Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie zur Pkw-Nutzung in Berlin
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supported by Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021 © Author(s) 2021. This work is distributed under the Creative Commons Attribution 4.0 License. Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie zur Pkw-Nutzung in Berlin Laura Gebhardt and Rebekka Oostendorp German Aerospace Center (DLR), Institute of Transport Research, Rudower Chaussee 7, 12489 Berlin, Germany Correspondence: Laura Gebhardt (laura.gebhardt@dlr.de) Received: 29 June 2020 – Revised: 22 December 2020 – Accepted: 4 March 2021 – Published: 7 April 2021 Kurzfassung. This paper is an empirical mixed-method study on car use in an urban context. It explores the questions: What mobility practices do people in the city display? What role does car use play in this context? What is the guiding, underlying logic behind personal car use? The findings help to understand mobility practices and their underlying logic. The central component is a user typology based on a quantitative survey and quali- tative interviews. The study aims to present an empirical description of mobility practices and the guiding logic of different mobility types in Berlin. The findings offer starting points for user-specific measures to encourage people to use new mobility concepts instead of their personal car. 1 Einleitung en Mobilitätskonzepten (Docherty et al., 2017) als Alterna- tiven zum motorisierten Individualverkehr (MIV) an Bedeu- Berlin-Mitte, Montagmorgen, 11.00 Uhr: Peter Mönch tung (WBGU, 2011). In dieser stark technologiegetriebenen (51 J.) ist nach einem Kundentermin am Morgen in Berlin- Diskussion sowie in der klassischen Verkehrsforschung wird Mitte in Eile, um pünktlich zu einer Veranstaltung am Stadt- Mobilität meist aus einer technischen oder organisatorischen rand zu kommen. Er läuft hastig zu seinem Wagen, für den er Perspektive betrachtet. Das führt dazu, dass Mobilität von mit Müh und Not einen Parkplatz gefunden hat. . . außen, sozusagen mit dem Blick der Forschenden, häufig Berliner Stadtrand, Samstagabend, 19 Uhr: Die Witwe quantitativ erfasst wird. Im Vergleich dazu sind Forschun- Paula Schmidt (70 J.) lebt in einem ruhigen Wohngebiet am gen deutlich unterrepräsentiert, die aus einer Innenperspek- Stadtrand. An diesem Abend ist ein Theaterbesuch in der tive heraus die den Mobilitätspraktiken zugrunde liegenden Berliner Innenstadt geplant. Im Alltag erledigt sie ihre Ein- Faktoren (interpretativ-verstehend) betrachten. NutzerInnen- käufe etc. gerne mit dem eigenen Pkw, die Fahrt mit dem Auto orientierte, subjektbezogene Studien dieser Art, die meist in der Innenstadt und die damit verbundene Parkplatzsuche eher aus dem Feld der sozialwissenschaftlichen Mobilitäts- findet sie jedoch grauenvoll. Daher hat sie sich entschieden, als der Verkehrsforschung1 stammen, sind zumeist durch ei- ihr Auto an der nächsten S-Bahn-Station zu parken und dann ne stark methodologisch motivierte Forschungshaltung ge- mit der S-Bahn stressfrei in die Innenstadt zu fahren. . . prägt, Probleme der Planungspraxis interessieren dabei kaum Peter und Paula sind prototypische StellvertreterInnen für (Wilde und Klinger, 2017). In der Folge ergibt sich laut Wil- viele Menschen, die tagtäglich in der Stadt unterwegs sind. de (2014: 372) „ein Missverhältnis: Die einen schlagen Lö- Sie nutzen – wenn auch auf unterschiedliche Art und aus un- sungen für die Planungspraxis vor, verstehen aber wenig von terschiedlichen Gründen – das (eigene) Auto. Und damit sind der Lebenspraxis der Menschen, die anderen forschen über sie nicht allein: Nach wie vor ist das Auto – trotz zuneh- die Lebenspraxis und versuchen, den Alltag und die Perspek- mender Mobilitätsalternativen in Städten (Lanzendorf und tive der Menschen zu entschlüsseln, überführen ihre Einbli- Hebsaker, 2017) – das meistgenutzte Verkehrsmittel (BMVI, cke allerdings kaum in Erkenntnisse für die Planungspraxis“. 2017). Angesichts dessen und der damit einhergehenden Belas- 1 Für eine Betrachtung der Abgrenzung zwischen Mobilitätsfor- tung für Mensch und Umwelt gewinnt die Frage nach neu- schung und Verkehrsforschung siehe Wilde und Klinger (2017). Published by Copernicus Publications for the Geographisch-Ethnographische Gesellschaft Zürich & Association Suisse de Géographie.
116 L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie An dieser Lücke setzt dieser Beitrag an, indem die Mo- die auf Grundlage des empirischen Materials mit einem Fo- bilitätspraktiken und die damit verbundenen Logiken un- kus auf automobile Mobilitätspraktiken und damit verbun- terschiedlicher Pkw-NutzerInnen genauer betrachtet werden. dene Logiken identifiziert und untersucht wurden. In Kapi- Dafür wurden mit einem Mixed-Methods-Ansatz quantita- tel 5 werden die Erkenntnisse diskutiert und davon ausge- tive und qualitative empirische Daten in Berlin erhoben hend Anknüpfungspunkte der Planungspraxis für nutzerspe- und darauf aufbauend Mobilitätstypen identifiziert. Die Stadt zifische Maßnahmen herausgestellt. In Kapitel 6 wird ein Berlin dient hier als Fallbeispiel. Der Schwerpunkt des Bei- kurzes Fazit gezogen sowie weiterführender Forschungsbe- trags liegt auf der Darstellung der empirischen Ergebnisse. darf benannt. Die folgenden Forschungsfragen leiten dabei die inhaltliche Diskussion: 2 Mobilitätspraktiken und -logiken als Elemente – Welche Mobilitätspraktiken zeigen Menschen in der sozial-geographischer Mobilitätsforschung Stadt? Obwohl sich die klassischen Determinanten der Verkehrs- – Welche Rolle nimmt dabei die Pkw-Nutzung ein? nachfrage (z.B. sozio-demographische Merkmale) für man- che Forschende nach wie vor als die wichtigsten Erklärungs- – Welche Logiken sind mit automobilen Praktiken ver- faktoren des Mobilitätsverhaltens2 erweisen (Scheiner, 2007: knüpft? 