Geographizität des Rechts - ein missing link in der geographischen Theoriebildung? - Serval

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Geogr. Helv., 75, 349–361, 2020
https://doi.org/10.5194/gh-75-349-2020
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              Geographizität des Rechts – ein missing link in der
                     geographischen Theoriebildung?
                                                           Mathis Stock
         Institut de Géographie et Durabilité, Université de Lausanne, Quartier Mouline, 1015 Lausanne, Switzerland
                                    Correspondence: Mathis Stock (mathis.stock@unil.ch)

               Received: 25 May 2019 – Revised: 17 July 2020 – Accepted: 14 August 2020 – Published: 23 October 2020

        Kurzfassung. Law is on the one hand indispensable for the constitution of space, and, on the other, legal orders
        emerge or develop in specific local situations. Does the question of the law exist in geographical theories and
        how has it been received? The article raises the issue of a missing link in geographical theorisation: Are the legal
        dimensions of social spatialities sufficiently considered? This text aims at enriching geographical theory forma-
        tion through legal dimensions, especially by translating legal studies’ contributions into geographical questions
        who experience a specific spatial turn. On the one hand, the concept “geographicity of Law” is being developed
        for this purpose. On the other hand, two examples will be used to illustrate how geographical theory can benefit
        from legal dimensions: the right to public space and the issue of urbanness.

1   Einleitung                                                      mente diskursiv aufgearbeitet, verarbeitet, „übersetzt“, wel-
                                                                    che sich dann in Rechtsnormen oder -akten wiederfinden,
Die Geographie stellt sich als forschungsleitende Perspekti-        und somit selbstverstärkende Effekte bekommen. Dabei wer-
ve die Aufgabe, den Prozess der intendierten und nichtinten-        den Vorstellungen von räumlichen Tatsachen in Gesetzestex-
dierten Konstitution von Raum vieler verschiedener Akteure          te eingeschrieben, die dann wiederum Handlungsfolgen aus-
und konfligierender Handlungen in asymmetrischen Macht-             lösen, welche sich auf die Rechtsordnung beziehen.
beziehungen zu untersuchen. Handlungs-, Praxis-, Diskurs-,             Damit ist das „alltägliche Geographie-Machen“ oder die
Strukturations-, Systemtheorien etc. haben in die Geogra-           „Praxis der Weltbindung“ (Werlen, 1996) auch rechtlich re-
phie Eingang gefunden, und die Frage der Arten und Wei-             guliert, z. B. durch Raumkonzepte wie das Territorium. Da-
sen, in denen „Raum“ durch Handlungen, Imaginäres, Re-              bei ist die Frage der Macht zentral, sowohl als Deutungs-
präsentationen und Diskurse konstituiert wird, kann als nun-        hoheit oder hegemonialer Imaginationen der Symbolik von
mehr klassische Frage der Geographie angesehen werden1 .            Orten als auch als Balance zwischen Fremdzwang und in-
Darüber hinaus geht es auch um die Frage der Räumlich-              dividueller Handlungsfreiheit (Elias, 1987). Die Beziehung
keit von Gesellschaften, d. h. die Arten und Weisen, wie Ge-        zwischen Recht und Macht ist jedoch alles andere als tri-
sellschaft in ihren politischen, wirtschaftlichen oder kultu-       vial, da einerseits Macht auf Rechtsordnungen beruht, an-
rellen Eigenschaften durch räumliche Dimensionen konsti-            dererseits sich aber auch Handlungen über geltendes Recht
tuiert wird. Diese doppelte Verweisung von Raum und Ge-             hinwegsetzen. Es gibt seit den 1980er Jahren eine legal geo-
sellschaft kann im Begriff „Geographizität“ aufgehoben wer-         graphy, welche sich spezifisch dem Problemkomplex Raum-
den. In diese Herstellungsprozesse werden sowohl Rechts-            Macht-Politik angenommen hat2 . Es stellt sich jedoch die
normen mit eingewoben als auch permanent räumliche Ele-
                                                                        2 Ich verweise auf den zusammenfassenden Reader von Blomley
    1 Siehe z. B. Harvey (1989), Gregory (1994), Lévy (1994),       et al. (2001) sowie die zentralen Beiträge von Blomley (1994) und
Thrift (1996), Werlen (1995, 1996, 1997), Lippuner (2005),          Delaney (2003). Die jüngere Entwicklung in Richtung eines trans-
Lussault (2007), Redepenning (2006) für unterschiedliche Schwer-    disziplinären Ansatzes findet sich bei Bravermann et al. (2014);
punktsetzungen, die jedoch alle in der sozialwissenschaftlichen     einen Überblick über aktuelle Arbeiten gibt Delaney (2015, 2016,
Theoriebildung verankert sind.                                      2017).

Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
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Frage, ob und inwiefern die in der Geographie entstande-        übersetzt. Andererseits soll das Konzept der „Geographizi-
nen Grundbegriffe und die Theoretisierung der Räumlichkeit      tät des Rechts“ ausgelotet werden. Dies geschieht vor dem
von Menschengesellschaften die rechtliche Komponente auf-       Hintergrund, dass in der Rechtswissenschaft ein spatial turn
greifen. Könnten die rechtlichen Dimensionen ein missing        rezipiert und die räumlichen Dimensionen als unabdingbar
link der geographischen Theoriebildung darstellen? Könn-        für Rechtsprechung und Rechtsinterpretation angenommen
ten geographische Modelle und Grundbegriffe auch rechtlich      werden3 .
fundiert werden? Könnten diese Dimensionen menschlichen            Der Text ist in sechs Teile strukturiert: Erstens wird die
Handelns und Interpretierens in die vorhandenen Theoriean-      legal geography rekonstruiert und in Diskussion mit der
gebote eingearbeitet werden? Diese Fragen sollen hier be-       theoretischen Geographie gebracht. Zweitens stelle ich kurz
handelt werden; sie betreffen spezifisch eine „theoretische     Aspekte des spatial turn in den legal studies dar. Drittens
Geographie“ und nicht allgemein theoretisch fundierte em-       soll ausgelotet werden, inwiefern die Begriffskonstruktion
pirische Studien. In diesem Sinne soll „Theoretische Geo-       „Geographizität des Rechts“ innerhalb einer theoretischen
graphie“ hier nicht weit gefasst werden als „theory-laden ob-   Geographie belastbar ist. Es werden sodann zwei Beispiele,
servation“ (Hanson, 1958) jeglicher empirischer Phänomene,      in denen rechtswissenschaftliche Elemente in geographische
sondern stricto sensu als Produktion von Theorien, Konzep-      Fragestellungen übersetzt werden, entwickelt: das Problem
ten, Modellen.                                                  des öffentlichen Raums als Raum der Freiheit und der Zumu-
   Insbesondere soll es darum gehen, drei Elemente einer        tung und die rechtliche Komponente in Theorien des Städti-
theoretischen Geographie auszuloten. Erstens stellt sich die    schen. Das Fazit geht schließlich thesenhaft auf eine rechts-
Frage, geographische Grundbegriffe als auch rechtlich fun-      theoretisch fundierte geographische Theoriebildung ein.
diert zu konstruieren. Standortprobleme, Grenzziehungen
und Regionalisierungen, Erreichbarkeit, sprachliche Verwei-
                                                                2   Das Projekt der legal geography im Lichte der
sungen auf die biophysische Welt und auf Ortstypen und -
                                                                    theoretischen Geographie
qualitäten sowie räumliche Differenzierungen und Maßstab-
sebenen werden in Form von Rechtsnormen gerahmt. Letz-
                                                                Die legal geography entwickelt sich in den 1980er Jahren
tere stellen damit einen spezifischen Typus von Raumka-
                                                                in der US-amerikanischen und britischen Geographie und
tegorien und -konzepten dar. In der Tat sind Orte, räum-
                                                                reiht sich so in die seit 40 Jahren herrschende geographische
liche Anordnungen und Dispositive, die aus der wissen-
                                                                Forschungsausrichtung einer räumlichen Ordnung von Ge-
schaftlichen Perspektive beobachtet werden, (auch) recht-
                                                                sellschaft ein. Sie wird dabei als Kritische Geographie mit
lich definiert. Damit sind die Standardfragen der Geogra-
                                                                drei Aufgaben verstanden: (1) „identification of the frozen
phie auch der rechtlichen Dimension zugänglich. Zweitens
                                                                politics of legal and spatial representations and an explo-
sollen die vielfältigen geographischen Theorieansätze durch
                                                                ration of its implications“; (2) „demonstration of the soci-
die rechtlichen Dimensionen erweitert werden. Vor allem in
                                                                al construction (. . . ) of these representations“; (3) „a tacti-
Handlungs- oder Praxistheorien ist Recht eine spezifische
                                                                cal analysis of the material conditions under which challen-
Form von Norm: Recht als formalisierte Sozialnorm (Bour-
                                                                ging such dominant representations can be part of a wider
dieu, 1990). Damit könnte auch Anschluss zur Rechtssozio-
                                                                struggle for progressive social change“ (Blomley und Ba-
logie gefunden werden: Bourdieu (1990) spricht in diesem
                                                                kan, 1992:690). Die Ausgangsüberlegung lautet: Raum wird
Zusammenhang vom Spiel mit der Norm, nicht nur blin-
                                                                von gesellschaftlichen Prozessen organisiert, also auch vom
dem Befolgen der Norm: „Même au sein de l’univers par
                                                                Recht. Blomley (1994:51) drückt dies folgendermaßen aus:
excellence de la règle et du règlement, le jeu avec la rè-
                                                                „They seek to reconstruct the law-space nexus so as to ac-
gle fait partie de la règle du jeu“ (Bourdieu, 1990:89). Es
                                                                cord proper recognition to both and to affirm the complex
finden sich in dem breit gestreuten Feld rechtlicher Nor-
                                                                interplay of the two, evaluating the manner in which legal
mierungen – Recht, Gesetz, Rechtsprechung, Verwaltungs-
                                                                practice serves to produce space yet, in turn, is shaped by a
bestimmungen etc. – sowie in den verschiedensten Rechts-
                                                                sociospatial context“ (Blomley, 1994:51, Hervorhebung von
gebieten Aussagen, welche als rechtliche Regeln menschli-
                                                                mir). Deshalb ist einerseits Recht bei der Konstitution von
ches Handeln in räumlicher Hinsicht einrahmen, begleiten,
                                                                Raum unabdingbar, andererseits werden bestimmte Rechts-
sichern. Es könnte für die theoretische Geographie fruchtbar
                                                                normen in ortsabhängigen spezifischen Situationen neu ge-
sein, Menschen als Rechtssubjekte, die von je unterschied-
                                                                neriert oder fortentwickelt. Z. B. wird Recht und Raum durch
lichen Rechtsnormen gestaltete Orte bewohnen und sich da-
                                                                räumliche Repräsentationen – als Wohnung, Straße, öffentli-
mit von einem (auch) rechtlich definierten Ort an den ande-
                                                                cher Raum codiert – verflochten (Blomley, 1994:53). In der
ren bewegen und in ihrer Praxis der Weltbindung rechtlich
                                                                weiteren Entwicklung der legal geography werden drei Fra-
eingeordnet werden, zu konzeptualisieren. Drittens soll Geo-
graphie als wissenschaftliche Untersuchung der gesellschaft-        3 Siehe die Arbeiten von Ford (1999), Zick (2006), Brig-
lichen Räumlichkeit einen Beitrag zu Gesellschaftstheorie       henti (2006), Philippopoulos-Mihalopoulos (2010, 2011), Müller-
leisten können. Dazu werden einerseits rechtswissenschaftli-    Mall (2013), Siehr (2016) sowie Winkler (1999), Dreier (2002),
che Beiträge rezipiert und in geographische Fragestellungen     Cancik (2012).

Geogr. Helv., 75, 349–361, 2020                                                     https://doi.org/10.5194/gh-75-349-2020
M. Stock: Geographizität des Rechts.                                                                                              351

gestellungen nach Blomley et al. (2001) zentral: (1) Räumli-          sich die Frage der Methode einer geographischen Auslegung
che Vorstellungen in Rechtsordnungen, deren Analyse auch              von diversen Rechtsquellen, z. B. von Garcier (2014) für die
Rechtstheorie erneuern könnte; (2) Herstellung von sozialem           Frage des Atommülls reflektiert. Andererseits werden neue
Raum durch Recht, z. B. als Macht oder Diskurs; (3) Analy-            Orte der geographischen Feldarbeit und der Dokumentation
se vom Aufbau der sozialen Welt durch räumlich-rechtliche             erschlossen: Bennett and Layard (2015) sowie Klosterkamp
Perspektiven. Mit dem Insistieren auf Repräsentationen und            und Reuber (2017) arbeiten mit dem Gerichtssaal als Ort der
Diskurs begleitet die legal geography die Entwicklung einer           Datengewinnung.
new cultural geography; mit der rechtlichen Fundierung von               Damit haben die Arbeiten der legal geography durchaus
Macht trägt sie zur Erneuerung der politischen Geographie             das Potential, in geographische Theorien eingebunden zu
bei.                                                                  werden. Jedoch ist dieses Potential m. E. für eine theoreti-
    Das Verhältnis von Recht und Raum wird dabei als dia-             sche Geographie zu wenig ausgeschöpft. Diese Einschätzung
lektisch oder dialogisch gesehen; einerseits sind räumliche           ist nur dann belastbar, wenn „theoretische Geographie“ prä-
Anordnungen auch rechtlich definiert, andererseits ist die            zisiert wird und nicht als „allgemeine Geographie“, „theory-
rechtliche Ordnung auch räumlich konstituiert: „Spatial or-           laden observation“ (Hanson, 1958) oder Import von Theo-
derings are simoulteanously legal orderings, and vice versa           rien in die Geographie missverstanden wird. Dabei gehe ich
(. . . ). Both spatial and legal categories are mutually depen-       von einem Begriff der theoretischen Geographie aus, der ver-
dent“ (Blomley, 2003:29). Vor allem die Analyse der räumli-           schiedene Modellierungs-, Konzeptualisierungs- und Theo-
chen Kategorien als auch rechtlich definiert ist dabei wichtig.       rieansätze in allen Bereichen der sozialwissenschaftlichen
Diese Dialektik wird von Delaney (2003) prägnant in zwei              Geographie umfasst – und zwar in ihren vier Hauptbereichen
Analysemöglichkeiten synthetisiert: Produktion des Raums              Kultur-, Sozial-, Wirtschafts- und Politischer Geographie4 .
durch Recht (Law-in-Space) und die räumlichen Kategorien              Es soll sich dezidiert nicht nur um Import von Sozialtheorien
des Rechts (Space-in-Law). Die legal geography hat mit der            in die Geographie, die dann für die Analyse von „Raum“ be-
Entwicklung der theoretischen Geographie insofern Schritt             nutzt werden, sondern mithin um einen geographischen Bei-
gehalten, als die ersten Formulierungen von z. B. „Raum und           trag zu Gesellschaftstheorien und sozialwissenschaftlichen
Recht“, „Recht im Raum“ oder „Recht und sozialer Raum“ –              Grundbegriffen handeln. Auf die Frage des Rechts gewen-
die man als problematische Gegenüberstellung zweier Blö-              det, bedeutet dies z. B. die Theoretisierung der Räumlich-
cke kritisieren kann – Formulierungen von „Räumlichkeit“              keit von Staatsmacht, z. B. als „spaces of benevolent aban-
gewichen sind. In der Tat ist Recht nicht in Räumen ent-              donment“ (Hannah, 2014:791) durch verfassungsrechtliche
halten, sondern ist konstitutiv für gesellschaftliche Räum-           Setzungen, als „Ausnahmezustand“ (Korf, 2009) oder als
lichkeiten: „The ,legal‘ is not simply poured into preexis-           Macht des Illegalen (Maccaglia, 2009), über die klassische
ting ,spaces‘ but, rather, is constitutive of spatialities, spatial   Frage der Territorialität hinaus. Das Problem der spatial ju-
relationships, spatial performances, and experiences, as the-         stice könnte dann nicht nur als ethisches, sondern auch als
se, in turn, condition the lived character of the legal“ (Dela-       rechtliches Problem angegangen werden, das in eine Theo-
ney, 2014:239–240). D. h. Raum ist kein Container, in den             rie der Gerechtigkeit eingearbeitet wird: „One possible way
man Recht hineinfüllen könnte, sondern Rechtsordnungen                to square such conflicts is to integrate the right to the ci-
sind eingewoben in räumliche Bezüge, welche Individuen,               ty into a general theory of social justice or substantive de-
Kollektive, Organisationen etc. herstellen. Delaney (2003)            mocracy“ (Attoh, 2011:678). Individuelle Mobilität ist eben-
z. B. definiert als Herzstück der legal geography „the way            falls aus der Sicht des Rechts eine rechtlich fundierte Akti-
in which situated legal practices (. . . ) contribute to the spa-     vität: Cresswells (2006:735) Frage, „how particular modes
tialities of social life“ (Delaney, 2003:68). Dies bedeutet,          of mobility are enabled, given licence, encouraged and fa-
dass Rechtsordnungen als soziale Praxis verstanden werden             cilitated while others are, conversely, forbidden, regulated,
können, welche ortsabhängig fortentwickelt wird und gesell-           policed and prevented“, ruft geradezu nach der Analyse von
schaftliche Räumlichkeiten rahmt. Damit gilt es, die Räum-            rechtlich differenzierten Mobilitäten und einer Theorie von
lichkeit des sozialen Lebens, aber auch räumliche Metaphern           Mobilität, in der die rechtlichen Dimensionen vorkommen.
im rechtlichen Diskurs aufzudecken (Delaney, 2003). Dies              Einerseits z. B. als hoch differenziertes „globales Mobili-
führt dazu, auch die symbolischen und diskursiven Dimen-              tätsregime“ (Shamir, 2005), das z. B. zwischen Migration
sionen des Rechts mitzudenken und nicht nur den (positivis-           und Tourismus unterscheidet, andererseits von Mobilität als
tischen) Normgedanken aufzunehmen (Mélé, 2009). Im Pro-               „rights-based activity“ (Prytherch, 2012:301).
zess der Symmetrisierung von Akteuren, die geographisches                Wenn man einerseits die Konsequenzen aus den Impul-
Wissen im Alltag produzieren, eröffnet dies auch inter- und           sen des spatial turn (Soja, 1989; Lévy, 1999) – und der
transdisziplinäre Perspektiven zur Frage der rechtlichen und          Kritik des „spatial trap“ und der Reifizierung (Smith und
räumlichen Kategorien, z. B. „How do lawyers and geogra-
phers engage with notions of jurisdiction and scale?“ (Ben-              4 Siehe als Beispiele für theoretische Geographie die Arbeiten
nett and Layard, 2015:410). Ebenfalls werden auf der Ebe-             von Harvey (1989), Lévy (1994), Thrift (1996), Werlen (1995,
ne der Methodologie neue Wege beschritten: Einerseits stellt          1997), Berque (2000), Lussault (2007).

