Wie der kleine Drache sein Feuer fand - Eine Geschichte von den fünf Krafttieren Sakina Kerstin Sievers Bernhard Oberdieck
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Sakina Kerstin Sievers • Bernhard Oberdieck Wie der kleine Drache sein Feuer fand Eine Geschichte von den fünf Krafttieren ShenDo Verlag Stellshagen
E inst lebte in einem sonnigen Tal ein Drachenpaar. Als sich im Frühjahr die ganze Landschaft in ein buntes Blumenmeer verwandelte, kündigte sich bei den Drachen Nachwuchs an. Sie bauten zwischen den knorrigen Wurzeln eines alten Baumes ein Nest aus Ästen und Zweigen und polsterten es mit Moos und Blüten aus. In dieses weiche Bett legte die Drachenfrau ein Drachenei. Es war groß wie ein Flussstein und hatte kleine rote Punkte. Die Sonne wärmte es jeden Tag von Neuem, und nach ein paar Wochen war es dann soweit: Im Ei regte sich etwas. Es wackelte hin und her und aus dem Inneren drang ein Klopfen und Hämmern. Nach einer Weile entstand eine kleine Öffnung, durch die sich bald ein schrumpeliges Köpfchen zwängte, und schon nach kurzer Zeit brach das Ei schließlich ganz auf. Ein kleines Wesen kam heraus mit kurzen, stämmigen Beinchen und einem langen Schwanz, wie ein Krokodil ihn hat. Seine Haut war schuppig, grau und unscheinbar. Nur an dem leichten Funkeln in seinen großen, wachen Augen und seinen winzigen Flügeln konnte man erkennen, dass dies ein ganz besonderes Geschöpf war: Einer der seltenen Feuerdrachen.
Der kleine Drache drehte sich einmal im Kreis und schaute suchend um sich – aber er war allein. Wo waren seine Eltern? Wo war seine Mama? Das Drachenbaby konnte nicht wissen, dass seine Eltern am Tag zuvor in einem fürchterlichen Unwetter ums Leben gekommen waren. So kam es, dass niemand es willkommen hieß, als es das Licht der Welt erblickte. Der kleine Drache hatte sofort einen Bärenhunger. Da er jedoch allein war und sich niemand um ihn kümmerte, fing er jämmerlich an zu weinen. Er vergoss viele Tränen und quiekte so laut, dass sein Schluchzen weit durch das Tal hallte – bis hinauf zu den Bergen, wo eine Bärenmutter in ihrer Höhle lebte. Sie hatte vor kurzem drei kleine Bärenkinder geboren. Das erbärmliche Geschrei des Drachenbabys traf sie mitten ins Herz. Eilig machte sie sich auf den Weg ins Tal, um den kleinen Schreihals ausfindig zu machen.
Als der kleine Drache die Bärin von weitem kommen sah, hörte er auf zu weinen. Er zappelte aufgeregt im Nest herum und schlug mit seinem kräftigen Schwanz hin und her. Die Bärenmama hatte noch nie so ein merkwürdiges kleines Wesen gesehen. »Was bist du denn für ein kleiner Kerl?«, sagte sie zärtlich, nahm ihn behutsam auf und legte ihn sich vorsichtig in ihre Tatzen. Sie gab ihm den Namen Dschinnie. Der kleine Drache vergrub sich ins weiche Fell der Bärin und blickte sie mit großen, goldenen Augen vertrauensvoll an. Die Bärin liebte Dschinnie vom ersten Moment an. 9
Also packte sie dem kleinen Drachen ein Bündel mit seinem Lieblingsessen und nahm ihn mit ins Tal, um nach der großen Raubkatze zu suchen. Es dauerte nicht lange, da hatte sie den Tiger gefunden. Das Tier lag auf einem Felsblock und sonnte sich. Der Tiger war kein besonderer Freund der Bärin, denn er war wild und ungestüm und galt als rüpelhaft und unhöflich. Aber sie wusste, dass er ein aufrichtiger Kerl war, auf den man sich verlassen konnte. Da er immer viel unterwegs war und sich auch in den entlegensten Teilen des Landes auskannte, könnte er Dschinnie bestimmt auf seiner Suche weiterhelfen. Und er brachte noch eine wichtige Eigenschaft mit: Er konnte sich in der Welt durchsetzen. Dazu brauchte er nur seine gefährlichen Krallen auszufahren und gebieterisch zu fauchen. »Tiger, ich bringe dir Dschinnie«, sagte die Bärin. »Bitte hilf ihm, die Welt zu erkunden und andere Feuerwesen zu finden. Und pass gut auf ihn auf!« Der Tiger war gleich bereit, den kleinen Drachen mitzunehmen. Dschinnie und der Tiger mochten sich vom ersten Moment an.
Die beiden waren ungewöhnliche Gefährten – der fröhliche, verspielte Drache und der ernste, strenge Raubvogel. In ihrer gemeinsamen Zeit lernte Dschinnie viele Dinge an ihrem Zusammenleben zu schätzen: Die Nähe des Himmels, die er hoch oben in den Bergen spürte, die Weite und den scheinbar unendlichen Raum, den er beim Fliegen erfuhr. Und er hatte inzwischen in seinem Inneren auch Abstand von seiner ursprünglichen Suche genommen. Er wusste nämlich mittler- weile gar nicht mehr, ob er noch nach anderen Feuerwesen suchen sollte, oder ob es ihm eigentlich um etwas ganz anderes ging. So lebten die beiden eine Weile zusammen. Der Adler war überrascht, dass er auch etwas von Dschinnie lernen konnte. Er ließ sich anstecken von der Leichtigkeit, der Begeisterung und der Lebensfreude des kleinen Wesens. Doch irgendwann spürten sie beide, dass die Zeit gekommen war, sich wieder zu trennen. Der Adler räusperte sich und sprach: »Lieber Junge, auch wenn du mir sehr ans Herz gewachsen bist, möchte ich jetzt wieder alleine sein. Wir werden nun Abschied nehmen und du musst dir einen neuen Weggefährten suchen.«
Die unbändige Freude und Heiterkeit des kleinen Drachen lockte viele Tiere an. Sie kamen neugierig näher um nachzusehen, wer da so glücklich war und so vor Freude gluckste. Das Lachen des kleinen Drachen war ansteckend, und bald war das ganze Tal vom vielstimmigen Gelächter erfüllt. Die Tiere nannten Dschinnie ihren »Glücksdrachen« und sie wussten, dass es etwas ganz Besonderes war, so ein Wesen in ihrer Mitte zu haben. Und Dschinnie? Der kleine Drache war glücklich, er hatte seine Familie gesucht, er hat die Bärin getroffen, den Tiger, den Adler und den Karpfen ... Er hatte sein Zuhause gefunden – in sich selbst. Aus dem kleinen Drachen war ein Feuerdrache geworden.
Jedem der fünf taoistischen Elemente ist ein Krafttier zugeordnet, das besondere Eigenschaften und Fähigkeiten symbolisiert: Der Tiger steht für das Holzelement, der Adler ist das Krafttier des Metalls, der Karpfen gehört zum Element Wasser, die Bärin verkörpert die Erde – und der Feuerdrache spiegelt die Qualitäten des Feuers. Dschinnie, der kleine Drache, ist allein auf der Welt. Die Bärin nimmt sich des neugeborenen Wesens an und hütet es in ihrer Familie. Doch mit der Zeit spürt Dschinnie, dass seine Bestimmung eine andere ist, als die der Bärin. Der kleine Drache macht sich auf den Weg und findet schließlich sich selbst und sein Element – das Feuer. ISBN 978-3-9811184-4-5
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