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Weder drinnen noch draußen Kulturwissenschaftliche Perspektiven auf das Leben nach der Haft Dr. Barbara Sieferle Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie Universität Freiburg barbara.sieferle@kaee.uni-freiburg.de Fachtagung Übergangsmanagement 07./08. Juni 2021 online
Ablauf 1. Entfremdung gegenüber der Welt draußen 2. Stigmatisierungsprozesse 3. Armut 4. Techniken der Navigation: Umgangsweisen mit gesellschaftlichen Handlungsherausforderungen
Entfremdung gegenüber der Welt draußen Selbstverständlichkeit des Alltags nicht mehr gegeben; durch Haftaufenthalt zu großen Teilen verloren gegangen Alltag als selbstverständliche, vertraute, unhinterfragt wahrgenommene, routiniert gelebte Welt (vgl. Schütz/Luckmann 2003) existiert für haftentlassene Menschen nicht Entlassung als Eintritt in eine Welt, deren Handlungsregeln fremd geworden sind erlebter Zustand des Dazwischens (vgl. Turner 1967) Zustand des Dazwischens: - Unsicherheit in Bezug auf Welt draußen - Unsicherheit in Bezug auf die Einnahme sozialer Rollen und sozialer Positionen Überwindung zentral für die Ausbildung positiver Selbstbilder
Stigmatisierungsprozesse Stigma des Ex-Knackis, des verurteilten Straftäters, des gefährlichen Kriminellen (vgl. Sieferle 2020) Stigma als gesell. negativ bewertetes Merkmal, auf das sich die gesamte Fremdwahrnehmung fokussiert (vgl. Goffman 2016 [1967]) Stigma als relationale Kategorie (je nach sozialer Gruppe und Kontext kann ein Merkmal ein Stigma sein oder auch nicht Norm und Abweichung) (vgl. Goffman 2016 [1967]; Link/Phelan 2001) Gesell. Stigmatisierungsprozesse verhindern/erschweren den Aufbau von Alltag nach der Haft (vgl. u.a. Keene u.a. 2018; LeBel 2016)
Armut Armut als Mangel - an ökonomischem Kapital - an kulturellem Kapital (praktisches Handlungswissen/Alltagswissen, Bildung) - an sozialem Kapital (Netzwerke sozialer Beziehungen) (vgl. Bourdieu 1992) Armut als Mangel - an Verwirklichungschancen (von erwünschten Lebensentwürfen, Selbstbildern und sozialen Positionen) (vgl. Sen 2000)
Techniken der Navigation Stigma-Management (vgl. Goffman 2016 [1967]) - Offenlegung, Verschweigen, Aufnahme eines positiven Selbstbildes - Rückzug aus gesell. Leben / Aufenthalt in stigma-freien Räumen (bspw. Kneipe, Anlaufstelle Straffälligenhilfe) Aufbau informeller, sozialer Netzwerke (vgl. Granovetter 1983) - zum Aufbau sozialen Kapitals (soziale Beziehungen) - zur Aneignung kulturellen Kapitals (Wissen über Welt draußen) - zur Minderung ökonomischen Mangels (durch informelle Tausch- und Handelsnetzwerke)
Literatur Bourdieu, Pierre 1992: Ökonomisches Kapital – Kulturelles Kapital – Soziales Kapital. In: Ebd.: Die verborgenen Mechanismen der Macht. Hamburg: VSA Verlag, 49-80. Goffman, Erving. 2016 [1975]: Stigma. Über Techniken der Bewältigung beschädigter Identität. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Granovetter, Mark 1983: The strength of weak ties. A network theory revisited. In: Sociological Theory 1: 201-233. Granovetter, Mark 1973: The strength of weak ties. In: The American Journal of Sociology 78 (6): 1360-1380. Keene, Danya u.a. 2018: Stigma, housing and identity after prison. In: The Sociological Review Monographs 66 (4): 799-815. LeBel, Thomas 2012: Invisible stripes? Formerly incarcerated persons’ perceptions of stigma. In: Deviant Behaviour 33, 89–107. Link, Bruce u. Phelan, Jo 2001: Conceptualizing Stigma. In: Annual Review of Sociology 27: 363-385. Schütz, Alfred u. Luckmann, Thomas 2003: Strukturen der Lebenswelt. Konstanz: UTB. Sen, Amartya 2000: Ökonomie für den Menschen. Wege zu Gerechtigkeit und Solidarität in der Marktwirtschaft, München:Hanser Verlag. Sieferle, Barbara 2020: Stigma Gefängnis. Kulturwissenschaftliche Perspektiven. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 116 (2): 47-68. Turner, Victor 1967: Betwixt and Between: The Liminal Period in Rites de Passage. In: Ebd.: The forest of symbols. Aspects of Ndembu ritual. London: Cornell University Press, 93-111. Vigh, Henrik 2009: Motion Squared. A second look at the concept of social navigation. In: Anthropological Theory 9(4): 419-38.
Weitere Kulturwissenschaftlich-ethnographische Studien zum Thema Haftentlassung Fassin, Didier 2017: Prison Worlds. An ethnography of the carceral condition. Cambridge. Fassin, Didier 2018: Der Wille zu Strafen. Berlin. Harding, David 2003: Jean valjean’s dilemma: the management of ex-convict identity in the search for employment. In: Deviant Behavior 24: 571-595 Hubka, Christine 2018: Nach der Haft. Gespräche mit Haftentlassenen. Wien. Jewkes, Yvonne 2013: Loss, liminality and the life sentence: managing identity through a disrupted lifecourse. In: Liebling, Alison u. Maruna, Shadd (Hg.): The Effects of Imprisonment. Cullompton, 366-388. Johns, Diane 2018: Being and becoming an ex-prisoner. London. Maruna, Shadd 2011a: Reentry as a rite of passage. In: Punishment and Society 13 (1): 3-28. Martin, Liam 2020: Halfway Home. The thin line between Abstinence and Drug Crisis. In: Middlemass, Keesha M. u. Smiley, CalvinJohn (Hg.): Critical Perspektives on Returning Home. London, 15-25. Munn, Melissa u. Bruckert, Christ 2013: On the outside. From lengthy imprisonment to lasting freedom. Vancouver. Price Joshua 2015: Prison and Social Death. Columbia. Ortiz, Jonathan Anthony 2005: Almost Home. Halfway House as a rite de passage and inmate as liminal personae. Washington. Rhodes, Lorna 2004: Total Confinement. Madness and Reason in the Maximum Security Prison. Berkeley. Ugelvik, Thomas 2014: Power and Resistance in Prison. Doing time, doing freedom. Basingstoke.
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