Anhang NB 18 Elektronische Edition (EE) - Bertolt Brecht
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Notizbuch 18 Beschreibung Juli bis August 1926; indirekte Datierungen: 21. Juli (→ zu 24r), Mitte, Ende Datierung August (→ zu 90r, 91r–92r) Ein Schwerpunkt von NB 18 liegt in Brechts Beschäftigung mit marxistischem Kurzcharakteristik und leninistischem Gedankengut sowie mit der Frage nach der Gewalt des Ästhetischen, was sich in Aufsätzen wie Über den Sozialismus, Ovation für Shaw, Über Kunst und Sozialismus und Terror gegen Literatur, aber auch in der Neu- bewertung und partiellen Neubearbeitung älterer Theaterstücke wie Trommeln in der Nacht, Baal und Im Dickicht niederschlägt. Daneben entwarf Brecht Ge- dichte wie Ballade von den untreuen Weibern, Vom Geld oder Wenn der Whisky veraucht ist …, setzte sich mit Kritikern wie Henri Barbusse, Alfred Kerr und Karl Kraus auseinander, notierte Exzerpte aus Magnus Wehners Biographie von Johann Friedrich Struensee und trieb die Stückprojekte Fleischhacker/Wei- zen, Galgei/Mann ist Mann und Rosa Luxemburg/Die letzten Wochen der Rosa Luxemburg voran. In diesem Kontext taucht auch das bald darauf für Fatzer wichtig werdende Konzept des Massemenschen auf. Archiv der Akademie der Künste, Berlin, BBA 10817 Standort, Signatur 10,6 × 13,7 cm; 94 von ursprünglich mindestens 102 Blättern (Umschlag mitge- Format, Umfang zählt); bei der Archivierung 1956 war eingelegt: • zwischen Bl. 18 und 19: Bl. 95 (10,6 × 14,5 cm), ein aus einem anderen Notiz buch herausgerissenes Blatt (festes, bräunliches Papier; abgerundete Ecken, Rotschnitt; bei 8,5 cm längs gefaltet) Pappe, innen aufgeklebtes Blatt und im Bundsteg mit weißem Klebstreifen be- Umschlag, Bindung festigter Karton zur Bindungsverstärkung (→ 17r, 75v); außen mit schwarzem Kunstleder (Efalin) bezogen; Fadenheftung dünnes, durchscheinendes, braun-gelbliches Papier; abgerundete Ecken; Rot- Papier schnitt schwarze Tinte, daneben Bleistift, Rotstift Schreibmittel • BBA 10816: NB 27 von 1929–30 (→ NBA 8) Archivkontext • BBA 10818: NB 19 von 1926 Mit NB 18 beginnt eine Reihe äußerlich gleichartiger schwarzer Efalinhefte (NB 18–25), die Brecht zwischen 1925 und 1930 verwendete und nachträglich von »1« bis »9« numerierte. Nr. ist nicht überliefert oder wurde in Einzelblätter aufgelöst. NB 18 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
Das Notizbuch war während der Benutzung in einen separaten schwarzen, mit Pappe verstärkten Lederumschlag (BBA 10363/95; → Abb. 1, 2) eingelegt bzw. eingesteckt (→ NBA 7, 456). Dieser diente als Umschlag für die von Brecht mit »1« bis »9« durchnumerierten Notizbücher NB 18–25. Verfärbung Auf allen Blättern finden sich, meist am oberen Rand, eine oder zwei rechtec- kige stärkere Vergilbungen oder kleine Flecken. Beides stammt von den 1956–57 im BBA mit Klebstreifen angebrachten Signaturzetteln. Im Rahmen der Re- staurierung 2006 wurden diese Signaturen abgelöst und das ganze Notizbuch neu foliiert (am unteren Rand außen). Besonderheiten • häufig Abdruck bzw. Durchschlag der Tinte der jeweils vorangehenden oder folgenden Blätter • Blätter mit Eselsohren: 1, 2–11, 74, 76, 77, 79, 92 • Blätter mit Faltspuren: 9, 10, 33 • auf den Umschlag geklebte Blätter 1v und 94r teilweise herausgerissen • vorderer und hinterer Umschlag mit vertikalen Biegespuren • aufgebrochene Bindung zwischen Bl. 17 und 18, 34 und 35 (im oberen Drittel), 74 und 75 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Beschreibung Letzte Änderung: 2. August 2021
Abb. 1 Lederumschlag außen (BBA 10363/95) NB 18 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
Abb. 2 Lederumschlag innen (BBA 10363/95); Eintragung mit schwarzer Tinte »bertolt brecht«, eingeklebtes Firmenetikett Beschreibung Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
Lagenschema und Seitenbelegung Lage 1 Lage 2 1 1 16 17r ← fehlt bericht einer großen 18 eure getränke haben wir fehlt 19 2 fehlt du darfst sie auch nachts er lag stundenlang auf 3 20 3r ← 1 \ dem weibe gleich das 4 21 was ich immer befürchtet 21r ← 5 22 man könnte nun um uns 22r ← 6 23 mir nicht die haut ritzt mit das fürchterlichste was es G. B. Sh. 7 24 7r ← 24r ← 8 25 8r ← 25r ← 9 26 das gesetz der städte fl. \ sein vater erkundigt 26r ← 10 27 clark – eine einzige narbe! 11 fehlt 11v ← 12r ← 12 fehlt über den sozialismus erreichten wir eure städte 13 28 13r ← 4) sondern man wird uns 14 29 14r ← 1 \ ich will dich nicht zur 15 30 15r ← 30r ← 16 31 31r ← fehlt 32 terdrückten klassen> ist 1 \ das ist sein los den du 17 33 33r ← 34 〈an Bl. 1v, 17r Bindungsverstärkung angeklebt〉 NB 18 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
Lage 3 Lage 4 Der Messiasglaube in d. Neu + Alt 35 55 35r ← 55r ← 36 56 36r ← 56r ← 37 57 37r ← kraus \ trifft den nagel auf 38 58 38r ← terror gegen literatur 39 59 1 \ 3) sorgen der bg 59r ← 40 60 40r ← 60r ← 41 61 41r ← die filosofie der städte 42 62 42r ← aber ewig immer ist nur 43 63 43r ← „sein gesicht trug den 44 64 44r ← 64r ← 45 65 45r ← wäre im beischlaf um 46 66 46r ← die ansichten trügen 47 67 47r ← 67r ← 48 68 48r ← infolge der gewöhnlichen 49 69 49r ← 69r ← 50 70 50r ← alles unglück in der welt 51 71 51r ← 71r ← 52 72 52r ← es ist eine verdummende 53 73 „die blonde beute der 73r ← 54 74 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Lagenschema und Seitenbelegung Letzte Änderung: 2. August 2021
Lage 5 Eingelegtes Blatt 74r ← 17r ← 75 bericht einer großen 18 meine ganze jugend war wenn der whisky veraucht 76 4 \ auguste: eure getränke haben wir 77 19 77r ← 78 rosa lux 79 es gibt fehler die durch 80 tatsächlich herrscht noch 81 81r ← 82 glubb \ genossen soldaten 83 83r ← 84 fehlt fehlt 84r ← 85 85r ← 86 86r ← 87 87r ← 88 88r ← 89 1 + 2 \ freut mich sehr altes 90 Galy gay 91 91r ← 92 es war, vielleicht die 93 1 94 〈an Bl. 75v, 94r Bindungsverstärkung angeklebt〉 NB 18 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