https://doi.org/10.5194/gh-75-349-2020                                                            Geogr. Helv., 75, 349–361, 2020
352                                                                                         M. Stock: Geographizität des Rechts.

Katz, 1993; Lossau und Lippuner, 2004) – im Sinne einer                   rechtliche Gebiete mit rechtlichen Gebieten: Forst-
Integration von räumlichen Dimensionen in Gesellschafts-                  wege, Wirtschaftswege, Bringungswege; Gehwe-
theorie zieht und anderseits einen Theoriebegriff verwendet,              ge, Gassen, Gemeindewege, Landesstraßen, Bun-
der nicht nur auf das Handhaben schon vorhandener, son-                   desstraßen, Autobahnen und Fernstraßen; Straßen-
dern auch auf die Generierung von spezifischen Konzepten                  bahnwege, Seilbahnwege, Eisenbahnwege, Was-
und Konzeptarrangements für Gesellschaftstheorien abstellt,               serwege, Flugwege und Nachrichtenwege. Das gilt
wird die Positionierung einer theoretischen Geographie ver-               sogar für Wanderwege und Skipisten. Die recht-
ständlich. Und zwar ganz im Sinne Masseys (1999:7): „Our                  lichen Wege von rechtlichen Orten zu rechtlichen
argument is that working these theories in an explicitly geo-             Orten, von rechtlichen Gebieten in rechtliche Ge-
graphical fashion may radically reconfigure fields which pre-             biete von geringerer oder größerer Ausdehnung er-
viously had been thought without that dimension“. Ziel ei-                möglichen dem Menschen rechtliche Bewegung
ner theoretischen Geographie wäre es demnach, räumliche                   und Kommunikation mit anderen Menschen, zur
Konzepte in Gesellschaftstheorien einzuarbeiten. Damit wür-               Entfaltung seiner kulturell-sozialen Existenz in der
de sie sich in einen Dialog mit den anderen Disziplinen der               Rechtsgemeinschaft eines Staates, in den Staaten-
Sozialwissenschaften begeben, in dem sich die Geographie                  gemeinschaften und in der Völkergemeinschaft“
nicht mehr nur in der Nehmerposition befindet. Theoretische               (Winkler, 1999:50).
Geographie als Element von Gesellschaftstheorie kann dann
nicht mehr nur Import einer weiteren theoretischen Ressour-             Es sei dahingestellt, ob sich konzeptionell ein so genann-
ce in die allgemeine Geographie bedeuten, der die letzten            ter „rechtlicher Raum“ in angemessener Weise synthetisie-
40 Jahre der sozialwissenschaftlichen Geographie bestimmt            ren lässt. Es bedeutet jedoch aus geographischem Blickwin-
hat. Sondern sie könnte als spezifischen Beitrag der räumli-         kel, dass Menschen als mobile (Rechts-)Subjekte von je un-
chen Dimensionen zu Gesellschaftstheorien positioniert wer-          terschiedlichen Rechtsnormen gestaltete Orte bewohnen und
den. Dieser Text wird von der Idee einer theoretischen Geo-          sich damit von einem (auch) rechtlich definierten Ort an
graphie, die räumliche Dimensionen in Gesellschaftstheori-           den anderen bewegen. Die Grundbegriffgestaltung der Geo-
en fruchtbar macht, geleitet. Dies erscheint vor dem Hinter-         graphie könnte diese Dimension berücksichtigen. Müller-
grund eines spatial turn der Sozial- und Geisteswissenschaf-         Mall (2013:62) plädiert ebenfalls für einen „legal space“, in
ten, und neuerdings auch in der Rechtstheorie, plausibel.            dem das Recht räumlich gesehen wird: „The concept of le-
                                                                     gal space could thus be meaningful for legal science beyond
                                                                     a simple reference frame to a political-geographical point
3   Ein spatial turn der Rechtswissenschaften                        of departure“. Siehr (2016) nimmt den Begriff „öffentlicher
                                                                     Raum“ wörtlich und analysiert ihn als rechtlich produzier-
Interessanterweise kann ein solcher spatial turn in der
                                                                     ten relationalen Raum. Im Verfassungsrecht analysiert Erb-
Rechtswissenschaft beobachtet werden, der in der theoreti-
                                                                     sen (2011:1169) die „constitutional spaces“ der Verfassung
schen Geographie fruchtbar gemacht werden könnte, aber
                                                                     der USA: „Spatial precision is essential because knowing
auch in einen Dialog mit den interdisziplinären sozialwis-
                                                                     how the Constitution addresses a particular problem often re-
senschaftlich orientierten legal studies münden könnte (cf.
                                                                     quires knowing where the problem arises“ (Hervorh. i. Origi-
Braverman et al., 2014)5 . Eine gewisse Anzahl von Rechts-
                                                                     nal). Die Entwicklung in der Rechtswissenschaft in Richtung
wissenschaftlern entdeckt die unabdingbare räumliche Di-
                                                                     der Fragestellung der Raumproduktion durch Recht trifft sich
mension vor allem im öffentlichen Recht (Verwaltungsrecht,
                                                                     mit der geographischen Fragestellung.
Staatsrecht, Verfassungsrecht) und im Völkerrecht, und dies
                                                                        Der spatial turn wird ebenfalls von Philippopoulos-
sowohl in der Rechtsprechung als auch in den Gesetzestex-
                                                                     Mihalopoulos (2010, 2011) aus dem Blickwinkel der spa-
ten. Zick (2006) plädiert für einen spatial turn in der Recht-
                                                                     tial justice reflektiert, deren „rechtliche Räumlichkeit“
sprechung zu Demonstrationen in den USA, der die Stand-
                                                                     (Philippopoulos-Mihalopoulos, 2010:205) als Ausgangpunkt
orte als konstitutiv für die Demonstrationen angehe, und
                                                                     dient. Er positioniert eine „always-already spatial conception
somit den staatlichen Spielraum für Verbote oder räumli-
                                                                     of the law, the materiality of law and its inevitable empla-
che Regulierungen einschränke. Der österreichische Verwal-
                                                                     cement in space“ Philippopoulos-Mihalopoulos (2010:192).
tungsrechtler Winkler (1999) z. B. nimmt einen „rechtlichen
                                                                     Dies ist in der Rechtsphilosophie als „Nomos der Erde“
Raum“ an:
                                                                     bekannt: Schon bei Carl Schmitt (1974, 1995) wird der
      Innerhalb der staatsorganisatorischen und recht-               „Nomos“ als Beziehung von „Ortung und Ordnung“ ei-
      lich funktionellen Gebietsnetze verbinden rechtli-             nes Volkes definiert und damit interessanterweise das Recht
      che Wege rechtliche Orte mit rechtlichen Orten,                als räumlich konstituiert konzipiert6 . Bei Philippopoulos-
    5 Die Überlegung eines „spatial turn“ (Soja, 1989; Lévy, 1999;
                                                                     Mihalopoulos (2011:197) kommt dies als Beziehung zwi-
Warf und Arias, 2009) wäre vor dem Hintergrund des Risikos einer        6 Siehe Hofmann (1992) für eine eingehende Analyse und Ein-
„spatial trap“ (Lossau und Lippuner, 2004) zu vertiefen. Dies kann   ordnung der Rechtsphilosophie Schmitts, auf die hier aus Platzgrün-
hier jedoch nicht geleistet werden.                                  den nicht näher eingegangen werden kann. Siehe Legg (2011) für

