Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen

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6   Wirtschaftspsychologie
    Heft 4-2021

                             Technologie-mediierte Interviews:
                             Lessons learned und offene Fragen
                             Johannes M. Basch & Klaus G. Melchers

                             Universität Ulm

                             Zusammenfassung
                             Der technologische Fortschritt und zuletzt die Corona-Pandemie haben dazu geführt, dass technolo-
                             gie-mediierte Vorstellungsgespräche vermehrt zur Personalauswahl eingesetzt werden. Der folgende
                             Artikel soll einen Überblick über den Status Quo der Forschung zu technologie-mediierten Interviews bis
                             zur Mitte des Jahres 2021 geben. Zum einen werden aktuelle Erkenntnisse zu Leistungs- und Akzeptanz-
                             unterschieden im Vergleich zu persönlichen Vorstellungsgesprächen zusammengefasst. Zudem wird
                             insbesondere auf die Ursachen dieser Unterschiede eingegangen, und neue Erkenntnisse zur Validität
                             von technologie-mediierten Interviews werden geschildert. Basierend auf den verschiedenen Erkennt-
                             nissen werden abschließend Empfehlungen für die Praxis gegeben und weitere Lücken im Bereich von
                             KI-gestützten Auswertungen von Videoaufzeichnungen skizziert.

                             Schlüsselwörter: technologie-mediierte Interviews, Video-Interviews, asynchrone Video-Interviews, Be-
                             werberreaktionen

                             Technology-mediated Interviews:
                             Lessons Learned and Open Questions

                             Abstract
                             Technological progress and, most recently, the Corona pandemic have led to the increased use of tech-
                             nology-mediated interviews for personnel selection. The following article aims to provide an overview
                             of the current state of the art (until mid-2021) concerning research on technology-mediated interviews.
                             First, recent findings on performance and acceptance differences compared to face-to-face interviews
                             are summarized. Then, the causes of these differences will be specifically addressed and recent findings
                             on the validity of technology-mediated interviews will be described. Based on the different findings,
                             recommendations for practice and lines for future research will be provided and knowledge gaps con-
                             cerning AI-assisted evaluations of video interviews will be briefly described.

                             Keywords: technology-mediated interviews, video-interviews, asynchronous video-interviews, applicant
                             reactions
J. M. Basch & K. G. Melchers
Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen
                                                                                                                       Wirtschaftspsychologie
                                                                                                                                  Heft 4-2021   7

Die Digitalisierung ist in vollem Gange, und ei-                 1 Formen technologie-
ner der Bereiche, der ebenfalls einen deutlichen                   mediierter Interviews
Digitalisierungsruck erfahren hat, ist die Perso-
nalauswahl. Online-Einstellungstests, Online-
Bewerbungsformulare und Profil-Checks in sozi-                   Vorstellungsgespräche gehören zu den am mei-
alen Medien werden natürlich schon seit langem                   sten eingesetzten und beliebtesten Auswahlver-
genutzt. Mit Hinblick auf Vorstellungsgespräche                  fahren überhaupt (Huffcutt & Culbertson, 2011).
gehören Telefon- und Videokonferenz-Interviews                   Dies liegt einerseits daran, dass sie oft einen für
auch schon seit längerem zum Repertoire von                      Bewerberinnen und Bewerber hohen Tätigkeits-
Personalabteilungen. Doch während diese früher                   bezug aufweisen. Andererseits können sie für
oftmals nur zur Vorauswahl von Bewerberinnen                     Unternehmen eine sehr gute Vorhersagekraft der
und Bewerbern eingesetzt wurden oder wenn die                    zukünftigen Arbeitsleistung ermöglichen, wenn sie
Anreise zu weit war, führten die flächendeckenden                standardisiert und anforderungsbezogenen gestal-
Kontaktbeschränkungen während der Corona-                        tet sind (Huffcutt, Culbertson & Weyhrauch, 2014).
Pandemie dazu, dass technologie-mediierte In-                       Neben dem klassischen Face-to-Face (FTF)-
terviews plötzlich nicht mehr nur Alternativen zum               Interview wurden durch den Einsatz von Tech-
persönlichen Vorstellungsgesprächen waren, son-                  nologien im Lauf der Zeit mehrere Alternativen
dern an vielen Stellen als alternativlos betrachtet              entwickelt: Telefon-Interviews, Interactive-Voice-
wurden.                                                          Response (IVR)-Interviews, Videokonferenz-Inter-
   Nicht erst durch den vermehrten Einsatz wäh-                  views und asynchrone Video-Interviews (AVIs).
rend der Corona-Pandemie steht jedoch die Frage                     Telefon-Interviews werden schon seit länge-
im Raum, ob verschiedene Formen der Interview-                   rem eingesetzt – vor allem zur Vorauswahl von
durchführung überhaupt miteinander vergleichbar                  Bewerberinnen und Bewerbern (Straus, Miles &
sind und ob die technologie-basierte Durchfüh-                   Levesque, 2001). Bewerbende und Interviewende
rung die psychometrischen Eigenschaften und die                  unterhalten sich dabei zu einem vorher festgeleg-
Wahrnehmung von Interviews beeinflusst. Im Zuge                  ten Termin per Telefon. IVR-Interviews funktionie-
dieses Artikels soll deshalb ein Überblick über den              ren vom Prinzip her wie Anrufe in Kundenhotlines,
aktuellen Stand der wissenschaftlichen Forschung                 d. h. Bewerberinnen und Bewerber antworten bei
zu diesem Thema gegeben werden. Dabei sollen                     diesen Interviews auf zuvor aufgenommene Fra-
verschiedene Fragen beantwortet werden: Wie                      gen durch verschiedene Antwortoptionen, die
verbreitet sind technologie-mediierte Interviews?                entweder mündlich oder durch das Drücken eines
Wie akzeptiert sind sie, und welche Faktoren tra-                Knopfes gegeben werden können (z. B. Bauer,
gen zur Akzeptanz dieser Interviews bei? Werden                  Truxillo, Paronto, Weekley & Campion, 2004). Frü-
Bewerberinnen und Bewerber in den verschie-                      her wurden diese Interviews vor allem in den USA
denen Interviewformen unterschiedlich bewertet,                  in der ersten Screening-Phase eingesetzt. In ihnen
und welche Faktoren tragen zu möglichen Be-                      wurden in erster Linie Informationen eingeholt, die
wertungsunterschieden bei? Unterscheiden sich                    im deutschen Sprachraum eher über Online-Be-
technologie-mediierte und persönliche Interviews                 werbungsformulare erfasst werden. Mittlerweile
auch darin, wie sie die spätere Arbeitsleistung vor-             werden diese Interviews aufgrund der fortschrei-
hersagen können? Im Anschluss daran sollen ba-                   tenden Entwicklung bei anderen Formen der In-
sierend auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen                 terviewdurchführung aber nur noch eher selten
praktische Implikationen abgeleitet und dringende                eingesetzt.
Lücken der bisherigen Forschung aufgezeigt wer-                     Eine weitere Form von technologie-mediierten
den.                                                             Vorstellungsgesprächen sind Videokonferenz-In-
   Einige der angesprochenen Fragen wurden                       terviews (Basch, Melchers, Kurz, Krieger & Miller,
bereits in früheren Überblicksartikeln behandelt                 2021c). Sie sind vermutlich von den verschiedenen
(Basch & Melchers, 2020; Blacksmith, Wilford &                   Arten, wie Vorstellungsgespräche geführt wer-
Behrend, 2016). Die Metanalyse von Blacksmith et                 den, mittlerweile die naheliegendste Alternative
al. umfasst jedoch nur Artikel, die zum Zeitpunkt                zu persönlichen Vorstellungsgesprächen. Dabei
der Analyse alle mindestens 10 Jahre alt waren.                  hat sich durch die Corona-Pandemie nicht nur
Dementsprechend spiegelt diese Metaanalyse                       die Bekanntheit der Anbieter für Videokonferenz-
den neuesten Stand der Forschung nicht ange-                     Technologien verbessert, sondern durch die tech-
messen wieder. Und der Überblicksartikel von                     nologische Entwicklung der letzten Jahre auch die
Basch und Melchers (2020) fasst zwar aktuellere                  Gesprächsqualität. Mit Hilfe von hochauflösenden
Ergebnisse zu Leistungs- und Akzeptanzunter-                     Webcams, hochwertigen Mikrofonen und High-
schieden zusammen, jedoch liegen mittlerweile                    Speed-Internet kann mittlerweile eine Gesprächs-
einerseits weitere Erkenntnisse zu den Ursachen                  situation erzeugt werden, die der in FTF-Interviews
dieser Unterschiede vor sowie andererseits eine                  sehr nahekommt – nur mit dem Unterschied, dass
Reihe neuer Studien zu technologie-mediierten In-                sich die Gesprächspartner nicht im gleichen Raum
terviews in echten Auswahl-Settings.                             befinden.
8   Wirtschaftspsychologie
    Heft 4-2021
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                                                                                 Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen

