WAHL-PROGR AMM SUCHT PARTEI
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Doppelnummer 2021. € 15,– makroskop.eu Magazin für Wirtschaftspolitik WAHL- PROGR AMM SUCHT PARTEI Für ein Ende der deutschen Exportfixierung! Für ein verant- wortungsvolles Gesundheits- system! Gut bezahlte Arbeitsplätze Taking back organisieren! control! Ein genossen- schaftliches Europa Ein Finanz- system im Gemeinwohl- interesse!
Magazin für Wirtschaftspolitik ● Editorial freiburger Seite 4 diskurse ● Wahl_Bekenntnisse ● THEMA: WAHLPROGRAMM SUCHT PARTEI Seite 6 Meinung entfalten. Geld im Blick ● Demokratie und Staat Fiskalpolitik im 21. Jahrhundert: Schwarze Null ade. Wer Wohlfahrt sagt, muss Staat denken Die Probleme des 21. Jahrhunderts erfordern eine gänzlich Liberale und linke Staatsskepsis ist verfehlt. Weder ist der neue Ausrichtung der Fiskalpolitik. Staat der Antagonist des freien Bürgers – noch die Normie- Michael Paetz und Günther Grunert rungsinstanz der Gesellschaft. Es ist Zeit, den produktiven Seite 48 Sinn des Sozialstaats wieder stark zu machen. Liebe Freunde des modernen Geldes, Für ein Sicherheits-Update unseres Geldsystems Dorian Hannig Der digitale Euro kann bei richtigem Design unser Geldsys- Seite 8 tem sicherer machen. Vor allem aber versetzt er den Staat in wir haben von euch gelernt, dass der Staat nicht pleitegehen kann, die Lage, souverän seine Währung zur Steuerung der Volks- wenn ihn seine Notenbank mit ausreichend Geld versorgt. Begrenzen- wirtschaft einzusetzen. ● Geld der Faktor staatlicher Ausgaben sind allein die realen Ressourcen eines Paul Steinhardt Landes. Seite 56 Der neue Staat-Finanzmarkt-Nexus Der massive Eingriff der Zentralbanken während der Finanz- Kommunen in der Corona-Krise: Wenn Politiker und die Finanzverwaltung neu denken lernen sollen, krise und der Covid-19-Krise ist kein Ausnahmefall. Ein Zu- Stärkt die Schulen der Demokratie nämlich nicht mehr auf die Knappheit des Geldes, sondern auf die rück zur „Normalität“ ist nicht mehr möglich, dafür sind die Die finanzielle Lage der Kommunen ist angespannt. Die Co- Knappheit der realen Ressourcen zu schauen, dann brauchen beide globale Ökonomie und das Weltfinanzsystem zu instabil ge- rona-Krise hat die Situation weiter verschärft. Die „Schulen Hilfe von der Forschung, wie man dieses Wissen in der Praxis umset- worden. der Demokratie“ bedürfen dringend einer Finanzreform. – zen kann. Die föderale Struktur Deutschlands stellt dabei eine beson- Joscha Wullweber Christian Person Seite 14 Seite 62 dere Herausforderung dar. Jeder Kritiker der MMT wird irgendwann die letzte Karte ziehen, näm- ● Interview Arbeit als Agenda lich die, dass Politiker nicht beliebig über Geld verfügen dürfen. Man kann dies als undemokratisches Denken zurückweisen, klüger ist es, Mit flüssigem Wasserstoff in die Energiewende? "Exportweltmeister": Titel mit Fluch unsere demokratischen Institutionen auf Basis des MMT-Wissens so Erleben wir in naher Zukunft eine neue Ära der Mobilität, bei Doch das ist kein Grund zum Jubeln, sondern ein Problem – weiterzuentwickeln, dass eine Gemeinwohlorientierung staatlichen der Schiffe, Züge und Lkw mit grünem Wasserstoff angetrie- nicht nur für das Ausland, sondern auch für Deutschland ben werden? Der Chemieingenieur Peter Wasserscheid ist selbst. Plädoyer für eine Ausbalancierung der deutschen Handelns gewährleistet ist. Insbesondere in unserem föderalen Staats- davon überzeugt. Ökonomie. - system sind Verteilungsregeln wichtig. Nur so kommt das Geld an der Eve Tsakiridou Andreas Nölke richtigen