Erläuterungen 1r 1 Die Ziffer notierte Brecht auf drei der vier Umschlagseiten.* Mit dem vor- r, v, 94r liegenden Notizbuch beginnt eine Reihe äußerlich gleichartiger schwarzer Efa- linhefte*, die Brecht zwischen 1925 und 1930 verwendete und nachträglich mit NB 18–25 Rotstift von »1« bis »9« numerierte.* → zu NB 24, 1v.1 1v 16 […] – augsburg Brecht notierte wohl zuerst mit schwarzer Tinte seinen Namen und die Heimatadresse Bleichstraße 2, Augsburg, dann mit Rotstift seine Adresse in Berlin-Wilmersdorf, Spichernstraße 16.* Frühestens 1930 trug er mit → zu NB 17, 43v Rotstift – in einem Arbeitsgang mit der Bezifferung der Notizbücher NB 19–25* – → zu 1r die Ziffer »1« nach. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde das Blatt, wie auch die Vorsatzblätter der Notizbücher 20–23 und 25, teilweise herausgerissen, wohl von Elisabeth Hauptmann oder Brecht selbst.* → 94r; zu NB 25, 1v 3r–4r du darfst sie auch nachts […] nichts wert! Gedichtentwurf, in folgen- dem Typoskript verwendet: BALLADE VON DEN UNTREUEN WEIBERN BBA 152/40; → BBA 152/53 1 willst du ein weib mein sohn für dich allein → 4r dann mach dein testament für diese erde wird nicht dein maul wie das von einem schwein dann gleicht dein schwanz bald dem von einem pferde s gibt dies und das weib das sich darum kehrt dann beschwert[.], doch die begehre [b]nicht: sie ist nichts wert 2 und setz dich mit dem weibe auf dein zimmer wenn auf der bank im frei'n ein andrer sitzt sonst schaukelt der [i]und nichts mein kind ist schlimmer du selbst merkst gar nichts bisdu merkst: sie schwitzt s gibt dies und das weib das sich nichts draus macht vor der ich bitte dich nimm dich in acht 3 lügs ihr dass keiner grösser ist als deiner sags ihr ganz deutlich junge nimm ein beil und setz dich neben sie sonst steckt ihr einer sofort ein kissen unters hinterteil es gibt auch dies und das weib das sich wehrt halt dich von diesen fern: sie ist nichts wert 4 hau in den boden die bettstatt neben dich euch dein messer und geh ja nicht hinaus wenn du nicht musst dann nimm sie mit ich sage dir s ist besser NB 18, 1–4 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
sonst gr[ie]eift ihr wieder einer an die brust s gibt dies und das weib das sich drum nicht schert doch halt dich fern von der: sie ist nichts wert 5 → 3r du darfst sie auch nachts nicht zu oft gebrauchen sonst schläfst du allzu tief und nichts ist schlimmer kannst du im schlaf nicht grad noch pfeife rauchen läuft sie doch gleich noch in ein a[d]ndres zimmer s gibt dies und das weib das den schlummer ehrt halt dich von der entfernt: sie ist nichts wert 6r.9–11 an sein¿ coktailmauer bauen […] hufeisen Entwürfe für das Theater- → 10r; zu NB 16, 7v–35r.8 stück Fleischhacker/Weizen.* 9v das gesetz der städte […] in der großen stadt Konzept, vielleicht zu den 10r–12v folgenden Fleischhacker/Weizen-Eintragungen* gehörend. Im Material zu die- sem Stückprojekt ist folgender Gedichtentwurf überliefert: BBA 524/7; die gesetze der stadt → BFA 10, 312 bevor du sie brauchst hast du nicht gewusst mein kind was die menschen sind aber wenn du mit den menschen reden musst nimm ein beil mit kind mit bier am sonntag und zeitungsblatt und was eine familie am sonntag haz Die Formulierung »gesetz der städte« verwendete Brecht später auch in einem Entwurf für das Theaterstück Der Brotladen (1929): BBA 1353/5; Wer das Gesetz der Städte berücksichtigt kommt vorwärts → BFA 10, 567 Wer versucht als Mensch hoch〈z〉ukommen dem geht es gut [j]hoch " " als Menschheit " der geht down Mowgli ist der Held von Rudyard Kiplings Dschungelbuch. Schon in Im Dickicht (September 1921) hatte Brecht die Gesetze des Dschungels auf die Großstadt → zu NB 12, 9r–57r.10 (1) übertragen.* 10r 12v fl. \ sein vater erkundigt sich […] genickschlag! Entwürfe für das → 6r.9–11; zu NB 16, 7v–35r.8 Theaterstück Fleischhacker/Weizen*. In dem wohl Anfang, Mitte 1926 erstell- Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Erläuterungen Letzte Änderung: 2. August 2021
ten Personenverzeichnis* ersetzte Brecht den Namen William Iron durch Josua → zu NB 16, 7v–35r.8 (6) Clerk*, Führer der Baissegruppe bzw. der Bären, die im Gegensatz zu den Bullen → 10r.8, 11v.3 auf einen fallenden Börsenkurs spekulieren. Mit »clark – eine einzige narbe!«* 11v.1 ist dieselbe Person gemeint; in einem anderen Entwurf, in dem auch Dexter* 11v.3; → NB 19, 4r.9, 5r.1 erwähnt wird, heißt er »Josua Clerc, die Narbe«*. BBA 524/49; → BFA 10, 308 13r–18r.3 über den sozialismus […] unsittlich> Aufsatzentwürfe; ein Teil- stück befand sich auf dem vor 17r heute fehlenden Blatt. Hier tauchen erstmals zusammenhängend Begriffe der marxistischen Gesellschaftskritik auf, die für Brecht ab August 1926 zentral werden;* zuvor verwendete er sie, wenn über- → zu 35r–53r haupt, nur vereinzelt und in polemischer Absicht. Mit dem Sozialismus hatte Brecht sich bereits im Kontext der politischen Ereignisse von 1918/19 (Novemberrevolution 1918, Spartakusaufstand Anfang Januar 1919, Münchener und Augsburger Räteregierung Anfang, Mitte 1919) auseinandergesetzt:* → zu NB 2, 15v 〈Tagebuch Neher, 15. Februar 1919:〉 Bert erläuterte seine Theorien, sprach von un- NBA 1, Tb N serm »berühmten« Klubhaus und war wiedereinmal Ministerpräsident. Er sprach von Sozialismus (Spartakismus) sagte folgenden guten Satz: Der Sozialismus wolle nicht die Füße der Leute auf ein gleiches Niveau bringen, sondern nur die immer die Köpfe der Leute, so daß es dann Unbedingt nötig wäre die Köpfe Füße derselben einzuscharren. − 〈Tagebuch Neher, 4. März 1919:〉 Abends 〈mit Brecht in〉 Maxim Gorki’s Nachtayl, das ein ganz gewaltiger Schmarrn ist […]. Eine Behauptung wie die: Alle Menschen sind gleich ist gerade so unwahr 〈andere Lesart: unrecht〉 wie 2 Ochsen oder 2 Kühe nicht gleich sind, se[l]elisch wie physisch. beides. leider sind die Menschen eben nicht gleich deswegen ist ja der Kampf. Wären die Menschen gleich zu was bräuchte man den Sozialismus. Zu was − dann wäre Sozialismus Spielerei Zeitvertreib. 18v bericht einer großen generation Entwurf eines Titels, vielleicht für das auf der gegenüberliegenden Seite entworfene Gedicht* oder einen Aufsatz. Mitte 19r der 1920er Jahre galt Brecht vielfach als Repräsentant einer jungen Schriftsteller- generation*, u. a. in dem Artikel Die Jungen. Die neue Bühnendichter-Generation → zu NB 19, 3r–5r, 9r–10r, NB 20, 5r Deutschlands (Berliner Illustrirte Zeitung, 28. Februar 1926; → Tagebuch Haupt- mann, 27. Februar 1926*). Tb H 19r eure getränke haben wir […] drin schifft! Gedichtentwurf, vielleicht nachträglich auf der gegenüberliegenden Seite mit Bericht einer großen Genera- tion* betitelt. 18v 21r–23r 1 \ dem weibe gleich […] fand! Gedichtentwurf aus dem Umkreis der Augsburger Sonette*, später teilweise für Sonett Nummer 3 verwendet (verein- → zu NB 21, 3r–5r facht wiedergegeben): NB 18, 6–23 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