Geogr. Helv., 75, 349–361, 2020                                                           https://doi.org/10.5194/gh-75-349-2020
M. Stock: Geographizität des Rechts.                                                                                                353

schen Raum und Recht folgendermaßen zum Ausdruck:                       Dieses relationale Verständnis des Geographischen kann
„The law, through its theory, invites space to become part           auch dahin gedeutet werden, dass über die existenziale
of the legal corpus. What is more, law’s spatial turn is the         Räumlichkeit hinaus unterschiedlichste Weltbeziehungen be-
process of awareness of law’s always-already spatiality, its         deutsam werden, die nicht nur in der subjektiv definierten
connection to space and its questioning qualities“. Dieser           Lebenswelt, sondern auch in der gesellschaftlich definier-
Versuch, Recht als intrinsisch räumlich aufzufassen, sollte          ten Mit- und Umwelt bedeutsam sind. Der so erweiterte Be-
uns Geographen bewusst machen, dass Recht nicht als ex-              griff „Geographizität“ verweist somit auf diese relationalen
ternes Normenelement einen „Faktor“ in der Analyse von               Raumbezüge der Gesellschaft, wie z. B. Ortstypen, Gren-
Raumproduktionen darstellt, sondern eine spezifische „Geo-           zen, Erreichbarkeitssysteme und Anordnungen als räumliche
graphizität“ beinhaltet. Könnten die räumlichen Dimensio-            Bedingungen der Möglichkeit von Handeln, Erleben, Gestal-
nen ebenfalls konstitutiv für die Definition des Rechts sein?        ten, sowie hegemoniale gesellschaftliche Raumbezüge, die
Der Rechtswissenschaftler Möllers (2015) arbeitet mit einem          in legitimen Dispositiven und Normen verankert sind. So ge-
Verständnis von „Normen, die in einem sozialen Kontext,              wendet, ginge Geographizität als Begriff über die subjekti-
zu einer konkreten Zeit und an einem konkreten Ort in Er-            ve Definition Dardels hinaus. Dies ist auch mit dem Vor-
scheinung treten“ (Möllers, 2015:19, meine Hervorh.), das            schlag Raffestins (1989:29) kompatibel, der die Geographi-
sich dem Geographischen öffnet. Daraus könnten lokalisierte          zität als Fundament für eine theoretische Geographie ansieht,
Rechtsordnungen, welche Recht räumlich ko-konstituieren,             und zwar als Praxis und Wissen von räumlichen Elementen7 .
abgeleitet werden. Vor dem Hintergrund eines expliziten spa-         Damit könnten die verschiedenen räumlichen Dimensionen
tial turn der Rechtswissenschaft stellt sich die Frage der           – Distanzen, Erreichbarkeiten, Ortsqualitäten, kartographi-
räumlichen Dimensionen des Rechts für die theoretische               sche Elemente, Grenzen etc. – als jeweilige „Geographizi-
Geographie.                                                          tätsregime“, als vorherrschende geographische Bedingungen
                                                                     von Gesellschaften angesehen werden8 . In der weiteren Ent-
                                                                     wicklung, in welcher die französischsprachige Geographie
4   Von einer legal geography zur „Geographizität des
                                                                     einerseits zwischen Räumlichkeit als Praxis und anderseits
    Rechts“?
                                                                     Raum als Umwelt unterscheidet, dient der Begriff der Geo-
                                                                     graphizität neuerdings als Klammer, die beide Modalitäten
Wie bei allen gesellschaftlichen Fragen ist das Verhältnis
                                                                     des Geographischen subsumiert, und zwar als „composante
zum Recht wandelbar, d. h. der historisch spezifische gesell-
                                                                     spatiale de la sociétalité. Elle réunit la spatialité comme agir
schaftliche Kontext ist dabei zu beachten. Der einschlägige
                                                                     spatial et l’espace comme environnement de cet agir“ (Lévy,
Begriff ist „Historizität“. Analog zum Begriff der Histori-
                                                                     2013:434).
zität, der die Einbettung der Handlungsströme in datierbare
                                                                        Der Begriff „Geographizität“ könnte nun für die verschie-
Kontexte beschreibt, gibt es den Begriff der „Geographizi-
                                                                     denen Dimensionen des raum-rechtlichen Zusammenspiels
tät“, den ich hier für die Verknüpfung von Raum und Recht
                                                                     fruchtbar gemacht werden, welches mit dem Ausdruck „Geo-
fruchtbar machen möchte. Dieser ist in der französischspra-
                                                                     graphizität des Rechts“ bezeichnet werden könnte. Analog
chigen Geographie relativ geläufig, in der deutschsprachi-
                                                                     zum Ausdruck „Historizität des Rechts“ verfügten wir dann
gen Geographie quasi nicht existent. Der Begriff „Geogra-
                                                                     über einen Ausdruck, der die räumlichen Dimensionen des
phizität“ verweist ursprünglich auf die existenziale Räum-
                                                                     Rechts fassbar machte. Er soll hier vier Elemente zusammen-
lichkeit von Individuen und die Konstitution vonsinnhaften
                                                                     fassen:
Orten durch Menschen als Subjekte im Sinne Heideggers.
Dardel (1952) definiert Geographizität als existenziellen Be-
                                                                       1. Als diskursive Ordnung des Raums anhand von räum-
zug zur Erde rein phänomenologisch: „Connaître l’inconnu,
                                                                          lichen Kategorien, die in Gesetzestexten oder Recht-
atteindre l’inaccessible, l’inquiétude géographique précède
                                                                          sprechung vorkommen. Einerseits können die zahlrei-
et porte la science objective. Amour du sol natal ou recher-
                                                                          chen geographischen Bezüge – Entfernungen, Grenzen,
che du dépaysement, une relation concrète se noue entre
                                                                          Standorte, Ortsqualitäten, Toponymik, Gebiete, Netz-
l’homme et la Terre, une géographicité de l’homme com-
                                                                          werke usw. –, die in Rechtstexten erscheinen, analy-
me mode d’existence et de son destin„ (Dardel, 1952:1, mei-
                                                                          siert werden. Anderseits kann die juristische Kodifizie-
ne Hervorh.). Das Interessante daran ist, dass das Geogra-
                                                                          rung der traditionellen Objekte der Geographie (z. B.
phische als existenziale Räumlichkeit der wissenschaftlichen
Beobachtung vorgehe, die wissenschaftliche Geographie al-
                                                                         7 Siehe Klauser (2010) für die deutschsprachige Edition von Raf-
so eine Objektivierung dieser existenzialen Räumlichkeit sei
und sich auch daraus legitimiere.                                    festins Texten zu Geographizität und Territorialität.
                                                                         8 Der Begriff „Geographizitätsregime“ wird analog zum Begriff
eine Einordnung von Schmitts Raumtheorie im Zusammenhang mit         „Historizitätsregime“ konstruiert (Besse, 2009). Dieser wiederum
politischen und juristischen Fragestellungen sowie Barnes and Min-   wird von Hartog (2003) als vorherrschendes gesellschaftliches Zeit-
ca (2013) und Minca and Rowan (2015). Siehe auch Korf (2009) für     verhältnis, also als Verhältnis zu Vergangenheit, Gegenwart und Zu-
die Frage des Ausnahmezustands.                                      kunft, benutzt.

