliche Eigenschaft des Menschen, sondern als Grundla-
schen in zwei Begriffe auf: in spirit (eine eher noch reli-         ge menschlichen Seins per se; er ist sich aber gewahr, nicht
giös beeinflusste Konnotation) und in mind, ein Terminus            das körperliche Sein des Menschen idealistisch zu negie-

Geogr. Helv., 77, 85–96, 2022                                                           https://doi.org/10.5194/gh-77-85-2022
B. Korf et al.: Tauchgänge zur German Theory                                                                                 91

ren, wie er dies bei Husserl am Werk sieht. Die menschli-         ges Canguilhem, 1979) mit ihrer Forderung einer sozialen
che Existenz entzieht sich einer rein bewußtseinsimmanenten       Einbettung der Wissenschaft und ihrer Diskurse einen ganz
Betrachtung, ebenso wie einer objektivierenden Sichtweise.        anderen Weg einschlug als die wissenschaftstheoretisch-
In der „exzentrischen Positionalität“ wird die alleinige Fä-      methodischen Überlegungen des in Deutschland dominieren-
higkeit des Menschen real, Ich zu sich sagen zu können. Der       den Neukantianismus, der sich auf methodologische Wahr-
Mensch als einzige Lebensform ist eine Person (Plessner,          nehmungsfragen konzentrierte, so z. B. bei Nicolai Hartmann
1980 [1928]; Lindemann, 2011).                                    und Hermann Cohen. Diese neukantianischen Debatten kon-
   Der österreichische Philosoph Alfred Schütz wiederum           trastierten mit den damals noch geläufigen monistischen An-
zieht aus Husserls Wesenhaftigkeit der Dinge die Konse-           sätzen, z. B. des Leipziger „Positivistenkränzchens“, dem
quenz, dass es eine zwar subjektiv erfahrene, aber objektiv       auch Ratzel angehörte, welche den Neukantianismus, aber
erkennbare soziale Typik des Alltags gäbe, welche es ermög-       auch verschiedene Formen des dialektischen Hegelianismus
liche, die Typisierung der Lebenswelt auch auf andere „Sinn-      ablehnten. Hans Blumenberg sieht diese „deutsche philoso-
provinzen“ wie Wissenschaft, Traum oder Kunst zu übertra-         phische Situation zu Anfang der zwanziger Jahre bestimmt
gen, welche sich durch eine je spezifische, unterschiedlich in-   durch die Viererkonstellation von Neukantianismus, Phäno-
tensive „Gerichtetheit“ des Bewußtseins – sogenannten „Be-        menologie, Lebensphilosophie und Positivismus Prager Her-
wußtseinsgraden“ – auszeichneten (Schütz, 1993 [1932]).           kunft“ (Blumenberg, 2010:22).
Ohne subjektive Gerichtetheit des menschlichen Bewußt-               Der „Materialismus“ war in diesem Diskurs immer schon
seins gäbe es folglich kein objektives Wissen von der Welt.       konstitutiv und wurde besonders bei geisteswissenschaftli-
Dieses Wissen ist subjektiv-leiblich organisiert, da der Leib     chen Fragen der Hermeneutik und Phänomenologie themati-
Träger solchen Bewußtseins ist.                                   siert. Aus unserer Sicht ist es deshalb bedauerlich, dass wei-
   Der Leib steht also an der Grenzschicht zwischen inne-         te Teile der Humangeographie seit dem cultural turn diese
rem Bewusstsein des minds – ein Gedanke, der sich auch            philosophischen Elemente und Kontroversen der Geistesge-
bei A. N. Whitehead (1979 [1929]) findet – und den empi-          schichte schlicht übersprungen oder ignoriert haben. Denn
rischen Erfahrungen des Bewußtsein in der äußeren Welt.           die Frage nach Körper und Geist als konstitutive Bestand-
Somit ist der Leib keine abgetrennte „kognitive Zentrale“         teile des Leibes war ein zentrales Feld dieser Auseinander-
des Menschen, wie dies der Cartesianismus nahegelegt hat,         setzungen, die auch heute noch in den Debatten einer post-
sondern ein „Zwischenraum“. Es kann so kein „abstraktes“          humanistischen Geographie anklingen.