BBA 507/83; nach einer mittelalterlichen legende verkauften 6 italieni → BFA 13, 332 sche jungfrauen, um ins Gelobte Land zu kommen ihren leib an die Schiffsbesatzung. Keine erreichte Palästina. S O N E T T NUMMER 3 → 21r.2–6 dem weibe gleich, das ins gelobte land zu kommen, seinen leib den schiffern liess und hoffte einzufahren in das paradies mit zwanzig schifferschwänzen in der hand! → 21r.8–12 so tun auch wir. mit solchem ungefähr beflecken wir den untauschbaren leib und brauchen zu der waschung wie das weib am end : ein ganzes winterliches meer. → 22r so kommen wir nach manchem unterneh[en]men und machen halt am meer zur linken hand Und waschen uns tauchen auf um unsern gott zu überraschen: seht doch, dort kommen meine unbequemen mein ganzes meer reicht nicht mehr[.], sie wa zu waschen. So stehn sie gegen mich im Zeugenstand. Das Sonett nimmt Motive des 1917 entstandenen Gedichts Die Legende der Dirne BBA 1348/13–14; Evlyn Roe* auf. → BFA 13, 102–104 24r–27r G. B. Sh. \ er blufft […] wird bezahlt. Entwürfe für einen Aufsatz über → zu 58r.9–12 George Bernard Shaw,* wohl am 21. Juli 1926 in Wien eingetragen (→ Tagebuch Tb H Hauptmann, 21. Juli 1926)*. An diesem Tag schrieb Brecht an den Redakteur des Berliner Börsen-Couriers Emil Faktor : BBA 2217/56 Lieber Herr Doktor Faktor, einer Aufforderung der "Neuen Freien Presse" 〈Wien〉 über Shaw zu schreiben,entnehme ich,dass da irgen- ein Jubiläum in der Lu[s]ft liegen muss. Natürlich schreibe ich sofort.Ich werde mir aber erlauben,[für]Ihnen Donnerstag 〈22. Juli〉 abend hier abgehend den Aufsatz (etwa 5 Maschinenseiten, posi- tiv!) für die Sonntagsnummer des B.B[1].C. zu schicken. Brecht verwendete die vorliegenden Entwürfe teilweise in dem Artikel Ova- tion für Shaw, der aus Anlaß von Shaws 70. Geburtstag (am 26. Juli) gleichzei- tig in der Wiener Neuen Freien Presse und im Berliner Börsen-Courier erschien (25. Juli 1926); im 1. Abschnitt der Druckvorlage, Shaw’s Terror, heißt es: BBA 155/23–25; […] Man wird es schon gemerkt haben,dass Shaw Terrorist ist. → BFA 21, 149f. Der Shaw'sche Terror ist ungewöhnlich und er bedient sich ei- [d] → 25r.9–10 ner ungewöhnlichen Waffe,nämlich des Humors. […] Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Erläuterungen Letzte Änderung: 2. August 2021
Der Shaw'sche Terrot besteht darin,dass Shaw es für das Recht jedes Menschen erklärt,in jedem Fall anständig,logisch und humorvoll zu handeln,und für die Pflicht,dies auch zu tun,wenn es Anstoss er- regt. Er weiss genau,was für ein Mut dazu gehört,über das Lustige zu lachen und wieviel Ernst nötig ist,um das Lustige herauszu- finden. Und wie alle Leute,die ein Ziel verfolgen,weiss er,dass das Zeitraubendste und Ablenkendste,was es gibt,andererseits eine gewisse Sorte von Ernst ist,die in der Literatur populär ist,sonst aber nirgends. (Als Theaterschriftst[s]eller scheint es ihm ebenso naiv wie uns Jungen,für das Theater zu schreiben und er bezeugt keine Spur von Lust sich zu stellen,als wisse er das nicht: er macht ausgiebigen Gebrauch von dieser Naivität. Er gibt → 24r.4–11 dem Theater Spass,so viel es verträgt. Und es verträgt sehr viel. Das,weswegen die Leute ins Theater gehen,ist streng genommen → 26r–27r lauter Zeug,das eine ungeheure Belastungsprobe für jene wirkli- chen Angelegenheiten bedeutet,die den fortgeschrittenen Theater- schreiber wirklich interessieren und den eigentlichen Wert seiner Stücke ausmachen. Die Folgerung davon ist: seine Probleme müssen so gut sein,dass er unbedenklich darauf sündigen kann,und die Sünde ist es dann,| die die Leute haben wollen.) Shaws Theaterstücke kannte Brecht vor allem von Besuchen von Augsburger und Berliner Aufführungen.* → zu NB 13, 9v.10–13, NB 15, 32r.3, 33v.6 28r.4–8 6 \ eure mädchen, […] wie die wüste! Sechste Strophe eines wohl auf den davor heute fehlenden Blättern begonnenen Gedichtentwurfs, wohl mit den vorangehenden und nachfolgenden Versen* zusammengehörend. 28r.1–3, 29r 30r–32r 1 \ ich will dich nicht […] kennen dich nicht Gedichtentwurf, in Vom Geld verwendet (Simplicissimus, Nr. 52, 28. März 1927, 706): Vom Geld → BFA 13, 332f. Vor dem Taler, Kind, fürchte dich nicht. Nach dem Taler, Kind, sollst du dich sehnen. Wedekind Ich will dich nicht zur Arbeit verführen. → 30r.1–8 Der Mensch ist zur Arbeit nicht gemacht. Aber das Geld, um das sollst du dich rühren! Das Geld ist gut. Auf das Geld gib acht! Die Menschen fangen einander mit Schlingen. → 32r.2–9 Groß ist die Bösheit der Welt. Darum sollst du dir Geld erringen, Denn größer ist ihre Liebe zum Geld. NB 18, 24–32 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
Hast du Geld, hängen alle an dir wie Zecken: Wir kennen dich wie das Sonnenlicht. Ohne Geld müssen dich deine Kinder verstecken Und müssen sagen, sie kennen dich nicht. → 31r.2–6 Hast du Geld, mußt du dich nicht beugen! Ohne Geld erwirbst du keinen Ruhm. Das Geld stellt dir die großen Zeugen. Geld ist Wahrheit. Geld ist Heldentum. → 32r.2–9 Was dein Weib dir sagt, das sollst du ihr glauben. Aber komme nicht ohne Geld zu ihr: Ohne Geld wirst du sie deiner berauben, Ohne Geld bleibt bei dir nur das unvernünftige Tier. → 31r.8–13 Dem Geld erweisen die Menschen Ehren. Das Geld wird über Gott gestellt. Willst du deinem Feind die Ruhe im Grab verwehren, Schreibe auf seinen Stein: Hier ruht Geld. Bert Brecht Das Motto stammt aus Frank Wedekinds Gedicht Der Taler (1905). 33r–34r 1 \ das ist sein los […] nicht genügend? Gedichtentwurf; eine mögli- 63r.3–7 che Antwort auf die Frage im Schlußvers formulierte Brecht unten*. 35r–53r Der Messiasglaube in d. literatur […] Mann ist Mann> Entwürfe für einen oder mehrere Aufsätze, Ende Juli, Anfang August 1926 eingetragen. Brecht 35r.2, 36r.10, 40r.2 fügte die Entwürfe nachträglich zumindest teilweise mit den Ziffern 1 bis 3* zu- 37r.5–38r.8 | 38r.10–39r sammen. Zu Baal* und Ich muß gestehen …* gehören wohl zu keinem der ge- zählten Abschnitte. Mit den hier verwendeten Begriffen der marxistischen Gesellschaftskritik 13r–18r.3 hatte sich Brecht bereits oben* auseinandergesetzt. Gedacht waren die Entwürfe 53r.8 wohl zumindest teilweise für eine Vorrede* zur Buchpublikation von Mann ist → zu NB 16, 1r–31r.12 (25) Mann, die allerdings ohne sie erschien.* Konstituierter Text: 53r.6–9 aus: über kunst + sozialismus 35r.1 Der Messiasglaube in d〈er〉 literatur 36r.10–37r.4 1 ich will mich, um besser verstanden zu werden, lieber etwas undeutlich ausdrücken: von meinen gegnern interessiert mich die bourg〈eoisie〉 gar nicht – trotz ihrer bemühungen. dagegen interessiert mich das proletariat, trotz seiner gleichgültigkeit! Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Erläuterungen Letzte Änderung: 2. August 2021
