Anhang NB 18 Elektronische Edition (EE) - Bertolt Brecht

Die Seite wird erstellt Leo Dietz
 
WEITER LESEN
Anhang NB 18 Elektronische Edition (EE) - Bertolt Brecht
Anhang NB 18
Elektronische Edition (EE)
Anhang NB 18 Elektronische Edition (EE) - Bertolt Brecht
Notizbuch 18
Beschreibung
Juli bis August 1926; indirekte Datierungen: 21. Juli (→ zu 24r), Mitte, Ende             Datierung
­August (→ zu 90r, 91r–92r)
 Ein Schwerpunkt von NB 18 liegt in Brechts Beschäftigung mit marxistischem               Kurzcharakteristik
 und leninistischem Gedankengut sowie mit der Frage nach der Gewalt des
 Ästhe­tischen, was sich in Aufsätzen wie Über den Sozialismus, Ovation für Shaw,
 Über Kunst und Sozialismus und Terror gegen Literatur, aber auch in der Neu-
 bewertung und partiellen Neubearbeitung älterer Theaterstücke wie Trommeln
 in der Nacht, Baal und Im Dickicht niederschlägt. Daneben entwarf Brecht Ge-
 dichte wie Ballade von den untreuen Weibern, Vom Geld oder Wenn der Whisky
 veraucht ist …, setzte sich mit Kritikern wie Henri Barbusse, Alfred Kerr und
 Karl Kraus auseinander, notierte Exzerpte aus Magnus Wehners Biographie
 von Johann Friedrich Struensee und trieb die Stückprojekte Fleischhacker/Wei-
 zen, Galgei/Mann ist Mann und Rosa Luxemburg/Die letzten Wochen der Rosa
­Luxemburg voran. In diesem Kontext taucht auch das bald darauf für Fatzer
 wichtig werdende Konzept des Massemenschen auf.
Archiv der Akademie der Künste, Berlin, BBA 10817                                         Standort, Signatur

10,6 × 13,7 cm; 94 von ursprünglich mindestens 102 Blättern (Umschlag mitge-              Format, Umfang
zählt); bei der Archivierung 1956 war eingelegt:
• zwischen Bl. 18 und 19: Bl. 95 (10,6 × 14,5 cm), ein aus einem anderen Notiz­
  buch herausgerissenes Blatt (festes, bräunliches Papier; abgerundete Ecken,
  Rotschnitt; bei 8,5 cm längs gefaltet)
Pappe, innen aufgeklebtes Blatt und im Bundsteg mit weißem Klebstreifen be-               Umschlag, Bindung
festigter Karton zur Bindungsverstärkung (→ 17r, 75v); außen mit schwarzem
Kunstleder (Efalin) bezogen; Fadenheftung
dünnes, durchscheinendes, braun-gelbliches Papier; abgerundete Ecken; Rot-                Papier
schnitt
schwarze Tinte, daneben Bleistift, Rotstift                                               Schreibmittel

• BBA 10816: NB 27 von 1929–30 (→ NBA 8)                                                  Archivkontext
• BBA 10818: NB 19 von 1926
Mit NB 18 beginnt eine Reihe äußerlich gleichartiger schwarzer Efalinhefte
(NB 18–25), die Brecht zwischen 1925 und 1930 verwendete und nachträglich von
»1« bis »9« numerierte. Nr.  ist nicht überliefert oder wurde in Einzelblätter
aufgelöst.

NB 18                                         Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                        Letzte Änderung: 2. August 2021
Das Notizbuch war während der Benutzung in einen separaten schwarzen, mit
                 Pappe verstärkten Lederumschlag (BBA 10363/95; → Abb. 1, 2) eingelegt bzw.
                 eingesteckt (→ NBA 7, 456). Dieser diente als Umschlag für die von Brecht mit
                 »1« bis »9« durchnumerierten Notizbücher NB 18–25.
   Verfärbung    Auf allen Blättern finden sich, meist am oberen Rand, eine oder zwei rechtec-
                 kige stärkere Vergilbungen oder kleine Flecken. Beides stammt von den 1956–57
                 im BBA mit Klebstreifen angebrachten Signaturzetteln. Im Rahmen der Re-
                 staurierung 2006 wurden diese Signaturen abgelöst und das ganze Notizbuch
                 neu foliiert (am unteren Rand außen).
Besonderheiten   • häufig Abdruck bzw. Durchschlag der Tinte der jeweils vorangehenden oder
                   folgenden Blätter
                 • Blätter mit Eselsohren: 1, 2–11, 74, 76, 77, 79, 92
                 • Blätter mit Faltspuren: 9, 10, 33
                 • auf den Umschlag geklebte Blätter 1v und 94r teilweise herausgerissen
                 • vorderer und hinterer Umschlag mit vertikalen Biegespuren
                 • aufgebrochene Bindung zwischen Bl. 17 und 18, 34 und 35 (im oberen Drittel),
                   74 und 75

                 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)                          Beschreibung
                 Letzte Änderung: 2. August 2021
Abb. 1   Lederumschlag außen (BBA 10363/95)

NB 18                                         Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                        Letzte Änderung: 2. August 2021
Abb. 2 Lederumschlag innen (BBA 10363/95); Eintragung mit
schwarzer Tinte »bertolt brecht«, eingeklebtes Firmenetikett

                                                               Beschreibung
Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
Letzte Änderung: 2. August 2021
Lagenschema und Seitenbelegung
Lage 1                                                            Lage 2

                     1
                                                   1
                     16
                                                                                     17r ←
                                    fehlt
                                                                                     bericht einer großen
                                                                                                                    18
                                                                                     eure getränke haben wir
                                    fehlt                                                                           19

                                                   2                                                fehlt
                     du darfst sie auch nachts                                       er lag stundenlang auf
                                                   3                                                                20
                     3r ←                                                            1 \ dem weibe gleich das
                                                   4                                                                21
                     was ich immer befürchtet                                        21r ←
                                                   5                                                                22
                     man könnte nun um uns                                           22r ←
                                                   6                                                                23
                                                                                     mir nicht die haut ritzt mit
                     das fürchterlichste was es                                      G. B. Sh.
                                                   7                                                                24
                     7r ←                                                            24r ←
                                                   8                                                                25
                     8r ←                                                            25r ←
                                                   9                                                                26
                     das gesetz der städte
                     fl. \ sein vater erkundigt                                      26r ←
                                                   10                                                               27

                     clark – eine einzige narbe!
                                                   11                                               fehlt
                     11v ←
                     12r ←
                                                   12                                               fehlt
                     über den sozialismus                                            erreichten wir eure städte
                                                   13                                                               28
                     13r ←                                                           4) sondern man wird uns
                                                   14                                                               29
                     14r ←                                                           1 \ ich will dich nicht zur
                                                   15                                                               30
                     15r ←                                                           30r ←
                                                   16                                                               31
                                                                                     31r ←
                                    fehlt                                                                           32
                     terdrückten klassen> ist                                        1 \ das ist sein los den du
                                                   17                                                               33
                                                                                     33r ←
                                                                                                                    34

⟨an Bl. 1v, 17r Bindungsverstärkung angeklebt⟩

   NB 18
                                                        Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                                  Letzte Änderung: 2. August 2021
Lage 3                                                  Lage 4

         Der Messiasglaube in d.                                      Neu + Alt
                                   35                                                                55
         35r ←                                                        55r ←
                                   36                                                                56
         36r ←                                                        56r ←
                                   37                                                                57
         37r ←                                                        kraus \ trifft den nagel auf
                                   38                                                                58
         38r ←                                                        terror gegen literatur
                                   39                                                                59
         1 \ 3) sorgen der bg                                         59r ←
                                   40                                                                60
         40r ←                                                        60r ←
                                   41                                                                61
         41r ←                                                        die filosofie der städte
                                   42                                                                62
         42r ←                                                        aber ewig immer ist nur
                                   43                                                                63
         43r ←                                                        „sein gesicht trug den
                                   44                                                                64
         44r ←                                                        64r ←
                                   45                                                                65
         45r ←                                                        wäre im beischlaf um
                                   46                                                                66
         46r ←                                                        die ansichten trügen
                                   47                                                                67
         47r ←                                                        67r ←
                                   48                                                                68
         48r ←                                                        infolge der gewöhnlichen
                                   49                                                                69
         49r ←                                                        69r ←
                                   50                                                                70
         50r ←                                                        alles unglück in der welt
                                   51                                                                71
         51r ←                                                        71r ←
                                   52                                                                72
         52r ←                                                        es ist eine verdummende
                                   53                                                                73
         „die blonde beute der                                        73r ←
                                   54                                                                74

             Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)            Lagenschema und Seitenbelegung
             Letzte Änderung: 2. August 2021
Lage 5                                                               Eingelegtes Blatt