und „diskursives“ vom Subjekt losgelöstes Wissen (von) der           Unser Eindruck ist, dass die diskurstheoretische Fokussie-
Welt geben, da alle Wissensformen in Subjekten gründen,           rung, welche die Anfangsphase der Neuen Kulturgeographie
die diese erst erkannt und „verarbeitet“ haben (vgl. Dörfler      stark geprägt hatte, zunächst den Materialismus ausblendete
und Rothfuß, 2021). Die englischsprachige Nähe von mind           („there is nothing outside the text“) und dann auch nur sehr
zu Bewusstein könnte hier eigentlich eine Brücke schlagen         wenig mit einer Leibtheorie anfangen konnte („Tod des Sub-
zu den leibtheoretischen Erwägungen, die in der neueren           jekts“; vgl. auch Dörfler und Rothfuß, 2013). Mit der „Wie-
deutschsprachigen Philosophie wieder zum Tragen kommen            derentdeckung“ des „Materialismus“ (Kazig und Weichhart,
(z. B. Böhme, 2019; Schmitz, 2007). In der deutschsprachi-        2009) – nun in avantgardistischem Duktus des new mate-
gen Geographie ist dies jedoch wegen der Anglozentrik noch        rialism – folgte ein Ausschlag in die andere Richtung: Die
nicht der Fall (bis auf wenige Ausnahmen: z. B. Runkel,           Rezeption – wieder über die anglophone Geographie – führ-
2018).                                                            te nun dazu, dass erneut eine engere Auseinandersetzung
   Leib als körperlichen Geist zu verstehen, ist dabei die        mit der Leib- und Bewußtseinsphilosophie ausblieb. Um die-
große Herausforderung. Die Leibphilosophie beruft sich da-        ses Versäumnis aufzuarbeiten, legt dieses Themenheft einen
für v. a. auf Arbeiten aus der Philosophischen Anthropo-          Schwerpunkt auf die Aufarbeitung dieser Denktradition.
logie (Scheler, Gehlen, Plessner) und der Phänomenolo-
gie (Husserl, Schütz, später Waldenfels) sowie der Neophä-
nomenologie (Schmitz, 2007; vgl. auch Gugutzer, 2017).            7   Transzendierung durch Theologie?
Auch wenn diese leibtheoretischen Arbeiten verschiedent-
lich in der deutschsprachigen Geographie diskutiert wurden        Genauso wichtig wie die Wiederbelebung der
(vgl. dazu: Dickel und Keßler, 2019; Dörfler und Rothfuß,         hermeneutisch-phänomenologischen Debatte erscheint
2018, 2021; Ernste, 2004; Hasse, 2014; Korf, 2012; Mar-           uns eine neue Interpretation des Denkens der „Frankfurter
quardt, 2015), wurden sie in der Diskussion zum material          Schule“. Hier hat die Geographische Zeitschrift gerade
turn nur randständig beachtet.                                    ein eigenes Themenheft zur „Geographie mit Adorno“
   Bis heute ist es nicht gelungen, dieses Diskurstableau der     (Belina und Reuber, 2021) vorgelegt. Darin (und anderswo)
1900–1930er Jahre epistemologisch-historisch ausreichend          liest Chris Philo (2017, 2021) Adorno als Inspiration für
zu rekonstruieren. Diese phänomenologischen Ansätze ent-          mikrologische Untersuchungen einer „Geographie des
standen zu einer Zeit, als die französischspachige Episte-        Kleinen“. Bernd Belina (2020) wiederum hat besonders den
mologie (z. B. Gaston Bachelard, 1987 [1938] und Geor-            Historischen Materialismus im Denken Adornos und Hork-

https://doi.org/10.5194/gh-77-85-2022                                                          Geogr. Helv., 77, 85–96, 2022
92                                                                                B. Korf et al.: Tauchgänge zur German Theory

heimers betont und als vornehmliches Deutungsangebot                    Die heftigen Kontroversen, die das theologisch grundier-
unterbreitet. Doch hat die „Frankfurter Schule“ insgesamt            te Vokabular bei Adorno und Horkheimer, Benjamin, auch
weder in der anglophonen noch in der deutschsprachigen               Kracauer (1979)5 und Ernst Bloch (1985) in „Das Prin-
Geographie eine grosse Resonanz gefunden. Besonders in               zip Hoffnung“6 unter linken Theoretikerinnen und Theore-
Hinsicht auf den für die Frankfurter Schule zentralen Begriff        tikern in der Bundesrepublik Deutschland in den 1960 und
der Totalität, sei es als über allem stehenden Gesetz, sei es        1970er Jahren ausgelöst hat, sollten zumindest nicht leicht-
als die Vernunft übersteigende Sphäre der Göttlichkeit, gibt         fertig übergangen werden, ebenso wenig wie die vielfältigen