                                Eine der neuesten Formen von Interviews stellen       Interviews die naheliegendste Alternative zu
                             schließlich AVIs dar, die vor allem zur Vorauswahl       FTF-Interviews – auch unter Berücksichtigung der
                             von Bewerberinnen und Bewerbern eingesetzt               Media Richness Theory, denn es werden die glei-
                             werden (Lukacik, Bourdage & Roulin, 2020). Die-          chen Kanäle der Informationsübertragung genutzt
                             se Interviews werden ebenfalls über das Internet         wie in FTF-Interviews, und die Kommunikation ist
                             durchgeführt. In ihnen bekommen Bewerberinnen            deshalb als ähnlich effektiv einzuschätzen. Zentra-
                             und Bewerber auf dem Bildschirm Fragen gezeigt,          ler Unterschied ist jedoch, dass die Übertragung
                             die vorher vom Unternehmen festgelegt wurden,            non-verbalen Verhaltens auf einen kleinen Bild-
                             und nehmen ihre Antworten mittels Webcam und             ausschnitt reduziert ist und die Kommunikation
                             Mikrofon auf. Dafür haben die Bewerberinnen und          durch Lag-Times in der Internetverbindung unter-
                             Bewerber für jede Frage eine bestimmte Vorberei-         brochen werden könnte (Wegge, 2006). In Tele-
                             tungs- und Antwortzeit. Das Adjektiv „asynchron“         fon-Interviews hingegen entfällt die non-verbale
                             deutet bereits an, dass es zu keiner direkten In-        Kommunikation komplett, und in AVIs ist die Über-
                             teraktion kommt, sondern das eigentliche Inter-          tragung nur einseitig, was die Interaktion und da-
                             view von der Bewertung durch Interviewerinnen            mit einhergehend die tatsächliche Kommunikation
                             und Interviewer zeitlich getrennt wird. Sowohl Be-       von Gesprächspartnern erschwert. Dadurch, dass
                             werbende als auch Interviewende können dabei             in Videokonferenz-Interviews und FTF-Interviews
                             selbst entscheiden, wann sie das Interview durch-        die gleichen Kanäle der Informationsübermittlung
                             führen beziehungsweise bewerten.                         genutzt werden (verbal, non-verbal, para-verbal),
                                Die Vorteile technologie-mediierter Interviews        würde die Media Richness Theory kaum Unter-
                             zeigen sich nicht nur in der Einsparung von Kon-         schiede zwischen diesen beiden Formen der In-
                             takten während der Corona-Pandemie. Unter-               terviewdurchführung erwarten.
                             nehmen schätzen vor allem die Zeit- und Ko-                 Im Gegensatz zur Media Richness Theory argu-
                             steneinsparung, die sich durch den Einsatz von           mentiert die Social Presence Theory (Short, Wil-
                             technologie-mediierten Interviews ergeben, denn          liams & Christie, 1976) jedoch, dass die technolo-
                             bei all diesen Interviews entfällt die Anreise für Be-   gische Barriere dazu führt, dass Gesprächspartner
                             werberinnen und Bewerber, was auch eine flexib-          sich gegenseitig mit Hinblick auf Mimik, Gestik,
                             lere Terminplanung ermöglicht (Basch & Melchers,         etc. nur beschränkt wahrnehmen können. Die
                             2021). Zudem bieten AVIs Unternehmen und Be-             Wahrnehmung der anderen Person über ein Me-
                             werbenden weitere zusätzliche Vorteile: So kann          dium (Bildschirm, Telefon-Leitung) basiert schließ-
                             durch die Unabhängigkeit von Zeitzonen ein grö-          lich nicht auf der Anwesenheit der Person selbst,
                             ßerer Pool an Bewerbenden erschlossen werden.            sondern nur auf einer technischen Abbildung der
                             Bewerberinnen und Bewerber können außerdem               Realität. Diese Wahrnehmung wird auch als sozi-
                             selbst entscheiden, wann sie die Interviews absol-       ale Präsenz bezeichnet. Dementsprechend bieten
                             vieren möchten und können diese entsprechend             FTF-Interviews das größte Maß an sozialer Prä-
                             ihrer persönlichen Präferenzen deshalb besser in         senz, gefolgt von Videokonferenz-Interviews und
                             ihren Tagesablauf integrieren. Ein weiterer Vorteil      Telefon-Interviews und zuletzt den AVIs, da dort
                             von AVIs ist, dass sie hochstandardisiert sind und       keine Anwesenheit eines Gegenübers verspürt
                             mit allen Bewerberinnen und Bewerbern auf die            werden kann. Zusammengefasst bieten also FTF-
                             gleiche Art und Weise durchgeführt werden, was           Interviews trotz technischer Fortschritte die höch-
                             generell günstig für die Reliabilität und Validität      ste Kommunikationsbreite und soziale Präsenz.
                             von Interviews ist (Huffcutt et al., 2014; Schmidt &     Aufgrund der niedrigeren sozialen Präsenz unter-
                             Zimmerman, 2004). Außerdem kann die Trennung             scheiden sich Videokonferenz-Interviews gemäß
                             von Interview und Bewertung zu einer Verringe-           der Social Presence Theory merklich von FTF-In-
                             rung von Verzerrungen führen (Kanning & Schuler,         terviews. Bei Telefon-Interviews und insbesonde-
                             2014).                                                   re bei AVIs sollten diese Unterschiede nochmals
                                Neben den technischen Eigenheiten der ver-            stärker sein, da sie entweder keine Übertragung
                             schiedenen technologie-mediierten Interviews             non-verbaler Signale ermöglichen oder die Kom-
                             kann man sich Unterschieden zwischen den In-             munikation unter der mangelnden direkten Inter-
                             terviews auch über kommunikationspsycholo-               aktion leidet.
                             gische Modelle nähern. So kann man auf Basis
                             der Annahmen der Media Richness Theory (Daft
                             & Lengel, 1986) beispielsweise davon ausgehen,
                             dass Kommunikation umso verständlicher ist, je
                             mehr Kanäle der Informationsübermittelung be-
                             dient werden. Bei FTF-Interviews kann man bei-
                             spielsweise auf alle Kanäle zurückgreifen: verbale,
                             non-verbale (Gestik, Mimik) und auch para-verbale
                             (Stimmhöhe, Sprechgeschwindigkeit) Informatio-
                             nen. Wie bereits erwähnt, sind Videokonferenz-
J. M. Basch & K. G. Melchers
Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen
                                                                                                                        Wirtschaftspsychologie
                                                                                                                                   Heft 4-2021   9