https://doi.org/10.5194/gh-75-349-2020                                                            Geogr. Helv., 75, 349–361, 2020
354                                                                                          M. Stock: Geographizität des Rechts.

      Toponymik, Raumkategorien, öffentlicher Raum usw.)                5   Das Recht am öffentlichen Raum als Machtgewinn
      als Problem erscheinen.                                               oder -verlust individueller Handlungsfreiheit

  2. Als lokalisierte Rechtsordnung, die durch verschiedene             Die Wandelbarkeit des öffentlichen Raums ist ein wichtiges
     rechtkreierende Gruppen auf verschiedenen Maßstab-                 geographisches Thema, stellt Öffentlichkeit doch eine zen-
     sebenen konfligierend produziert wird.                             trale Dimension der modernen und postmodernen Raumpro-
                                                                        duktion dar. Der öffentliche Raum ist neben der Zentralität
  3. Als normative Ordnung, die vorschreibt, wie mit Raum               als entscheidendes Merkmal von städtischen Orten in der
     umzugehen ist, und bestimmte Raumqualitäten ko-                    geographischen Theorie thematisiert worden. Damit stellt
     konstituiert. Sowohl räumliche Normen als auch das                 sich die Frage der rechtlichen Konstitution von öffentlichem
     Spiel mit den räumlichen Normen sind dann einschlä-                Raum und damit die Frage der „verorteten Normen“ (Klamt,
     gig.                                                               2006, 2007). Gusy definiert ihn folgendermaßen: „Er ist der
                                                                        Raum, den jedermann betreten darf; und zugleich derjeni-
                                                                        ge Raum, in welchem für jeden gegenüber jedem diejenigen
  4. Als komplexe Territorialität und Geltungsbereich des               Regeln angewendet werden sollen, welche für öffentliches
     Rechts, in dem konkurrierende, verstrickte normati-                Handeln gelten (. . . ). Es ist der Raum, in welchem die Rol-
     ve Räumlichkeiten, entterritorialisierende Elemente des            len und ihre Besetzung prinzipiell offen sind. Wer sie wie
     transnationalen Rechts die eindimensionale Territoriali-           besetzt, ist von vornherein nicht festgelegt und steht daher
     tät im Sinne eins Geltungsbereichs von Normen verän-               bis zu einem gewissen Grad der Freiheit der Nutzer offen.
     dern.                                                              Und auf der anderen Seite stehen auch die Rollenzuschrei-
                                                                        bungen nicht schon von vornherein fest“ (Gusy, 2009:217).
   Die Geographizität des Rechts könnte damit als Element
                                                                        Diese Zugangs- und Nutzungsfreiheit ist auch in der geo-
der geographischen Theoriebildung positioniert werden, d.
                                                                        graphischen Theorie rezipiert worden und Gusy (2009) be-
h. nicht nur als empirische Möglichkeit der Untersuchung
                                                                        zeichnet damit den öffentlichen Raum als „Raum der Frei-
rechtlicher Probleme. Der Begriff könnte einen Beitrag zur
                                                                        heit“ und „Raum der Gleichheit“. Er erkennt aber auch als
theoretischen Geographie leisten, mit Hilfe dessen syste-
                                                                        drittes Merkmal einen „Raum der Zumutung“, was bedeu-
matisch die räumlichen Dimensionen des Rechts in Gesell-
                                                                        tet, dass sich dort widersprüchliche, konfliktgeladene Anwe-
schaftstheorie bezeichnet werden. Die Berücksichtigung des
                                                                        senheit ohne Ausschlussmöglichkeit vollzieht, die der Bür-
Rechts als Handlungsmittel anstelle von physischer Gewalt,
                                                                        ger aushalten muss. Dies hat juristische Konsequenzen, da
finanziellen Mitteln oder kulturellem, sozialem und wirt-
                                                                        Einschränkungen von Handlungen (z. B. durch Platzverwei-
schaftlichem Kapital ist m. E. in den geographischen Theo-
                                                                        se, Gemeindesatzungen über Alkoholkonsum, Musik, Skate-
rien bisher unterentwickelt. Eine der theoretischen Heraus-
                                                                        board) in Deutschland verhältnismäßig sein müssen; Gu-
forderungen scheint darin zu bestehen, das Recht sowohl als
                                                                        sy (2009) bezeichnet Einschränkungen dieser Handlungsfrei-
eine Quelle des empowerment als auch als Quelle des Macht-
                                                                        heit als ultima ratio, d. h. der öffentliche Raum bedeute den
verlusts in den räumlichen Strategien von Individuen und
                                                                        Ort maximaler Freiheitsausübung und damit der Akzeptanz
kollektiven Akteuren zu begreifen. Auf diese Weise kann das
                                                                        des Anderen.
Recht als formale Norm in die Handlungs- oder Praxistheo-
                                                                           Siehr (2016) baut dies nun weiter aus zu einem Recht am
rien integriert werden9 . Der Ausdruck „Geographizität des
                                                                        öffentlichen Raum und einem Recht auf öffentlichen Raum.
Rechts“ könnte demnach bedeuten, die räumlichen Bezüge
                                                                        Der Wandlungsprozess des öffentlichen Raums durch Priva-
und die räumliche Konstituiertheit des Rechts herauszuhe-
                                                                        tisierungsprozesse – bei denen zwar öffentlicher Raum si-
ben. Er synthetisiert somit die geographischen Verweisun-
                                                                        muliert wird, Räume aber einem „Privatrechtsregime“ unter-
gen von Rechtsnormen, die rechtlichen Regulierungen von
                                                                        liegen – ist der Ausgangspunkt der Untersuchung. Was be-
Raum, die lokalen Rechtsordnungen sowie die rechtlichen
                                                                        deutet dies für die Tätigkeiten von Personen aus rechtlicher
Dimensionen von gesellschaftlicher Räumlichkeit. Dies gin-
                                                                        Perspektive? Gibt es ein Recht am öffentlichen Raum und
ge über das Territorialitätsprinzip der Rechtsgeltung, das tra-
                                                                        ein Recht auf öffentlichen Raum? Im Ergebnis wird dies be-
ditionell in der politischen Geographie Bedeutung hat, hin-
                                                                        jaht und aus Artikel 2 Absatz 1 (Allgemeine Handlungsfrei-
aus10 .
                                                                        heit) in Verbindung mit Artikel 14 (Eigentumsfreiheit) des
   9 Wenn Recht als eine mögliche Ressource von Macht, die in           Grundgesetzes hergeleitet. Der Clou des Beweises wurzelt
                                                                        in der Annahme eines Nutzungseigentums der Bürger am Ei-
Praktiken eingewoben ist, konzipiert würde, könnte auch der Kritik
des „Juridismus“ (Loick, 2017) begegnet werden.                         gentum in öffentlicher Hand, d. h., dass öffentlicher Raum
  10 In der noch immer zitierten Staatrechtslehre Jellinek gilt u. a.   in Bürgerhand sei und daraus ein Nutzen abgeleitet werden
das Staatsgebiet, da dieses „seiner rechtlichen Seite nach den Raum,    könne. Diese so genannte republikanische Auffassung löst
auf den die Staatsgewalt ihre spezifische Tätigkeit, die des Herr-      eine so genannte „anstaltsrechtliche“ oder „obrigkeitshörige“
schens, entfalten kann“ (Jellinek, 1914), als Kriterium für die Defi-   Auffassung ab, in der die öffentliche Hand als Obrigkeit dem
nition des Staates.                                                     Bürger ein eigenes Eigentum entgegensetzen kann.