704), ist „die Verkehrsnachfrage noch immer nicht ,gut er- Mobilitätspraxis wird hier in Anlehnung an Wilde (2014) klärbar‘ [. . .], sondern [unterliegt] einem erheblichen Eigen- als alltägliches, praktisches Tun eingebettet in soziale Struk- sinn der Verkehrsnachfrager“. Es wird angenommen, dass turen verstanden. Mobilität soll dadurch „über den Akt der „Verkehrshandeln möglicherweise von ganz anderen Para- Raumüberwindung hinaus gehend – als sozial und kulturell metern, Rationalitäten und Entscheidungslogiken bestimmt konstituierte, reproduzierte Lebenspraxis aufgefasst“ werden ist als denjenigen, die in der Forschung untersucht werden“ (ebd.: 160). Beim Begriff „Logiken“ geht es nicht (allein) (ebd.). Die bisher dominierenden Ansätze aus klassischer um Rationalitäten, sondern um sämtliche intentionale wie Verkehrswissenschaft und Planungspraxis beobachten und nicht-intentionale, implizite Faktoren, die letztendlich zur erklären Mobilität meist durch isolierte, rational gefällte Ent- Ausführung einer Praxis führen (vgl. Kapitel 2, Reckwitz, scheidungen und aus einer Außenperspektive. Die Verknüp- 2003: 290). Mit Berücksichtigung unterschiedlicher Mobili- fung von realisiertem Verkehrsverhalten mit den individuel- tätspraktiken kann der Forderung nach einer stärkeren Ori- len Lebenskontexten sowie den Mobilitätspraktiken zugrun- entierung der Forschung an der Lebenspraxis der Menschen de liegenden Logiken der NutzerInnen bleibt dabei meist un- (z.B. Manderscheid, 2019: 179–180) begegnet werden. berücksichtigt. Zur Beantwortung der Forschungsfragen wird eine empi- Jüngere, sozialwissenschaftlich ausgerichtete Arbeiten der risch begründete Beschreibung von unterschiedlichen Mobi- Mobilitätsforschung schenken diesen komplexen Wirkungs- litätstypen sowie deren Mobilitätspraktiken und damit ver- zusammenhängen, die intentionale wie nicht-intentionale knüpfte Logiken präsentiert. Die nötige Komplexitätsredu- Faktoren einbeziehen, mehr Beachtung. Mobilität wird hier zierung bei Typisierungen führt häufig dazu, dass eine Zu- nicht nur als Raumüberwindung nach rationalen Entschei- ordnung der Individuen zu einem dominanten Verkehrsmit- dungsmustern, sondern als „ein soziales Phänomen“ – als tel vorgenommen wird (z.B. Hunecke und Haustein, 2007). „sozial und kulturell konstituierte Bewegung des Akteurs“ Auch die Planungspraxis betrachtet VerkehrsteilnehmerIn- (Wilde, 2014: 36) verstanden (vgl. z.B. Hannam et al., 2006; nen häufig nur als Momentaufnahme im Straßenverkehr (Au- Urry, 2007). tofahrerIn, RadfahrerIn, FußgängerIn), deren Bedürfnisse es Bei einigen handlungstheoretischen Arbeiten wird – als zu adressieren gilt. Allerdings sind die NutzerInnen in ih- bewusster Gegensatz zu behavioristischen, nur an Kennzah- rem Alltag häufig nicht nur auf ein Verkehrsmittel fokussiert len orientierten Ansätzen – der Fokus auf die Motive und und ihre Bedürfnisse entsprechend vielfältiger. Multi- und Motivationen der Handelnden gesetzt (Scheiner, 2014: 149; intermodale Verkehrsmittelnutzung, also die Nutzung meh- De Vos et al., 2016; Segert, 2009). Ziel ist es, das Han- rerer unterschiedlicher Verkehrsmittel im Verlauf einer Wo- deln von Individuen zu verstehen, oft als Ergebnis ratio- che bzw. eines Weges (Chlond, 2013), gehört insbesondere nal oder normativ geformter Entscheidungen. Im Anschluss in Großstädten immer mehr zur Lebenspraxis der Menschen 2 Wenn in diesem Beitrag von „Mobilitätsverhalten“ gespro- und wird daher in dieser Studie bei der Typisierung explizit chen wird, ist das klassische Konzept quantitativ gemessener Bewe- berücksichtigt. gung einer Person zwischen erdräumlichen Positionen (vgl. Schopf, Kapitel 2 gibt einen kurzen Überblick zum Stand der For- 2001: 5) gemeint. Ausgeklammert sind dabei noch die diesen schung bezogen auf Mobilitätspraktiken und -logiken und Bewegungen zugrunde liegenden materiellen, sozialen und psy- beschreibt die theoretische Brille der Forscherinnen bei die- chologischen Bedingungen. Diese bezieht ein komplexeres, sozio- ser Studie. Auf dieser Basis beschreibt Kapitel 3 das metho- technisches Verständnis von Mobilität ein, das sich im Begriff der dische Vorgehen. Kapitel 4 präsentiert fünf Mobilitätstypen, „Mobilitätspraktiken“ äußert. Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie 117 an diese handlungstheoretische Mobilitätsforschung etabliert oben genannten Ansätze von Wilde (2014) und Le Bris sich derzeit zudem eine neuere, praxistheoretische Perspek- (2015). tive auf Mobilität. Die Praxistheorien betrachten den Akt des Von Reckwitz‘ Grundannahmen ausgehend entwirft Wilde Handelns und das dafür erforderliche praktische Wissen, al- ein Modell der Mobilitätspraxis, das Materialität, Wissen und so mehr das knowing how anstatt knowing that. Die theore- Routinen als Grundelemente sozialer Praktiken einbezieht tischen Grundlagen stammen aus der Soziologie (vor allem (Wilde, 2014). Die Materialität umfasst die Orte, Strecken, Giddens, 1984; Schatzki, 1996; Reckwitz, 2003), wurden je- Werkzeuge und Verkehrsmittel, die zur Verwirklichung einer doch jüngst im Feld der Mobilitätsforschung aufgegriffen Praxis gehören, sowie den Körper der Praktizierenden selbst. (Shove et al., 2012; Wilde, 2013; Manderscheid, 2019). Der Wissen setzt sich zusammen aus motivational-emotionalem Mehrwert der Praxisperspektive auch für das Thema Mo- Wissen (Motiven, Gefühlen und Stimmungen), interpretati- bilität liegt unter anderem in der Offenlegung von implizi- vem Verstehen (z.B. Symboliken bestimmter Orte oder Ver- tem Wissen und sozio-technischen Konstellationen (Schei- kehrsmittel) und methodischem Wissen, also den Kompe- ner, 2014). Praxeologischen Arbeiten gelingt es, die Lücke tenzen in der Planung und Ausführung bestimmter Mobili- zwischen reinem Strukturalismus auf der einen und Sub- tätspraktiken. Routinen sind hier „gewohnheitsmäßige Hand- jektorientierung auf der anderen Seite zu schließen. Bei- lungsabfolgen [. . .] in einem alltäglichen Strom sozialer Pra- spielsweise versucht Wilde (2014) mit seiner Perspektive ei- xis“ (Wilde, 2014: 167). Dieses Modell der Grundelemente ner sozialgeographischen Mobilitätsforschung auf Alltags- von Mobilitätspraktiken wird im weiteren Verlauf als Aus- praktiken älterer Menschen im ländlichen Raum das Span- gangspunkt für die Analyse der empirischen Ergebnisse ge- nungsverhältnis zwischen (routinisiertem) Verhalten, Struk- nutzt. turen und „anderen Rationalitäten“ mithilfe der Praxistheo- Neben diesen Grundelementen sozialer Praktiken soll hier rien zu verstehen. Er schafft es dabei, die Innenperspektive außerdem das Konzept der „,impliziten‘ bzw. ,informellen‘ mit den Konzepten der Praxistheorie zu verknüpfen. Ähnlich Logik“ von Praktiken aufgegriffen werden (Reckwitz, 2003: gehen Le Bris (2015), die Mobilitätspraktiken von Pedelec- 290). Die „implizite Logik“ einer Praktik beschreibt eine BesitzerInnen betrachtet oder Wörmer (2016), der Praktiken komplexe Verbindung von Intentionalität und Motivation, analysiert, mit denen Menschen versuchen, ihr Privatleben Routinen und Know-How (Reckwitz, 2003). Das Soziale las- mit den berufsbedingten Mobilitätsanforderungen zu verein- se sich nur begreifen, wenn man seine Materialität und seine baren, vor. Diese Arbeiten unterscheiden sich von praxis- implizite, nicht-rationalistische Logik nachvollziehe (ebd.: theoretischen Arbeiten, die eher an der strukturellen Formie- 290). Schatzki (2012: 1–2) umschreibt dieses Konzept als rung von Praktiken interessiert sind als an der Perspektive nonpropositional ability, die Eigenschaft einer Person, die der Praktizierenden selbst (siehe z.B. Schatzki, 2012; Man- soziale, psychologische und körperliche Elemente in einem derscheid, 2019). Moment zusammenbringt, um eine bestimmte Praxis zu voll- Die praxeologische Brille erlaubt es, über die sprachli- führen. Giddens spricht von einem practical consciousness, che Artikulation hinaus die mit menschlichem Tun einherge- das alle sozialen, materiellen und psychologischen Wissens- henden Verkörperungen, Materialisierungen, impliziten Wis- komponenten umfasst, die im Moment des Handelns zur sensbestände und Raumaneignungen zu erfassen. Die Prak- Ausführung einer bestimmten, routinisierten Praxis führen tiken werden einerseits durch die kognitiven und materiel- (Giddens, 1984: 6–7, 167). len Strukturen geprägt – andererseits werden Praktiken und Anlehnend daran wird hier von einer Logik von Mobili- die sie verstetigenden Strukturen durch die Handelnden erst tätspraktiken gesprochen, die – ähnlich wie Reckwitz’ im- hervorgebracht und sind grundsätzlich veränderlich (Reck- plizite Logik – nicht primär rationalistisch zu verstehen ist. witz, 2003: 296). Auch aus der eher sozial-psychologischen Ähnlich wie bei Giddens’ practical consciousness sollen da- Forschung gibt es vergleichbare Überlegungen, zum Beispiel bei alle Elemente inbegriffen werden, die die Ausführung das Konzept der body-mind-world assemblage von Venn einer bestimmten Praktik erklären können. Der Begriff soll (2010), das von Schwanen et al. (2012: 526–527) aufgegrif- also als Rahmen dienen, um alle möglichen Elemente – rou- fen wurde, womit routinisiertes Handeln in den materiellen tinisierte wie intentionale –, die tatsächlich zur Ausführung und sozialen Kontext eingebettet werden soll. Die grundsätz- der Praxis geführt haben, zu identifizieren und zusammenzu- liche Zielgerichtetheit des menschlichen Handelns wird von fassen. einigen PraxistheoretikerInnen dennoch vorausgesetzt, etwa von Giddens (1984). Auch bleibt bei ihm das Potenzial ei- nes Subjekts erhalten, strukturell reproduzierte Praktiken zu 3 Methodik reflektieren, zu ersetzen oder anzupassen. Angelehnt daran sollen hier Mobilitätspraktiken ebenfalls Ausgangspunkt für die vorliegende Mixed-Methods-Studie sowohl strukturell geprägt als auch durch intentionales Han- ist die Annahme, dass Akteure Mobilität unter den Bedin- deln veränderlich verstanden werden. Im Gegensatz zu man- gungen ihres Lebensalltags produzieren und reproduzieren chen Praxistheorien hat hier auch das Subjekt und dessen (Hannam et al., 2006; Dangschat und Segert, 2011). Unser Perspektive eine zentrale Bedeutung – in Anlehnung an die sequentieller Mixed-Methods-Ansatz hat dabei die Identifi- https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021 Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021
118 L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie zierung und das Verstehen unterschiedlicher Mobilitätstypen 3.1 Identifizierung von Mobilitätstypen und deren Mobilitätspraktiken zum Ziel. Damit verbunden ist die Annahme, dass bestimmte Mobilitätspraktiken durch Die Grundlage für die Mobilitätstypen bildet eine im Jahr bestimmte Gruppen getragen werden, die durch Lebenssitua- 2016 durchgeführte quantitative Befragung in Berlin zum ak- tion, strukturelle Faktoren sowie soziodemographische Fak- tuellen Mobilitätsverhalten mit 1098 Personen (vgl. Oosten- toren charakterisiert sind (Shove et al., 2012). Eine gruppen- dorp und Gebhardt, 2018). Die TeilnehmerInnen entstam- spezifische Betrachtung kann helfen, bedarfsgerechte Maß- men einer geschichteten Zufallsstichprobe aus dem Ein- nahmen zu entwickeln, die unter Umständen zu Verhaltens- wohnermelderegister. Die Befragung ist auf der Individual- änderungen führen können (Dangschat, 2017). ebene konzipiert, enthält jedoch auch Informationen zum Segmentierungsansätze sind ein etabliertes methodisches Haushaltskontext des Individuums, wie beispielsweise der Mittel zur Analyse und Strukturierung von heterogenen Haushaltszusammensetzung oder der Anzahl der im Haus- Gruppen bzw. deren Praktiken und helfen, Komplexität zu re- halt vorhandenen Pkw. Der Fragebogen erfasste unter ande- duzieren (Anable, 2005; Bartz, 2015; Manderscheid, 2019). rem in detaillierter Weise das Mobilitätsverhalten der Be- Disziplinen, die mit Segmentierungsansätzen arbeiten, um- fragten, differenziert nach Verkehrsmittelnutzung und We- fassen die Psychologie (z.B. Hunecke und Haustein, 2007; gezwecken. Die abgefragten Variablen zur Häufigkeit uni- Hunecke, 2015), die Soziologie (z.B. Bolte, 2000; Jensen, modaler und intermodaler Verkehrsmittelnutzung für unter- 2009) und auch die Verkehrswissenschaften (Haustein und schiedliche Wegezwecke dienten als Einflussvariablen für ei- Nielson, 2016; Wittwer, 2014). Meistens werden die Typolo- ne kombinierte Faktor- und Clusteranalyse. Die daraus re- gien mittels quantitativer Daten und Clusteranalysen erarbei- sultierenden Cluster werden entsprechend der Einflussvaria- tet. blen nicht allein durch ein Verkehrsmittel bestimmt, son- Die Arbeit mit Mobilitätstypen weist Parallelitäten zur aus dern zeigen das vielfältige Mobilitätsverhalten im Alltag der der Produktentwicklung stammenden „Persona-Methode“ Befragten. Die multi- und intermodalen Verhaltensweisen (Cooper, 2004) auf, da hier ebenfalls mit prototypischen Nut- der BefragungsteilnehmerInnen sind demnach von zentra- zerInnen gearbeitet wird. Im Gegensatz zu den dort erstellten ler Bedeutung für die quantitative Segmentierung und in- Personae hat der vorliegende Ansatz nicht eine Konsumentin folgedessen für die Unterscheidung der Mobilitätstypen. Die bzw. einen Konsumenten als Verständnisgrundlage, sondern Cluster bilden schließlich die Basis für die Mobilitätstypen, bestimmte Praktiken in ihren jeweiligen Kontexten. Wissen- die anschließend mit weiteren Informationen aus der Befra- schaftlich erarbeitete Typologien sind von Personae außer- gung zu sozio-demographischen Merkmalen und verfügba- dem abzugrenzen, da letztere meist durch design-thinking- ren Mobilitätsressourcen charakterisiert wurden. Aufgrund Prozesse ohne wissenschaftlich fundierte empirische Basis dieses Vorgehens grenzen sich die Mobilitätstypen tatsäch- beschrieben und primär für Produktentwicklung genutzt wer- lich durch ihr Mobilitätsverhalten voneinander ab und die Ty- den (Chapman und Milham, 2006). pisierung ist nicht ein