                      74r ←                                                             17r ←
                                                      75                                bericht einer großen
                                                                                                                   18
                      meine ganze jugend war                                            wenn der whisky veraucht
                                                      76
                      4 \ auguste:                                                      eure getränke haben wir
                                                      77                                                           19
                      77r ←
                                                      78
                      rosa lux
                                                      79
                      es gibt fehler die durch
                                                      80
                      tatsächlich herrscht noch
                                                      81
                      81r ←
                                                      82
                      glubb \ genossen soldaten
                                                      83
                      83r ←
                                                      84

                                     fehlt

                                     fehlt
                      84r ←
                                                      85
                      85r ←
                                                      86
                      86r ←
                                                      87
                      87r ←
                                                      88
                      88r ←
                                                      89
                      1 + 2 \ freut mich sehr altes
                                                      90
                      Galy gay
                                                      91
                      91r ←
                                                      92

                      es war, vielleicht die          93
                      1
                                                      94

⟨an Bl. 75v, 94r Bindungsverstärkung angeklebt⟩

   NB 18                                                   Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                                     Letzte Änderung: 2. August 2021
Erläuterungen

1r 1 Die Ziffer notierte Brecht auf drei der vier Umschlagseiten.* Mit dem vor-        r, v, 94r
liegenden Notizbuch beginnt eine Reihe äußerlich gleichartiger schwarzer Efa-
linhefte*, die Brecht zwischen 1925 und 1930 verwendete und nachträglich mit           NB 18–25
Rotstift von »1« bis »9« numerierte.*                                                  → zu NB 24, 1v.1
1v 16 […] – augsburg Brecht notierte wohl zuerst mit schwarzer Tinte seinen
Namen und die Heimatadresse Bleichstraße 2, Augsburg, dann mit Rotstift seine
Adresse in Berlin-Wilmersdorf, Spichernstraße 16.* Frühestens 1930 trug er mit         → zu NB 17, 43v
Rotstift – in einem Arbeitsgang mit der Bezifferung der Notizbücher NB 19–25* –        → zu 1r
die Ziffer »1« nach. Zu einem späteren Zeitpunkt wurde das Blatt, wie auch die
Vorsatzblätter der Notizbücher 20–23 und 25, teilweise herausgerissen, wohl von
Elisabeth Hauptmann oder Brecht selbst.*                                               → 94r; zu NB 25, 1v
3r–4r du darfst sie auch nachts […] nichts wert! Gedichtentwurf, in folgen-
dem Typoskript verwendet:

   BALLADE VON DEN UNTREUEN WEIBERN                                                    BBA 152/40;
                                                                                       → BBA 152/53
         1
   willst du ein weib mein sohn für dich allein                                        → 4r
   dann mach dein testament für diese erde
   wird nicht dein maul wie das von einem schwein
   dann gleicht dein schwanz bald dem von einem pferde
   s gibt dies und das weib das sich darum kehrt dann beschwert[.],
   doch die begehre [b]nicht: sie ist nichts wert

        2
   und setz dich mit dem weibe auf dein zimmer
   wenn auf der bank im frei'n ein andrer sitzt
   sonst schaukelt der [i]und nichts mein kind ist schlimmer
   du selbst merkst gar nichts bisdu merkst: sie schwitzt
   s gibt dies und das weib das sich nichts draus macht
   vor der ich bitte dich nimm dich in acht

        3
   lügs ihr dass keiner grösser ist als deiner
   sags ihr ganz deutlich junge nimm ein beil
   und setz dich neben sie sonst steckt ihr einer
   sofort ein kissen unters hinterteil
   es gibt auch dies und das weib das sich wehrt
   halt dich von diesen fern: sie ist nichts wert

        4
   hau in den boden die bettstatt neben dich euch dein messer
   und geh ja nicht hinaus wenn du nicht musst
   dann nimm sie mit ich sage dir s ist besser

NB 18, 1–4                                 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                     Letzte Änderung: 2. August 2021
sonst gr[ie]eift ihr wieder einer an die brust
                                   s gibt dies und das weib das sich drum nicht schert
                                   doch halt dich fern von der: sie ist nichts wert

                                        5
                       → 3r        du darfst sie auch nachts nicht zu oft gebrauchen
                                   sonst schläfst du allzu tief und nichts ist schlimmer
                                   kannst du im schlaf nicht grad noch pfeife rauchen
                                   läuft sie doch gleich noch in ein a[d]ndres zimmer
                                   s gibt dies und das weib das den schlummer ehrt
                                   halt dich von der entfernt: sie ist nichts wert

                                6r.9–11 an sein¿ coktailmauer bauen […] hufeisen Entwürfe für das Theater-
  → 10r; zu NB 16, 7v–35r.8     stück Fleischhacker/Weizen.*
                                9v das gesetz der städte […] in der großen stadt Konzept, vielleicht zu den
                     10r–12v    folgenden Fleischhacker/Weizen-Eintragungen* gehörend. Im Material zu die-
                                sem Stückprojekt ist folgender Gedichtentwurf überliefert:

                BBA 524/7;         die gesetze der stadt
              → BFA 10, 312
                                   bevor du sie brauchst hast du nicht gewusst
                                   mein kind was die menschen sind
                                   aber wenn du mit den menschen reden musst
                                   nimm ein beil mit kind

                                   mit bier am sonntag
                                   und zeitungsblatt
                                   und was eine familie
                                   am sonntag haz

                                Die Formulierung »gesetz der städte« verwendete Brecht später auch in einem
                                Entwurf für das Theaterstück Der Brotladen (1929):

              BBA 1353/5;          Wer das Gesetz der Städte berücksichtigt kommt vorwärts
             → BFA 10, 567         Wer versucht als Mensch hoch⟨z⟩ukommen dem geht es gut [j]hoch
                                   "      "     als Menschheit " der geht down

                                Mowgli ist der Held von Rudyard Kiplings Dschungelbuch. Schon in Im Dickicht
                                (September 1921) hatte Brecht die Gesetze des Dschungels auf die Großstadt
   → zu NB 12, 9r–57r.10 (1)    übertragen.*
                                10r 12v fl. \ sein vater erkundigt sich […] genickschlag! Entwürfe für das
→ 6r.9–11; zu NB 16, 7v–35r.8   Theaterstück Fleischhacker/Weizen*. In dem wohl Anfang, Mitte 1926 erstell-

                                Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)                        Erläuterungen
                                Letzte Änderung: 2. August 2021
ten Personenverzeichnis* ersetzte Brecht den Namen William Iron durch Josua                    → zu NB 16, 7v–35r.8 (6)
Clerk*, Führer der Baissegruppe bzw. der Bären, die im Gegensatz zu den Bullen                 → 10r.8, 11v.3
auf einen fallenden Börsenkurs spekulieren. Mit »clark – eine einzige narbe!«*                 11v.1
 ist dieselbe Person gemeint; in einem anderen Entwurf, in dem auch Dexter*                    11v.3; → NB 19, 4r.9, 5r.1
 erwähnt wird, heißt er »Josua Clerc, die Narbe«*.                                             BBA 524/49;
                                                                                               → BFA 10, 308
 13r–18r.3 über den sozialismus […] unsittlich> Aufsatzentwürfe; ein Teil-
 stück befand sich auf dem vor 17r heute fehlenden Blatt. Hier tauchen erstmals
zusammenhängend Begriffe der marxistischen Gesellschaftskritik auf, die für
Brecht ab August 1926 zentral werden;* zuvor verwendete er sie, wenn über-                     → zu 35r–53r
haupt, nur vereinzelt und in polemischer Absicht.
     Mit dem Sozialismus hatte Brecht sich bereits im Kontext der politischen
Ereignisse von 1918/19 (Novemberrevolution 1918, Spartakusaufstand Anfang
­Januar 1919, Münchener und Augsburger Räteregierung Anfang, Mitte 1919)
 auseinandergesetzt:*                                                                          → zu NB 2, 15v

   ⟨Tagebuch Neher, 15. Februar 1919:⟩ Bert erläuterte seine Theorien, sprach von un-          NBA 1, Tb N
   serm »berühmten« Klubhaus und war wiedereinmal Ministerpräsident. Er sprach
   von Sozialismus (Spartakismus) sagte folgenden guten Satz: Der Sozialismus wolle
   nicht die Füße der Leute auf ein gleiches Niveau bringen, sondern nur die immer
   die Köpfe der Leute, so daß es dann Unbedingt nötig wäre die Köpfe Füße derselben
   einzuscharren. −

   ⟨Tagebuch Neher, 4. März 1919:⟩ Abends ⟨mit Brecht in⟩ Maxim Gorki’s Nachtayl, das
   ein ganz gewaltiger Schmarrn ist […]. Eine Behauptung wie die: Alle Menschen sind
   gleich ist gerade so unwahr ⟨andere Lesart: unrecht⟩ wie 2 Ochsen oder 2 Kühe nicht
   gleich sind, se[l]elisch wie physisch. beides. leider sind die Menschen eben nicht gleich
   deswegen ist ja der Kampf. Wären die Menschen gleich zu was bräuchte man den
   ­Sozialismus. Zu was − dann wäre Sozialismus Spielerei Zeitvertreib.