2 Wie verbreitet sind                                            ßeren Umfrage von e-fellows (2020) geben 81%
  technologie-mediierte                                          der Befragten an, ihre persönlichen Vorstellungs-
                                                                 gespräche während der Pandemie auf Videokon-
  Interviews?                                                    ferenz-Interviews umgestellt zu haben, während
                                                                 nur 3% an persönlichen Gesprächen festgehalten
Während fast alle Unternehmen persönliche Vor-                   haben. Dass die Veränderungen durch die Coro-
stellungsgespräche zur Personalauswahl nut-                      na-Pandemie auch langfristig beibehalten werden
zen, variieren die Zahlen über die Verbreitung                   könnten, zeigen die Umfrageergebnisse ebenfalls.
technologie-mediierter Interviews stark. Aus einer               Die konkreten Erfahrungen von Unternehmen
Studie von Armoneit, Schuler und Hell (2020),                    und Bewerbenden während der Pandemie könn-
die die Verbreitung von Personalauswahlverfah-                   ten zusätzlich dazu beitragen, dass der Einsatz
ren in Deutschland im Laufe der letzten 35 Jah-                  auch nach Abklingen der Pandemie beibehalten
re untersucht, weiß man, dass zum Zeitpunkt der                  oder sogar zunehmen wird. In Einklang damit gab
letzten Umfrage im Jahr 2018 ca. 41% der Unter-                  knapp die Hälfte der von e-fellows befragten Un-
nehmen strukturierte Telefon-Interviews für die                  ternehmen (44%) an, dass die Umstellung langfri-
Personalauswahl nutzen. Außerdem gaben 12%                       stig Bestand haben soll, während nur 28% sagten,
der Unternehmen an, strukturierte Videokonfe-                    dass nach der Pandemie wieder der gleiche Zu-
renz-Interviews für die Personalauswahl zu nut-                  stand wie vorher erreicht würde.
zen. Eine neuere Umfrage aus dem Jahr 2019
vom Stifterverband der deutschen Wirtschaft
und McKinsey (2019) zeigt, dass 28% der Unter-                   3 Wie werden technologie-
nehmen technologie-mediierte Interviews für die
Personalauswahl nutzen und 48% planen, dies in
                                                                   mediierte Interviews von
den nächsten fünf Jahren zu tun. Die Umfrage un-                   potenziellen Bewerberinnen
terschied jedoch nicht nach verschiedenen Arten                    und Bewerbern
technologie-mediierter Interviews. Aus einer aktu-
ellen Unternehmensbefragung kurz vor dem Aus-
                                                                   wahrgenommen?
bruch der Corona-Pandemie (Basch & Melchers,
2021) ergab sich, dass 67% der antwortenden                      Wie bereits erwähnt, werden Vorstellungsgesprä-
98 Unternehmen Telefon-Interviews nutzen und                     che von Bewerberinnen und Bewerbern in der
46% Videokonferenz-Interviews. Lediglich 4% der                  Regel gut akzeptiert. Dies ist ein für Unternehmen
Unternehmen gaben an, asynchrone Video-Inter-                    wichtiger Punkt, denn werden Auswahlverfahren
views in ihren Personalauswahlprozess zu inte-                   gut akzeptiert, geht dies mit für sie wichtigen Kon-
grieren. In dieser Umfrage zeigte sich auch, dass                sequenzen einher, wie der Motivation der Bewer-
Unternehmen Videokonferenz-Interviews oftmals                    berinnen und Bewerber, überhaupt am Auswahl-
als Ersatz für FTF-Interviews einsetzen, wenn eine               verfahren teilzunehmen, der Wahrscheinlichkeit,
Anreise sonst zu weit wäre. Andere Studien wie                   ein mögliches Stellenangebot anzunehmen oder
von Langer, König und Papathanasiou (2019) fan-                  positiven Berichten über das Auswahlverfahren
den einen Anteil von 13% an Bewerberinnen und                    (Truxillo & Bauer, 2011). Allerdings zeigen metaana-
Bewerbern mit Erfahrung mit technologie-mediier-                 lytische Befunde auf Basis älterer Primärstudien,
ten Interviews. Teilnehmende in einer älteren Stu-               dass Bewerberinnen und Bewerber technologie-
die von Brenner, Ortner und Fay (2016), die AVIs                 mediierten Interviews im Durchschnitt skeptischer
untersuchte, gaben zu diesem Zeitpunkt keinerlei                 gegenüberstehen als traditionellen FTF-Gesprä-
Erfahrung mit asynchronen Video-Interviews an.                   chen (Blacksmith et al., 2016). Auch in aktuelleren
   Im Vergleich zu diesen älteren Daten hat die Co-              Studien, die nicht in die Metaanalyse von Blacks-
rona-Pandemie dazu beigetragen, dass technolo-                   mith und Kollegen eingeflossen sind, fanden sich
gie-mediierte Interviews einen Aufschwung erlebt                 negativere Einstellungen gegenüber technologie-
haben. In einer von den Autoren selbst durchge-                  mediierten Interviews (Basch, Melchers, Kegel-
führten Umfrage unter 83 Praktikern und Forschern                mann & Lieb, 2020; Melchers, Petrig, Basch & Sau-
im Personalbereich im Jahr 2021 – während der                    er, 2021; Sears, Zhang, Wiesner, Hackett & Yuan,
Corona-Pandemie – gaben beispielsweise 83%                       2013). Dabei zeigten potenzielle Bewerberinnen
an, schon Erfahrungen mit Telefon-Interviews ge-                 und Bewerber gegenüber asynchronen Video-
macht zu haben, 93% mit Videokonferenz-Inter-                    Interviews nochmals schlechtere Reaktionen als
views, 14% mit AVIs – und eine Person gab an,                    gegenüber Videokonferenz-Interviews (Basch et
bereits Erfahrungen mit IVR-Interviews gemacht                   al., 2020; Langer, König & Krause, 2017). Dieses
zu haben. Daten von Gibson, Van Iddekinge und                    Muster zeigt sich ebenfalls in einer weltweit an-
Vaughn (2021) zeigen, dass kurz nach Ausbruch                    gelegten Studie über verschiedene Kulturen und
der Corona-Pandemie im April 2020 sechsmal                       Länder hinweg (Griswold, Phillips, Kim, Mondrag-
so viele technologie-mediierte Interviews genutzt                on, Liff & Gully, 2021).
wurden wie im April 2019. In einer weiteren grö-
10   Wirtschaftspsychologie
     Heft 4-2021
                                                                                                                         J. M. Basch & K. G. Melchers
                                                                                 Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen

                                 An dieser Stelle muss jedoch betont werden,          stellungsgesprächen kleiner wurde, wenn Bewer-
                              dass der Vergleich von AVIs mit anderen For-            berinnen und Bewerber die Gespräche tatsächlich
                              men von Interviews etwas hinkt, da AVIs eher zur        absolviert hatten (Basch et al., 2021c; Melchers et
                              Vorauswahl von Bewerberinnen und Bewerbern              al., 2021). Damit einhergehend erscheint es auch
                              genutzt werden und damit in der Regel nicht im          vorstellbar, dass die Corona-Pandemie und der
                              gleichen Auswahlschritt wie FTF-Interviews oder         bereits erwähnte vermehrte Einsatz von techno-
                              Videokonferenz-Interviews. Vor diesem Hinter-           logie-mediierten Interviews während ihr dazu bei-
                              grund ist in Bezug auf AVIs eher ein Vergleich          tragen, dass mehr Bewerberinnen und Bewerber
                              mit anderen Vorauswahl-Instrumenten relevant.           Erfahrungen mit Alternativen zum persönlichen
                              In einer kürzlich durchgeführten Studie (Basch,         Gespräch gesammelt haben und als Folge davon
                              Melchers & Büttner, 2021b), bei der ansonsten ein       die generelle Skepsis ihnen gegenüber abnimmt.
                              sehr ähnliches Vorgehen wie in der Studie von              Allerdings können die Erfahrung der Corona-
                              Basch et al. (2020) verwendet wurde, ergaben            Pandemie auch negativ auf die Wahrnehmung von
                              sich für AVIs im Vergleich mit Online-Bewerbungs-       technologie-mediierten Interviews wirken. So fand
                              formularen oder Online-Leistungstests so gut wie        eine groß angelegte Studie von McCarthy, Truxil-
                              keine nennenswerten Unterschiede in Bezug auf           lo, Bauer, Erdogan, Shao, Wang, Liff und Gardner
                              die Wahrnehmung unterschiedlicher Fairness-As-          (2021), dass Sorgen rund um die Corona-Pandemie
                              pekte.                                                  mit mehr Interview-Angst während einem AVI und
                                 Im Hinblick auf Gründe, warum technologie-me-        negativeren Bewerberreaktionen einhergingen.
                              diierten Interviews im Vergleich zu FTF-Interviews         Neben der Erfahrung mit technologie-mediier-
                              von potenziellen Bewerberinnen und Bewerbern            ten Interviews lässt sich die Akzeptanz dieser In-
                              kritischer wahrgenommen werden, argumentier-            terviews auch durch Erklärungen verbessern. So
                              ten Melchers, Ingold, Wilhelmy und Kleinmann            konnte in einer Studie von Basch und Melchers
                              (2015), dass die technologische Barriere in ihnen       (2019) gezeigt werden, dass die Erklärung poten-
                              dazu führt, dass diese soziale Situation im Inter-      zieller Vorteile von asynchronen Video-Interviews
                              view beeinträchtigt wird. In Einklang damit und         durch Unternehmen, wie deren hohe zeitliche und
                              mit der Social Presence Theory (Short et al., 1976)     örtliche Flexibilität oder das hohe Maß an Stan-
                              konnten Basch und Kollegen sowohl in Umfragen           dardisierung, zu Verbesserungen der wahrge-
                              als auch in Studien mit tatsächlich durchgeführten      nommenen Fairness und der wahrgenommenen
                              Interviews zeigen, dass die Durchführung über ein       Nützlichkeit dieser Interviews führen kann. Außer-
                              technisches Medium (Videokonferenz, AVIs) dazu          dem wirkte die dadurch erhöhte wahrgenommene
                              führt, dass die wahrgenommene soziale Präsenz           Fairness auch indirekt auf die organisationale At-
                              tatsächlich leidet (Basch et al., 2020; Basch et al.,   traktivität und Verhaltensintentionen wie der Wei-
                              2021c). Dies wiederum führt dazu, dass Bewerbe-         terempfehlung des Unternehmens.
                              rinnen und Bewerber beeinträchtigt dabei sind,
                              Impression Management zeigen, also Verhaltens-
                              weisen, die sie üblicherweise nutzen, um sich in        4 Wirkt sich die Art der
                              ein gutes Licht zu rücken. Dies führt letztendlich
                              auch dazu, dass technologie-mediierte Interviews
                                                                                        Interviewdurchführung auf das
                              als weniger fair wahrgenommen wurden (Basch et            Abschneiden von
                              al., 2020; Basch et al., 2021c).                          Bewerberinnen und
                                 Zusätzlich zu allgemeinen Effekten des Inter-
                              view-Mediums auf die Wahrnehmung von Inter-
                                                                                        Bewerbern aus?
                              views spielen differentielle Aspekte ebenfalls eine
                              relevante Rolle. So fanden Studien, dass Offenheit      Ähnlich wie bei den Bewerberreaktionen fand die
                              für Erfahrung (Brenner et al., 2016) und Extraver-      Metaanalyse von Blacksmith et al. (2016) auch,
                              sion (Hiemstra, Oostrom, Derous, Serlie & Born,         dass Interviewteilnehmende in technologie-me-
                              2019) positiv mit der Wahrnehmung von asynchro-         diierten Interviews schlechter beurteilt werden
                              nen Video-Interviews zusammenhängen. Außer-             als in traditionellen Vorstellungsgesprächen. Die-
                              dem fanden sich auch Zusammenhänge zwischen             ses Ergebnismuster zeigt sich auch in aktuelle-
                              Technikaffinität und genereller Selbstwirksam-          ren Studien (Basch et al., 2021c; Melchers et al.,
                              keitserwartung einerseits mit der Akzeptanz von         2021) und in Studien, die nicht in der Metaanalyse
                              Videokonferenz-Interviews andererseits (Basch et        eingeschlossen wurden (Sears et al., 2013). D. h.
                              al., 2020).                                             trotz besserer Kommunikationstechnik, schnelle-
                                 Ein weiterer wichtiger Aspekt, der in Zusammen-      rem Internet und damit trotz Verbesserungen der
                              hang mit der Akzeptanz technologie-mediierter           Gesprächsqualität in Videokonferenz-Interviews
                              Interviews steht, ist Erfahrung. So fanden ver-         wurden Personen in ihnen nach wie vor schlechter
                              schiedene Studien, dass die anfängliche Skepsis         bewertet als in FTF-Interviews. Hingegen fand die
                              gegenüber Videokonferenz-Interviews und damit           Studie von Melchers et al. (2021), dass zwischen
                              der Akzeptanz-Unterschied zu traditionellen Vor-        Telefon- und Videokonferenz-Interviews keine Un-
J. M. Basch & K. G. Melchers
Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen
                                                                                                                         Wirtschaftspsychologie
                                                                                                                                    Heft 4-2021   11