Stelle an. In der Heimat des Ordoliberalismus hat MMT ohne Seite 24 Seite 72 ein solches Regelsystem ohnehin keine Chance. Lasst uns forschen, damit wir in Zukunft forscher sein können! ● Aufgelesen EUropa mit Kopf Die Freiburger Diskurse wollen zu dieser Frage ein Forschungsprojekt Das Recht als erste Ursache der Ungleichheit Genossenschaft statt Imperium Wie vor jeder Wahl wird wieder über „Steuerbelastungen“ dis- Gibt es für „Europa“ Alternativen zu dem, was absehbar pas- initiieren. Wir sind keine Fachleute, wir brauchen deswegen bereits bei kutiert. Doch mit dem Streit um bereits gelegte Eier wird man sieren wird, wenn nichts passiert? Ein Gelegenheitsfenster der Präzisierung der Fragestellung, bei der Strukturierung des For- der materiellen Ungleichheit nicht begegnen. Den eigentli- für eine Lösung der „europäischen Frage“ existiert. schungsteams und bei der Kostenschätzung Unterstützung. chen Skandal zeigt Katharina Pistor: der Bürgerschaft wird Wolfgang Streeck die goldene Gans unter dem Deckmantel des Rechts geraubt. Seite 82 Schreiben Sie uns, wenn Sie Ideen zu diesem Projekt haben. Wenn Sie Paul Steinhardt Hilfstruppe der USA oder strategische uns gar bei der Formulierung des Forschungsauftrages helfen können: Seite 28 Autonomie? Das wäre fantastisch. In der neuen Welt-Un-Ordnung scheitern die Großmacht- sträume der EU am strukturellen und ökonomischen Unver- Freiburger Diskurse e.V. ● Wirtschaft mögen. Kooperation und politische Konfliktlösung würden Marcus Brian | Heinrich Röder ihr besser stehen. Fehlinterpretationen bei der Verteilungsfrage Peter Wahl Kontakt@freiburger-diskurse.de Bevor etwas zu verteilen ist, muss es produziert werden. Was Seite 90 eine triviale ökonomische Tatsache ist, scheint heute vielen 0761 – 29656 -600 nicht mehr richtig bewusst zu sein. Heinz-J. Bontrup www.freiburger-diskurse.de Seite 36 1
Umwelt im Sinn ● Geist & Gesellschaft Ohne Kreislaufwirtschaft keine Zukunft Quo vadis, Konservatismus? Wieviel Mensch steckt im Wachstum kann vom Ressourcenverbrauch entkoppelt wer- den. Die Kreislaufwirtschaft als Teil des Green New Deal ist Der Konservatismus steckt in einer Repräsentationskrise, denn er hat sein Profil dem Liberalismus geopfert. Will er zu- Homo oecomomicus? die Zukunft für die europäischen Volkswirtschaften. kunftsfähig bleiben, muss er sich neu erfinden. Nur wie? Robert Matovinović und Albin Kälin Dorian Hannig Seite 98 Seite 146 Als mittelständischer Unternehmer soll- und politischen Konzepten ein solches te ich FDP wählen, auf die Maximierung Ziel erreicht werden kann, dann muss Verkehrspolitik: Auf die falsche Karte gesetzt Spielt der Populismus noch eine Rolle? meines Profits bedacht sein und mög- ich die meisten Zeitungen frustriert Die verkehrspolitische Priorisierung des Elektroautos hat Kann eine wirksame Opposition gegen die Herrschaft der lichst wenig Steuern zahlen, wenn ich oder verwirrt zur Seite legen. nicht nur soziale, sondern auch ökologische Schieflage. Emis- linksliberalen Eliten entstehen? Die früheren Formen des sionen und Umweltschäden bleiben unverändert hoch. Eine der Meinung bin, dass jeder Mensch in Linkspopulismus scheinen jedenfalls Relikte der Vergangen- wirkliche Verkehrswende muss anders aussehen. erster Linie ein „Homo oecomomicus“ Ich unterstütze Makroskop, weil ich heit zu sein. Rainer Fischbach Saagar Enjeti ist. Wie das funktionieren soll, kann ich glaube, dass Wirtschaft den Menschen Seite 104 Seite 150 jeden Tag in jeder beliebigen Zeitung zu dienen hat und weil ich den offe- Ökosystem: Vier Krisen, eine Lösung lesen. nen, kontroversen Diskurs schätze, mit Klimakrise, Arten- und Höfesterben, ernährungsbedingte dem das Autorenteam von Makroskop Krankheiten - Diese Krisen hängen miteinander zusammen ● Pro & Contra und verstärken sich gegenseitig. Doch genau das bietet Wenn ich mich jedoch dafür interes- volkswirtschaftliche Zusammenhänge Chancen für Lösungen. Game Over – oder Ende des Marktregimes siere, wie wirtschaftliches Handeln der diskutiert, die der Empirie standhalten. Tanja Busse Das CO2-Budget ist aufgebraucht, die Klimakatastrophe nur Mehrheit der Menschen zugute kommt Makroskop lesen ist für mich echte öko- Seite 112 noch abzuwenden, wenn die Wirtschaft radikal runtergefah- und dabei den Menschen dient und nomische Bildung, auf die ich nicht ver- ren wird. Doch die Politik will davon nichts wissen. nicht umgekehrt, und wenn ich verste- zichten möchte. Ulrich Thielemann hen will, mit welchen ökonomischen Gerechtigkeit im Herzen Seite 158 Wachstumsbremse für Boomstädte Ob Mieten, Immobilienpreise, Arbeitslosigkeit oder Pro- ● Interview Kopf-Einkommen – die Indikatoren zeigen: Deutschland teilt sich in zwei Hälften. In der einen überhitzen die Zentren, »Demokratie ist ›organisierte Unsicherheit‹« die andere blutet aus. Helfen kann nur eine aktive Regional- Postdemokratie? Nein! Unsere Lage sei von der gleichzeiti- politik. gen Demokratisierung und Ent-Demokratisierung der Demo- Andreas Gehlen Roland Pauli kratie gekennzeichnet, so die These des Politologen Philip Seite 120 Manow. Sebastian Müller Gesundheitswesen: System der organisierten Seite 170 Verantwortungslosigkeit Im deutschen Gesundheitswesen gibt es keine einheitliche politische Zuständigkeit für die Sicherstellung der medizini- ● Genial daneben schen Versorgung. Grund genug für eine Reform des gesam- ten Systems. Wer zu viel Geld produziert, produziert Inflation Hartmut Reiners »Die europäische Geldpolitik ist unverantwortlich«. Der in- Seite 126 ternational renommierte Ökonom Prof. Dr. Gabriel Sinnfeld erklärt uns kurz vor seiner Pensionierung, dass eine globale Inflation nicht zu vermeiden ist, weil die Fed und die Europäi- Globalisierung im Griff? sche Zentralbank inflationäre Politik betreiben. Seite 174 Eine neue Wirtschaftspolitik für Deutschland Gründer und Gesellschafter und Europa der Croozer GmbH Was müsste in einem Programm stehen, das weder inhaltlich noch sprachlich politische Rücksichten auf alte Dogmen neh- men muss, sondern genau das enthält, was von der Sache her angemessen ist? Heiner Flassbeck Seite 134 Warum mit Entwicklungspolitik keine Wahlen zu gewinnen sind Entwicklungspolitik mag nach »Umweltschutz«, »Fair Trade« und »Frieden« klingen. Doch global gesehen führt sie ins Leere, programmatische Forderungen greifen stets zu kurz. Kapitulationserklärung eines Auslaufmodells. Ulrich Menzel Seite 140 2
● Editorial Verehrte Leserinnen und Leser Im deutschen Parteiensystem klafft eine Lücke – Mit anderen Worten: Allein für Sie haben wir zu- eine Repräsentationslücke. Programmatisch lassen sammen mit unseren Freiburger Freunden Heft und die großen Parteien wichtige ökonomische und so- Wahlprogramm konzipiert. Wir wollen Ihnen Argu- ziale Fragen ganz außen vor oder bieten »Lösun- mente an die Hand geben, die Sie in Gesellschaft gen«, die bestenfalls an der Oberfläche der Pro- und Parteien hineintragen können, damit sich verän- bleme kratzen. dert, was sich unbedingt verändern muss. Schließ- Welche Fragen sind das und welche Antworten lich hängt das, was Politiker mit ihrer Macht