18v bericht einer großen generation Entwurf eines Titels, vielleicht für das
auf der gegenüberliegenden Seite entworfene Gedicht* oder einen Aufsatz. Mitte                 19r
der 1920er Jahre galt Brecht vielfach als Repräsentant einer jungen Schriftsteller-
generation*, u. a. in dem Artikel Die Jungen. Die neue Bühnendichter-­Generation               → zu NB 19, 3r–5r, 9r–10r,
                                                                                               NB 20, 5r
Deutschlands (Berliner Illustrirte Zeitung, 28. Februar 1926; → Tagebuch Haupt-
mann, 27. Februar 1926*).                                                                      Tb H
19r eure getränke haben wir […] drin schifft! Gedichtentwurf, vielleicht
nachträglich auf der gegenüberliegenden Seite mit Bericht einer großen Genera-
tion* betitelt.                                                                                18v
21r–23r 1 \ dem weibe gleich […] fand! Gedichtentwurf aus dem Umkreis der
Augsburger Sonette*, später teilweise für Sonett Nummer 3 verwendet (verein-                   → zu NB 21, 3r–5r
facht wiedergegeben):

NB 18, 6–23                                      Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                           Letzte Änderung: 2. August 2021
BBA 507/83;                                         nach einer mittelalterlichen legende verkauften 6 italieni­
   → BFA 13, 332                                       sche jungfrauen, um ins Gelobte Land zu kommen ihren
                                                       leib an die Schiffsbesatzung. Keine erreichte Palästina.

                       S O N E T T        NUMMER 3

       → 21r.2–6       dem weibe gleich, das ins gelobte land
                       zu kommen, seinen leib den schiffern liess
                       und hoffte einzufahren in das paradies
                       mit zwanzig schifferschwänzen in der hand!

       → 21r.8–12      so tun auch wir. mit solchem ungefähr
                       beflecken wir den untauschbaren leib
                       und brauchen zu der waschung wie das weib
                       am end : ein ganzes winterliches meer.

           → 22r       so kommen wir nach manchem unterneh[en]men
                       und machen halt am meer zur linken hand
                       Und waschen uns tauchen auf um unsern gott zu überraschen:
                       seht doch, dort kommen meine unbequemen
                       mein ganzes meer reicht nicht mehr[.], sie wa zu waschen.
                       So stehn sie gegen mich im Zeugenstand.

                    Das Sonett nimmt Motive des 1917 entstandenen Gedichts Die Legende der Dirne
 BBA 1348/13–14;    Evlyn Roe* auf.
→ BFA 13, 102–104
                    24r–27r G. B. Sh. \ er blufft […] wird bezahlt. Entwürfe für einen Aufsatz über
    → zu 58r.9–12   George Bernard Shaw,* wohl am 21. Juli 1926 in Wien eingetragen (→ Tagebuch
            Tb H    Hauptmann, 21. Juli 1926)*. An diesem Tag schrieb Brecht an den Redakteur des
                    Berliner Börsen-Couriers Emil Faktor :

    BBA 2217/56        Lieber Herr Doktor Faktor,
                                                    einer Aufforderung der "Neuen Freien
                       Presse" ⟨Wien⟩ über Shaw zu schreiben,entnehme ich,dass da irgen-
                       ein Jubiläum in der Lu[s]ft liegen muss. Natürlich schreibe ich
                       sofort.Ich werde mir aber erlauben,[für]Ihnen Donnerstag ⟨22. Juli⟩
                       abend hier abgehend den Aufsatz (etwa 5 Maschinenseiten, posi-
                       tiv!) für die Sonntagsnummer des B.B[1].C. zu schicken.

                    Brecht verwendete die vorliegenden Entwürfe teilweise in dem Artikel Ova-
                    tion für Shaw, der aus Anlaß von Shaws 70. Geburtstag (am 26. Juli) gleichzei-
                    tig in der Wiener Neuen Freien Presse und im Berliner Börsen-Courier erschien
                    (25. Juli 1926); im 1. Abschnitt der Druckvorlage, Shaw’s Terror, heißt es:

  BBA 155/23–25;       […] Man wird es schon gemerkt haben,dass Shaw Terrorist ist.
  → BFA 21, 149f.         Der Shaw'sche Terror ist ungewöhnlich und er bedient sich ei-
                       [d]‌
       → 25r.9–10      ner ungewöhnlichen Waffe,nämlich des Humors. […]

                    Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)                                      Erläuterungen
                    Letzte Änderung: 2. August 2021
Der Shaw'sche Terrot besteht darin,dass Shaw es für das Recht jedes
   Menschen erklärt,in jedem Fall anständig,logisch und humorvoll zu
   handeln,und für die Pflicht,dies auch zu tun,wenn es Anstoss er-
   regt. Er weiss genau,was für ein Mut dazu gehört,über das Lustige
   zu lachen und wieviel Ernst nötig ist,um das Lustige herauszu-
   finden. Und wie alle Leute,die ein Ziel verfolgen,weiss er,dass
   das Zeitraubendste und Ablenkendste,was es gibt,andererseits
   eine gewisse Sorte von Ernst ist,die in der Literatur populär
   ist,sonst aber nirgends. (Als Theaterschriftst[s]eller scheint es
   ihm ebenso naiv wie uns Jungen,für das Theater zu schreiben und
   er bezeugt keine Spur von Lust sich zu stellen,als wisse er das
   nicht: er macht ausgiebigen Gebrauch von dieser Naivität. Er gibt                          → 24r.4–11
   dem Theater Spass,so viel es verträgt. Und es verträgt sehr viel.
   Das,weswegen die Leute ins Theater gehen,ist streng genommen                               → 26r–27r
   lauter Zeug,das eine ungeheure Belastungsprobe für jene wirkli-
   chen Angelegenheiten bedeutet,die den fortgeschrittenen Theater-
   schreiber wirklich interessieren und den eigentlichen Wert seiner
   Stücke ausmachen. Die Folgerung davon ist: seine Probleme müssen
   so gut sein,dass er unbedenklich darauf sündigen kann,und die
   Sünde ist es dann,| die die Leute haben wollen.)

Shaws Theaterstücke kannte Brecht vor allem von Besuchen von Augsburger
und Berliner Aufführungen.*                                                                   → zu NB 13, 9v.10–13,
                                                                                              NB 15, 32r.3, 33v.6
28r.4–8 6 \ eure mädchen, […] wie die wüste! Sechste Strophe eines wohl auf
den davor heute fehlenden Blättern begonnenen Gedichtentwurfs, wohl mit den
vorangehenden und nachfolgenden Versen* zusammengehörend.                                     28r.1–3, 29r
30r–32r 1 \ ich will dich nicht […] kennen dich nicht Gedichtentwurf, in Vom
Geld verwendet (Simplicissimus, Nr. 52, 28. März 1927, 706):

               Vom Geld                                                                       → BFA 13, 332f.

                   Vor dem Taler, Kind, fürchte dich nicht.
                   Nach dem Taler, Kind, sollst du dich sehnen.
                                                     Wedekind

   Ich will dich nicht zur Arbeit verführen.                                                  → 30r.1–8
   Der Mensch ist zur Arbeit nicht gemacht.
   Aber das Geld, um das sollst du dich rühren!
   Das Geld ist gut. Auf das Geld gib acht!

   Die Menschen fangen einander mit Schlingen.                                                → 32r.2–9
   Groß ist die Bösheit der Welt.
   Darum sollst du dir Geld erringen,
   Denn größer ist ihre Liebe zum Geld.

NB 18, 24–32                                      Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                            Letzte Änderung: 2. August 2021
Hast du Geld, hängen alle an dir wie Zecken:
                                 Wir kennen dich wie das Sonnenlicht.
                                 Ohne Geld müssen dich deine Kinder verstecken
                                 Und müssen sagen, sie kennen dich nicht.

                → 31r.2–6        Hast du Geld, mußt du dich nicht beugen!
                                 Ohne Geld erwirbst du keinen Ruhm.
                                 Das Geld stellt dir die großen Zeugen.
                                 Geld ist Wahrheit. Geld ist Heldentum.

               → 32r.2–9         Was dein Weib dir sagt, das sollst du ihr glauben.
                                 Aber komme nicht ohne Geld zu ihr:
                                 Ohne Geld wirst du sie deiner berauben,
                                 Ohne Geld bleibt bei dir nur das unvernünftige Tier.