Ergebnis sozio-demographischer Un- Unser Mixed-Methods-Ansatz geht über die reine Iden- terschiede der Befragten. tifikation von Typen durch quantitative Daten hinaus, in- Vor dem Hintergrund der Fragestellungen (vgl. Kapitel 1) dem neben der quantitativen Erhebung und Identifizierung wurden fünf Typen als Untersuchungsgruppen für die quali- von Typen diese und deren Logiken im qualitativen Teil der tative Erhebung ausgewählt, die im Ergebnisteil (vgl. Kapi- Studie „verstanden“ und näher beschrieben werden. Stärken tel 4) dargestellt werden. Bei der Auswahl der Typen wur- quantitativer sowie qualitativer Methoden bzw. Daten wer- de darauf geachtet, dass sie unterschiedliches Mobilitätsver- den somit im Sinne von Mixed-Methods aufsummiert (John- halten aufweisen, um verschiedene Perspektiven auf Pkw- son et al., 2007; Kuckartz, 2016). Ein weiterer Mehrwert ei- Nutzung aus den Interviews abzubilden. Für eine Übersicht nes Mixed-Methods-Ansatzes liegt in der Robustheit der Er- aller Mobilitätstypen sowie zur methodischen Vorgehenswei- gebnisse (ebd.). Die Methoden-Triangulation hilft, dass sich se bei der Typenbildung siehe Oostendorp et al. (2019). verschieden erhobene Daten gegenseitig stützen und validie- ren oder blinde Flecken bzw. Analysefehler erkannt werden 3.2 Exploration der Nutzerperspektive mittels (Johnson und Onwuegbuzie, 2004). qualitativer Interviews mit visuellen Elementen Abbildung 1 zeigt das methodische Vorgehen des sequen- ziellen Mixed-Methods-Ansatzes. Der Schwerpunkt dieses Es wurden 22 qualitative Tiefeninterviews mit Stellvertrete- Beitrags liegt auf dem qualitativen Teil der Studie, da die rInnen der ausgewählten Mobilitätstypen in Berlin im Jahr Interviews tiefergehende Informationen hinsichtlich der For- 2018 durchgeführt. Die InterviewpartnerInnen konnten ge- schungsfragen dieses Beitrags geben. Die vorhergehenden zielt aus den TeilnehmerInnen der quantitativen Befragung quantitativen Analyseschritte sind ausführlich in Oostendorp ausgewählt werden. Sie stehen für den jeweiligen Mobilitäts- et al. (2019) dokumentiert. typ, decken in der Summe aber auch eine gewisse Bandbreite unterschiedlicher Personen- und Haushaltsmerkmale ab. Die Interviews wurden durch die „Nadelmethode“ (Rohrauer, 2014) sowie „Fotogeleitete Hervorlockung“ (Har- Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie 119 Abb. 1. Methodisches Vorgehen. per, 2009) angereichert. Bei der Nadelmethode handelt es men der qualitativen Interviews die Grundlage dafür. Dabei sich um eine Methode der Sozialraumanalyse, deren Ziel es sprechen wir zum Beispiel von Peter, dem Allzweck-Pkw- ist, die persönlichen Lebensräume der Befragten und deren Nutzer, er ist als Stellvertreter für seine Gruppe zu verstehen. subjektive Relevanz zu rekonstruieren, indem sie relevante Die Inhalte und Zitate stammen von unterschiedlichen Inter- Punkte ihres Alltags und ihre Wege mit Hilfe von Nadeln viewten des jeweiligen Typs. auf einer vorgelegten Karte markieren (Rohrauer, 2014). In dieser Studie wurde die Grundidee dieser Methode genutzt und mit Aspekten der Methode der „narrativen Landkarte“ 4.1 Beschreibung von Mobilitätstypen (Behnken und Zinnecker, 2010) ergänzt, jedoch in digitaler Tabelle 1 zeigt auf Grundlage der Daten aus der quantitati- Form angewandt. Die befragten Personen wurden aufgefor- ven Befragung eine Übersicht über die Merkmale der fünf dert, ihre alltäglichen Wege in eine digitale Karte auf einem für die qualitative Erhebung ausgewählten und für die Fra- Tablet einzuzeichnen und dabei mündlich zu beschreiben. gestellung in diesem Beitrag relevanten Mobilitätstypen. Die Das ethnographische Verfahren der „Fotogeleiteten Her- deskriptive Beschreibung der Typen dient dazu, die folgen- vorlockung“ (Collier und Collier, 1986; Harper, 2009) dient den qualitativen Ergebnisse einordnen zu können. als visueller Diskussionsstimulus im Interview und hat sich Bei der Gegenüberstellung der Merkmale auf Grundlage vor allem für das Verständnis der Alltagspraktiken aus der der quantitativen Befragung wird deutlich, dass die Mobili- Perspektive der Befragten bewährt. So wurden die Interview- tätstypen jeweils ein klares Profil nicht nur hinsichtlich ih- ten aufgefordert, die ihnen visuell vorgelegten Mobilitätsop- res Mobilitätsverhaltens haben, sondern auch Unterschiede tionen (in Form von Fotos) zu beurteilen, deren Nutzung und in den sozio-demographischen Merkmalen und der Verfüg- Nicht-Nutzung zu bewerten, eine Auswahl zu treffen und zu barkeit von Mobilitätsressourcen bestehen. Die Unterschiede begründen. Gerade Diskrepanzen zwischen der Rationalisie- bei der Verkehrsmittelnutzung sind durch die bei der Clus- rung der Praktiken durch die Befragten selbst und deren er- teranalyse verwendeten Input-Variablen bedingt (vgl. Ka- fasstes Verhalten sowie ihr implizites, nicht kommuniziertes pitel 3.1). Die multi- und intermodalen Verhaltensweisen Wissen lassen sich durch den gewählten Ansatz besser iden- der BefragungsteilnehmerInnen als zentraler Bestandteil der tifizieren, wenngleich ein solches Vorgehen zeitintensiv ist. quantitativen Segmentierung zeigen sich entsprechend deut- Die Interviews wurden transkribiert und in Anlehnung an lich in der Unterschiedlichkeit der Mobilitätstypen. Gleich- die Grundelemente der Theorie sozialer Praktiken – Materia- zeitig sind trotz unterschiedlichen Mobilitätsverhaltens auch lität, Wissen, und Routinen (vgl. Reckwitz, 2003) – struktu- Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen Typen erkennbar. So riert und analysiert. Diese Kategorisierung wurde – im Sinne weisen der Allzweck-Pkw-Nutzer und die intermodale Pkw- der „Grounded Theory“ (Charmaz, 2014; Glaser und Strauss, und-ÖV-Kombiniererin beide eine hohe Pkw-Verfügbarkeit 1967) – durch Aspekte aus dem empirischen Material im zir- und einen geringen Anteil an ÖV-Tickets auf. Die Typen kulären Auswertungsprozess kontinuierlich ergänzt. Allzweck-Pkw-Nutzer, Fahrrad-Kombinierer und situations- abhängige multimodale Nutzerin ähneln sich dagegen in ih- 4 Ergebnisse ren sozio-demographischen Merkmalen und sind alle durch einen hohen Anteil berufstätiger Personen in Familienhaus- Im Folgenden werden die fünf unterschiedlichen Mobilitäts- halten geprägt. typen, deren Mobilitätspraktiken sowie die mit den Praktiken Die quantitativ identifizierten Mobilitätstypen ermögli- verbundenen Logiken beschrieben. Vor dem Hintergrund der chen es, durch ihre Charakteristika verschiedene Arten der eingangs formulierten Forschungsfragen wird der Fokus auf Pkw-Nutzung bei dem im Folgenden dargestellten qualita- automobilen Praktiken und den damit verbundenen Logiken tiven Analyseschritt der Mixed-Methods-Studie zu betrach- liegen, um zu verstehen, in welchen Situationen Personen ten, die in unterschiedliche Kontexte des multi- und intermo- einen Pkw nutzen. Neben Informationen aus der quantitati- dalen Mobilitätsverhaltens sowie in unterschiedliche sozio- ven Befragung sind vor allem die Narrationen der Interview- demographische und ressourcenbezogene Rahmenbedingun- ten beim Zeichnen eines typischen Alltagsweges im Rah- gen der Lebenspraxis eingebettet sind. Dadurch kann ein https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021 Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021