2 35r.2–36r.8 für das ungeheure loch in der „geistes“geschichte der bourg〈e〉oisie waren und sind wir jedenfalls nicht die ausfüllung. es wird nie mehr ausgefüllt werden und wenn wir eine rolle nennen sollen die zu spielen uns zumindest übrig bleibt, ist es die, daß wir sorgen werden daß es noch erweitert wird. der ganzen ideenlosen und verzweifelten plebs wird es noch vor ihrem abend aufgehen daß es, wenn es ein unbedingtes kriterium der reinheit von ideen gibt, das ist: daß diese verrot〈t〉ete bourg〈e〉oisie sie nicht verstehen kann. 40r.1–42r.8 3) 1 sorgen der bg 〈Bourgeoisie〉 man gab mir z. b., ohne es selber so ganz genau zu wissen〈,〉 zu verstehen daß man mir gern erlauben würde, etwa einmal im jahr das eine oder andere meiner stücke durch- fallen zu lassen. ich brauchte mich um nichts zu kümmern als um die herstellung der stücke. das kam nicht weil man die stücke fürchtete, dazu verstand man sie zu wenig, sondern weil man diese sorte von theater nicht preiß geben wollte. man hätte sie tatsäch- lich schließen müssen um meine stücke aufführen zu können. die situation die geschützt werden mußte war sehr eigenartig: es sollte einem haufen leute im parkett nicht die gele- genheit genommen werden maulaffen feil zu halten aber einem anderen haufen / auf der bühne / sollte die gelegenheit erhalten bleiben nicht durch seinen mangel an kunst brotlos zu werden. es war schwer etwas dagegen zu sagen; es war naheliegend ihre sorgen haben zu wollen. 〈3)〉 2 42r.9–51r.9 wo blieben die leute von links? die leute von links hatten wirkliche sorgen, sie kannten dieselben und machten keinerlei theater. was bis auf einige nutzrevuen von links gemacht wurde war künstlerisch be- trachtet ziemlich eitler plempl von auffällig sklavischer mentalität. ein pa〈a〉r nach links oder rechts furchtsame literaten stellten texte her, die auf der berechnung basierten, daß für stücke ein einfacher mangel an intelligenz genüge um sie verständlich zu machen. der typische literat stellte sich den proleten als dümmer vor als sich selber oder glaubte daß das „literarische gefühl“ jenes gefühl sei, das die revolutionen erzeuge. ein natürlich harmloser irrtum. überhaupt ist das kennzeichen dieser ganzen bemühungen von rechts bis links eine jeden natürlichen menschen verstimmende harmlosigkeit.
sein und während eines kampfes ist sie es sogar bestimmt, aber das ist ihr gleich. man könnte, mit einer geringfügigen übertreibung, sagen daß der k〈unst〉 die ansichten der künstler gleichgültig sind. sie ist keine sache der ansichten. das getreide ist übrigens auch keine sache der ansichten; insofern als es wächst. wäre k〈unst〉 etwas das mit ansichten zu schaffen hätte so wäre sie etwas durch und durch individuelles und dies haben ja auch viele bourgois und proletarier zuweilen geäußert. aber das ist nicht so. k〈unst〉 ist nichts individuelles. k〈unst〉 ist, sowohl was ihre entstehung als auch was ihre wirkung betrifft etwas kollektivistisches. das schlimmste was durch eine solche ansicht passieren könnte, wäre höchstens: daß ein ganzer haufen bisher kunst genannten krempels von jetzt ab nicht mehr k〈unst〉 genannt würde. ein einleuchtender vorteil! ich behaupte also daß eine bei uns links geläufige ansicht über k〈unst〉 falsch ist. ich will bei dieser gelegenheit noch erwähnen daß links ungeheuer viele ansichten falsch sind, es macht nur dort nicht so viel wie rechts. die verzweifelten bemühungen der literaten die ansichten der prole- tarier zu treffen sind unsäglich komisch. es sind in 9 von 10 fällen durchaus bourgeoise ansichten. man versteht deshalb überhaupt nicht, warum die herrn sich so bemühen: es sind einfach ihre eigenen ansichten. 51r.10–53r.5 résümée nach m〈einer〉 ansicht ist es sicher daß der sozialismus und zwar der revolutionäre das gesicht unseres landes noch zu unsern lebzeiten verändern wird. unser leben wird mit kämpfen gerade dieser art ausgefüllt sein. was die künstler betrifft so halte ich es für sie 〈für〉 am besten wenn sie unbekümmert darum machen was ihnen spaß macht, sie können sonst nicht gute arbeit liefern. für leute freilich, in deren kopf gerade diese span- nungen fehlen, wird es sehr schwer sein k〈unst〉 zu machen. zu erhoffen von unserer zeit haben nur diejenigen etwas, denen besseres publikum nützt und denen bessere instinkte zu statten kommen: das sind wenige. 〈keinem der Abschnitte zugordnet:〉 37r.5–38r.8 zu baal ich suchte, als ich den typ baal auf 〈der〉 bühne sichtbar machte, umsonst die gegnerschaft der bourg〈e〉oisie „jener“ zeit. diese war schon so unrettbar verkommen, daß sie nur die form die – nur als form – ganz gleichgültig, nur eben nächstliegend war, kritisierte oder dem gewissen „je ne sais pas quoi“ der formulierung erlag. den wirklichen gegner kann ich mir nur im proletarier erhoffen. ohne diese von mir gefühlte gegnerschaft hätte die- ser typ von mir nicht gestaltet werden können. 38r.9–39r × ich muß gestehen daß ich erst als ich lenins „staat + revolution“ (!) und danach marx〈’〉 „kapital“ gelesen hatte begriff, wo ich, philosofisch, stand. ich will nicht sagen daß ich gegen diese bücher reagierte, dies schiene mir höchst unrichtig. ich glaube nur, daß ich hier, in diesen gegensätzen, mich zu hause fühlte. mehr als den „standpunkt“ einzu- nehmen daß hier die fruchtbaren gegensätze liegen, ist meiner meinung nach der kunst dieser übergangszeit nicht gestattet. Zu den Eintragungen im einzelnen siehe die anschließenden Erläuterungen. 37r.5–38r.8 zu baal […] können. Im Januar 1926 hatte Brecht bereits einen → zu NB 3, 4r.3–4v.1 Aufsatz über Baal* unter dem Titel Das Urbild Baals in der Berliner Zeitschrift Tb H Die Scene publiziert (→ Tagebuch Hauptmann, 18. Januar 1926)*. Im Januar, Februar inszenierte er Lebenslauf des Mannes Baal an der Jungen Bühne im Deut- Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Erläuterungen Letzte Änderung: 2. August 2021