               → 31r.8–13        Dem Geld erweisen die Menschen Ehren.
                                 Das Geld wird über Gott gestellt.
                                 Willst du deinem Feind die Ruhe im Grab verwehren,
                                 Schreibe auf seinen Stein: Hier ruht Geld.
                                                                                Bert Brecht

                              Das Motto stammt aus Frank Wedekinds Gedicht Der Taler (1905).
                              33r–34r 1 \ das ist sein los […] nicht genügend? Gedichtentwurf; eine mögli-
                   63r.3–7    che Antwort auf die Frage im Schlußvers formulierte Brecht unten*.
                              35r–53r Der Messiasglaube in d. literatur […] Mann ist Mann> Entwürfe für
                              einen oder mehrere Aufsätze, Ende Juli, Anfang August 1926 eingetragen. Brecht
       35r.2, 36r.10, 40r.2   fügte die Entwürfe nachträglich zumindest teilweise mit den Ziffern 1 bis 3* zu-
  37r.5–38r.8 | 38r.10–39r    sammen. Zu Baal* und Ich muß gestehen …* gehören wohl zu keinem der ge-
                              zählten Abschnitte.
                                 Mit den hier verwendeten Begriffen der marxistischen Gesellschaftskritik
                 13r–18r.3    hatte sich Brecht bereits oben* auseinandergesetzt. Gedacht waren die Entwürfe
                     53r.8    wohl zumindest teilweise für eine Vorrede* zur Buchpublikation von Mann ist
→ zu NB 16, 1r–31r.12 (25)    Mann, die allerdings ohne sie erschien.* Konstituierter Text:

                   53r.6–9       aus: über kunst + sozialismus
                                 
                    35r.1        Der Messiasglaube in d⟨er⟩ literatur
             36r.10–37r.4        		                 1
                                 ich will mich, um besser verstanden zu werden, lieber etwas undeutlich ausdrücken: von
                                 meinen gegnern interessiert mich die bourg⟨eoisie⟩ gar nicht – trotz ihrer bemühungen.
                                 dagegen interessiert mich das proletariat, trotz seiner gleichgültigkeit!

                              Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)                                   Erläuterungen
                              Letzte Änderung: 2. August 2021
2                                                                         35r.2–36r.8
   für das ungeheure loch in der „geistes“geschichte der bourg⟨e⟩oisie waren und sind wir
   jedenfalls nicht die ausfüllung. es wird nie mehr ausgefüllt werden und wenn wir eine
   rolle nennen sollen die zu spielen uns zumindest übrig bleibt, ist es die, daß wir sorgen
   werden daß es noch erweitert wird.
   der ganzen ideenlosen und verzweifelten plebs wird es noch vor ihrem abend aufgehen
   daß es, wenn es ein unbedingtes kriterium der reinheit von ideen gibt, das ist: daß diese
   verrot⟨t⟩ete bourg⟨e⟩oisie sie nicht verstehen kann.
                                                                                                 40r.1–42r.8
   		                  3) 1
          sorgen der bg ⟨Bourgeoisie⟩
   man gab mir z. b., ohne es selber so ganz genau zu wissen⟨,⟩ zu verstehen daß man mir
   gern erlauben würde, etwa einmal im jahr das eine oder andere meiner stücke durch-
   fallen zu lassen. ich brauchte mich um nichts zu kümmern als um die herstellung der
   stücke. das kam nicht weil man die stücke fürchtete, dazu verstand man sie zu wenig,
   sondern weil man diese sorte von theater nicht preiß geben wollte. man hätte sie tatsäch-
   lich schließen müssen um meine stücke aufführen zu können. die situation die geschützt
   werden mußte war sehr eigenartig: es sollte einem haufen leute im parkett nicht die gele-
   genheit genommen werden maulaffen feil zu halten  aber einem
   anderen haufen / auf der bühne / sollte die gelegenheit erhalten bleiben nicht durch
   seinen mangel an kunst brotlos zu werden. es war schwer etwas dagegen zu sagen; es war
   naheliegend ihre sorgen haben zu wollen.
   		                  ⟨3)⟩ 2                                                                    42r.9–51r.9
          wo blieben die leute von links?
   die leute von links hatten wirkliche sorgen, sie kannten dieselben und machten keinerlei
   theater. was bis auf einige nutzrevuen von links gemacht wurde war künstlerisch be-
   trachtet ziemlich eitler plempl von auffällig sklavischer mentalität. ein pa⟨a⟩r nach links
   oder rechts furchtsame literaten stellten texte her, die auf der berechnung basierten, daß
   für stücke ein einfacher mangel an intelligenz genüge um sie verständlich zu machen.
   der typische literat stellte sich den proleten als dümmer vor als sich selber oder glaubte
   daß das „literarische gefühl“ jenes gefühl sei, das die revolutionen erzeuge. ein natürlich
   harmloser irrtum. überhaupt ist das kennzeichen dieser ganzen bemühungen von rechts
   bis links eine jeden natürlichen menschen verstimmende harmlosigkeit.
sein und während eines kampfes ist sie es sogar bestimmt, aber das ist ihr gleich. man
                          könnte, mit einer geringfügigen übertreibung, sagen daß der k⟨unst⟩ die ansichten der
                          künstler gleichgültig sind. sie ist keine sache der ansichten. das getreide ist übrigens auch
                          keine sache der ansichten; insofern als es wächst. wäre k⟨unst⟩ etwas das mit ansichten
                          zu schaffen hätte so wäre sie etwas durch und durch individuelles und dies haben ja auch
                          viele bourgois und proletarier zuweilen geäußert. aber das ist nicht so. k⟨unst⟩ ist nichts
                          individuelles. k⟨unst⟩ ist, sowohl was ihre entstehung als auch was ihre wirkung betrifft
                          etwas kollektivistisches. das schlimmste was durch eine solche ansicht passieren könnte,
                          wäre höchstens: daß ein ganzer haufen bisher kunst genannten krempels von jetzt ab
                          nicht mehr k⟨unst⟩ genannt würde. ein einleuchtender vorteil! ich behaupte also daß
                          eine bei uns links geläufige ansicht über k⟨unst⟩ falsch ist. ich will bei dieser gelegenheit
                          noch erwähnen daß links ungeheuer viele ansichten falsch sind, es macht nur dort nicht
                          so viel wie rechts. die verzweifelten bemühungen der literaten die ansichten der prole-
                          tarier zu treffen sind unsäglich komisch. es sind in 9 von 10 fällen durchaus bourgeoise
                          ansichten. man versteht deshalb überhaupt nicht, warum die herrn sich so bemühen: es
                          sind einfach ihre eigenen ansichten.
        51r.10–53r.5             résümée
                          nach m⟨einer⟩ ansicht ist es sicher daß der sozialismus und zwar der revolutionäre das
                          gesicht unseres landes noch zu unsern lebzeiten verändern wird. unser leben wird mit
                          kämpfen gerade dieser art ausgefüllt sein. was die künstler betrifft so halte ich es für
                          sie ⟨für⟩ am besten wenn sie unbekümmert darum machen was ihnen spaß macht, sie
                          können sonst nicht gute arbeit liefern. für leute freilich, in deren kopf gerade diese span-
                          nungen fehlen, wird es sehr schwer sein k⟨unst⟩ zu machen. zu erhoffen von unserer zeit
                          haben nur diejenigen etwas, denen besseres publikum nützt und denen bessere instinkte
                          zu statten kommen: das sind wenige.

                          ⟨keinem der Abschnitte zugordnet:⟩
         37r.5–38r.8             zu baal
                          ich suchte, als ich den typ baal auf ⟨der⟩ bühne sichtbar machte, umsonst die gegnerschaft
                          der bourg⟨e⟩oisie „jener“ zeit. diese war schon so unrettbar verkommen, daß sie nur die
                          form die – nur als form – ganz gleichgültig, nur eben nächstliegend war, kritisierte oder
                          dem gewissen „je ne sais pas quoi“ der formulierung erlag. den wirklichen gegner kann
                          ich mir nur im proletarier erhoffen. ohne diese von mir gefühlte gegnerschaft hätte die-
                          ser typ von mir nicht gestaltet werden können.
          38r.9–39r       		                ×
                          ich muß gestehen daß ich erst als ich lenins „staat + revolution“ (!) und danach marx⟨’⟩
                          „kapital“ gelesen hatte begriff, wo ich, philosofisch, stand. ich will nicht sagen daß ich
                          gegen diese bücher reagierte, dies schiene mir höchst unrichtig. ich glaube nur, daß ich
                          hier, in diesen gegensätzen, mich zu hause fühlte. mehr als den „standpunkt“ einzu-
                          nehmen daß hier die fruchtbaren gegensätze liegen, ist meiner meinung nach der kunst
                          dieser  übergangszeit nicht gestattet.