120 L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie Tabelle 1. Merkmale der Mobilitätstypen auf Grundlage der quantitativen Befragung. Mobilitätstyp1 Mobilitätsverhalten Vorwiegende sozio- Vorwiegende Verfügbarkeit (auf Basis der Clusteranalyse; über- demographische Merkmale von Mobilitätsressourcen / unterdurchschnittlich bezogen auf gesamten Datensatz) Allzweck-Pkw-Nutzer – hohe unimodale Pkw-Nutzung – eher männlich – Pkw-Verfügbarkeit und (unimodal) zu allen Wegezwecken – stärkste Altersgruppen: Anteil Carsharing (Peter) – ergänzende Fahrradnutzung 36–45 und 46–55 Jahre -Mitgliedschaften hoch – geringe Nutzung intermodaler – hoher Anteil Berufstätiger – niedriger Anteil Kombinationen – viele Familienhaushalte ÖV-Tickets – leben häufig am Stadtrand ÖV-Nutzerin – hohe tägliche ÖV-Nutzung – eher weiblich – hoher Anteil ÖV-Tickets (Olga) (uni- und intermodal) – stärkste Altersgruppe: – Pkw-Verfügbarkeit – vor allem auf Arbeitswegen und 26–35 Jahre sehr niedrig zu Freizeitzwecken – hoher Anteil StudentInnen – Anteil Carsharing- und SchülerInnen Mitgliedschaften – viele Ein-Personen- unterdurchschnittlich und Paarhaushalte – leben häufig in gut angebundenen Quartieren Intermodale Pkw- und – kombiniert häufig Pkw und ÖV, – eher weiblich – Pkw-Verfügbarkeit sehr ÖV-Nutzerin vor allem zum Einkaufen und für – stärkste Altersgruppe: hoch (Paula) private Erledigungen 66–75 Jahre – Nur wenige haben ein – außerdem hohe unimodale Pkw- – Hoher Anteil RentnerInnen ÖV-Ticket oder Carsharing- Nutzung – viele Paarhaushalte Mitgliedschaft – leben häufig am Stadtrand Intermodale Fahrrad- – kombiniert häufig Fahrrad – eher männlich – Anteil ÖV-Tickets und Kombinierer (Steffen) und ÖV – stärkste Altersgruppe: Carsharing-Mitgliedschaf- – intermodal zu vielen verschiede- 36–45 Jahre ten hoch nen Zwecken, auch auf Arbeitswe- – hoher Anteil Berufstätiger, – Pkw-Verfügbarkeit gen vor allem in Vollzeit vergleichsweise gering – auch unimodale Fahrradnutzung, – viele Familienhaushalte vor allem für Einkaufen, Freizeit – leben häufig in urbanen und private Erledigungen Quartieren – unimodale Pkw-Nutzung unter- durchschnittlich situationsabhängige – sowohl intermodal als auch – eher weiblich – Pkw-Verfügbarkeit und multimodale Nutzerin unimodal unterwegs – stärkste Altersgruppen: Anteil ÖV-Tickets ist et- (Silvia) – intermodale Kombinationen für 46–55 Jahre und 56–65 Jahre wa gleich hoch auf einem alle Wegezwecke überdurch- – hoher Anteil Berufstätiger durchschnittlichen Niveau schnittlich – viele Familienhaushalte – Anteil Carsharing- – zusätzlich hohe unimodale – leben häufig am Stadtrand Mitgliedschaften sehr Pkw- und Fahrradnutzung gering 1 Bei den Namen der Mobilitätstypen wurde jeweils das Geschlecht gewählt, dass bei diesem Typ im Datensatz stärker vertreten ist. D.h. Peter der Allzweck-Pkw-Nutzer und Paula die ÖV-Nutzerin. 2 ÖV-Ticket meint hier den Besitz einer Zeitfahrkarte (Monats- oder Jahrestickets) für den ÖV. breites Spektrum an verschiedenen Lebenswelten und da- 4.2 Mobilitätspraktiken und -logiken unterschiedlicher mit verbundenen Perspektiven auf die Thematik der Pkw- Mobilitätstypen Nutzung in den Interviews berücksichtigt werden. In Anlehnung an Reckwitz (2003) bzw. Wilde (2014) wur- den die drei Haupt-Analysekategorien Materialität, Wissen und Routinen für die Analyse und Ergebnisdarstellung ge- wählt. Bezogen auf das hier in den Blick genommene Thema Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie 121 Pkw-Nutzung lässt sich die Kategorie Materialität anhand möglicht eine flexible, individuelle Planung, mehrere Wege- der Aspekte Pkw-Verfügbarkeit und deren Bedeutung für zwecke können kombiniert werden. Er wird als zeiteffizient den Mobilitätstyp, Aussagen zum Transport von Personen und kostengünstig empfunden, wobei im Gespräch indirekt und Gepäck sowie zu Kosten analysieren. Außerdem sind zum Ausdruck kommt, dass Staus, die tägliche Parkplatzsu- die beschriebenen Orte und Strecken dieser Kategorie zuzu- che sowie versteckte Kosten diese Argumente auch entkräf- ordnen. Die Kategorie Wissen lässt sich in den Ergebnissen ten könnten. Hier zeigt sich, dass die Logiken des Allzweck- durch methodisches Wissen über die Nutzungsweise der ein- Pkw-Nutzers nicht auf ein rein zweckrationales Abwägen re- zelnen Verkehrsmittel, Ortskenntnisse des Straßen- und ÖV- duziert werden können. Teil dessen Logik ist, dass psycholo- Netzes, die Nutzung von Mobilitäts-Apps und Carsharing, gische und normative Elemente diese in der Praxis verborge- aber auch durch motivational-emotionales Wissen und inter- nen Paradoxien verschleiern und sie dadurch subjektiv nach pretatives Verstehen (z.B. symbolische Aufladung von Ver- sozial erwünschten Maßstäben interpretiert und rationalisiert kehrsmitteln und Orten) darstellen. Vor allem die Narratio- werden. Hier spielen emotional-motivationale Aspekte, wie nen zu den auf eine Karte gezeichneten Alltagswegen zei- das Empfinden des eigenen Autos als ein zweites Wohnzim- gen implizites Wissen der Befragten. Aussagen zu Routinen mer oder als ein Rückzugsraum, eine zentrale Rolle. Im Ar- lassen sich im empirischen Material zum Beispiel durch Be- tefakt Auto materialisiert sich sozusagen die Logik dieses schreibungen des Arbeitsweges, Aussagen zu Zeit und Flexi- Typs. bilität oder auch Aussagen zu häufig wiederkehrenden Stau- situationen und der Parkplatzsuche finden. Olga (ÖV-Nutzerin) Peter (Allzweck-Pkw-Nutzer) Die ÖV-Nutzerin Olga wohnt in der Regel in einem gut an- gebundenen urbanen Gebiet und hat eine Auswahl an Ver- Für den Allzweck-Pkw-Nutzer Peter ist der Pkw das opti- kehrsmitteln zur Verfügung. Die meisten Befragten dieses male Verkehrsmittel, das selten in Frage gestellt wird: „Und Typs haben kein eigenes Auto. Bei der Entscheidung ge- deswegen ist Auto eigentlich so das Standardverkehrsmit- gen das Auto spielen die Kosten und die verlorene Zeit in tel“ (A4). Obwohl Peter von manchen Aspekten der Pkw- Staus und bei