schen Theater, Berlin, (angekündigt als Baal. Dramatische Biographie; Premiere: 14. Februar 1926). Am 21. März hatte das Stück am Wiener Theater in der Josefstadt Premiere (Regie: Herbert Waniek; → Tagebuch Hauptmann, 27. Februar 1926)*. Tb H 38r.11–39r.1 lenins „staat + revolution“ (!) […] stand. Brechts Beschäftigung mit Lenin läßt sich ab März 1926 belegen. Hauptmann berichtet von einem Ge- spräch Brechts mit Paul Baudisch am 17. März (Tagebuch Hauptmann, Bearbei- tung von April 1926 oder später; → Tagebuch Hauptmann, 24. März 1926*): Tb H Er hat im übrigen nicht〈s〉 dagegen, dass B ei〈n〉 Romantiker ist, BBA 1107/5 während B ihm klar macht, dass er Klassiker ist. Verschiedene An- sichten über Lenin und Lenins Begräbnis, über Kipling. Am 29. März hält Hauptmann eine weitere Äußerung Brechts über Lenin fest (→ Tagebuch Hauptmann, 29. März 1926)*. Tb H Ab wann genau sich Brecht mit Marx bzw. dem Marxismus näher auseinan- dersetzte, läßt sich nicht feststellen.* Hauptmann zitiert 1956/57 in ihrer Bear- → 67r–68r, NB 20, 2r beitung des Tagebuchs von 1926 einen nicht erhalten gebliebenen Brief Brechts (von ihr auf Oktober 1926 datiert, die vorliegende Eintragung entstand jedoch schon im August): EHA 273/5 "Ich stecke acht Schuh tief im "Kapital". Ich muß es das jetzt genau wissen ..." Eine ähnliche Formulierung wie die vorliegende verwendete Brecht auch in einem späteren Entwurf (wohl 1928): »als ich das kapital von marx las verstand ich meine stücke«*. BBA 348/72; → BFA 21, 256f., zu NB 16, 7v–35v (11) Lenins Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufga- ben des Proletariats in der Revolution,* 1918 erstmals ins Deutsche übersetzt (Berlin: → zu 81r.8 Verlag der Wochenschrift Die Aktion), besaß Brecht in zwei später erschienenen Ausgaben (Lenin 1929, Lenin 1932), ebenso Das Kapital (Marx 1932, Marx 1932/33). 42r.14–43r.1 nutzrevuen von links Wohl Anspielung auf die Revuen von Felix Gasbarra und Ernst Piscator Revue Roter Rummel (Premiere: 22. November 1924, Pharussäle Berlin-Wedding) oder Trotz alledem! (Premiere: 12. Juli 1925, Großes Schauspielhaus Berlin), beide im Auftrag der KPD erarbeitet.* → zu NB 17, 38r–41v, NB 24, 60r–61r 44r.9–45r.3 rüppeleien ältlicher feuilletonisten […] wohlbefinden Wohl An- spielung auf die in zwei mehrbändigen* Sammlungen erschienenen Feuilletons → 45r.1 des damals 58jährigen Alfred Kerr* (Kerr 1917, 1920), vielleicht auch auf die Po- → zu NB 2, 2r.5–11, NB 25, 72r.5–73r.7 | lemiken des 52jährigen Karl Kraus* (→ Die Fackel). → zu 58r 47r.4–6 vorwurf den z. b. barbusse […] machte, Brecht bezieht sich wohl auf die von Henri Barbusses Artikel L’Autre moitié du devoir. A propos du Rol NB 18, 37–47 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
landisme (in: Clarté, 3. Dezember 1921) ausgelöste Debatte über die Frage einer politischen Parteinahme linker Intellektueller. Barbusse warf den Schriftstel- lern vor, zu allen Zeiten Diener der Herrschenden gewesen zu sein. 47r.10–11 gott daß er zu den stärkeren bataillonen Anspielung auf die Rede- wendung ›Gott ist mit den stärkeren/stärksten Bataillonen‹, die auf Friedrich den Großen (Brief an Herzogin Luise von Sachsen-Gotha, 8. Mai 1760: »à la guerre Dieu est pour les gros escadrons«) und Roger de Bussy-Rabutin (Brief an Comte de Limoges, 18. Oktober 1677: »Dieu est d’ordinaire pour le gros escadrons, con- tre les petits«) zurückgeht. Brecht zitierte sie auch in dem Entwurf Vorwort zu → zu 81r–82r.1 Trommeln* (1926/27): BBA 348/34; das untergehende theater beschäftigte sich wie ein unterge- → BFA 24, 17 hender dampfer mit der vielleicht sehr schwierigen aber doch im grund gleichgültigen frage ob es besser sei nach rechts oder nach links zu versinken und die besatzung kritisierte die musik die in der verwirrung ihr näher mein gott zu dir immer weiter spielte und dabei den gott meinte der mit den stärkeren bataillonen ist 54r „die blonde beute der gelegenheit“ Wohl ungenaues Zitat aus William Shakespeares Troilus und Cressida; darin äußert Ulysses über die Titelheldin (IV, 5; in: Shakespeare Werke 8, 491): Pfui über sie! An ihr spricht Alles, Auge, Wang’ und Lippe, Ja selbst ihr Fuß: der Geist der Lüsternheit Blickt vor aus jedem Glied und Schritt und Tritt. O der Kampflustigen, so zungenglatt, Die jeden Anlaß grüßen, eh er kommt, Und weit aufthun die Blätter ihres Denkbuchs Für jeden üpp’gen Leser! Merkt sie euch Als niedre Beute der Gelegenheit Und Töchter schnöder Lust. → zu NB 26, 28r Später konzipierte Brecht eine Bearbeitung von Shakespeares Theaterstück.* 55r–57r Neu + Alt \ vorrede zu dickicht […] ist neu. Entwurf für eine Vor- → zu NB 12, 9r–57r.10 rede zum Theaterstück Dickicht/Im Dickicht der Städte,* in der Buchpublikation (Juli 1927) nicht verwendet. Im zeitlichen Umfeld entwarf Brecht eine weitere Vorrede (1926/27; vereinfacht wiedergegeben): BBA E 74/5–6 Vorrede zu Dickicht Ich glaube, dass nicht nur ich allein ein Theaterstück nur mit der grössten Hemmung dem zeitgenössischen Thea[er]ter in die Hand gebe. D[as]ieses ist auf einem Punkt angelangt, wo es den Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Erläuterungen Letzte Änderung: 2. August 2021
wirklichen Interessen der Nation nichts mehr zu bieten hat. Seine Darbietungen sind anstrengende , ermüdende und gedankenloe Demon- strationen gegen das Amusement des Publikums. Tatsächlich stellt heute nicht das Publikum Ansprüche, sondern das Theater. Unter dem jahrhundertelang zwangsweise Unter dem Zwang in jahrhunder- telang durchgef durchgeführten , von Anfang an grundsätzlich auf 8 Uhr abends angesetzten Vorstellungen etwas zu sagen, haben jetzt endlich nicht nur diese zwangsläufigen Äusserungen, sondern sogar schon die Sprechorgane des Theaters gelitten. Es ist sehr schwierig, dieser ständig laufenden Turbine ,die darauf angewie- sen ist, immerfort Kraft zu fressen, um siedann zu übersetzen, so zu widerstehen, dass unsere neuen Stoffe die wir hineingeben, nicht sofort bis zur Unkenntlichkeit aufgearbeitet werden und dann dieses [B]breiige , ältliche , übelriechende Aussehen ge- winnen, das das Publikum an den Darbietungen des zeitgenössischen Theaters so furchtbar abstösst. Die Wahrheit ist, dassdie Turbine kaputt ist. Unter nichts leiden die Theater so sehrals darunter, dass man nichts von ihnen verlangt. Der Appetit des Publikums ist verschwindend. Wohl zu keiner Zeit wurde im Theater so viel kritisiert, verglichen, übelgenommen, wie in unserer Zeit. Und zu keine Zeit wurde so wenig verlangt. Sie gehen in einen Schuhwa- renladen, um ein Piano zu kaufen, aber wozu gehen sie ins Theater? Wenn ich das Theater als Beruf oder als Pass ion habe, muss ich | mich , um nicht alle Hoffnungen einzubüssen , dass im Publikum doch noch Appetit auf Theater verhanden sei, zunächst unbedingt von den Theatern selbst fernhalten. Ich kann diesen Appetit am ehesten noch auf den Sportplätzen und in den Sportpalästen oder auf den Börsen entdecken. Und nur aus diesem Grund, aus den dort gewonnenen Erfahrungen heraus, glaube ich feststellen zu können, dass es heute Appetit auf Theater gibt. Diese Erfahrung allein berechtigt