                       Zu den Eintragungen im einzelnen siehe die anschließenden Erläuterungen.
                       37r.5–38r.8 zu baal […] können. Im Januar 1926 hatte Brecht bereits einen
→ zu NB 3, 4r.3–4v.1   Aufsatz über Baal* unter dem Titel Das Urbild Baals in der Berliner Zeitschrift
               Tb H    Die Scene publiziert (→ Tagebuch Hauptmann, 18. Januar 1926)*. Im Januar,
                       Februar inszenierte er Lebenslauf des Mannes Baal an der Jungen Bühne im Deut-

                       Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)                                         Erläuterungen
                       Letzte Änderung: 2. August 2021
schen Theater, Berlin, (angekündigt als Baal. Dramatische Biographie; Premiere:
14. Februar 1926). Am 21. März hatte das Stück am Wiener Theater in der Josefstadt
Premiere (Regie: Herbert Waniek; → Tagebuch Hauptmann, 27. Februar 1926)*.                Tb H
38r.11–39r.1 lenins „staat + revolution“ (!) […] stand. Brechts Beschäftigung
mit Lenin läßt sich ab März 1926 belegen. Hauptmann berichtet von einem Ge-
spräch Brechts mit Paul Baudisch am 17. März (Tagebuch Hauptmann, Bearbei-
tung von April 1926 oder später; → Tagebuch Hauptmann, 24. März 1926*):                   Tb H

   Er hat im übrigen nicht⟨s⟩ dagegen, dass B ei⟨n⟩ Romantiker ist,                       BBA 1107/5
   während B ihm klar macht, dass er Klassiker ist. Verschiedene An-
   sichten über Lenin und Lenins Begräbnis, über Kipling.

Am 29. März hält Hauptmann eine weitere Äußerung Brechts über Lenin fest
(→ Tagebuch Hauptmann, 29. März 1926)*.                                                   Tb H
   Ab wann genau sich Brecht mit Marx bzw. dem Marxismus näher auseinan-
dersetzte, läßt sich nicht feststellen.* Hauptmann zitiert 1956/57 in ihrer Bear-         → 67r–68r, NB 20, 2r
beitung des Tagebuchs von 1926 einen nicht erhalten gebliebenen Brief Brechts
(von ihr auf Oktober 1926 datiert, die vorliegende Eintragung entstand jedoch
schon im August):
                                                                                          EHA 273/5
   "Ich stecke acht Schuh tief im "Kapital". Ich muß es das jetzt genau
   wissen ..."

Eine ähnliche Formulierung wie die vorliegende verwendete Brecht auch in
einem späteren Entwurf (wohl 1928): »als ich das kapital von marx las verstand
ich meine stücke«*.                                                                       BBA 348/72; → BFA 21,
                                                                                          256f., zu NB 16, 7v–35v (11)
   Lenins Staat und Revolution. Die Lehre des Marxismus vom Staat und die Aufga-
ben des Proletariats in der Revolution,* 1918 erstmals ins Deutsche übersetzt (Berlin:    → zu 81r.8
Verlag der Wochenschrift Die Aktion), besaß Brecht in zwei später erschienenen
Ausgaben (Lenin 1929, Lenin 1932), ebenso Das Kapital (Marx 1932, Marx 1932/33).
42r.14–43r.1 nutzrevuen von links Wohl Anspielung auf die Revuen von Felix
Gasbarra und Ernst Piscator Revue Roter Rummel (Premiere: 22. November 1924,
Pharussäle Berlin-Wedding) oder Trotz alledem! (Premiere: 12. Juli 1925, Großes
Schauspielhaus Berlin), beide im Auftrag der KPD erarbeitet.*                             → zu NB 17, 38r–41v,
                                                                                          NB 24, 60r–61r
44r.9–45r.3 rüppeleien ältlicher feuilletonisten […] wohlbefinden Wohl An-
spielung auf die in zwei mehrbändigen* Sammlungen erschienenen Feuilletons                → 45r.1
des damals 58jährigen Alfred Kerr* (Kerr 1917, 1920), vielleicht auch auf die Po-         → zu NB 2, 2r.5–11,
                                                                                          NB 25, 72r.5–73r.7 |
lemiken des 52jährigen Karl Kraus* (→ Die Fackel).                                        → zu 58r
47r.4–6 vorwurf den z. b. barbusse […] machte, Brecht bezieht sich wohl
auf die von Henri Barbusses Artikel L’Autre moitié du devoir. A propos du Rol­

NB 18, 37–47                                  Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                        Letzte Änderung: 2. August 2021
landisme (in: Clarté, 3. Dezember 1921) ausgelöste Debatte über die Frage einer
                        poli­tischen Parteinahme linker Intellektueller. Barbusse warf den Schriftstel-
                        lern vor, zu allen Zeiten Diener der Herrschenden gewesen zu sein.
                        47r.10–11 gott daß er zu den stärkeren bataillonen Anspielung auf die Rede-
                        wendung ›Gott ist mit den stärkeren/stärksten Bataillonen‹, die auf Friedrich den
                        Großen (Brief an Herzogin Luise von Sachsen-Gotha, 8. Mai 1760: »à la guerre
                        Dieu est pour les gros escadrons«) und Roger de Bussy-Rabutin (Brief an Comte
                        de Limoges, 18. Oktober 1677: »Dieu est d’ordinaire pour le gros escadrons, con-
                        tre les petits«) zurückgeht. Brecht zitierte sie auch in dem Entwurf Vorwort zu
      → zu 81r–82r.1    Trommeln* (1926/27):
       BBA 348/34;            das untergehende theater beschäftigte sich wie ein unterge-
       → BFA 24, 17        hender dampfer mit der vielleicht sehr schwierigen aber doch im
                           grund gleichgültigen frage ob es besser sei nach rechts oder nach
                           links zu versinken und die besatzung kritisierte die musik die in
                           der verwirrung ihr näher mein gott zu dir immer weiter spielte
                           und dabei den gott meinte der mit den stärkeren bataillonen ist

                        54r „die blonde beute der gelegenheit“ Wohl ungenaues Zitat aus William
                        Shakespeares Troilus und Cressida; darin äußert Ulysses über die Titelheldin (IV,
                        5; in: Shakespeare Werke 8, 491):

                                                       Pfui über sie!
                           An ihr spricht Alles, Auge, Wang’ und Lippe,
                           Ja selbst ihr Fuß: der Geist der Lüsternheit
                           Blickt vor aus jedem Glied und Schritt und Tritt.
                           O der Kampflustigen, so zungenglatt,
                           Die jeden Anlaß grüßen, eh er kommt,
                           Und weit aufthun die Blätter ihres Denkbuchs
                           Für jeden üpp’gen Leser! Merkt sie euch
                           Als niedre Beute der Gelegenheit
                           Und Töchter schnöder Lust.

     → zu NB 26, 28r    Später konzipierte Brecht eine Bearbeitung von Shakespeares Theaterstück.*
                        55r–57r Neu + Alt \ vorrede zu dickicht […] ist neu. Entwurf für eine Vor-
→ zu NB 12, 9r–57r.10   rede zum Theaterstück Dickicht/Im Dickicht der Städte,* in der Buchpublikation
                        (Juli 1927) nicht verwendet. Im zeitlichen Umfeld entwarf Brecht eine weitere
                        Vorrede (1926/27; vereinfacht wiedergegeben):

       BBA E 74/5–6                              Vorrede zu Dickicht

                                 Ich glaube, dass nicht nur ich allein ein Theaterstück nur
                           mit der grössten Hemmung dem zeitgenössischen Thea[er]ter in die
                           Hand gebe. D[as]ieses ist auf einem Punkt angelangt, wo es den

                        Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)                            Erläuterungen
                        Letzte Änderung: 2. August 2021
wirklichen Interessen der Nation nichts mehr zu bieten hat. Seine
   Darbietungen sind anstrengende , ermüdende und gedankenloe Demon-
   strationen gegen das Amusement des Publikums. Tatsächlich stellt
   heute nicht das Publikum Ansprüche, sondern das Theater. Unter
   dem jahrhundertelang zwangsweise Unter dem Zwang in jahrhunder-
   telang durchgef durchgeführten , von Anfang an grundsätzlich auf
   8 Uhr abends angesetzten Vorstellungen etwas zu sagen, haben
   jetzt endlich nicht nur diese zwangsläufigen Äusserungen, sondern
   sogar schon die Sprechorgane des Theaters gelitten. Es ist sehr
   schwierig, dieser ständig laufenden Turbine ,die darauf angewie-
   sen ist, immerfort Kraft zu fressen, um siedann zu übersetzen,
   so zu widerstehen, dass unsere neuen Stoffe die wir hineingeben,
   nicht sofort bis zur Unkenntlichkeit aufgearbeitet werden und
   dann dieses [B]breiige , ältliche , übelriechende Aussehen ge-
   winnen, das das Publikum an den Darbietungen des zeitgenössischen
   Theaters so furchtbar abstösst. Die Wahrheit ist, dassdie Turbine
   kaputt ist.
               Unter nichts leiden die Theater so sehrals darunter,
   dass man nichts von ihnen verlangt. Der Appetit des Publikums
   ist verschwindend. Wohl zu keiner Zeit wurde im Theater so viel
   kritisiert, verglichen, übelgenommen, wie in unserer Zeit. Und zu
   keine Zeit wurde so wenig verlangt. Sie gehen in einen Schuhwa-
   renladen, um ein Piano zu kaufen, aber wozu gehen sie ins Theater?
   Wenn ich das Theater als Beruf oder als Pass ion habe, muss ich
   | mich , um nicht alle Hoffnungen einzubüssen , dass im Publikum
   doch noch Appetit auf Theater verhanden sei, zunächst unbedingt
   von den Theatern selbst fernhalten. Ich kann diesen Appetit am
   ehesten noch auf den Sportplätzen und in den Sportpalästen oder
   auf den Börsen entdecken. Und nur aus diesem Grund, aus den dort
   gewonnenen Erfahrungen heraus, glaube ich feststellen zu können,
   dass es heute Appetit auf Theater gibt.
                 Diese Erfahrung allein berechtigt mich würde mich
   berechtigen, ein Theaterstück zu verfassen, wenn ich mir nicht
   diese Freiheit schon deswegen herausnehmen würde, weil es mir
   persönlich Spass macht ⟨→ Tagebuch Hauptmann, 24. März 1926⟩. Aber ich              Tb H
   gebe zu, dass ich wenigstens bisher noch keinen Satz für das Thea-
   ter geschrieben habe, ohne die feste Erwartung, daran Spass zu
   finden, wenn er auf der Bühne gesprochen würde. Diese Erwartung
   aber wurde sehr selten nicht getäuscht.