anfan- müssten sich in den Wahlprogrammen der Bundes- gen, auch von der öffentlichen Meinung ab. Wir wol- tagsparteien finden, haben wir unsere Autoren ge- len Leser für vernünftige politische Ideen gewinnen, fragt. Was diese zu sagen haben, finden Sie im The- denn Leser sind am Ende auch Wähler. menblock dieses Doppelheftes. Ob nun zum Thema Unsere Slogans auf der Titelseite zeigen bereits, »Geld«, »Europa«, »Arbeit«, »Soziales«, »Globalisie- wohin die Reise geht: Wir müssen aufhören, Export- rung« oder »Umwelt«: Vergleichen Sie die Antwor- weltmeister sein zu wollen oder den Finanzsektor ten unserer Autoren mit jenen in den Parteipro- für seine schädlichen Aktivitäten auch noch zu sub- grammen, zeigt sich, dass es keine Partei gibt, die ventionieren; Daseinsvorsorge dürfen wir nicht entsprechende Forderungen stellt. länger als Almosen missverstehen; statt mit Bauen, So entstand die Idee zu diesem Heft, so erklärt Bauen, Bauen müssen wir Wohnungsnot mit Re- sich der Titel dieser Ausgabe. Zusammen mit den gionalpolitik begegnen; statt mit der EU die Ent- Freiburger Diskursen haben wir ein eigenes Wahl- demokratisierung der Mitgliedsländer weiter vor- programm verfasst, welches die Antworten unserer anzutreiben, müssen wir den entfesselten Kapitalis- Autoren aufnimmt, bündelt und diesem Heft bei- mus wieder unter staatliche Kontrolle stellen; und liegt. Anders als die Programme der Parteien wurde statt ökologischer Lippenbekenntnisse müssen wir es nicht durch unzählige Programmkommissionen machbare Projekte sofort auf den Weg bringen. geschleift, nicht jeder Satz von Spin-Doktoren auf Wir glauben nicht, dass Sie mit allen unseren Vor- seine PR-Tauglichkeit überprüft oder eine unge- schlägen konform gehen werden. Selbst unter den schönte Gegenwartsdiagnostik durch den Reißwolf MAKROSKOP-Autoren herrscht natürlich bei vielen gezogen. Fragen Dissens. So zum Beispiel, ob »Mehr Europa« Natürlich liegt die Frage nahe, warum wir uns – verstanden als eine Vertiefung der EU-Integration diese ganze Arbeit machen, wenn es doch ohnehin – eine Lösung oder vielmehr selbst ein Problem ist. niemanden gibt, der willens wäre, unsere Forderun- Kann eine ökologisch nachhaltige Politik mit Wirt- gen aufzunehmen, geschweige denn umzusetzen. schaftswachstum verträglich sein oder ist im Ge- Sollten wir unseren Leserinnen und Lesern nicht genteil Verzicht notwendig? vielmehr eine Entscheidungshilfe für die anste- An Sie, liebe Leserinnen und Leser, richten wir hende Wahl geben, wie sie sich auch in anderen daher einen Appell: Nehmen Sie sich Zeit, räumen Publikationen finden? Sie Ihren Kopf frei und reiben Sie sich an unserem Wir sind der Meinung, dass Sie an MAKROSKOP parteilosen »Wahlprogramm«. Und dann geben Sie einen anderen Anspruch stellen. Dass Sie einerseits uns, einem Magazin mit einem anderen Blick auf einen ungeschminkten Blick auf die Realität und an- »Wirtschaft«, Ihre Stimme! ● dererseits durchdachte Lösungsvorschläge erwar- ten, die die etablierten Parteien nicht vorlegen kön- nen oder wollen. Sie, so sind wir überzeugt, wollen es genauer wissen und glauben, wie wir, dass einiges faul im Staate Deutschland ist. Und Sie sind prinzi- piell bereit, Ihren Beitrag dafür zu leisten, dass sich daran etwas ändert. © everyonensk/123RF.com 4