mich würde mich berechtigen, ein Theaterstück zu verfassen, wenn ich mir nicht diese Freiheit schon deswegen herausnehmen würde, weil es mir persönlich Spass macht 〈→ Tagebuch Hauptmann, 24. März 1926〉. Aber ich Tb H gebe zu, dass ich wenigstens bisher noch keinen Satz für das Thea- ter geschrieben habe, ohne die feste Erwartung, daran Spass zu finden, wenn er auf der Bühne gesprochen würde. Diese Erwartung aber wurde sehr selten nicht getäuscht. Die paraphrasierten Behauptungen* beziehen sich auf Henrik Ibsens Nora oder 56r.5–12 Ein Puppenheim (1879), August Strindbergs Totentanz (1900) und Gerhart Haupt- manns Fuhrmann Henschel (1898). Valencia* hieß ein 1926 populärer Schlager 57r.6–7 von José Padilla mit deutschem Text von Fritz Löhner, genannt Beda. Auf ihn bezog sich Brecht auch im Titel seines Aufsatzes Wer meint wen? Oder Valencia BBA 156/9–10; contra Tod und Verklärung* (1926). Mitte der 1920er Jahre war der amerikanische → BFA 21, 165 Jazz in Europa ein Inbegriff des Neuen.* → 76r.1–4, zu NB 17, 41r.11 NB 18, 47–57 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
58r kraus \ trifft den nagel auf den kopf. […] zählt! Mit dem damals 52jäh- → zu 44r.9–45r.1, NB 15, 3r rigen Karl Kraus* setzte sich Brecht im zeitlichen Umfeld häufiger auseinander, so in den Entwürfen NB 15, 3r.1–4 • Das kalte Chikago* (Ende 1922) NB 16, 10r–11v.8 • Ermahnung an unsern Sohn K. K.* (August 1924) BBA 329/77; → BFA 21, 140 • Kraus betreffend: ein niederer Mensch …* (»10. 7.« 1926 oder 1927) NB 20, 3r–5r • Kraus \ es ist schwer visàvis eines Helden zu leben …* (August 1926) BBA 447/82; → BFA 21, 154 • A. d. Fackel* (um 1926) BBA 331/170; → BFA 21, 153 • Über die Zeitungen an Karl Kraus* (um 1926). Im zeitlichen Umfeld hatte Brecht aus Anlaß von George Bernard Shaws 70. Ge- burtstag den Aufsatz Ovation für Shaw publiziert (Berliner Börsen-Courier und → zu 24r–27r Neue Freie Presse, 25. Juli 1826).* 59r–61r terror gegen literatur […] immerwährend. Die Vorstellung, durch kalkulierten Terror literaturpolitische Ziele durchsetzen zu können, hatte Brecht → zu 24r–27r bereits in Ovation für Shaw* entwickelt. In dem im Jahr zuvor entstandenen Aufsatz Bernard Shaws die Bibel (Juli/August 1925) heißt es: BBA 155/28; Wasaber die Lehrfreiheit und die Gedankenfreiheit betrifft, wenn → BFA 21, 108 ich gefrag〈t〉 w[ä]erde, was ich vorziehen würde: den Terror derer, die etwas nicht wissen wollen oder den Terror derer, die etwas besser wissen woll[n]e dann gäbe ich den ersteren unbedenklich und in jedem [B]Falle den Vorzug Den Ausdruck ›Terror‹ verwendet Brecht hier wohl im Sinne von ›la terreur‹ der → 61r.11–12 Französischen Revolution. Der Gedanke einer permanenten Revolution* geht ebenfalls auf die Französische Revolution zurück; er wurde Mitte des 19. Jahr- → zu 79r hunderts von Karl Marx und Anfang des 20. Jahrhunderts von Rosa Luxemburg*, Franz Mehring, vor allem aber Leo Trotzki weiterentwickelt. 62r–63r die filosofie der städte […] aus ihm! Wohl nicht zusammengehörige aphoristische oder lyrische Entwürfe. Die letzte Eintragung knüpft inhaltlich an 34r.9–11 den Schluß des Gedichtentwurfs Das ist sein Los den du liebtest …* an. 64r–65r „sein gesicht trug […] geliebt werden Ungenaue Zitate aus Josef Magnus Wehners Biographie des Grafen Johann Friedrich Struensee, Leibarzt des dänischen Königs Christian VII. und Liebhaber von dessen Frau Caroline Mathilde (Brecht-Bibliothek 981): 〈Wehner 1925, 10:〉 Dem Grafen wurde 〈1772〉 ferner in der Anklage vorgelegt, er habe Rechnungen gefälscht, ein Brillantenbukett der Königin heimlich verkauft, den jungen Kronprinzen durch harte Erziehung zugrunde gerichtet; er habe sich nach Beseitigung des Königs zum Alleinherrscher machen wollen, um dann die Königin, die er zu seiner Mätresse gemachte hatte, zu heiraten. Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Erläuterungen Letzte Änderung: 2. August 2021
»Sein Angesicht zeigte den Ausdruck gestillter Wollust,« sagte 〈Rechtsanwalt Peter〉 → 64r.1–2 Uldall nach seinem Besuch über Struensee. 〈Wehner 1925, 24:〉 Und wenn die Geladenen zum Zirkel erschienen, um der jungen Majestät 〈Kronprinz Christian〉 zu huldigen, sahen sie einen schönen zarten Knaben, die Augen voller Tränen, der auf dem Gesichte seines Peinigers 〈des ihn prügelnden Erziehers Detlev von Reventlow〉 zu lesen suchte, an wen er das Wort richten dürfte. War der Emp- fang beendet, dann blieb eine Auslese der Höflinge zum Mahle zurück. Reventlau riß die Unterhaltung an sich oder fuhr manchmal mit Fragen und Roheiten gegen Christian fort. So wurde er ein Schaustück für seine Diener. Und wurde mit der Schande vertraut. → 64r.4–5 〈Wehner 1925, 22f.:〉 Das düstere Vorbild Reventlaus gab seinem Ideal eine | neue Farbe: Vollkommenheit ist Härte. Der schwächlich Prinz wollte hart und fest werden. Wer hart ist, ist stark. […] → 64r.6–7 Doch immer drohte die grausame Hand. Noch ein anderes Wort beherrschte ihn: »rasch«. Er sprach es oft aus und meinte damit: schroff, jäh, unbelehrbar, absolut – wie Reventlau. 〈Wehner 1925, 11f.:〉 Unser Struensee war ein deutscher Pfarrerssohn. […] Der junge Johann Friedrich, geboren am 5. August 1737, fühlte sich in diesem Kreise nicht wohl. […] Er haßte das Tugendtreiben um des Lohnes willen. Der Himmel hatte keinen Reiz für ihn, weil in ihm »keine körperliche Wollust war«. → 64r.8–10 〈Wehner 1925, 26:〉 So wuchs Christian heran. Tiefe Niedergeschlagenheit, ja Geistesab- wesenheit wechselten mit tollen Streichen. Er liebte niemand und wollte von niemand geliebt werden. Er hatte keinen einzigen ebenbürtigen Freund. → 65r 67r–68r die ansichten trügen […] anfertigen lassen. Mit dem Bolschewis- mus* hatte sich Brecht schon vor 1926 vereinzelt auseinandergesetzt (Brecht an → zu 38r.11–12, NB 20, 2r Paula Banholzer, 15. April 1919): Übrigens bin ich Bol vollens ganz zum Bolschewisten geworden. Freilich bin ich gegen BBA Z 41/68–69 jede Gewalt und da ich hier Einfluß habe, kann ich da Einiges tun. Jetzt wird Widerstand mit allen Mitteln organisiert – aber wenn ihr hört daß Augsburg nicht gekämpft und Blut vergossen hat, dann kannst Du sicher sein, daß ich, ganz hinten stehend und den Meisten unsichtbar, sehr | darum verdient bin. Einmal wird die Räterepublik doch durchdringen. Am 12. September 1920 hatte Brecht in München einen Vortrag von Alfons Gold- schmidt über die Wirtschaftsorganisation in Sowjet-Rußland gehört (Tagebuch): Ich sitze auch im Kindl Keller und lausche Herrn Goldschmidt, der über die Wirt- BBA 802/87 schaftslage Rußlands heude redet, lauter abstrahiertes Zeug von Verbänden und Kon- trollsystemen. Ich laufe bald wieder fort. Mir graut nicht vor der tatsächlich erreichten Unordnung dort, sondern vor der tatsächlich angestrebten Ordnung. Ich bin jetzt sehr gegen den Bolschewismus: Allgemeine Dienstpflicht, Lebensmittelrationierung, Kon- trolle, Durchstecherei, Günstlingswirtschaft. Außerdem, im günstigsten Fall: Balance, Uniformierung, Kompromiß. Ich danke für Obst und bitte um ein Auto. NB 18, 58–68 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