Die paraphrasierten Behauptungen* beziehen sich auf Henrik Ibsens Nora oder            56r.5–12
Ein Puppenheim (1879), August Strindbergs Totentanz (1900) und Gerhart Haupt-
manns Fuhrmann Henschel (1898). Valencia* hieß ein 1926 populärer Schlager             57r.6–7
von José Padilla mit deutschem Text von Fritz Löhner, genannt Beda. Auf ihn
bezog sich Brecht auch im Titel seines Aufsatzes Wer meint wen? Oder Valencia          BBA 156/9–10;
contra Tod und Verklärung* (1926). Mitte der 1920er Jahre war der ameri­kanische       → BFA 21, 165
Jazz in Europa ein Inbegriff des Neuen.*                                               → 76r.1–4, zu NB 17, 41r.11

NB 18, 47–57                               Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                     Letzte Änderung: 2. August 2021
58r kraus \ trifft den nagel auf den kopf. […] zählt! Mit dem damals 52jäh-
→ zu 44r.9–45r.1, NB 15, 3r   rigen Karl Kraus* setzte sich Brecht im zeitlichen Umfeld häufiger auseinander,
                              so in den Entwürfen
              NB 15, 3r.1–4     • Das kalte Chikago* (Ende 1922)
           NB 16, 10r–11v.8     • Ermahnung an unsern Sohn K. K.* (August 1924)
BBA 329/77; → BFA 21, 140       • Kraus betreffend: ein niederer Mensch …* (»10. 7.« 1926 oder 1927)
              NB 20, 3r–5r      • Kraus \ es ist schwer visàvis eines Helden zu leben …* (August 1926)
BBA 447/82; → BFA 21, 154       • A. d. Fackel* (um 1926)
BBA 331/170; → BFA 21, 153      • Über die Zeitungen an Karl Kraus* (um 1926).
                              Im zeitlichen Umfeld hatte Brecht aus Anlaß von George Bernard Shaws 70. Ge-
                              burtstag den Aufsatz Ovation für Shaw publiziert (Berliner Börsen-Courier und
             → zu 24r–27r     Neue Freie Presse, 25. Juli 1826).*
                              59r–61r terror gegen literatur […] immerwährend. Die Vorstellung, durch
                              kalkulierten Terror literaturpolitische Ziele durchsetzen zu können, hatte Brecht
             → zu 24r–27r     bereits in Ovation für Shaw* entwickelt. In dem im Jahr zuvor entstandenen
                              Aufsatz Bernard Shaws die Bibel (Juli/August 1925) heißt es:

              BBA 155/28;        Wasaber die Lehrfreiheit und die Gedankenfreiheit betrifft, wenn
             → BFA 21, 108       ich gefrag⟨t⟩ w[ä]erde, was ich vorziehen würde: den Terror derer,
                                 die etwas nicht wissen wollen oder den Terror derer, die etwas
                                 besser wissen woll[n]e dann gäbe ich den ersteren unbedenklich und
                                 in jedem [B]Falle den Vorzug

                               Den Ausdruck ›Terror‹ verwendet Brecht hier wohl im Sinne von ›la terreur‹ der
                → 61r.11–12    Französischen Revolution. Der Gedanke einer permanenten Revolution* geht
                               ebenfalls auf die Französische Revolution zurück; er wurde Mitte des 19. Jahr-
                  → zu 79r     hunderts von Karl Marx und Anfang des 20. Jahrhunderts von Rosa Luxemburg*,
                               Franz Mehring, vor allem aber Leo Trotzki weiterentwickelt.
                               62r–63r die filosofie der städte […] aus ihm! Wohl nicht zusammengehörige
                               aphoristische oder lyrische Entwürfe. Die letzte Eintragung knüpft inhaltlich an
                   34r.9–11    den Schluß des Gedichtentwurfs Das ist sein Los den du liebtest …* an.
                               64r–65r „sein gesicht trug […] geliebt werden Ungenaue Zitate aus Josef
                               Mag­nus Wehners Biographie des Grafen Johann Friedrich Struen­see, Leibarzt
                               des dänischen Königs Christian VII. und Liebhaber von dessen Frau Caroline
                              ­Mathilde (Brecht-Bibliothek 981):

                                 ⟨Wehner 1925, 10:⟩ Dem Grafen wurde ⟨1772⟩ ferner in der Anklage vorgelegt, er habe
                                 Rechnungen gefälscht, ein Brillantenbukett der Königin heimlich verkauft, den jungen
                                 Kronprinzen durch harte Erziehung zugrunde gerichtet; er habe sich nach Beseitigung
                                 des Königs zum Alleinherrscher machen wollen, um dann die Königin, die er zu seiner
                                 Mätresse gemachte hatte, zu heiraten.

                              Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)                                 Erläuterungen
                              Letzte Änderung: 2. August 2021
»Sein Angesicht zeigte den Ausdruck gestillter Wollust,« sagte ⟨Rechtsanwalt Peter⟩          → 64r.1–2
   Uldall nach seinem Besuch über Struensee.

   ⟨Wehner 1925, 24:⟩ Und wenn die Geladenen zum Zirkel erschienen, um der jungen
   ­Majestät ⟨Kronprinz Christian⟩ zu huldigen, sahen sie einen schönen zarten Knaben, die
   Augen voller Tränen, der auf dem Gesichte seines Peinigers ⟨des ihn prügelnden Erziehers
   Detlev von Reventlow⟩ zu lesen suchte, an wen er das Wort richten dürfte. War der Emp-
   fang beendet, dann blieb eine Auslese der Höflinge zum Mahle zurück. Reventlau riß
   die Unterhaltung an sich oder fuhr manchmal mit Fragen und Roheiten gegen Christian
   fort. So wurde er ein Schaustück für seine Diener. Und wurde mit der Schande vertraut.       → 64r.4–5

   ⟨Wehner 1925, 22f.:⟩ Das düstere Vorbild Reventlaus gab seinem Ideal eine | neue Farbe:
   Vollkommenheit ist Härte. Der schwächlich Prinz wollte hart und fest werden. Wer hart
   ist, ist stark. […]                                                                          → 64r.6–7
   Doch immer drohte die grausame Hand. Noch ein anderes Wort beherrschte ihn: »rasch«.
   Er sprach es oft aus und meinte damit: schroff, jäh, unbelehrbar, absolut – wie Reventlau.

    ⟨Wehner 1925, 11f.:⟩ Unser Struensee war ein deutscher Pfarrerssohn. […] Der junge
   ­Johann Friedrich, geboren am 5. August 1737, fühlte sich in diesem Kreise nicht wohl.
    […] Er haßte das Tugendtreiben um des Lohnes willen. Der Himmel hatte keinen Reiz
    für ihn, weil in ihm »keine körperliche Wollust war«.                                       → 64r.8–10

   ⟨Wehner 1925, 26:⟩ So wuchs Christian heran. Tiefe Niedergeschlagenheit, ja Geistesab-
   wesenheit wechselten mit tollen Streichen. Er liebte niemand und wollte von niemand
   geliebt werden. Er hatte keinen einzigen ebenbürtigen Freund.                                → 65r

67r–68r die ansichten trügen […] anfertigen lassen. Mit dem Bolschewis-
mus* hatte sich Brecht schon vor 1926 vereinzelt auseinandergesetzt (Brecht an                  → zu 38r.11–12, NB 20, 2r
Paula Banholzer, 15. April 1919):

   Übrigens bin ich Bol vollens ganz zum Bolschewisten geworden. Freilich bin ich gegen         BBA Z 41/68–69
   jede Gewalt und da ich hier Einfluß habe, kann ich da Einiges tun. Jetzt wird Widerstand
   mit allen Mitteln organisiert – aber wenn ihr hört daß Augsburg nicht gekämpft und Blut
   vergossen hat, dann kannst Du sicher sein, daß ich, ganz hinten stehend und den Meisten
   unsichtbar, sehr | darum verdient bin. Einmal wird die Räterepublik doch durchdringen.