Geogr. Helv., 75, 349–361, 2020                                                            https://doi.org/10.5194/gh-75-349-2020
M. Stock: Geographizität des Rechts.                                                                                        355

   Dies kommt in drei zentralen Aussagen zum Ausdruck.            schätzende Rolle in demokratisch verfassten Gesellschaften
Erstens ist der öffentliche Raum ein Ort der Freiheit, er         spielt.
„schützt die räumliche Dimension der Handlungsfreiheit“              Jedoch ist das Recht auch Element von Machtverlust, nicht
(Siehr, 2016:671) und die Wahl des konkreten Ortes: „Der          nur Machtgewinn des Individuums. Die Privatisierung von
Schutz des räumlichen Aspekts der jeweiligen Freiheits-           öffentlichen Räumen und Ausschlussnormen haben Konse-
betätigung ist somit so“ stark’ wie das jeweilige Grund-          quenzen auf politische Rechte, aber auch auf den Alltag.
recht selbst, bei Ausübung der Versammlungsfreiheit aus           Waldron (1991) kann anhand von homeless people in US-
Art. 8 GG folglich deutlich stärker als beim Füttern von          amerikanischen Städten zeigen, dass deren Überleben an
Tauben im Park“ (Siehr, 2016:671). Zweitens „schlägt das          der Möglichkeit für das Bewohnen des öffentlichen Raums
Recht am öffentlichen Raum jedoch auch eine Brücke zwi-           hängt. Der Geograph Mitchell (1997) baut auf dieser Ar-
schen dem materiellen Substrat des öffentlichen Raumes und        beit auf und nennt diesen Prozess der Ausgrenzung „anni-
der Ausübung von Verhaltensfreiheiten und bietet damit ei-        hilation of space by law“. Wie könnten politische Rechte oh-
ne wichtige Grundlage dafür, dass sich im Sinne der re-           ne öffentlichen Raum wahrgenommen werden? Wie würden
lationalen rechtswissenschaftlichen Konzeption ,öffentlicher      Nichtsesshafte oder Asylsuchende überleben können, wenn
Raum‘ konstituieren kann“ (Siehr, 2016:672). Drittens be-         die privaten Eigentumsrechte gleichzeitig räumliche Aus-
darf das öffentliche Nutzungseigentum einer republikani-          schlussrechte beinhalten?
schen Fundierung, in der die Legitimationsquelle nicht mehr          Diese Unabdingbarkeit von öffentlichen Orten für die
die „Kollektivperson Volk“, sondern eine „pluralistische Bür-     Ausübung von Freiheit kommt auch in der politischen Mei-
gerschaft“ ist. Damit wird der öffentliche Raum zum „Raum         nungsäußerung zum Ausdruck. Der US-amerikanische Jurist
eines sich selbst regierenden Bürgerverbandes“, welcher der       Zick (2006) untersucht die Praktiken der Demonstration und
Bürgerschaft zusteht: „Gleichzeitig kann der Einzelne die-        der Zuweisung von spezifischen Orten durch die Polizei und
ses , Nutzungseigentum‘ jedoch auch zur Grundlage seiner          die Verwaltung in den USA. Es handelt sich um „tactical pla-
Freiheitsausübung im öffentlichen Raum machen, d. h. in           ces“ als Orte, um Demonstranten zu kontrollieren, welche
ihm wurzelt auch ein individuelles Recht am öffentlichen          sich der Staatsmacht unterwerfen, indem sie gerade da de-
Raum“ (Siehr, 2016:673). Dieses Recht am und auf öffent-          monstrieren, wo sie sollen. Dies bedeutet, dass keine freie
lichen Raum, das einen öffentlichen Auftrag ableitet, ist eine    Ortswahl mehr stattfinden kann. „But the sorts of cages, zo-
neue Erkenntnis der Rechtswissenschaft und könnte auch uns        nes, and pens that have appeared of late involve an altogether
Geographen bei der Analyse des öffentlichen Raums helfen.         different strain of spatial restriction. Here the state has mo-
   Mit dem Insistieren auf die unabdingbaren räumlichen Di-       ved from regulating place to actually, in some case, creating
mensionen des Öffentlichen schneidet die Studie die Frage-        place for the express purpose of controlling and disciplining
stellung der heutigen wissenschaftlichen Geographie an, in        protest and dissent“ (Zick, 2006:584). Zick interpretiert dies
der die Sinnadäquanz von Orten im Hinblick auf unterschied-       als Bedrohung der Meinungsfreiheit, denn die Orte der Ar-
liche soziale Praktiken eruiert wird. Der öffentliche Raum        tikulierung der politischen Meinung würden von der öffent-
als sinnhafter Ort für so unterschiedliche Praktiken wie Spa-     lichen Hand vordefiniert. „This sort of spatial sophistication
zierengehen, Joggen, Demonstrieren, Einkaufen, Flyer aus-         is a recent phenomenon. It represents a new generation of
teilen, Trinken, Schlafen usw. wird durch die Privatisierung      spatial regulation. Governments have learned to manipulate
in Frage gestellt. Damit stellt sich die Frage der rechtlichen    geography in a manner that now seriously threatens the ba-
Dimensionen: Welche Tätigkeiten sind erlaubt, welche ver-         sic First Amendment principles“ (Zick, 2006:584). Im Um-
boten, welche können durch Verwaltungsakte oder Hausord-          kehrschluss heißt dies, wie bei Siehr (2016), dass Ortsqua-
nungen eingeschränkt werden? Beispiele wie die Shopping           lität (deren Lage, Ausstattung und Symbolik) ko-konstitutiv
Malls in den USA, Fraport (Entscheidung des Bundesver-            von Grundrechten ist. Deshalb plädiert Zick (2006:587) für
fassungsgerichts 2011), private Tunnels wie der Herrentun-        einen spatial turn in der Rechtsprechung, der dieses Problem
nel in Lübeck (Entscheidung des Verwaltungsgericht Schles-        der freien Ortswahl und damit der räumlichen Adäquanz von
wig 2008), Bonner Hofgartenwiese (Entscheidung des Bun-           Demonstration mit einbezieht. Diese Problematik trifft auch
desverfassungsgerichts 1993) zeigen auf, dass sogar in Pri-       in Deutschland ganz konkret auf Fälle wie die Demonstra-
vatrechtsregimen politische Meinungsäußerungen zugelas-           tionen gegen den G8 in Heiligendamm 2007 zu, bei welcher
sen werden müssen. Die vorgebrachten Argumente sind viel-         der Aufenthalt (präziser: ein so genannter Sternmarsch) in
schichtig und verweisen in den USA auf ein public forum,          zwei von der Polizei definierte Verbotszonen hinein nicht ge-
das Shopping Malls darstellen, in Deutschland analog auf          nehmigt wurde. Auch einem Eilantrag vor dem Bundesver-
die simulierte Öffentlichkeit sowie auf die öffentliche Träger-   fassungsgericht wurde nicht stattgegeben (BVerfG, 1 BvR
schaft. Diese Stärkung des öffentlichen Charakters privater       1423/07). Hier zeigt sich ein spezifischer Zusammenhang
Räume ist deshalb von Bedeutung, da öffentlicher Raum als         von Recht und Raum: Das Verbot der Demonstration an je-
Ort der Freiheit und Gleichheit, aber auch als Ort der Zumu-      nem sinnhaften Ort hat den Verlust der Bedeutung und der
tung unterschiedlicher Verhaltensweisen, eine nicht zu unter-     Sinnhaftigkeit der Praxis zur Folge.

https://doi.org/10.5194/gh-75-349-2020                                                       Geogr. Helv., 75, 349–361, 2020
356                                                                                     M. Stock: Geographizität des Rechts.