69r–70r infolge der gewöhnlichen […] wie würde er es? Schon Mitte April 1924 hatte Brecht die Aufhebung des Rauchverbots im Theater befürwortet (Reich 1970, 273; von Reich fälschlich auf Juni 1924 datiert): Ich 〈Bernhard Reich〉 […] warf den Köder: »In italienischen Kinos darf man rauchen!« Da biß er an: Wenn schon kein Rauchertheater, dann wenigstens ein Raucher-Kintopp! Im Entwurf Es gibt kein Großstadttheater … (1926) argumentierte Brecht: BBA 331/40; Ich behaupte sogar,dass ein einziger Mann mit einer Zigarre im → BFA 21, 134f. Parkett einer Shakespeareaufführung den Untergang der Abendlän- dischen Kunst herbeiführen könnte. Er könnte ebenso einenBombe als sein Zigarre in Brand setzen. Ich würde gern sehen,wenn das Publikum bei unseren Aufführungen rauchen dürfte. Und ich möchte es hauptsächlich der Schauspieler wegen. Es ist dem Schauspie- ler nach meiner Meinung gänzl[h]il unmöglich,dem rauchenden Mann im Parkett ein unnatürliches krampfhaftes und veraltetes Theater vorzumachen. 71r–72r alles unglück in der welt […] darauf. Der erste Satz folgt formal einem Gedanken Blaise Pascals (Pascal 1954, 77): »daß alles Unglück der Men- schen einem entstammt, nämlich daß sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem Zimmer bleiben zu können«. 73r–75r es ist eine verdummende […] stein drückt! Entwurf für einen Auf- 73r.7–8; → NB 16, 30r.8–7, satz. Im zeitlichen Umfeld arbeitete Brecht an einer Revue für Max Reinhardt.* NB 17, 38r–41v 76r meine ganze jugend […] angenehm sind! Entwurf für einen Aufsatz, in- 69r–70r, 73r–75r | haltlich an vorangehende Überlegungen zu Theater* und Jazz* anknüpfend. 57r.6–9; → zu NB 17, 41r.11 77r–78r 4 \ auguste: \ komm nur mit, […] schwierigkeit! Entwurf eines Dialogs für den Auftritt der Prostituierten Auguste im 4. Akt Der Schnapstanz → 81r–82r.1, 83r–89r, von Trommeln in der Nacht*. Ab Januar 1926 führte Brecht mehrere Gespräche zu NB 2, 15v über eine Aufführung des Theaterstücks unter seiner Regie am Berliner Staatli- chen Schauspielhaus, die jedoch nicht zustande kam (→ Tagebuch Hauptmann, Tb H | BBA Z 37/239 3. Januar, 27. Februar, Mitte, Ende April 1926;* Brecht an Reisiger, 30. Mai 1926*); der vorliegende Entwurf entstand wohl im Zusammenhang damit. Noch über zwei Jahre später, am 18. November 1928 diskutierte Brecht eine »totale Umar- BBA 217/38 beitung«* des Theaterstücks in einem Radiogespräch mit Fritz Sternberg und Erwin Piscator. 79r rosa lux \ rede vom massemensch […] wir! Entwurf für ein Theaterstück → zu 59r–61r über Rosa Luxemburg*, später mit Die letzten Wochen der Rosa Luxemburg → zu NB 24, 56r–58r betitelt.* An dem Projekt arbeitete Brecht spätestens ab Mitte, Ende April 1926 Tb H (→ Tagebuch Hauptmann)* und bis mindestens 1952. Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Erläuterungen Letzte Änderung: 2. August 2021
Brechts Beschäftigung mit Luxemburg läßt sich ab 1919 nachweisen. In die- sem Jahr besuchte er in Augsburg eine Protestversammlung gegen ihre und Karl Liebknechts Ermordung (→ Tagebuch Neher, 27. Januar 1919)* und in Mün- NBA 1, Tb N chen eine von der USPD veranstaltete Gedenkfeier (6. Februar; → Frisch/Ober- meier 1986, 120). Im September 1921 exzerpierte er ein Zitat aus Luxemburgs Briefe aus dem Gefängnis*. NB 12, 27r.2–5 Das Konzept des Massemenschen taucht im zeitlichen Umfeld der vorliegen- den Eintragungen häufiger auf.* In zwei Entwürfen von 1926/27 heißt es: → 88r.4, NB 20, 17r.9 m a t e r i a l i s m u s BBA 462/145; […] da es unerträglich ist in grossen massen individuell zu leben → BFA 21, 179f. wird der massemensch es aufgeben um vom erträglichen zum lust- vollen zu kommen wird er das dividuelle ungeheuer ausbauen müssen er tut es […] a t a v i s m u s der massemensch ist natürlich etwas viel zu natürliches als dass er nicht schon einen stammbaum hätte das kristentum brachte einen solchen ebenso hervor wie der buddhismus und auch klondike 〈Zentrum des Goldrauschs in Alaska und Kanada Ende des 19. Jahrhunderts〉 hat einen gesehen derr massemensch ist ohne gott denkbar aber nicht ohne gottes- dienst ohne götze nicht ohne götzendienst seine religion ist eine dynamische atheismus ist ohne g[ö]ott oder zumindest ohne götzen nicht möglich es gibt nur jene fragwürdige freiheit von einer gottesvorstellung die ohne eine mögliche gebundenheit an diese vorstellung nicht möglich ist aber wie jene tiefe genüsse bietet und jenen primitiven atheismusd der religiöse vorstellungen ohne genuss lässt Das Konzept ist auch für das Stückprojekt Fatzer* zentral, an dem Brecht bald → zu NB 21, 8r–55r nach der vorliegenden Eintragung zu arbeiten begann (September 1926)*: → zu NB 19, 13r–17r FATZER BBA 109/33; […] und man sieht leute herumgehn die → BFA 10, 409f. man sonst nie gesehn hat,das kommt weil alles,was unten ist heraufkommt wo früher ein mensch war und ein anderer da geht die masse,ein massemensch und es bleibt alles zusammen. […] in seiner ( 2[;]. ) rede vom massemenschen schildert er diesen BBA 111/19; "geist" → BFA 10, 465f. NB 18, 69–79 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