der Parkplatzsuche eine entscheidende Rolle. Nutzung, wie dem täglichen Stau in der Stadt, genervt ist, Wenn etwas transportiert werden muss oder für Fahrten in gibt es praktisch keine Abwägung zwischen unterschiedli- Gebiete außerhalb der Stadt, wird gelegentlich ein Pkw ge- chen Mobilitätsoptionen. Die Pkw-Nutzung ist ein fester, nutzt. Das Fahrrad ist für diese Gruppe wiederum keine at- hochroutinierter Bestandteil des Alltags geworden. Die Ma- traktive Alternative, da es zu wetterabhängig ist und weni- terialität des Pkws wird dem Anspruch nach Flexibilität, ger Komfort als der ÖV bietet. Der ÖV stellt für sie im Ver- Komfort und Privatheit gerecht. Der Pkw-Besitz wird als ge- gleich zu anderen Alternativen die komfortabelste, flexibels- sellschaftlicher Normalzustand gesehen, wie ein Interview- te sowie zeit- und kosteneffizienteste Mobilität dar. Häufig ter zum Ausdruck bringt:„Wir haben einen großen und einen werden verschiedene Verkehrsmittel des ÖV genutzt. Anders kleinen [Pkw], wie das so üblich ist und da geht es dann bei als der Allzweck-Pkw-Nutzer Peter hat Olga dabei methodi- Fernstrecke der große, der kann mehr“ (A1). Als einen typi- sches Wissen darüber, welche Verkehrsmittel wann und wo schen Alltagsweg zeichnen die meisten InterviewpartnerIn- verfügbar sind. Welche Verkehrsmittel letztendlich gewählt nen ihren Arbeitsweg. Abbildung 2 (links) zeigt beispielhaft werden, wird situations- und tagesabhängig entschieden – den täglichen Weg von Peter vom Wohnort zur Schule der mal ist die Zeitersparnis wichtiger, mal der Komfort. In der Tochter und dann quer durch die Stadt zur Arbeitsstätte. Abwägung der Vor- und Nachteile der Alternativen zeigt sich Bei gutem Wetter wird nach dem Pkw am ehesten das ihr Wissen in Form von interpretativem Verstehen. Es besteht Fahrrad diesen Anforderungen gerecht. Die Selbstbestimmt- also keine Routine bei der Nutzung eines bestimmten Ver- heit beider Verkehrsmittel scheint hier ein zentraler Aspekt kehrsmittels, vielmehr ist die Praktik des flexiblen Agierens zu sein. Sich an die Materialität eines vorgegebenen Sys- eine Routine. Die Entscheidung für den ÖV und gegen das tems, an Abfahrtzeiten und vorgegebene Routen anzupassen, Auto fällt dabei pragmatisch und nicht, weil eine grundsätz- wird als Einschränkung empfunden. Daher wird der ÖV auch liche emotional-motivationale Präferenz besteht. Im Gegen- nicht als echte Option wahrgenommen. Dabei verfügt Peter teil scheint der ÖV allein deswegen häufig das Verkehrsmit- kaum über fundiertes Wissen zu potentiellen Verkehrsmit- tel der Wahl zu sein, weil es für Olga in vielen Situationen telalternativen. Stattdessen liegt eine gute Ortskenntnis des weniger nachteilhafte Aspekte hat als andere Verkehrsmittel. Straßennetzes (vor allem auf Routinewegen) vor. Kein Auto zu haben oder es in der Stadt nicht zu nutzen, Der Transport von Personen (insb. Kindern), Tieren und sondern stattdessen zwischen verschiedenen ÖV-Optionen Gepäck ist ein weiterer, essentieller Grund für die Pkw- wählen zu können, wird teils als grundsätzlich positiver Zu- Nutzung im Alltag. In diesem Punkt wird die Materiali- stand gesehen: „Es hat tatsächlich was mit Lebensqualität tät der Pkw-Nutzung besonders deutlich. Das „Alles-unter- zu tun, dass man sich eben nicht stresst, sondern eben doch einen Hut-bringen“ eines komplexen Alltags ist vor allem mit der Straßenbahn fährt. [. . . ] in der Stadt bedeutet Au- für Mütter ein Grund für die Auto-Nutzung. Der Pkw er- to eher Stress“(O4). Hier kommt das Wissen im Sinne des https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021 Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021
122 L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie Abb. 2. Im Interview gezeichneter typischer Alltagsweg vom Allzweck-Pkw-Nutzer (links) und der Pkw-und-ÖV-Kombiniererin (rechts). Rot = Pkw; gelb = ÖV; hellblau = zu Fuß. Kartengrundlage: FIS Broker 2019. emotional-motivationalen Wissens (Vermeidung von Stress mag ich sehr gerne und ich hoffe, dass ich noch länger mobil als Motiv) und interpretativen Verstehens (Einfluss auf per- bleibe und mir das erhalten kann“ (P3). sönliche Lebensqualität) des Typs noch einmal deutlich zum Bei der Beschreibung eines typischen Weges von Paula Ausdruck. (vgl. Abb. 2) – die Fahrt mit dem Pkw von zuhause zur S- Bahnstation und mit der S-Bahn in die Innenstadt – wird klar, dass diese Praxis zu ihrer Routine geworden ist und die Si- Paula (Intermodale Pkw- und ÖV-Kombiniererin) tuation an Ein- und Umstiegspunkten ihr wohl bekannt ist. Meist werden daher die gleichen Orte aufgesucht. Die Rou- Für die Pkw-und-ÖV-Kombiniererin Paula kommen aus Al- tine sowie ihr methodisches Wissen tragen zum Sicherheits- tersgründen oder wegen körperlicher Beeinträchtigungen und Komfortempfinden Paulas bei, weil spontanes und fle- manche Verkehrsmittel nur noch eingeschränkt in Frage. Der xibles Agieren an unbekannten Orten (z.B. ÖV-Stationen) Aspekt der Materialität, sowohl bezogen auf Verkehrsmit- dann nicht notwendig ist. tel als auch auf die Körperlichkeit der Person, wird damit deutlich. Nutzbar scheinen nur die Verkehrsmittel, die ein Steffen (Intermodaler Fahrrad-Kombinierer) bestimmtes Maß an Sicherheit, Zugänglichkeit und Komfort bieten, was aus Paulas Sicht häufig nur der Pkw, teilweise Der intermodale Fahrrad-Kombinierer Steffen nutzt bevor- der ÖV und eingeschränkt das Fahrrad sind. Anders als bei zugt das Fahrrad sowie den ÖV oder Carsharing, häufig der ÖV-Nutzerin spielt Zeit- oder Geldersparnis eher keine in Kombination, um an sein Ziel zu gelangen. Bei unbe- Rolle. kannten Strecken plant er, oft mit Hilfe von Mobilitäts- Im nahen Umfeld scheint die Nutzung des eigenen Fahr- Apps, welche Verkehrsmittel genutzt und kombiniert wer- zeuges die komfortabelste und routinierteste Lösung zu sein: den können. Dabei bedient er sich routiniert verschiedener „Also das Auto nehme ich sehr häufig, so als Anfahrt, um Apps, die auf das jeweilige Verkehrsmittel abgestimmt sind. die Wege, die dann beschwerlich für mich sind, in dem Sin- Dementsprechend verfügt er auch häufig über ÖV-Karten ne, dass ich kein Fahrrad nehmen kann, oder dass zu Fuß zu und Sharing-Mitgliedschaften. Hier kommt, analog zur Pkw- weit ist“ (P1). Für weitere Fahrten in der Stadt ist die Kom- ÖV-Kombiniererin Paula, die Verknüpfung von Materialität, bination des Pkws mit dem ÖV für sie die beste Option, da (methodischem) Wissen sowie Routinen in seiner Mobilitäts- sie aufgrund ihrer Erfahrung den als herausfordernd wahr- praktik zum Ausdruck. genommenen Innenstadtverkehr und die Parkplatzsuche ver- Steffen möchte so schnell wie möglich an sein Ziel kom- meiden möchte. Die Kombination Pkw-ÖV ermöglicht das men, wobei ihm die flexible Auswahl verschiedener Mobili- Wohnen am Stadtrand sowie die Partizipation am urbanen tätsangebote hilft, dies umzusetzen. Häufig wohnt er urban, Leben in der Innenstadt. Die Interviewten schätzen diese als arbeitet Vollzeit und hat eine Familie, wodurch tagtäglich selbstbestimmt wahrgenommene Mobilität sehr: „So lange verschiedene Wege und Bedürfnisse zeiteffizient gemanagt es geht behalt ich es [Auto], weil es mir diese Beweglichkeit werden müssen. Das Fahrrad ist aus Steffens Sicht dafür das gibt, es doch ein gutes Mittel ist im Alter lebendig zu blei- schnellste und flexibelste Fortbewegungsmittel. Steffen ver- ben und dieses Lebendigbleiben bringt ja auch Gesundheit fügt zudem über gute Ortskenntnisse, was einen weiteren Ef- mit sich und Wachheit und auch die Neugierde“ (P1). „Das fizienzfaktor für ihn darstellt. Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie 123 Das Auto ist dabei für Steffen keine attraktive Alternative, ist es eine etwas luxuriöse Situation, weil im Grunde brau- da Autofahren als unnötig und unpraktisch empfunden wird: chen wir es eigentlich nicht“ (S4). Gleichzeitig erfordert der „Ich finde Autofahren anstrengend, gerade besonders in der Lebensalltag Silvias zwischen ihrer Arbeit, ihrem Sozialle- Stadt. Ich finde das echt nervig. [. . . ] inzwischen ist es so ben und ihrer Familie ein komplexes Management von Mo- voll und ich finde es wirklich stressig. Und dann immer diese bilitätsbedürfnissen. Um diese – idealerweise effizient – be- Parkplatzsucherei, schrecklich“ (R1). Ein Auto nutzt Steffen wältigen zu können, fällt Silvias Wahl dennoch gelegentlich nur, „wenn ich etwas zu transportieren habe, was halt größer auf den Pkw: „Früher als die Kinder noch zu Hause waren, ist“ (R3). In diesen Fällen nutzt er aufgrund deren Flexibilität brauchte man natürlich mehr, dann war ich auch öfter mit häufig Carsharing-Angebote. dem Auto unterwegs [. . . ] und dann kann man auch gleich Generell trifft Steffen seine Wahl eher zweckorientiert und verschiedene Sache in einem Ritt erledigen“ (S2). spontan, aber auch präferenzorientierte Gründe, also sein motivational-emotionales Wissen, beeinflussen seine Mobi- litätspraktik. Beispielsweise ist es ihm wichtig, beim Fahr- radfahren an der frischen Luft sein zu können. Zudem denkt Steffen über das Gemeinwohl und den unterschiedlichen 5 Diskussion der Mobilitätstypen und Nutzen, den Mobilitätsoptionen für ihn und die anderen Ver- Anknüpfungspunkte für die Praxis kehrsteilnehmer haben, nach. Situationsabhängige multimodale Nutzerin (Silvia) Die Ergebnisse der Mixed-Methods-Studie zeigen, dass es in der Stadt heutzutage eine ganze Bandbreite an Mobilitätsty- Die situationsabhängig multimodale Nutzerin Silvia wählt pen mit unterschiedlichen Praktiken, aber auch unterschied- pragmatisch und situationsbedingt ein Verkehrsmittel. lichen, den Praktiken zugrunde liegenden Logiken gibt. So- Zeitersparnis spielt eine große Rolle. Anders als bei- wohl die quantitative als auch die qualitative Analyse und spielsweise der Allzweck-Pkw-Nutzer hat sie aber keine Darstellung der unterschiedlichen Mobilitätspraktiken und prinzipielle Präferenz für ein bestimmtes Verkehrsmittel und vor allem Nutzungspraktiken des Pkws haben gezeigt, dass keine besonders ausgeprägte Routine. Stattdessen ist ihrem es nicht den einen „Pkw-Nutzer“ gibt, wie er in einigen Mo- Unterwegssein ein anspruchsvoller Abwägungsprozess bilitätstypologien zum Beispiel neben dem Typ „Fahrrad- von Vor- und Nachteilen verschiedener Verkehrsmittel Fahrer“ präsentiert wird (z.B. Hunecke und Haustein, 2007: vorgeschaltet, bei dem – basierend auf ihren Erfahrungen „Pkw-Individualisten“ vs. „Radfans“ etc.). Stattdessen wird und ihrem Wissen – mal pragmatische und mal emotionale in diesem Beitrag die Vielfalt intermodaler und multimoda- Aspekte Einfluss zeigen. Zur Arbeit fährt sie beispielsweise ler Verhaltensweisen bei der Pkw-Nutzung deutlich. Die Er- mit dem ÖV, weil das die zeiteffizienteste Lösung ist. Sobald gebnisse bestätigen existierende Studien in dem Punkt, dass der Weg mit dem Pkw leichter und flexibler zu absolvieren die Pkw-Nutzung bei einigen Nutzertypen durch emotionale, ist, wird auch dieser genutzt: „Also Freunde besuchen auch symbolische Gründe (Schlag und Schade, 2007; Steg, 2005) wenn Sie nicht unbedingt öffentlich gut erreichbar sind oder eine feste Nutzungsroutine motiviert ist (Tertoolen et oder wenn man abends flexibler sein will“ (S2). Silvia al., 1998; Gärling und Axhausen, 2003). Gleichzeitig sind schätzt aber auch den Komfort eines Pkws, zum Beispiel bei anderen Nutzertypen pragmatische Faktoren verantwort- bei schlechtem Wetter: „Wenn es regnet natürlich. Es ist lich für die Pkw-Nutzung (Alteneder und Risser, 1995; Steg gut, wenn man so ein Ding [Pkw] hat, finde ich wirklich et al., 2001). Die letztendlich vollzogene Praktik – die Pkw- luxuriös und nicht durch den Regen laufen zu U-Bahn Nutzung – ist dabei womöglich dieselbe. Die dahinterlie- und S-Bahn“ (S4). Gute Ortskenntnisse sowie ein breites genden Logiken unterscheiden sich jedoch stark. Materielle Wissen über unterschiedliche Mobilitätsangebote sind die Parameter wie Zeit und Geld, die in der Literatur meist als Grundlage für die situationsangepasste Entscheidung für ein die wichtigsten zur Erklärung der Verkehrsmittelwahl ange- Verkehrsmittel. Teil dessen sind auch Mobilitäts-Apps, die ben werden, sind nicht für jeden Typ (gleich) bedeutend. So helfen, den optimalen Weg von A nach B zu finden: „Also sind für den Allzweck-Pkw-Nutzer emotional-motivationale da würde ich mich [. . . ] erstmal über die App erkundigen Aspekte, wie die Qualität der Zeit beim Fahren, wichtig. Das wie viel Zeit ich brauche und würde dann vergleichen, wie Fahren wird häufig als Genuss oder me-time empfunden und viel ich mit dem Auto brauche und würde dann nach der Zeit wertgeschätzt. Dagegen sind für die situationsbedingte mul- entscheiden, wie ich am schnellsten eben zurück komme“ timodale Nutzerin und die ÖV-Nutzerin Zeiteffizienz bzw. (S2). ersparnis wichtig, und die Aufenthaltsqualität im Verkehrs- Grundsätzlich wird das Auto eher als verzichtbarer Luxus mittel spielt eine untergeordnete Rolle. Es gilt in der Praxis und nicht als Notwendigkeit wahrgenommen. „Mit dem Auto Lösungen zu finden, die diese unterschiedlichen Logiken der ab und zu, muss aber nicht sein, wenn ich rausfahre aus der Zeitnutzung und -wahrnehmung berücksichtigen. Stadt schon und wenn ich was Größeres transportieren muss Für diejenigen, für die das Auto ein Ort der Entspan- auch, aber sonst steht das meistens rum [. . . ] Im Moment nung und me-time bedeutet, könnten Luxus-Varianten von https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021 Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021