● Wahl_Bekenntnisse Wir wollen beim Klimaschutz so ambitioniert sein wie kaum ein anderes Land Jede gute Politik beginnt damit, sich der Welt. der Wirklichkeit zu stellen. Markus Söder Kanzlerkandidatin Annalena Barbock in ihrem Buch Jetzt Aber es ist doch klar, dass man alleine über Sprache nicht Gesellschaft verändert, Wir werden aus den Schulden sondern wir müssen die Geht nicht, gibt's in herauswachsen genau wie nach zugrundeliegenden Deutschland nicht mehr. der Finanzkrise. Probleme ändern. Kanzlerkandidat Armin Laschet Wir können nicht versprechen, Kanzlerkandidat Olaf Scholz Janine Wissler dass nach Corona jedes unserer Ein staatlich verordneter Umbau Projekte noch finanzierbar ist. der Landwirtschaft ist mit der FDP Grünes Wahlprogramm zur nicht zu machen. Bundestagswahl Wir werden in den nächsten Jahren Gero Hocker, gigantische Summen ausgeben müssen. landwirtschaftspolitischer Angela Merkel Sprecher der Bundestagsfraktion. Der Staat ist in der Lage, die Herausforderungen des Klimaschutzes zu finanzieren, ohne auf außerordentliche Schulden zurückgreifen Man kann auch grüne Politik Das ist eine wahnsinnig junge Truppe. zu müssen. machen ohne die Grünen. Wir haben das Versprechen Eckhardt Rehberg, Chefhaushälter der Markus Söder eingehalten, dass wir jünger, weiblicher Unions-Fraktion im Bundestag und bunter werden wollen. Lars Klingbeil über die SPD-Kandidaten zur Bundestagswahl © bizoon/123RF.com
● Geld Zentralbankkapitalismus Der neue Staat-Finanzmarkt-Nexus Der massive Eingriff der Zentralbanken während der Finanzkrise und der Covid-19-Krise ist kein Ausnahmefall. Ein Zurück zur »Normalität« ist nicht mehr möglich, zu instabil sind die globale Ökonomie und das Weltfinanzsystem geworden. ● Text: Joscha Wullweber Am 17. September 2019 wurden die Zentralbanker der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) mit aller Wucht gezwungen, den radikal veränderten Staat- Finanzmarkt-Nexus als neue Normalität anzuer- kennen. Binnen weniger Tage entwickelte sich in- nerhalb des Schattenbankensystems ein Tsunami, den niemand vorhergesehen hatte und der das Po- tenzial besaß, das globale Finanzsystem zum Ein- sturz zu bringen. Grund für diese Panik im Herzen des Finanzsys- tems war der Versuch der Fed, zehn Jahre nach dem Ende der globalen Finanzkrise wieder zur Vor- krisen-Zentralbankpolitik zurückzukehren. Die Si- cherheitsstruktur, die nach der globalen Finanz- krise das Finanzsystem stabilisiert hatte, sollte vom Krisenmodus zurück in den vormals vorherr- schenden Normalmodus versetzt werden. Überse- hen wurde allerdings, dass ein Zurück zur alten Normalität nicht mehr möglich war, ohne starke Marktturbulenzen zu verursachen. Der sich ab- zeichnende Zusammenbruch des Finanzsystems konnte nur verhindert werden, indem die Fed inner- halb weniger Tage die neue Konstellation akzep- tierte, zum Krisenmodus zurückkehrte und Sicher- heitsstrukturen für das Schattenbankensystem © crbellette, anizza, ewastudio/123RF.com reaktivierte.1 Das globale Finanzsystem von heute ähnelt dem Finanzsystem vom Ende des 20. Jahrhunderts kaum noch. Denn seit etwa 20 Jahren wird das Schattenbankensystem zunehmend bedeutender und stellt den Kern des Gesamtsystems dar. Inzwi- schen werden im Schattenbankensystem Wertpa- piere im Umfang von mehr als 200 Billionen Dollar pro Jahr umgesetzt, das sind etwa 50 Prozent aller 14