terschiede bestehen, obwohl letztere mehr Infor-                 ihrer Übertragungsqualität manipuliert. Dabei
mationskanäle übertragen.                                        zeigte sich, dass Bewerberinnen und Bewerber in
   Gründe für die Unterschiede zwischen Video-                   Interviews mit mehr Störungen (Lag-Times) und ei-
konferenz- und FTF-Interviews liegen sowohl auf                  ner schlechteren Bildqualität schlechter bewertet
Seiten der Bewerbenden als auch auf Seiten der                   wurden als in Interviews mit guter Qualität. Selbst
Interviewenden. Auf Seiten der Bewerberinnen                     wenn die Beurteilerinnen und Beurteiler einen
und Bewerber fand eine Studie von Basch et al.                   Hinweis erhielten, dass technische Störungen
(2021c), dass es sowohl die Einschränkung von                    nicht in die Bewertung einfließen sollten, bewer-
sozialer Präsenz als auch des wahrgenommenen                     teten sie Videos in der Bedingung mit Störungen
Blickkontakts indirekt zu schlechteren Leistungs-                schlechter.
bewertungen führen. Zum einen führt die Techno-                     Neben Studien zu Leistungsunterschieden
logie-Mediation zu einer zuvor bereits erwähnten                 zwischen FTF-Interviews und Videokonferenz-
Einschränkung der sozialen Präsenz, was – ähn-                   Interviews gibt es mittlerweile auch interessante
lich wie dem Wirkmechanismus bezüglich der                       Befunde zu AVIs. Aufgrund der zuvor erwähnten
Akzeptanz – zu weniger Einsatz von Impression-                   Annahmen in kommunikationspsychologischen
Management-Taktiken führt. Der Einsatz solcher                   Modellen wäre aufgrund der mangelnden Inter-
Taktiken trägt jedoch zu besseren Leistungsbe-                   aktivität und einseitigen Informationsübertragung
wertungen in Interviews bei (Barrick, Shaffer & De-              eigentlich davon auszugehen, dass die Interview-
Grassi, 2009). Zum anderen zeigte sich ein wei-                  leistungen von Bewerberinnen und Bewerbern in
terer Wirkmechanismus über den Blickkontakt. In                  AVIs am schlechtesten sein müsste. Jedoch zeigen
Videokonferenzen Blickkontakt herzustellen und                   Befunde, dass die Durchführung ein und dessel-
gleichzeitig das Gesicht des Gesprächspartners zu                ben Interviews als AVI (also mit den exakt gleichen
fixieren, ist nur schwer möglich, denn blickt man                Interviewfragen) zu besseren Leistungsbeurtei-
direkt in die Kamera, verliert man den Gesprächs-                lungen führte als in Videokonferenz-Interviews
partner aus den Augen. Fixiert man jedoch die Au-                (Langer et al., 2017) oder in FTF-Interviews (Castro
gen des Gegenübers im Videofenster, suggeriert                   & Gramzow, 2015). Langer et al. vermuteten, dass
der Kamerawinkel fehlenden Blickkontakt. Au-                     eine Ursache für diese Unterschiede die für AVIs
ßerdem fand eine Studie von Horn und Behrend                     typische Vorbereitungszeit für jede Frage ist. In
(2017), dass die Aktivierung der Selbstansicht in                einer Studie, bei der die Studienteilnehmenden
Videokonferenz-Interviews zwar nicht mit schlech-                entweder ein AVI mit oder ohne Vorbereitungs-
teren Bewertungen einhergeht, aber zu einer er-                  zeit absolvieren sollten, konnten Basch, Brenner,
höhten kognitiven Belastung der interviewten Per-                Melchers, Krumm, Dräger, Herzer und Schuwerk
sonen führen kann. Außerdem fand die Studie von                  (2021a) diese Vermutung bestätigen und fanden,
McCarthy et al. (2021), dass negative Erfahrungen                dass die Vorbereitungszeit zu signifikant besse-
in Bezug auf die Corona-Pandemie die interview-                  ren Leistungsbeurteilungen führte. Gründe für die
bezogene Angst erhöhen, was letztendlich auch                    besseren Beurteilungen waren, dass die Teilneh-
zu schlechteren Interviewleistungen führen kann.                 merinnen und Teilnehmer die Vorbereitungszeit
   Auf Seite der Interviewerinnen und Interviewer                aktiv nutzten, um sich Notizen zu machen und ihre
konnte die Studie von Basch et al. (2021c) zeigen,               Antworten gedanklich vorzustrukturieren, und sich
dass auch diese sich von der veränderten sozialen                diese Vorbereitung positiv auf ihre Leistung aus-
Situation in technologie-mediierten Interviews                   wirkte.
beeinflussen lassen. In der Studie wurden alle
Interviews – egal ob FTF oder Videokonferenz –
aufgezeichnet und zweimal bewertet, einmal live                  5 Gibt es Unterschiede in der
während des Interviews und einmal im Nachgang
auf Basis der Aufzeichnung. Für die FTF-Interviews
                                                                   Kriteriumsvalidität von FTF-
zeigte sich, dass die Zweitbewertungen auf Basis                   Interviews vs. technologie-
der Aufzeichnung signifikant schlechter ausfielen                  vermittelten Interviews?
als die Erstbewertungen. Für Videokonferenz-In-
terviews zeigte sich hingegen kein vergleichbarer
Effekt. Dies spricht dafür, dass der fehlende Prä-               Angesichts der Befunde zu Leistungsunterschie-
senz-Kontakt verantwortlich für die Unterschiede                 den zwischen verschiedenen Durchführungsfor-
ist, also die Änderung der sozialen Situation bzw.               men von Interviews kommt schnell die Frage auf,
der sozialen Präsenz.                                            ob diese sich auch in Unterschieden bezüglich der
   Zusätzlich zur Änderung der sozialen Situation                Kriteriumsvalidität niederschlagen. Grundsätzlich
fand eine Studie von Fiechter, Fealing, Gerrard und              erscheint es naheliegend, dass jede Durchfüh-
Kornell (2018), dass auch die Qualität der audio-vi-             rungsform für sich eine sehr gute Vorhersage be-
suellen Übertragung eine Rolle bei der Bewertung                 ruflicher Arbeitsleistung ermöglicht und dass dies
von Interviews spielt. In einem Experiment wurden                für strukturierte FTF-Gespräche der Fall ist, ist be-
dabei die Aufnahmen von Interviews hinsichtlich                  kannt und auch metaanalytisch wiederholt belegt
12   Wirtschaftspsychologie
     Heft 4-2021
                                                                                                                       J. M. Basch & K. G. Melchers
                                                                               Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen

                              (Huffcutt et al., 2014; McDaniel, Whetzel, Schmidt      Darüber hinaus sind Erkenntnisse notwendig,
                              & Maurer, 1994; Taylor & Small, 2002). Bisher gibt    inwiefern bestimmte Merkmale oder verzerrende
                              es jedoch noch kaum Studien, die die Kriteriums-      Faktoren die Kriteriumsvalidität von technologie-
                              validität von technologie-mediierten Interviews       mediierten Interviews beeinflussen könnten. Ei-
                              untersucht haben. Einzelbefunde zu technologie-       nerseits ist bisher ungeklärt, welchen Einfluss
                              mediierten Interviews zeigen jedoch, dass eine        die visuelle Information – wie beim Vergleich von
                              Vorhersage der beruflichen Leistung durch sie         Videokonferenz- und Telefon-Interviews – auf
                              ebenfalls gut möglich ist.                            die Kriteriumsvalidität hat. Anderseits könnte bei-
                                 Eine Studie von Schmidt und Rader (1999) fand      spielsweise die konkrete Ausgestaltung von AVIs
                              beispielsweise, dass per Telefon durchgeführte        ebenfalls Einfluss auf deren Validität haben. So
                              Interviews, die anschließend transkribiert und auf    fand eine Studie von Basch et al. (2021a) Hinwei-
                              Basis der Transkription bewertet wurden, eine         se, dass sich AVIs mit und ohne Vorbereitungszeit
                              Kriteriumsvalidität aufweisen, die mit der von FTF-   hinsichtlich ihrer Intelligenzsättigung unterschei-
                              Interviews vergleichbar ist. Und in einer Studie      den könnten, denn mit Vorbereitungszeit war die
                              von Van Iddekinge, Eidson, Kudisch und Goldblatt      Leistung signifikant mit der Intelligenz der Teilneh-
                              (2003) fand sich außerdem, dass durch IVR-Inter-      merinnen und Teilnehmer korreliert, ohne Vorbe-
                              views eine gute Vorhersage von Leitungsbeurtei-       reitungszeit jedoch nicht.
                              lungen von Supermarkt-Mitarbeiterinnen und Mit-
                              arbeitern möglich war.
                                 Aktuelle Studien im Bereich von asynchronen        6 Welche Konsequenzen
                              Video-Interviews zeigten ebenfalls positive Ergeb-
                              nisse. So fanden zahlreiche Studien aus den USA
                                                                                      ergeben sich für die
                              mit echten Bewerberinnen und Bewerbern, dass            Personalauswahl?
                              AVIs bei der Auswahl von Ärztinnen und Ärzten
                              mit anderen Variablen korrelieren, die die spätere    Mit Hinblick auf Leistungs- und Akzeptanzunter-
                              Arbeitsleistung vorhersagen können, wie Leistun-      schiede gibt es sowohl für Unternehmen als auch
                              gen im Medizin-Studium (Bird, Hern, Blomkalns,        für Bewerbende verschiedene Dinge zu beachten.
                              Deiorio, Haywood, Hiller, Dunleavy & Dowd, 2019),     Einerseits sollten Unternehmen die geringere Ak-
                              Leistungen in anderen Auswahlverfahren zur Me-        zeptanz von technologie-mediierten Interviews im
                              diziner-Auswahl (Hopson, Regan, Bond, Branzetti,      Vergleich zum traditionellen Pendant bedenken,
                              Samuels, Naemi, Dunleavy & Gisondi, 2019) oder        da eine negativere Wahrnehmung eines Aus-
                              Kommunikations-Skills (Hopson, Dorfsman, Bran-        wahlverfahrens schließlich auch mit verändertem
                              zetti, Gisondi, Hart, Jordan, Cranford, Williams &    Bewerberverhalten einhergehen kann, wie der
                              Regan, 2019). Ähnlich fand auch eine deutsche         Wahrscheinlichkeit, dass Bewerbende ein Stellen-
                              Studie mit Bewerberinnen und Bewerbern, dass          angebot annehmen oder dass sie das Unterneh-
                              die Leistung in AVIs die Leistung in einem später     men an Freunde und Bekannte weiterempfehlen
                              durchgeführten Assessment Center vorhersagen          (Hausknecht, Day & Thomas, 2004). Dies heißt
                              kann (Brenner, 2019), was die Brauchbarkeit die-      jedoch nicht, dass Unternehmen diese Interviews
                              ser Art von Interviews als Vorauswahlinstrument       trotz ihrer zahlreichen anderen Vorteile von ihrer
                              unterstreicht. Und schließlich fand eine Studie mit   Agenda streichen müssen. Im Einklang mit meta-
                              simulierten AVIs Zusammenhänge mit selbstein-         analytischen Befunden, dass Erklärungen die Ak-
                              geschätzter Arbeitsleistung (Gorman, Robinson &       zeptanz von Auswahlverfahren verbessern können
                              Gamble, 2018).                                        (Truxillo, Bodner, Bertolino, Bauer & Yonce, 2009)
                                 Was bis dato jedoch fehlt, ist ein direkter Ver-   fand die Studie von Basch und Melchers (2019)
                              gleich der Kriteriumsvalidität verschiedener Inter-   beispielsweise positive Effekte von Erklärungen
                              view-Formen. Gerade in der Corona-Krise haben         zu AVIs: Wenn Unternehmen ihren Bewerberinnen
                              viele Unternehmen vor allem Videokonferenz-In-        und Bewerbern die Vorteile von technologie-me-
                              terviews als Ersatz für FTF-Interviews verwendet.     diierten Interviews erklären, kann dies die wahrge-
                              Leistungsunterschiede zwischen diesen Interview-      nommene Fairness verbessern und dadurch auch
                              Formen (vgl. Basch et al., 2021c) könnten jedoch      die wahrgenommene organisationale Attraktivität
                              auch ein erster Hinweis darauf sein, dass sich        steigern. Außerdem sollten Unternehmen Bewer-
                              auch deren Validität unterscheiden könnte. In die-    berinnen und Bewerbern auch die Möglichkeit
                              sem Zusammenhang sind auch Effekte von verzer-        geben, Erfahrungen mit der jeweiligen Art von In-
                              renden Faktoren wie technischen Störungen oder        terviews zu sammeln. Sind unbekannte Auswahl-
                              mangelnde Videoqualität interessant (Fiechter et      situationen erst einmal durchlebt, verringert sich
                              al., 2018). Zukünftige Forschung in diesem Bereich    auch die Skepsis (Basch et al., 2021c; Melchers et
                              ist definitiv notwendig, um abschätzen zu können,     al., 2021).
                              ob die Verwendung von technologie-mediierten             In jedem Falle sollten Unternehmen die Art der
                              Interviews die Vorhersage der späteren berufli-       Interviewdurchführung angesichts der wiederholt
                              chen Leistung beeinträchtigt.                         gefundenen Leistungsunterschiede standardisie-
J. M. Basch & K. G. Melchers
Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen
                                                                                                                        Wirtschaftspsychologie
                                                                                                                                   Heft 4-2021   13