es wenig Überlegungen.                                               Diskussionen im Umkreis von Jacob Taubes, die sich mit re-
   Vielleicht liegt diese zögerliche Rezeption daran, dass Mi-       ligionsphilosophischen Hintergründen auch der Frankfurter
chel Foucault, der in der kritischen Geographie lange eine           Schule (z. B. über ihren vermeintlichen Gnostizismus) aus-
zentrale theoretische Bezugsperson war (und noch ist), sein          einandersetzen. Taubes ist auch wegen seiner Auslegungen
ambivalentes Verhältnis zur Frankfurter Schule dahingehend           der Paulus-Briefe ein wichtiger Anknüpfungspunkt jünge-
zum Ausdruck gebracht hat, dass er die Immanenz des Hu-              rer theoretischer Debatten. Von seinen Lektüren aus lassen
manen betonte (Wolf, 2014:207 ff.). Diese Ambivalenz wur-            sich wieder vielfältige Verbindungslinien zurück in die Itali-
de auch von der anderen Seite geteilt: So bezeichnete Jür-           an Theory knüpfen, z. B. zu Giorgio Agamben in Die Zeit,
gen Habermas Foucaults genealogischen Ansatz als „relati-            die bleibt (Agamben, 2006), und erneut spinnt sich ein po-
vistische und kryptonormative Scheinwissenschaft“ (Haber-            lylogisches Netz als entanglements der German Theory, nun
mas, 1985:324). Erst Axel Honneth, dessen Arbeiten ebenso            auch zur French Theory, z. B. zu Alain Badious „Paulus“
wie diejenigen von Rahel Jaeggi in der Geographie verein-            (Badious, 2002), oder auch zu Slavoj Žižek (2000) und des-
zelt aufgegriffen worden sind (z. B. Hannah, 2019; Rothfuß,          sen Relektüren der Pauluslektüren linker Theoretikerinnen
2012; Boamah und Rothfuß 2020), hat eine erneute Annähe-             und Theoretiker.
rung zwischen der Frankfurter Schule und Foucaults genea-               Anscheinend haben diese Autorinnen und Autoren weit
logischem Ansatz möglich gemacht (Honneth, 1985, 2005,               weniger Hemmschwellen, sich eine theologische und religi-
2007). Dies könnte aus unserer Sicht auch Aufforderung für           onsphilosophische Geistesgeschichte für eine dezidiert lin-
eine erneuerte Rezeption der Frankfurter Schule in der Kriti-        ke Theorie anzueignen, als es in der deutschsprachigen oder
schen Geographie sein.                                               anglophonen Humangeographie üblich ist, wo diese Theo-
   Während der säkuläre sozialwissenschaftliche Diskurs oft          retiker sehr wohl rezipiert werden, deren religionsphiloso-
im dialektischen Materialismus stecken bleibt, wird der tran-        phische Aneignungspraxis aber nicht weiter vertieft oder
szendentale Aspekt der Debatte ausgeblendet, weil er zu sehr         gegengelesen wird. Gleiches gilt auch für die Aneignung
„stört“, vielleicht auch belastet. Die religionsphilosophische       des Denkens Carl Schmitts, dessen theologische Grundie-
Grundierung der Kritischen Theorie wird deshalb kaum re-             rung (und gnostizistische Denkweise, die auch seinen tief-
flektiert, noch deren theologisches Umfeld4 . In seinen ge-          sitzenden Antisemitismus begründet) kaum berücksichtigt
schichtsphilosophischen Thesen bezeichnet Walter Benjamin            wird, wenn sein – politisch höchst problematisches – Den-
den „historischen Materialismus“ mit dem Bild einer „Puppe           ken für linke Theorie fruchtbar gemacht wird (Korf und Ro-
in türkischer Tracht“. Ein unsichtbarerer „buckliger Zwerg“          wan, 2020). Diese fehlende „Musikalität“ für religionsphi-
lenke „die Puppe an Schnüren“. Der Zwerg ist hier die Theo-          losophische Resonanzräume in diesen Theoriedebatten mag
logie, „die heute bekanntlich klein und hässlich ist“ (Ben-          mit einer Marginalisierung der Religionsgeographie im Fach
jamin, 1977:251). Doch sollten wir den Zwerg nicht un-               zusammenhängen (vgl. hierzu Henkel, 2011; Korf, 2018),
terschätzen, lenkt dieser doch die Puppe (den Historischen           die jedoch dringend hinterfragt werden sollte. Dann eröff-
Materialismus). Zugleich gibt es hinreichende Indizien, dass         nen sich auch bei der Lektüre der Frankfurter Schule neue
auch Adorno und Horkheimer auf theologische Figurationen             Perspektiven einer entangled theory.