Am 12. September 1920 hatte Brecht in München einen Vortrag von Alfons Gold-
schmidt über die Wirtschaftsorganisation in Sowjet-Rußland gehört (Tagebuch):

   Ich sitze auch im Kindl Keller und lausche Herrn Goldschmidt, der über die Wirt-             BBA 802/87
   schaftslage Rußlands heude redet, lauter abstrahiertes Zeug von Verbänden und Kon-
   trollsystemen. Ich laufe bald wieder fort. Mir graut nicht vor der tatsächlich erreichten
   Unordnung dort, sondern vor der tatsächlich angestrebten Ordnung. Ich bin jetzt sehr
   gegen den Bolschewismus: Allgemeine Dienstpflicht, Lebensmittelrationierung, Kon-
   trolle, Durchstecherei, Günstlingswirtschaft. Außerdem, im günstigsten Fall: Balance,
   Uniformierung, Kompromiß. Ich danke für Obst und bitte um ein Auto.

NB 18, 58–68                                      Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                            Letzte Änderung: 2. August 2021
69r–70r infolge der gewöhnlichen […] wie würde er es? Schon Mitte April
                              1924 hatte Brecht die Aufhebung des Rauchverbots im Theater befürwortet
                              (Reich 1970, 273; von Reich fälschlich auf Juni 1924 datiert):

                                 Ich ⟨Bernhard Reich⟩ […] warf den Köder: »In italienischen Kinos darf man rauchen!«
                                 Da biß er an: Wenn schon kein Rauchertheater, dann wenigstens ein Raucher-Kintopp!

                              Im Entwurf Es gibt kein Großstadttheater … (1926) argumentierte Brecht:

            BBA 331/40;          Ich behaupte sogar,dass ein einziger Mann mit einer Zigarre im
          → BFA 21, 134f.        Parkett einer Shakespeareaufführung den Untergang der Abendlän-
                                 dischen Kunst herbeiführen könnte. Er könnte ebenso einenBombe
                                 als sein Zigarre in Brand setzen. Ich würde gern sehen,wenn das
                                 Publikum bei unseren Aufführungen rauchen dürfte. Und ich möchte
                                 es hauptsächlich der Schauspieler wegen. Es ist dem Schauspie-
                                 ler nach meiner Meinung gänzl[h]il unmöglich,dem rauchenden Mann
                                 im Parkett ein unnatürliches krampfhaftes und veraltetes Theater
                                 vorzumachen.

                               71r–72r alles unglück in der welt […] darauf. Der erste Satz folgt formal
                              ­einem Gedanken Blaise Pascals (Pascal 1954, 77): »daß alles Unglück der Men-
                               schen einem entstammt, nämlich daß sie unfähig sind, in Ruhe allein in ihrem
                               Zimmer bleiben zu können«.
                               73r–75r es ist eine verdummende […] stein drückt! Entwurf für einen Auf-
73r.7–8; → NB 16, 30r.8–7,     satz. Im zeitlichen Umfeld arbeitete Brecht an einer Revue für Max Reinhardt.*
           NB 17, 38r–41v
                               76r meine ganze jugend […] angenehm sind! Entwurf für einen Aufsatz, in-
         69r–70r, 73r–75r |   haltlich an vorangehende Überlegungen zu Theater* und Jazz* anknüpfend.
57r.6–9; → zu NB 17, 41r.11
                              77r–78r 4 \ auguste: \ komm nur mit, […] schwierigkeit! Entwurf eines
                                Dialogs für den Auftritt der Prostituierten Auguste im 4. Akt Der Schnapstanz
      → 81r–82r.1, 83r–89r,     von Trommeln in der Nacht*. Ab Januar 1926 führte Brecht mehrere Gespräche
             zu NB 2, 15v
                                über eine Aufführung des Theaterstücks unter seiner Regie am Berliner Staatli-
                                chen Schauspielhaus, die jedoch nicht zustande kam (→ Tagebuch Hauptmann,
     Tb H | BBA Z 37/239        3. Januar, 27. Februar, Mitte, Ende April 1926;* Brecht an Reisiger, 30. Mai 1926*);
                                der vorliegende Entwurf entstand wohl im Zusammenhang damit. Noch über
                                zwei Jahre später, am 18. November 1928 diskutierte Brecht eine »totale Umar-
              BBA 217/38        beitung«* des Theaterstücks in einem Radiogespräch mit Fritz Sternberg und
                                Erwin Piscator.
                                79r rosa lux \ rede vom massemensch […] wir! Entwurf für ein Theaterstück
             → zu 59r–61r      über Rosa Luxemburg*, später mit Die letzten Wochen der Rosa Luxemburg
     → zu NB 24, 56r–58r       ­betitelt.* An dem Projekt arbeitete Brecht spätestens ab Mitte, Ende April 1926
                     Tb H       (→ Tagebuch Hauptmann)* und bis mindestens 1952.

                              Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)                                Erläuterungen
                              Letzte Änderung: 2. August 2021
Brechts Beschäftigung mit Luxemburg läßt sich ab 1919 nachweisen. In die-
sem Jahr besuchte er in Augsburg eine Protestversammlung gegen ihre und Karl
Liebknechts Ermordung (→ Tagebuch Neher, 27. Januar 1919)* und in Mün-                   NBA 1, Tb N
chen eine von der USPD veranstaltete Gedenkfeier (6. Februar; → Frisch/Ober-
meier 1986, 120). Im September 1921 exzerpierte er ein Zitat aus Luxemburgs
Briefe aus dem Gefängnis*.                                                               NB 12, 27r.2–5
   Das Konzept des Massemenschen taucht im zeitlichen Umfeld der vorliegen-
den Eintragungen häufiger auf.* In zwei Entwürfen von 1926/27 heißt es:                  → 88r.4, NB 20, 17r.9

       m a t e r i a l i s m u s                                                         BBA 462/145;
   […] da es unerträglich ist in grossen massen individuell zu leben                     → BFA 21, 179f.
   wird der massemensch es aufgeben um vom erträglichen zum lust-
   vollen zu kommen wird er das dividuelle ungeheuer ausbauen müssen
   er tut es […]

        a t a v i s m u s
   der massemensch ist natürlich etwas viel zu natürliches als dass
   er nicht schon einen stammbaum hätte das kristentum brachte einen
   solchen ebenso hervor wie der buddhismus und auch klondike ⟨Zentrum
   des Goldrauschs in Alaska und Kanada Ende des 19. Jahrhunderts⟩ hat einen gesehen
   derr massemensch ist ohne gott denkbar aber nicht ohne gottes-
   dienst ohne götze nicht ohne götzendienst seine religion ist eine
   dynamische atheismus ist ohne g[ö]ott oder zumindest ohne götzen
   nicht möglich         es gibt nur jene fragwürdige freiheit von einer
   gottesvorstellung die ohne eine mögliche gebundenheit an diese
   vorstellung nicht möglich ist aber wie jene tiefe genüsse bietet
   und jenen primitiven atheismusd der religiöse vorstellungen ohne
   genuss lässt

Das Konzept ist auch für das Stückprojekt Fatzer* zentral, an dem Brecht bald            → zu NB 21, 8r–55r
nach der vorliegenden Eintragung zu arbeiten begann (September 1926)*:                   → zu NB 19, 13r–17r

   FATZER                                                                                BBA 109/33;
   […] und man sieht leute herumgehn die                                                 → BFA 10, 409f.
   man sonst nie gesehn hat,das
   kommt
   weil alles,was unten ist
   heraufkommt
   wo früher
   ein mensch war und ein anderer
   da geht die masse,ein
   massemensch und es bleibt alles
   zusammen. […]

   in seiner ( 2[;]. ) rede vom massemenschen schildert er diesen                        BBA 111/19;
   "geist"                                                                               → BFA 10, 465f.

NB 18, 69–79                                 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                       Letzte Änderung: 2. August 2021
(wie früher geister kamen aus vergangenheit
                               so jetzt aus zukunft ebenso
                              klagend beschwörend und lähmend ungreifbar
                              einzig bestehend aus stoff deines eigenen geists
                              seiner furcht zuvorderst denn immer furcht
                              zeigt an was kommt direkt vom aug
                              geht ein strang zu fu[c]rcht dieser geist des massemenschen
                              lähmt mich besonders

                              seine art ist mechanisch
                                            einzig durch bewegung zeigt er sich

                              jedes glied auswechselbar selbst die person

                              mittelpunktlos

                              nicht geist ists was ihm fehlt zur vollkommenheit
                              sondern nur stoff

                              diese zeit wird nur 4 jahre dauern ....