(wie früher geister kamen aus vergangenheit so jetzt aus zukunft ebenso klagend beschwörend und lähmend ungreifbar einzig bestehend aus stoff deines eigenen geists seiner furcht zuvorderst denn immer furcht zeigt an was kommt direkt vom aug geht ein strang zu fu[c]rcht dieser geist des massemenschen lähmt mich besonders seine art ist mechanisch einzig durch bewegung zeigt er sich jedes glied auswechselbar selbst die person mittelpunktlos nicht geist ists was ihm fehlt zur vollkommenheit sondern nur stoff diese zeit wird nur 4 jahre dauern .... Wohl im Frühjahr 1928 thematisierte Brecht das Konzept in einem Brief an Erich Engel (undatiert): BBA 219/3 ist der massemensch ein mythos so halten wir uns an ihn. dann gibt es keinen einzelnen, der die menschheit reproduziert. dann gibt es für diesen einzelnen keine to[l-]talität. Sondern nur für den massemenschen. dann wären diese spezialistengehirne die man jetzt allenthalben an der arbeit sieht (rechnen Sie kant ruhig–oder unruhig– dazu) dazu berufen sich immer wei- ter zu spezialisieren. das glücks[f]gefühl könnte sich erst in der masse einstellen masse wäre also nötig der einzelne könnte sich also ohne schaden ins extremste individualisieren. könnte man diesen gedanken durchdenken hätte er vielleicht folgen. 81r–82r.1 tatsächlich herrscht noch […] kragler. Zwei unabhängig voneinan- der eingetragene Entwürfe, in Vorwort zu Trommeln (1926/27) verwendet: BBA 348/35; → BFA 24, 19 noch das stärkste erotische leben herrscht vielleicht in der tat → 81r.1–4 in jener primitiven literatur (die man als in der form bekannt wirksamer wörter vorfindet und) die das volk mit naiver artistik anwendet […] BBA 348/36; die wirklichen revolutionäre konnten eine zeitlang das stück be- → BFA 24, 21 dauern indem sie den kragler für einen proletarier hielten und sie grund hatten sich für solche proletarier als helden zu bedan- ken sie konnten auch dagegen sein weil sie den kragler für einen Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Erläuterungen Letzte Änderung: 2. August 2021
b〈ourgeois〉 hielten und sich für solch einen helden bedankten denn es bestand kein zweifel dass dies ein held war aber sie könnten heute nicht mehr leugnen dass es ein eminent politisches stück ist ein anschauungsmaterial wie nicht leicht eines sie hatten hier vor sich jenen fatalen typus des sozialdemokraten und sie → 81r.10 hatten ihn in seiner heldischen form er war schwer zu erkennen als b〈ourgeois〉 auf der bühne und im leben die revolution gar nicht leugbar war verloren dieser typ hatte sie gemacht das wichtig- ste was es gab war diesen typ erkennen zu lernen er hatte sie gemacht und hier war [we]er hier in einer alltäglich romantischen liebesgeschichte ohne besondere tiefe war dieser sozialdemokrat dieser falsche proletarier dieser fatale revolutionär der die revolution sabotierte den lenin heftiger bekämpfte als die offe- → 81r.8 nen b〈ourgeoi〉s und der selbst ihm so schwer zu erfassen war dass es vor der russischen revolution kaum gelungen war ihn den mas- sen kenntlich zu machen um sie zu warnen dies war also dieser kragler dieser revolutionär den das mitleid wieder zu besitztum brachte der jammerte und krakehlte und heimging als er hatte was → 83r.8–84r.4 ihm gefehlt hatte Der Entwurf war wohl für die Buchpublikation von Trommeln in der Nacht beim Propyläen Verlag (Berlin) gedacht, die im Juli 1927 aber ohne Vorwort erschien.* → 77r–78r, 83r–89r In Staat und Revolution* bezeichnet Lenin den Sozialrevolutionär (S0zialde- → zu 38r.11 mokrat) als Feind der sozialistischen Revolution (Lenin 1929, 10): Im Verhältnis zum Staat tritt am anschaulichsten zutage, daß unsere Sozialrevolutionäre und Menschewiki gar keine Sozialisten sind (was wir Bolschewiki immer schon zu be- weisen suchten), sondern kleinbürgerliche Demokraten mit einer beinah-sozialistischen Phraseologie. 82r.3–4 wachsende maschinen / technologische weltanschauung Die Stich- worte hängen motivisch zusammen mit dem Konzept des Massemenschen*, mit → zu 79r der begonnenen Neubearbeitung von Trommeln in der Nacht* und mit Mann ist → 88r.4 Mann*. → zu NB 16, 6v.1–2, NB 20, 2r 83r–89r glubb \ genossen soldaten […] vorwärts! Entwurf einer Rede des Schnapshändlers Glubb für Trommeln in der Nacht, wohl im Zusammenhang mit einer geplanten Aufführung oder Umarbeitung des Theaterstücks eingetragen.* → zu 77r–78r Ähnlich wie hier* charakterisierte Brecht den Kriegsheimkehrer Andreas Kragler 83r.8–84r.4 auch im Vorwort zu Trommeln.* Den Zusammenhang des Typus Kragler mit der → zu 81r–82r.1 Mond-Romantik* formulierte Brecht auch in Der Boden der Tatsachen: → 84r.10–85r.2 tatsächlich ist für kragler die revolution ohne den romanti- BBA 348/72; schen mond nicht denkbar ein kindlicher mensch unfähig zu lei- → BFA 24, 21f. den brüllt er los bei der e[sr]rsten entdeckung eines schmerzes in sich seine revolution ist wirklich die eines schwergereizten NB 18, 81–89 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Letzte Änderung: 2. August 2021
mannes der weil seine frau die türe verriegelt d[en]as gemeinsame mobiliar zertrümmert der roten mond ist einn beinahe unentbehr- liches requisit der revolutionen und ein sehr gefährliches […] mit dem typ kragler verschwindet der rote m[i]ond aus der revo- lution er zertrümmert ihn als er ihn nicht mehr braucht auch beschimpft er ihn sofort 88r.4 | 79r.2–3 Die Figur des Massemenschen* taucht bereits oben* auf. 90r.1–3 90r 1 + 2 \ freut mich sehr […] wann Verse für eine Strophe* und den Re- 90r.4–6 frain* des Mann-ist-Mann-Songs (Mann ist Mann, 9. Szene). BBA 2219; Im ersten Regie- und Soufflierbuch von Februar 1926* finden sich in der → zu NB 16, 1r–31r.12 (18) 9. Szene noch keine Verse. Allerdings ist an drei Stellen bereits das Absingen BBA 2219/47, 50, 53 von Songs vorgesehen: »Nr. 2«, »Nr. 3« und »Nr. 4«,* also wohl noch nicht vier Strophen eines Songs. Am 25. Februar 1926 hatte Brecht den Song in einer Tb H; → zu NB 16, drei-, vielleicht auch schon vierstrophigen Version »fertig gemacht« (Tage- 1r–31r.12 (19) buch Hauptmann, 27. Februar 1926)*. Auf einem aus dem zweiten Regie- und → zu NB 16, 1r–31r.12 (23) Soufflierbuch* (Juni, Juli 1926) stammenden, heute lose im Konvolut »Mann = → zu NB 16, 1r–31r.12 (15) Mann« oder »Galy Gay«* überlieferten Blatt hatte Brecht Verse für eine weitere → BFA 2, 137 Strophe entworfen (→ Brecht: Mann ist Mann 1926, 88f.)*: BBA 150/30 52. Die Sonne von Kilkoa scheint Und 's ist bei keinem schad um ihn. Drum sagen wir, ob Freund ob Feind Drum sagen wir: 's ist gleich, auf wen Die rote Sonne von Kilkoa scheint. Ach tom, hast du auch deinen koffer gepackt? denn ich hab auch . . . . 〈meinen Koffer gepackt!〉 → 90r.2–3 freut mich sehr altes huhn na tom was tust du nun? Ach tom, hast du auch nichts zum hineintun gehabt? denn ich hab auch . . . . 〈nichts zum Hineintun gehabt!〉 Ach Tom, fährst du auch von hier fort von hier fort? denn ich … 〈fahre dann auch von hier fort!〉 .. .. …… ach tom, weißt du auch nicht wohin du fährst denn ich weiß „ „ „ ich fahr → zu NB 16, 1r–31r.12 (26, 27) Die vorliegenden Eintragungen entstanden für die Uraufführung* von Mann ist Mann in Darmstadt (Probenbeginn: Ende August; Premiere: 25. September 1926). Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang) Erläuterungen Letzte Änderung: 2. August 2021
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