zurückgegriffen haben, um ihrer Hoffnung auf Utopie und
vielleicht sogar Erlösung Ausdruck zu verleihen (vgl. Brum-
                                                                     8   Have Fun
lik, 2014:103 ff.; Nagl-Docekal, 2020). So formulierten sie
in der Dialektik der Aufklärung: „Nicht um die Konservie-
                                                                     Die Leerstellen, welche wir in diesem Themenheft um- und
rung der Vergangenheit, sondern um die Einlösung der ver-
                                                                     beschreiben, liegen wie Wrackteile versunkener Schiffe am
gangenen Hoffnung ist es zu tun“ (Horkheimer und Adorno,
                                                                     Meeresgrund in den Sedimenten kontinentaler Geistestradi-
1971 [1969]:4).
                                                                     tionen. Leerstellen sind immer kontingent, das heisst, die Er-
                                                                     innerung an sie verändert sich ständig und verändert auch die
    4 Zum Umfeld der Kritischen Theorie gehört v. a. die Theolo-
                                                                         5 Eine besonders interessante Studie von Kracauer ist „Der
gie von Paul Tillich, die auf dem Entfremdungsgedanken zwischen
dem Zeitlichen und Ewigen beruhte, und die sogenannte „Dialek-       Detektiv-Roman. Ein philosophisches Traktat“ (Kracauer, 1979),
tische Theologie“ Karl Barths, welche – ohne direkten Bezug zur      der voller religiöser und geographischer Anspielungen ist.
Frankfurter Schule – einer Theologie des Wortes Gottes die Krisen-      6 Ernst Bloch stellt sogar einen direkten Zusammenhang zwi-
phänomene der Moderne gegenüberstellte.                              schen geographischen und religiösen Utopien her.

Geogr. Helv., 77, 85–96, 2022                                                             https://doi.org/10.5194/gh-77-85-2022
B. Korf et al.: Tauchgänge zur German Theory                                                                                           93

Traditionen selbst. In der Geschichte des Faches sind deshalb         Literatur
Rezeptionsdynamiken und das Vergessen auch umkehrbar,
so dass Schiffwracks mitunter auch wieder geborgen und re-            Aalbers, M. B. und Rossi, U.: A coming community: young
stauriert werden können, ja manchmal gelingt es sogar, da-              geographers coping with multi-tier spaces of academic pu-
                                                                        blishing across Europe, Soc. Cult. Geogr., 8, 233–302, htt-
bei auch versunkene Schätze zu heben. Taktiken der Pro-
                                                                        ps://doi.org/10.1080/14649360701360220, 2007.
vinzialisierung sind dann nichts anderes als Tauchgänge zu
                                                                      Agamben, G.: Die Zeit, die bleibt: Ein Kommentar zum Römer-
geistesgeschichtlichen Grundlagen, in diesem Fall zur Ger-              brief, Suhrkamp, Frankfurt am Main, ISBN 978-3-518-12453-6,
man Theory. Sie öffnen Möglichkeitsräume der entangled                  2006.
theory, in denen die Wrackteile archäologisch freigelegt, ge-         Akehurst, T. L.: The Cultural Politics of Analytic Philosophy:
borgen, restauriert, renoviert und neu in Wert gesetzt wer-             Britishness and the Spectre of Europe, Contiuum, London,
den. Dazu versteht sich unser Editorial als Ermunterung und             ISBN 978-1-441-12657-3, 2010.
Einladung. Theoriearbeit zu provinzialisieren bedeutet hier,          Bachelard, G.: Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag
einen interkonnektiven und horizontalen Provinzialismus zu              zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis, Suhrkamp,
entwickeln, in der Erwartung gegenseitiger Bereicherung.                Frankfurt, ISBN 978-3-518-28268-7, 1987 [1938].
Die Früchte dieses Themenheftes zur German Theory stellen             Badiou, A.: Paulus. Die Begründung des Universalismus, Diapha-
                                                                        nes, Zürich, ISBN 978-3-935-30048-3, 2002.
deshalb ein konstruktives Angebot dar, Theorie in der Hu-
                                                                      Badiou, A. und Nancy, J.-L.: Deutsche Philosophie: Ein Dialog,
mangeographie dialogisch zu befruchten. So kann entangled
                                                                        Matthes & Seitz, Berlin, ISBN 978-3-957-57350-6, 2017.
theory inspirieren und Spass machen – ganz im Sinne von Ju-           Bajohr, H.: Book Review: Angus Nicholls. Myth and the Human
liet Falls Diktum: „Isn’t the diversity, helped by bridges and          Sciences: Hans Blumenberg’s Theory of Myth, 2015, Ger. Rev.,
go-betweens, rather fun, too?“ (Fall, 2013:58).                         90, 358–361, https://doi.org/10.1080/00168890.2015.1096176,
                                                                        2015.