ren. Auch wenn es verlockend erscheint, Bewer-                   na-Krise freistellen, ob sie persönlich oder per Vi-
berinnen und Bewerber mit einer weiten Anreise                   deokonferenz interviewt werden möchten, sollten
per Videokonferenz-Interview zu interviewen                      Bewerberinnen und Bewerber in jedem Falle das
und damit vermeintlich sogar zuvorkommend zu                     persönliche Gespräch wählen, um ihre Chancen
erscheinen, benachteiligen Unternehmen diese                     auf eine Einstellung zu vergrößern.
Bewerberinnen und Bewerber dadurch systema-                         Sollten Bewerberinnen und Bewerber Video-
tisch. Unternehmen sollten deshalb für alle Be-                  konferenz-Interviews durchlaufen, sollten sie be-
werberinnen und Bewerber der gleichen Stufe                      züglich des mangelnden Blickkontakts und dessen
im Auswahlprozess die gleiche Art der Interview-                 Zusammenhang mit niedrigeren Leistungsbewer-
Durchführung verwenden. Wenn Unternehmen je-                     tungen versuchen, Blickkontakt mit ihrem Gegen-
doch nicht auf die Vorteile von technologie-medi-                über so gut es geht herzustellen bzw. zu halten.
ierten Interviews verzichten möchten, können sie                 Wie bereits erwähnt, ist dies in Videokonferenzen
auch alle Bewerberinnen und Bewerber mit tech-                   oft nur schwer möglich, da man entweder in die
nologie-mediierten Interviews auswählen. Beim                    Kamera blickt, um Blickkontakt herzustellen, oder
Wechsel von standardisierten FTF-Interviews zu                   das Gesicht des Gesprächspartners fixiert, um
technologie-mediierte Interviews kann es jedoch                  Reaktionen im Gesicht des Gesprächspartners
aufgrund der schlechter bewerteten Interviewlei-                 erfassen zu können. Eine Lösung ist eine Verän-
stung wichtig sein, dass etablierte Cut-Off-Werte                derung des Kamera-Setups, bei der man das Vi-
angepasst werden, die herangezogen werden, um                    deofenster minimiert und möglichst nahe an die
zu entscheiden, ob Bewerberinnen und Bewer-                      Kameralinse schiebt, sodass zumindest die Illusion
ber für den nächsten Schritt im Auswahlprozess                   von Blickkontakt entsteht. Außerdem empfiehlt es
berücksichtigt werden bzw. ein Stellenangebot                    sich angesichts der Ergebnisse aus der Studie von
bekommen oder nicht. Zudem empfiehlt es sich                     Fiechter et al. (2018), die Rahmenbedingungen für
für Unternehmen natürlich, sich bei der Durchfüh-                Videokonferenz-Interviews so optimal wie mög-
rung von technologie-mediierten Interviews an die                lich zu gestalten: eine ungestörte Atmosphäre mit
allgemeinen Empfehlungen zu Inhalt und Durch-                    neutralem Hintergrund, eine stabile Internetver-
führung von Interviews zu halten, sodass die In-                 bindung und wenn möglich eine hochauflösende
terviews auf einer Anforderungsanalyse basieren                  Webcam. Zusätzlich sollten Bewerberinnen und
und dass sie strukturiert durchgeführt und stan-                 Bewerber die Selbstansicht in Videokonferenzen
dardisiert ausgewertet werden (Campion, Palmer                   deaktivieren, da diese mit mehr Ablenkung und
& Campion, 1997).                                                einer größeren kognitiven Belastung einhergehen
   Darüber hinaus sollten Interviewerinnen und                   kann (Horn & Behrend, 2017).
Interviewer wie bisher auch geschult werden, um                     Im Falle von asynchronen Video-Interviews
eine einheitliche Durchführung und Bewertung                     sollten Bewerberinnen und Bewerber aufgrund
sicherzustellen. Inwieweit in einer solchen Schu-                des zuvor erwähnten Befunds, dass die aktive
lung weitere Inhalte eingebaut werden müssen,                    Nutzung der Vorbereitungszeit zu einer besseren
die auf besondere technische Herausforderun-                     Leistungsbewertung führt (Basch et al., 2021a), die
gen und Probleme eingehen, muss dabei noch                       gegebene Vorbereitungszeit für jede Frage voll
untersucht werden. Zwar sprechen die Befunde                     ausnutzen, sich Notizen machen und die Antwor-
von Fiechter et al. (2018) dafür, dass Hinweise                  ten gedanklich vorstrukturieren. Außerdem sollten
für Interviewerinnen und Interviewer nur bedingt                 sie auch die Antwortzeit voll ausschöpfen, da in
helfen, technische Störungen nicht in die Bewer-                 ebendieser Studie auch gefunden wurde, dass die
tung einfließen zu lassen. Trotzdem erscheint es                 Antwortlänge positiv mit der Bewertung korrelier-
sinnvoll, Interviewerinnen und Interviewer im Zuge               te, was dafür spricht, dass umfassendere Antwor-
von Interviewer-Trainings für die geändertem Her-                ten positiver bewertet werden.
ausforderungen zu sensibilisieren. Wie dies mög-
lichst ideal geschehen kann, muss allerdings noch
untersucht werden.                                               8 Ausblick

7 Welche Konsequenzen                                            Im Bereich der technologie-mediierten Interviews
                                                                 kann die Forschung mit den rasanten technolo-
  ergeben sich für                                               gischen Entwicklungen oft nur schwer mithalten.
  Bewerberinnen und Bewerber?                                    Eine weitere spannende Entwicklung, die über
                                                                 diesen Artikel hinausgeht, betrifft den Einsatz von
Auf Basis der vorgestellten Befunde lassen sich für              künstlicher Intelligenz zur automatischen Analyse
Bewerberinnen und Bewerber verschiedene Emp-                     des Bewerbendenverhaltens in Interviews. Insbe-
fehlungen ableiten. Sollten Unternehmen auf die                  sondere bei der Verwendung von AVIs erscheint
bereits erwähnte Standardisierung verzichten und                 es nicht überraschend, dass Unternehmen über-
es Bewerberinnen und Bewerbern nach der Coro-                    legen, diese Interviews automatisiert auszuwerten
14   Wirtschaftspsychologie
     Heft 4-2021
                                                                                                                          J. M. Basch & K. G. Melchers
                                                                                  Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen

                              oder dies bereits tun (z. B. McCarthy et al., 2021).     9 Fazit
                              Dazu, wie brauchbar aktuelle Algorithmen sind,
                              gibt es bisher jedoch nur wenige Studien, und die        Die fortschreitende Digitalisierung und deren Be-
                              Kriteriumsvalidität entsprechender Verfahren im          schleunigung durch die Corona-Krise werden ver-
                              Hinblick auf die Vorhersage von Arbeitsleistung ist      mutlich dazu führen, dass technologie-mediierte
                              noch ungeklärt.                                          Interviews auf Dauer vermehrt zur Personalaus-
                                 Was es bisher gibt, sind Studien, die belegen,        wahl eingesetzt werden. Unter Berücksichtigung
                              dass es möglich ist, dass Algorithmen auf Basis          der aktuellen Forschungsergebnisse zu Unter-
                              aufgezeichneter Interviews Persönlichkeitsvariab-        schieden bezüglich Bewerberreaktionen und
                              len (Hickman, Bosch, Ng, Saef, Tay & Woo, 2021)          Leistungsbewertungen und der einhergehenden
                              oder auch Hirability-Ratings (Naim, Tanveer, Gild-       Ableitung von Empfehlungen für die Praxis ist da-
                              ea & Hoque, 2018; Nguyen, Frauendorfer, Schmid           gegen auch nichts einzuwenden. Es sollte jedoch
                              Mast & Gatica-Perez, 2014) vorhersagen. Zudem            Aufgabe zukünftiger Forschung sein, die beschrie-
                              gibt es gelegentlich einzelne Berichte wie von Su,       benen Wissenslücken zu schließen, um mit den
                              Suen und Hung (2021), die behaupten, dass eine           rasanten Entwicklungen in der Praxis Schritt zu
                              künstliche Intelligenz, die die Gesichtsausdrücke        halten und diese kritisch zu überprüfen.
                              von Bewerbenden analysiert, Verhaltenstenden-
                              zen in hohen Ausmaß vorhersagen könne. Die
                              Vorhersagekraft bei Su et al. ist dabei besser ist als   Literatur
                              in der langjährigen Forschung zu strukturierten In-
                              terviews, Persönlichkeitsfragebögen oder Assess-
                              ment Centern. Dass dann jedoch viele der analy-          Armoneit, C., Schuler, H., & Hell, B. (2020). Nut-
                              sierten Punkte im Gesicht an Stellen liegen, die die       zung, Validität, Praktikabilität und Akzeptanz
                              Kopfform beschreiben bzw. die keine Informatio-            psychologischer Personalauswahlverfahren in
                              nen über Emotionen abbilden, weckt zusammen                Deutschland 1985, 1993, 2007, 2020. Zeitschrift
                              mit der nur mäßig nachvollziehbaren Methodik               für Arbeits-und Organisationspsychologie,
                              deutliche Zweifel an den berichteten Ergebnissen.          64, 67-82. https://doi.org/10.1026/0932-4089/
                                 Unternehmen sollten in diesem Zusammen-                 a000311
                              hang beachten, dass der Einsatz von künstlicher          Barrick, M. R., Shaffer, J. A., & DeGrassi, S. W.
                              Intelligenz mit negativen Bewerberreaktionen               (2009). What you see may not be what you get:
                              einhergehen kann. So fanden Studien von Lan-               Relationships among self-presentation tactics
                              ger und Kollegen, dass hoch automatisierte In-             and ratings of interview and job performance.
                              terviews zu niedrigerer wahrgenommener so-                 Journal of Applied Psychology, 94(6), 1394-1411.
                              zialer Präsenz und niedrigerer Fairness dieser             https://doi.org/10.1037/a0016532
                              Interviews sowie zu niedrigerer organisationaler         Basch, J. M., Brenner, F. S., Melchers, K. G., Krumm,
                              Attrivität der Unternehmen, die diese Interviews           S., Dräger, L., Herzer, H., & Schuwerk, E. (2021).
                              einsetzen, führen können (Langer et al., 2019;             A good thing takes time: The role of preperation
                              Langer, König, Sanchez & Samadi, 2020). Und                time in asynchronous video interviews. Inter-
                              weitere Studien fanden, dass die Ankündigung,              national Journal of Selection and Assessment,
                              dass eine Einstellungsentscheidung von einer               29(3-4), 378-392. https://doi.org/10.1111/ijsa.12341
                              künstlichen Intelligenz getroffen wird, zu signifi-      Basch, J. M., & Melchers, K. G. (2019). Fair and fle-
                              kant niedrigeren Fairness-Einschätzungen führt             xible?! Explanations can improve applicant re-
                              als bei einem menschlichen Entscheidungsträger             actions toward asynchronous video interviews.
                              (Gonzalez, Capman, Oswald, Theys & Tomczak,                Personnel Assessment and Decisions, 5(3), 1-11.
                              2019; Langer, Baum, König, Hähne, Oster & Speith,          https://doi.org/10.25035/pad.2019.03.002
                              2021). In der Studie von Langer et al. (2021) führte     Basch, J. M., & Melchers, K. G. (2020). Technolo-
                              die Bereitstellung von zusätzlichen Informationen          gie-mediierte Einstellungsinterviews: Ein Über-
                              zur automatisierten Auswahl zudem zu höheren               blick über Befunde und offene Fragen. Gruppe.
                              datenschutzrechtlichen Bedenken, niedrigeren               Interaktion. Organisation., 51(1), 71-79. https://
                              Fairnessbeurteilungen und negativen emotiona-              doi.org/10.1007/s11612-020-00497-y
                              len Reaktionen bei potenziellen Bewerberinnen            Basch, J. M., & Melchers, K. G. (2021). The use of
                              und Bewerbern. Außerdem erhöhten zusätzliche               technology-mediated interviews and their per-
                              Informationen zum Auswahlprozess nicht einmal              ception from the organization’s point of view.
                              die wahrgenommene Transparenz des Auswahl-                 International Journal of Selection and Assess-
                              verfahrens, die eigentlich als Regel prozeduraler          ment, 29(3-4), 495-502. https://doi.org/10.1111/
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J. M. Basch & K. G. Melchers
Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen
                                                                                                                             Wirtschaftspsychologie
                                                                                                                                        Heft 4-2021   15

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16   Wirtschaftspsychologie
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                                                                                                                            J. M. Basch & K. G. Melchers
                                                                                    Technologie-mediierte Interviews: Lessons learned und offene Fragen

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