   Diese Beispiele zeigen die Wandelbarkeit des öffentlichen       of Rights dar oder Anstalten öffentlichen Rechts, die von
Raums in der Interdependenz von Recht und sozialen Prak-           den Bundesstaaten beliebig verändert werden können? Gibt
tiken. Es genügt demnach nicht, öffentlichen Raum als rein         es Regeln, nach denen Gemeinden kreiert werden und nach
rechtlich definiert darzustellen, es handelt sich um eine rela-    denen Gebiete und Personen von der Eingemeindung aus-
tionale Herstellungsleistung, in der Rechtliches mit sozialen      geschlossen werden können? Können Unternehmen Städ-
Praktiken verwoben wird, um das Öffentliche herzustellen.          te gründen und diese dann administrieren? Die Antworten
Dies wird ebenfalls am Beispiel des Zugangs von Stränden           sind in den USA aufgrund der unterschiedlichen Rechtstra-
in den USA deutlich, die rechtlich zwar als öffentlich de-         ditionen anders gelagert als in Europa, weisen aber auf die
finiert werden, aber durch Praktiken der Privatisierung von        rechtlichen Probleme hin, die sich aus der Beschäftigung mit
Anwohnern den Besuchern unzugänglich gemacht werden,               Städten ergeben. Dass die Rechtsordnungen nicht unbedingt
was von Kranz (2009) für Florida und von Davidson und              die Machtverhältnisse in den Städten widerspiegeln, macht
Entrikin (2005) für Los Angeles dokumentiert wurde. Geo-           das Beispiel New York deutlich. Dort verschaffte sich Mo-
graphen könnten zu dieser Problematisierung des Nexus von          ses durch die Leitung etlicher städtischer Gesellschaften (pu-
Handeln und Recht bei der Analyse der Konstitution öffent-         blic authorities) und staatlicher Kommissionen eine heraus-
lichen Raums beitragen.                                            ragende Machtstellung, die lange Zeit rechtlich nicht in den
                                                                   Griff zu bekommen war (Caro, 1975). Dies erlaubte ihm, sei-
                                                                   ne Vorstellungen von Urbanität und Stadtentwicklung (park-
6   Theorie des Städtischen und Städte als Problem                 ways, expressways, Parks etc.) auch gegen massive Wider-
    des Rechts: Recht der Stadt, Recht auf Stadt                   stände durchzusetzen (Berman, 1983). Das Beispiel zeigt,
                                                                   wie die demokratisch legitimierte Macht in Städten ausge-
Die Stadt als Ort spezifischer Qualität hat in der geogra-         hebelt wird. Gleichzeitig war Moses in der Lage, rechtliche
phischen Theorie und Empirie einen hohen Stellenwert er-           Neuerungen wie den Federal Aid Highway Act von 1956 oder
langt. Ein großer Teil der Theoriebildung geht von einem           Housing Act von 1949 in einer Weise zu instrumentalisieren,
geographischen Konzept der Agglomeration und der Zentra-           wie dies in anderen Städten nicht möglich war.
lität aus, der als relationaler Raum nicht mehr der einzige ur-       Jedoch geht es nicht nur um klassische Governance-
bane Ort darstellt. Das Städtische und die Urbanität im Plural     Fragen in der Stadt, sondern auch um die rechtlichen Hand-
(Lévy, 2006) stehen im Kontext der „planetary urbanisati-          lungsmöglichkeiten der Stadt als Akteur in der Globalisie-
on“ (Lefebvre, 1970; Brenner und Schmid, 2014) im Vorder-          rung. Aust (2017) rekonstruiert das Erstarken von Städten
grund. Wie wird Urbanität als „place-making“ von verschie-         zu international relevanten Akteuren innerhalb internationa-
densten Akteuren, inklusive Bewohnern und Besuchern, in            ler Städtenetzwerke wie des United Cities and Local Gover-
einer „visitor economy“ (économie présentielle) konstruiert?       nments (UCLG) als bedeutsames Netzwerk. Er stellt die Fra-
Um die Frage der asymmetrischen Machtverhältnisse zu rah-          ge, ob Städte im Völkerrecht als Rechtssubjekte anerkannt
men, stehen die Konzepte der „Governance“, der „Gouver-            sind. Er bejaht dies und verankert Städte einerseits im glo-
nementalität“ oder der „growth coalitions“ (Logan und Mo-          bal administrative law, andererseits im informal internatio-
lotch, 1978) zur Verfügung. Machtausübung wird jedoch              nal law. Lindemann (2014) ihrerseits geht es um die Verzah-
auch juristisch abgesichert oder konterkariert, was in der ur-     nung von Stadtentwicklungskonzepten und Recht im Völ-
ban theory als Rechtsproblem thematisiert werden könnte.           kerrecht und um die Stadt als Regelungsobjekt in interna-
   In der Tat könnte es fruchtbar sein, ein Konzept von Stadt      tionalen Dokumenten: „Es entsteht dabei ein internationales
zu entwickeln, in dem rechtliche Prozesse ko-konstitutiv           Konzept der Stadt und deren Beziehungen zu ihrem Staat“
sind. Die Konstitution von Urbanität, von Handlungsspiel-          (Lindemann, 2014:129). Sie analysiert im Einzelnen interna-
raum, von Machtchancen in Bezug auf den Nationalstaat, ja          tionale Stadtkonzepte als „Programm“, als „Ideologie“ und
sogar das Recht auf Stadt, das sich Lefebvre vorstellte, könn-     als „Völkerrecht“. Dabei zeichnet sie eine „Verrechtlichung“
te aus rechtlicher Sicht neuen Erkenntnisgewinn bringen. Der       durch Schiedsgerichte, Internationaler Gerichtshof, Konven-
US-amerikanische Jurist Frug (1980) stellt die Frage nach          tionen nach, die zu einer rechtlichen Definition von Stadt als
der Macht der US-amerikanischen Städte in den 1970er Jah-          Raumkategorie führt. Dabei werden unterschiedliche Rechts-
ren aus rechtlicher Sicht. Er stellt auf Stadt als ein „rechtli-   statuten von Stadt deutlich: als Gebietskörperschaft im Inter-
ches Konzept“ in dem Sinne ab, als spezifische Rechte und          nationalen Verwaltungsrecht, als soft law (Rechtsnatur des
Souveränität lokal verankert werden. Frug (1980) arbeitet          Stadtkonzepts von UN-Habitat) und als Sekundärrecht oder
heraus, dass die Enge oder Breite dieser Rechte den Hand-          Vertrag (Rechtsnatur des Stadtkonzepts der Weltbank). Es
lungsspielraum der lokalen Regierungsform bestimmen. Da-           spielen ebenfalls geographical imaginations eine Rolle, die
mit stellt eine Stadt eine lokalisierte Rechtsordnung dar.         Idee eines Städtesystems oder von Städten als Orte für Profit
Im Unterschied zur europäischen Tradition der kommunalen           werden in rechtlich (mehr oder weniger) bindende Normen
Selbstverwaltung ist der Status der US-amerikanischen mu-          eingeschrieben: „Many policy makers perceive cities as con-
nicipalities verfassungsrechtlich nicht so klar. Stellen Städte    structs of the state – to be managed and manipulated to serve
„Territorien“ oder Gebietskörperschaften im Sinne der Bill         some social objective. In reality, cities and towns, just like