124 L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie on-demand „Ridepooling“3 als iÖV (individualisierter öf- tofahren zugeschrieben wird (te Brömmelstroet et al., 2017), fentlicher Verkehr) eine Alternative sein. Aktuelle Beispie- konnten bestätigt werden. Diese lassen sich einerseits einer le von On-demand-Mobilitätsangeboten zeigen erste Ideen, unmittelbaren emotionalen Motivation und andererseits ei- wie diese Privatheit im iÖV beispielsweise durch mehr Platz, nem interpretativen Verstehen sozialer Symboliken von Frei- Distanz zu Mitfahrenden oder Sichtschutz gewährleistet wer- heit und Unabhängigkeit zuschreiben, bzw. deren Materia- den könnte. lisierung im Objekt „Auto“. Ähnliches gilt aber auch für In vielen Interviewpassagen kommt zum Ausdruck, dass den Fahrradfahrer Steffen bezogen auf sein Fahrrad, das für die Pkw-Nutzung bei der situationsabhängigen multimoda- ihn Flexibilität und Freiheit symbolisiert. Für diejenigen, die len Nutzerin (Silvia) und auch bei der ÖV-Nutzerin (Olga) hauptsächlich ein Verkehrsmittel (Auto oder Fahrrad) nut- meist aus einem Pragmatismus heraus zu erklären ist. Auch zen, treiben symbolisch-interpretative Aspekte häufig eine der intermodale Fahrrad-Kombinierer (Steffen) und die inter- eher individuale Organisation ihrer Mobilität. modale Pkw-und-ÖV-Kombiniererin (Paula) nutzen das Au- Gemein haben die Allzweck-Pkw-Nutzer und intermo- to häufig aus organisatorischen Gründen und zur Bewälti- dalen Fahrrad-Kombinierer die Präferenz, Nutzungsroutine gung von familiären Sozialaktivitäten, was auch Dowling sowie Passion für das jeweilige Verkehrsmittel. Die Ana- und Maalsen (2020) in ihrer Studie in Bezug auf Fami- lyse der Logiken hinter diesen Mobilitätspraktiken zeigt, lienmobilität beschreiben. Auch Manderscheid (2019) ver- dass bei den Individualverkehrsmitteln eine Entscheidung mutete bereits eine starke Kopplung von Familienmobili- für diese gefällt wird, wohingegen die Nutzung öffentli- tät und Auto-Praktiken mit solchen Logiken. Der private cher Verkehrsmittel eher das Ergebnis der Entscheidung ge- Pkw erfüllt damit häufig die Transport-, cocooning- und gen andere ist (Pkw ist zu teuer, Fahrrad ist zu wetterab- Bequemlichkeits-Bedürfnisse einer Familie. Kent und Dow- hängig etc.). Das Herz der ÖV-Nutzerin oder der Pkw-und- ling (2016) mutmaßen, dass die Idee von „Mobility-as-a- ÖV-Kombiniererin schlägt also nicht für die gewählte Op- Service“ (MaaS)4 ein Konzept sein könnte, das der Flexi- tion. Emotional-motivationale und symbolisch-interpretative bilität, die ein Auto bietet, nahekommt und somit eine Al- Aspekte sind für sie weniger einflussreich. Ausschlaggeben- ternative zum privaten Pkw sein könnte. Bestimmte Anfor- der sind die materiellen Anforderungen ihrer Mobilität, die derungen bzw. Situationen könnten dadurch adressiert wer- ein pragmatischeres und weniger stark routinisiertes Abwä- den. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Studie ist je- gen erfordern. doch nur schwer vorstellbar, dass das Familien-Auto, das ei- Für Paula, die intermodale Pkw-und-ÖV-Kombiniererin, ne Reihe von Aufgaben erfüllt, dadurch gänzlich ersetzt wer- sind weder äußere materielle Beschränkungen wie Zeit und den kann. Auch werden die digitale Informationsbeschaffung Geld noch interpretativ-symbolische, affektive Gründe ein und Bedienung der neuen Angebote von vielen der Befragten entscheidender Faktor bei ihrer Praxis. Paula hat viel Zeit zunächst als unzufriedenstellend wahrgenommen. Das Her- als Rentnerin und ihr ist bewusst, dass die Haltung eines ei- unterladen einer weiteren App, die Anmeldung etc. werden genen Pkws kostenintensiv ist. Dennoch ist ihr der Besitz ei- als Barriere gesehen. Eine reduzierte Komplexität digitaler nes eigenen Autos sehr wichtig. Entscheidender Faktor ist Anwendungen würde in vielen Fällen zu einer höheren Nut- für sie die gesellschaftliche Teilhabe – wie zum Beispiel der zerakzeptanz führen. Theaterbesuch in der Innenstadt –, der ihr durch den Besitz Es ist festzuhalten, dass das Auto nicht für alle Autonut- eines eigenen Autos auch im hohen Alter möglich ist (ana- zerInnen, mit Alteneder und Risser (1995) sprechend, „ein log das „Motiv der Zusammenkunft“ und der „routinisierte Symbol für tief verwurzelte ideologische und psychologi- Rhythmus sozialer Ereignisse“ bei Wilde, 2014: 151–152). sche Projektion ist und rationale Argumente eher im Hin- Der Mobilitätstyp Paula macht deutlich, dass auch Angebote tergrund stehen“ (1995: 80). Während für den Allzweck- für ältere, möglicherweise in ihrer Mobilität eingeschränkte Pkw-Nutzer (Peter) das Wohlbefinden, die Unabhängig- und weniger digital- und technikaffine Bevölkerungsgruppen keit und andere interpretativ-symbolische und emotional- sowie in weniger urbanen Stadtquartieren geschaffen werden motivationale Aspekte sowie die etablierte Routine des Au- müssen. tofahrens durchaus wichtig sind, sind für Silvia materielle Vergleicht man die Ergebnisse dieser Studie mit denen Anforderungen, wie zum Beispiel der Transport von Gü- vergangener Typologie-Studien (etwa Götz et al.,1998; Prill- tern oder die Beförderung von Personen, stärkere Gründe witz und Barr, 2011), dann lassen sich – trotz der zeitlichen für die Praxis der Autonutzung. Individualistische Einstel- Distanz und einer anderen theoretischen Brille – Parallelen lungen, wie ein Gefühl der Unabhängigkeit, das oft dem Au- feststellen. Ein auffälliger Unterschied zu diesen Typologien ist das Aufkommen von situativen, multimodalen Nutzungs- 3 Beim Ridepooling werden mehrere Personen mit ähnlichem praktiken von Pkws. Das Aufkommen von alternativen Mo- Ziel anhand eines IT-Algorithmus gebündelt (Kloth und Mehler, bilitätsangeboten und die höhere Planungsflexibilität durch 2018: 37f). digitale Angebote sind dafür wahrscheinliche Auslöser. Ge- 4 Mobility-as-a-Service (MaaS) kombiniert öffentliche und pri- nerell bestätigt sich aber die schon damals gemachte Beob- vate Verkehrsangebote unterschiedlicher Anbieter mittels einheitli- achtung einer tiefgreifenden Verwurzelung der Automobili- chem Buchungsportal (Bitkom, 2018). tät auf der interpretativ-symbolischen Ebene sowie auf der Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021 https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
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