                                                                      Bartels, D.: Zur wissenschaftstheoretischen Grundlegung einer
Datenverfügbarkeit. Für diesen Artikel wurden keine Datensätze          Geographie des Menschen, Steiner, Wiesbaden, ISBN 978-3-
genutzt.                                                                515-00526-5, 1968.
                                                                      Bateson, G.: Ökologie des Geistes. Anthropologische, psycholo-
                                                                        gische, biologische und epistemologische Perspektiven, Suhr-
Autorenmitwirkung. Alle drei Autoren haben gleichwertig an der          kamp, Frankfurt, ISBN 978-3-518-28171-0, 1985 [1971].
Konzeption, der Ausarbeitung, Verschriftlichung und Überarbei-        Belina, B.: Die geographischen Grenzen abstrakter Gleichheit, Geo-
tung des Textes mitgewirkt.                                             gr. Helv., 75, 371–380, https://doi.org/10.5194/gh-75-371-2020,
                                                                        2020.
                                                                      Belina, B. und Reuber, P.: Geographie mit Adorno: Editorial zum
Interessenkonflikt. Die Autor*innen erklären, dass kein Interes-        Themenheft, Geogr. Z., 109, 67–72, 2021.
senkonflikt besteht.                                                  Benjamin, W.: Illuminationen: Ausgewählte Schriften, Suhrkamp,
                                                                        Frankfurt am Main, ISBN 978-3-518-36845-9, 1977.
                                                                      Best, U.: The invented periphery: constructing Europe in debates
                                                                        about „Anglo hegemony“ in geography, Soc. Geogr., 4, 83–91,
Haftungsausschluss. Anmerkung des Verlags: Copernicus Pu-
                                                                        https://doi.org/10.5194/sg-4-83-2009, 2009.
blications bleibt in Bezug auf gerichtliche Ansprüche in veröffent-
                                                                      Birkenhauer, J.: Hermeneutik: Ein legitimer wissenschaftlicher An-
lichten Karten und institutionellen Zugehörigkeiten neutral.
                                                                        satz in der Geographie?, Geogr. Z., 75, 111–121, 1987.
                                                                      Bloch, E.: Das Prinzip Hoffnung, 3 Bde., Suhrkamp, Frankfurt
                                                                        am Main, ISBN 978-3-518-28154-3, 1985.
Danksagung. Wir danken allen Kolleginnen und Kollegen, die            Blumenberg, H.: Theorie der Lebenswelt, Suhrkamp, Berlin,
sich am Zürichsee und in Würzburg zu Gesprächskreisen zusam-            ISBN 978-3-518-58540-5, 2010.
mengefunden haben und sich mit uns German Theory durch viel-          Boamah, F. und Rothfuß, E.: Practical recognition as a suitable pa-
fältige Lektüren und Diskussionen angeeignet haben: Tobias Boos,        thway for researching just energy futures: Seeing like a modern
Jos de Mul, Mirca Dickel, Peter Dirksmeier, Thomas Dörfler, Pas-        electricity user in Ghana, Energ. Res. Social Sci., 60, 1–12, htt-
cal Goeke, Olivier Graefe, Matt Hannah, Holger Jahnke, Nadi-            ps://doi.org/10.1016/j.erss.2019.101324, 2020.
ne Marquard, Johannes Quack, Simon Runkel, Antje Schlottmann,         Böhme, G.: Leib. Die Natur die wir selbst sind, Suhrkamp, Berlin,
Raji Steineck, Julia Verne. Auch danken wir allen Beitragenden          ISBN 978-3-518-29870-1, 2019.
und Mitdiskutierenden auf der Fachsitzung „German Theory“, die        Boos, T. und Runkel, S.: Einführung: Die ungeheuerliche Raum-
wir auf dem Deutschen Kongress für Geographie in Kiel im Ok-            philosophie von Peter Sloterdijk, Geogr. Helv., 73, 261–272, htt-
tober 2019 moderiert haben. Sie haben dazu beigetragen, German          ps://doi.org/10.5194/gh-73-261-2018, 2018.
Theory in einem anderen Diskussionszusammenhang weiterzufüh-          Bourdieu, P.: Die feinen Unterschiede: Kritik der gesellschaftlichen
ren.                                                                    Urteilskraft, Suhrkamp, Frankfurt am Main, ISBN 978-3-518-
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Begutachtung. This paper was edited by Nadine Marquardt and
reviewed by one anonymous referee.

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