Geogr. Helv., 75, 349–361, 2020                                                       https://doi.org/10.5194/gh-75-349-2020
M. Stock: Geographizität des Rechts.                                                                                                 357

firms and farms, are creatures of the market. (. . . ) Planners         Schließlich geht es in der Stadt auch um Wirtschafts-
and policy makers should see their role as prudent managers          fragen und um Standortpräferenzen. Diese werden durch
of a portfolio of places, to get the most from agglomeration         Verwaltungs- und Gerichtsurteile auf lokaler Ebene geprägt
economies“ (World Bank Development Report, 2009, zitiert             und hier kommt genau das Ortsspezifische des Rechts zum
nach Lindemann 2014:128). Dies sollte uns Geographen auf             Ausdruck, das in der legal geography als entscheidende
den Plan rufen, um die rechtlichen und normativen Dimen-             räumliche Komponente angesehen wird: Lokale Kontexte
sionen in unser Forschungsobjekt „Stadt“ mit einzubeziehen.          formen Recht. Michaels (2001) analysiert die Gerichtsent-
   Dies wird besonders deutlich am Thema „Recht auf                  scheidungen von Klagen gegen die Standortentscheidung
Stadt“, da in der Geographie zwar politische Bewegungen              von EADS zum Ausbau des Produktionsstandorts für den
zu Recht auf Urbanität, Recht auf Zentralität, räumliche Ge-         Airbus 380 in Hamburg auf der Halbinsel Finkenwerder von
rechtigkeit sowie Recht auf Teilhabe an der Kontrolle von            städtischen Privatpersonen und Umweltverbänden mit Ver-
Stadtentwicklung etc. seit Lefebvres Slogan droit à la ville         weis auf Naturschutzbelange vor dem Landgericht Hamburg.
untersucht werden, aber die rechtlichen Grundlagen dafür             Mit dem Argument, städtische Wirtschaftsstruktur sei „ge-
keineswegs erörtert wurden11 . Es blieb ein rhetorisches Mit-        meinnützig“, wurde diese Klage schließlich vom OVG Ham-
tel, dessen effektheischende Poetik auf die Ungerechtigkei-          burg abschlägig beschieden, obwohl der Ausbau des Pro-
ten in der Stadt, asymmetrische Machtverteilung und die              duktionsstandorts in einem Natura-2000-Gebiet liegt (Mi-
mangelnde Kontrolle der Bürger über Stadtentwicklungspro-            chaels, 2001). Dabei wird deutlich, dass die rechtliche Ent-
zesse aufmerksam macht. Vor allem die rechtsdogmatische              scheidung wirtschaftlichen Interessen den Vorrang vor lokal-
Untersuchung von Weinhold et al. (2016) versucht, Inhalte            politischen und naturschützerischen Interessen gibt. Das Pro-
von Rechten auf Stadt in deutschen Gesetzen zu interpre-             blem von Standortentscheidungen ist also keineswegs nur ein
tieren, da ein umfassendes und in einer Rechtsnorm kodifi-           rein wirtschaftliches Problem, wie dies in den neoklassischen
ziertes Recht auf Stadt in Deutschland nicht existiert. Da-          oder auch heutigen akteurs- oder netzwerkzentrierten Stand-
bei wird vor allem auf Grundrechtselemente einer allgemei-           orttheorien rekonstruiert wird. Dieses Beispiel macht deut-
nen Handlungsfreiheit in der Stadt, auf eine Daseinsvorsor-          lich, dass geographische Standorttheorien um die rechtliche
ge der öffentlichen Hand und auf die Unterstützung margi-            Komponente erweitert werden könnten, die diese örtlichen
nalisierter Gruppen abgestellt. Die Frage der Videoüberwa-           Unterschiede, in der Art und Weise mit Recht umzugehen,
chung des öffentlichen Raums ist dabei zentral, da die Prä-          ausdrückt. Dies könnte anhand des Konzepts der örtlichen
senz von Videokameras die Qualität des städtischen Raums             Rechtskulturen oder des „rechtlichen Kapitals“ von Städten
verändert und Verhaltensweisen normiert. Gomes und Star-             geschehen, und damit eine Brücke zur (Rechts)Soziologie
odub (2016) verweisen auf die Forderung von sozialen Be-             geschlagen werden12 .
wegungen, Recht auf Stadt juristisch zu institutionalisieren.
Im World Urban Forum und UN-Habitat werden diesen For-
                                                                     7    Fazit
derungen als Recht auf Wohnung und sauberes Wasser Aus-
druck verliehen. Die Verankerung im soft law des Völker-
                                                                     Der theoretischen Geographie eröffnet sich die Chance, in
rechts ist jedoch nur eine Seite. Für die Autoren ist Recht auf
                                                                     einem erneuerten wissenschaftlichen Kontext rechtliche Di-
Stadt „als ein transformativer Prozess zu verstehen, der ver-
                                                                     mensionen in Modelle und Grundbegriffe einzuarbeiten. Die
schiedene Momente widerständigen Handelns miteinander
                                                                     Rechtswissenschaftler erkennen nunmehr „Raum“ als be-
verknüpft – von Grenzüberschreitungen, die strafrechtlich
                                                                     deutungsvolle Dimension für Rechtsdeutung und Rechtspre-
verfolgt werden könnten, bis hin zu Brüchen sozialer Nor-
                                                                     chung und benennen einen expliziten spatial turn. Sie öffnen
men. Dadurch scheint es einerseits unmöglich, das Recht auf
                                                                     sich ebenfalls einer sozialwissenschaftlichen Zugangsweise,
Stadt formalrechtlich festzuschreiben, andererseits ist es aber
                                                                     welche außer der klassischen Rechtssoziologie auch die An-
auch nicht einzig als rechtlicher Regelbruch zu verstehen“
                                                                     thropologie und die Geographie betreffen. Es ginge nun dar-
(Gomes und Starodub, 2016:29). Als Recht am öffentlichen
                                                                     um, in einen Dialog über die Geographizität des Rechtlichen
Raum – wie dies in der oben zitierten Studie von Siehr (2016)
                                                                     zu treten. Es stellen sich drei Probleme für eine theoretische
herausgearbeitet wurde – könnte es möglich sein, bestimmte
                                                                     Geographie, die ich hier thesenhaft formuliere.
Dimensionen eines Rechts auf Stadt auch formalrechtlich zu
                                                                        These 1: Die rechtlichen Dimensionen sind ein missing
interpretieren. Darin könnte eine wichtige Aufgabe einer Zu-
                                                                     link in der geographischen Theoriebildung sowohl als Ele-
sammenarbeit von Rechtswissenschaft und Geographie lie-
                                                                     ment geographischer Grundbegriffe als auch als geogra-
gen.
                                                                     phischen Beitrag für Gesellschaftstheorien. Einerseits fehlt
                                                                         12 Siehe Bourdieu (2012), der dem Staat ein „rechtliches Kapital“
  11 Siehe für eine Ausnahme Attoh (2011), der dezidiert nach dem    zuschreibt und damit sowohl die klassischen Kapitaliensorten (öko-
Rechtsbegriff fragt, der im Ausdruck „Recht auf Stadt“ enthalten     nomisches, soziales, kulturelles, symbolisches Kapital) als auch das
ist. Siehe auch Caillosse (1995), der den Status der Stadt für das   individuelle um ein kollektives Kapital erweitert. Beides könnte in
französische Rechtssystem nachzeichnet.                              einer theoretischen Geographie fruchtbar gemacht werden.

https://doi.org/10.5194/gh-75-349-2020                                                              Geogr. Helv., 75, 349–361, 2020
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