                           Wohl im Frühjahr 1928 thematisierte Brecht das Konzept in einem Brief an Erich
                           Engel (undatiert):

              BBA 219/3       ist der massemensch ein mythos so halten wir uns an ihn. dann
                              gibt es keinen einzelnen, der die menschheit reproduziert. dann
                              gibt es für diesen einzelnen keine to[l-]talität. Sondern nur
                              für den massemenschen. dann wären diese spezialistengehirne
                              die man jetzt allenthalben an der arbeit sieht (rechnen Sie
                              kant ruhig–oder unruhig– dazu) dazu berufen sich immer wei-
                              ter zu spezialisieren. das glücks[f]gefühl könnte sich erst in
                              der masse einstellen masse wäre also nötig der einzelne könnte
                              sich also ohne schaden ins extremste individualisieren. könnte
                              man diesen gedanken durchdenken hätte er vielleicht folgen.

                           81r–82r.1 tatsächlich herrscht noch […] kragler. Zwei unabhängig voneinan-
                           der eingetragene Entwürfe, in Vorwort zu Trommeln (1926/27) verwendet:

BBA 348/35; → BFA 24, 19      noch das stärkste erotische leben herrscht vielleicht in der tat
               → 81r.1–4      in jener primitiven literatur (die man als in der form bekannt
                              wirksamer wörter vorfindet und) die das volk mit naiver artistik
                              anwendet […]

            BBA 348/36;       die wirklichen revolutionäre konnten eine zeitlang das stück be-
            → BFA 24, 21      dauern indem sie den kragler für einen proletarier hielten und
                              sie grund hatten sich für solche proletarier als helden zu bedan-
                              ken sie konnten auch dagegen sein weil sie den kragler für einen

                           Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)                          Erläuterungen
                           Letzte Änderung: 2. August 2021
b⟨ourgeois⟩ hielten und sich für solch einen helden bedankten denn
   es bestand kein zweifel dass dies ein held war aber sie könnten
   heute nicht mehr leugnen dass es ein eminent politisches stück
   ist ein anschauungsmaterial wie nicht leicht eines sie hatten
   hier vor sich jenen fatalen typus des sozialdemokraten und sie                            → 81r.10
   hatten ihn in seiner heldischen form er war schwer zu erkennen
   als b⟨ourgeois⟩ auf der bühne und im leben die revolution gar nicht
   leugbar war verloren dieser typ hatte sie gemacht das wichtig-
   ste was es gab war diesen typ erkennen zu lernen er hatte sie
   gemacht und hier war [we]er hier in einer alltäglich romantischen
   liebesgeschichte ohne besondere tiefe war dieser sozialdemokrat
   dieser falsche proletarier dieser fatale revolutionär der die
   revolution sabotierte den lenin heftiger bekämpfte als die offe-                          → 81r.8
   nen b⟨ourgeoi⟩s und der selbst ihm so schwer zu erfassen war dass
   es vor der russischen revolution kaum gelungen war ihn den mas-
   sen kenntlich zu machen um sie zu warnen dies war also dieser
   kragler dieser revolutionär den das mitleid wieder zu besitztum
   brachte der jammerte und krakehlte und heimging als er hatte was                          → 83r.8–84r.4
   ihm gefehlt hatte

Der Entwurf war wohl für die Buchpublikation von Trommeln in der Nacht beim
Propyläen Verlag (Berlin) gedacht, die im Juli 1927 aber ohne Vorwort erschien.*             → 77r–78r, 83r–89r
   In Staat und Revolution* bezeichnet Lenin den Sozialrevolutionär (S0zialde-               → zu 38r.11
mokrat) als Feind der sozialistischen Revolution (Lenin 1929, 10):

   Im Verhältnis zum Staat tritt am anschaulichsten zutage, daß unsere Sozialrevolutionäre
   und Menschewiki gar keine Sozialisten sind (was wir Bolschewiki immer schon zu be-
   weisen suchten), sondern kleinbürgerliche Demokraten mit einer beinah-sozialistischen
   Phraseologie.

82r.3–4 wachsende maschinen / technologische weltanschauung Die Stich-
worte hängen motivisch zusammen mit dem Konzept des Massemenschen*, mit                      → zu 79r
der begonnenen Neubearbeitung von Trommeln in der Nacht* und mit Mann ist                    → 88r.4
Mann*.                                                                                       → zu NB 16, 6v.1–2,
                                                                                             NB 20, 2r
83r–89r glubb \ genossen soldaten […] vorwärts! Entwurf einer Rede des
Schnapshändlers Glubb für Trommeln in der Nacht, wohl im Zusammenhang mit
einer geplanten Aufführung oder Umarbeitung des Theaterstücks eingetragen.*                  → zu 77r–78r
Ähnlich wie hier* charakterisierte Brecht den Kriegsheimkehrer Andreas Kragler               83r.8–84r.4
auch im Vorwort zu Trommeln.* Den Zusammenhang des Typus Kragler mit der                     → zu 81r–82r.1
Mond-Romantik* formulierte Brecht auch in Der Boden der Tatsachen:                           → 84r.10–85r.2

   tatsächlich ist für kragler die revolution ohne den romanti-                              BBA 348/72;
   schen mond nicht denkbar ein kindlicher mensch unfähig zu lei-                            → BFA 24, 21f.
   den brüllt er los bei der e[sr]rsten entdeckung eines schmerzes
   in sich seine revolution ist wirklich die eines schwergereizten

NB 18, 81–89                                    Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)
                                                          Letzte Änderung: 2. August 2021
mannes der weil seine frau die türe verriegelt d[en]as gemeinsame
                                    mobiliar zertrümmert der roten mond ist einn beinahe unentbehr-
                                    liches requisit der revolutionen und ein sehr gefährliches […]
                                    mit dem typ kragler verschwindet der rote m[i]ond aus der revo-
                                    lution   er zertrümmert ihn als er ihn nicht mehr braucht auch
                                    beschimpft er ihn sofort

              88r.4 | 79r.2–3    Die Figur des Massemenschen* taucht bereits oben* auf.
                      90r.1–3    90r 1 + 2 \ freut mich sehr […] wann Verse für eine Strophe* und den Re-
                     90r.4–6     frain* des Mann-ist-Mann-Songs (Mann ist Mann, 9. Szene).
                BBA 2219;            Im ersten Regie- und Soufflierbuch von Februar 1926* finden sich in der
  → zu NB 16, 1r–31r.12 (18)
                                 9. Szene noch keine Verse. Allerdings ist an drei Stellen bereits das Absingen
        BBA 2219/47, 50, 53      von Songs vorgesehen: »Nr. 2«, »Nr. 3« und »Nr. 4«,* also wohl noch nicht vier
                                 Strophen eines Songs. Am 25. Februar 1926 hatte Brecht den Song in einer
          Tb H; → zu NB 16,
                                 drei-, vielleicht auch schon vierstrophigen Version »fertig gemacht« (Tage-
                1r–31r.12 (19)   buch Hauptmann, 27. Februar 1926)*. Auf einem aus dem zweiten Regie- und
   → zu NB 16, 1r–31r.12 (23)    Soufflierbuch* (Juni, Juli 1926) stammenden, heute lose im Konvolut »Mann =
   → zu NB 16, 1r–31r.12 (15)    Mann« oder »Galy Gay«* überlieferten Blatt hatte Brecht Verse für eine weitere
                → BFA 2, 137     Strophe entworfen (→ Brecht: Mann ist Mann 1926, 88f.)*:

                 BBA 150/30                                                                    52.
                                    Die Sonne von Kilkoa scheint
                                    Und 's ist bei keinem schad um ihn.
                                    Drum sagen wir, ob Freund ob Feind
                                    Drum sagen wir: 's ist gleich, auf wen
                                    Die rote Sonne von Kilkoa scheint.

                                    Ach tom, hast du auch deinen koffer gepackt?
                                    denn ich hab auch . . . . ⟨meinen Koffer gepackt!⟩
                   → 90r.2–3        freut mich sehr altes huhn
                                    na tom was tust du nun?
                                    Ach tom, hast du auch nichts zum hineintun gehabt?
                                    denn ich hab auch . . . . ⟨nichts zum Hineintun gehabt!⟩

                                    Ach Tom, fährst du auch von hier fort von hier fort?
                                    denn ich … ⟨fahre dann auch von hier fort!⟩
                                    .. ..
                                    ……
                                    ach tom, weißt du auch nicht wohin du fährst
                                    denn ich weiß       „     „    „ ich fahr

→ zu NB 16, 1r–31r.12 (26, 27)   Die vorliegenden Eintragungen entstanden für die Uraufführung* von Mann ist
                                 Mann in Darmstadt (Probenbeginn: Ende August; Premiere: 25. September 1926).

                                 Bertolt Brecht, Notizbücher (EE, Anhang)                            Erläuterungen
                                 Letzte Änderung: 2. August 2021
Sie können auch lesen