Alternative Genossenschaft statt Imperium für Europa Gibt es für »Europa« Alternativen zu dem, was absehbar passieren wird, wenn nichts passiert? Ein Gelegenheitsfenster für eine Lösung der »europäischen Frage« gäbe es. ● Text: Wolfgang Streeck Das Kräftemessen zwischen neoliberaler Groß- und Einheitsstaaterei und nationalstaatlich-demo- kratisch-»populistischer« Kleinstaaterei – zwi- schen gesamteuropäischem Universalismus und nationaleuropäischem Partikularismus – ist ste- ckengeblieben, auf vielfältige Weise eingeflochten in die gegenwärtige, ständig neue Transformati- onskrise des globalen Kapitalismus. Der antizipa- torische Umbau der Europäischen Union in eine »marktkonforme Demokratie« (Angela Merkel), gedacht als regionale Vorwegnahme einer welt- weiten Ausschaltung marktunkonformer protek- tionistischer Politik, hat sich als voreilig erwiesen. Wer genau hinschaut, wird in der Europäischen Union von heute ein scheiterndes technokrati- sches Zentralisierungsprojekt aus dem letzten Jahrzehnt des letzten Jahrhunderts erkennen, das nicht erst seit dem Austritt des Vereinigten König- reichs aus der Zeit gefallen ist – degeneriert zu einem fragilen Imperium zweier uneiniger Hege- monen, Deutschland und Frankreich. Epochen sind kurz in Krisenzeiten. Auch wegen der Erfahrungen, die viele Menschen mit der gesteigerten Form der © egubisch/123RF.com Globalisierung in den 1990er Jahren gemacht haben, leben wir heute in einer Welt, die sich funda- mental von der unterscheidet, in welcher die Ver- träge von Maastricht (1992) und Amsterdam (1997) unterschrieben wurden. 83
● Umwelt im Sinn Wachstum kann vom Ressour- cenverbrauch entkoppelt werden. Die Kreislaufwirtschaft als Teil des Green New Deal ist die Zukunft für die europäischen Volkswirtschaften. ● Text: Robert Matovinović und Albin Kälin Wer hätte sich vor 20 Jahren vorstellen können, dass der Sand zum Bauen heute schon weltweit knapp ist? Laut dem OECD-Bericht zur Ressour- cennutzung von 20191 wird sich der globale Mate- rialverbrauch zwischen 2011 und 2060 verdoppeln. Cradle to Cradle Der Erdüberlastungstag, an dem die nachhaltig nutzbaren Ressourcen eines Jahres verbraucht sind, liegt seit Jahren weit vor dem Jahresende Ohne Kreislaufwirtschaft (2020 war es der 22. August)2, was bedeutet, dass wir mehr verbrauchen, als die Erde wieder selbst erzeugen kann. Kupfer ist eines der wichtigsten Metalle für die keine Zukunft Elektro- und Elektronikindustrie. Der Anteil von Kupfer im Kupfererz in den Abbaugebieten ist seit Anfang des 20. Jahrhunderts von 2% auf heute 0,6% um mehr als das Dreifache gesunken.3 Das bedeutet, dass für die gleiche Menge Kupfer drei- mal mehr Gestein bewegt und Energie eingesetzt werden muss. Phosphor – ein für alle Lebewesen unersetzba- res Element – wird rar, weil große Teile aufgrund von Überdüngung ausgewaschen werden und über Flüsse im Meer landen (wo sie dann zusätzlich noch Umweltkatastrophen auslösen).4 Hinzu kommt, dass der Verlust von Mutterboden durch Erosion in vielen Ländern der Erde höher ist als die natürliche Regenerationsrate.5 Auf internationaler Ebene sichern Staaten wie China ihren Zugang zu Ressourcen seit vielen Jah- ren. Da kann Europa schon heute nicht mehr mit- halten. Aus wirtschaftlicher Sicht ist es daher höchste Zeit, Maßnahmen zu ergreifen, um das Wachs- tum vom Ressourcenverbrauch zu entkop- Das lineare Wirtschaften peln. verschwendet nicht nur Das alles sind schon genug Gründe, die lineare Wirtschaftsweise des take – Ressourcen, es erzeugt make – waste (nehmen – machen – auch ein sonst auf der wegwerfen) nicht weiter zu verfolgen, Erde unbekanntes Produkt: sondern Ressourcen im Wirtschafts- Abfall kreislauf zu halten. Das lineare Wirt- © rafaelbenari/123RF.com schaften verschwendet nicht nur Res- sourcen, es erzeugt auch ein sonst auf der Erde unbekanntes Produkt: Abfall. Ab- fall, der mehr oder weniger giftig ist und Mensch und Umwelt belastet. 99
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