Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie zur Pkw-Nutzung in Berlin

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Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie zur Pkw-Nutzung in Berlin
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Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021
https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
© Author(s) 2021. This work is distributed under
the Creative Commons Attribution 4.0 License.

                 Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer
                 Mixed-Method-Studie zur Pkw-Nutzung in Berlin
                                        Laura Gebhardt and Rebekka Oostendorp
                              German Aerospace Center (DLR), Institute of Transport Research,
                                      Rudower Chaussee 7, 12489 Berlin, Germany
                                 Correspondence: Laura Gebhardt (laura.gebhardt@dlr.de)

              Received: 29 June 2020 – Revised: 22 December 2020 – Accepted: 4 March 2021 – Published: 7 April 2021

       Kurzfassung. This paper is an empirical mixed-method study on car use in an urban context. It explores the
       questions: What mobility practices do people in the city display? What role does car use play in this context?
       What is the guiding, underlying logic behind personal car use? The findings help to understand mobility practices
       and their underlying logic. The central component is a user typology based on a quantitative survey and quali-
       tative interviews. The study aims to present an empirical description of mobility practices and the guiding logic
       of different mobility types in Berlin. The findings offer starting points for user-specific measures to encourage
       people to use new mobility concepts instead of their personal car.

1   Einleitung                                                     en Mobilitätskonzepten (Docherty et al., 2017) als Alterna-
                                                                   tiven zum motorisierten Individualverkehr (MIV) an Bedeu-
Berlin-Mitte, Montagmorgen, 11.00 Uhr: Peter Mönch                 tung (WBGU, 2011). In dieser stark technologiegetriebenen
(51 J.) ist nach einem Kundentermin am Morgen in Berlin-           Diskussion sowie in der klassischen Verkehrsforschung wird
Mitte in Eile, um pünktlich zu einer Veranstaltung am Stadt-       Mobilität meist aus einer technischen oder organisatorischen
rand zu kommen. Er läuft hastig zu seinem Wagen, für den er        Perspektive betrachtet. Das führt dazu, dass Mobilität von
mit Müh und Not einen Parkplatz gefunden hat. . .                  außen, sozusagen mit dem Blick der Forschenden, häufig
Berliner Stadtrand, Samstagabend, 19 Uhr: Die Witwe                quantitativ erfasst wird. Im Vergleich dazu sind Forschun-
Paula Schmidt (70 J.) lebt in einem ruhigen Wohngebiet am          gen deutlich unterrepräsentiert, die aus einer Innenperspek-
Stadtrand. An diesem Abend ist ein Theaterbesuch in der            tive heraus die den Mobilitätspraktiken zugrunde liegenden
Berliner Innenstadt geplant. Im Alltag erledigt sie ihre Ein-      Faktoren (interpretativ-verstehend) betrachten. NutzerInnen-
käufe etc. gerne mit dem eigenen Pkw, die Fahrt mit dem Auto       orientierte, subjektbezogene Studien dieser Art, die meist
in der Innenstadt und die damit verbundene Parkplatzsuche          eher aus dem Feld der sozialwissenschaftlichen Mobilitäts-
findet sie jedoch grauenvoll. Daher hat sie sich entschieden,      als der Verkehrsforschung1 stammen, sind zumeist durch ei-
ihr Auto an der nächsten S-Bahn-Station zu parken und dann         ne stark methodologisch motivierte Forschungshaltung ge-
mit der S-Bahn stressfrei in die Innenstadt zu fahren. . .         prägt, Probleme der Planungspraxis interessieren dabei kaum
   Peter und Paula sind prototypische StellvertreterInnen für      (Wilde und Klinger, 2017). In der Folge ergibt sich laut Wil-
viele Menschen, die tagtäglich in der Stadt unterwegs sind.        de (2014: 372) „ein Missverhältnis: Die einen schlagen Lö-
Sie nutzen – wenn auch auf unterschiedliche Art und aus un-        sungen für die Planungspraxis vor, verstehen aber wenig von
terschiedlichen Gründen – das (eigene) Auto. Und damit sind        der Lebenspraxis der Menschen, die anderen forschen über
sie nicht allein: Nach wie vor ist das Auto – trotz zuneh-         die Lebenspraxis und versuchen, den Alltag und die Perspek-
mender Mobilitätsalternativen in Städten (Lanzendorf und           tive der Menschen zu entschlüsseln, überführen ihre Einbli-
Hebsaker, 2017) – das meistgenutzte Verkehrsmittel (BMVI,          cke allerdings kaum in Erkenntnisse für die Planungspraxis“.
2017).
   Angesichts dessen und der damit einhergehenden Belas-              1 Für eine Betrachtung der Abgrenzung zwischen Mobilitätsfor-
tung für Mensch und Umwelt gewinnt die Frage nach neu-             schung und Verkehrsforschung siehe Wilde und Klinger (2017).

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   An dieser Lücke setzt dieser Beitrag an, indem die Mo-         die auf Grundlage des empirischen Materials mit einem Fo-
bilitätspraktiken und die damit verbundenen Logiken un-           kus auf automobile Mobilitätspraktiken und damit verbun-
terschiedlicher Pkw-NutzerInnen genauer betrachtet werden.        dene Logiken identifiziert und untersucht wurden. In Kapi-
Dafür wurden mit einem Mixed-Methods-Ansatz quantita-             tel 5 werden die Erkenntnisse diskutiert und davon ausge-
tive und qualitative empirische Daten in Berlin erhoben           hend Anknüpfungspunkte der Planungspraxis für nutzerspe-
und darauf aufbauend Mobilitätstypen identifiziert. Die Stadt     zifische Maßnahmen herausgestellt. In Kapitel 6 wird ein
Berlin dient hier als Fallbeispiel. Der Schwerpunkt des Bei-      kurzes Fazit gezogen sowie weiterführender Forschungsbe-
trags liegt auf der Darstellung der empirischen Ergebnisse.       darf benannt.
Die folgenden Forschungsfragen leiten dabei die inhaltliche
Diskussion:
                                                                  2   Mobilitätspraktiken und -logiken als Elemente
  – Welche Mobilitätspraktiken zeigen Menschen in der                 sozial-geographischer Mobilitätsforschung
    Stadt?
                                                                  Obwohl sich die klassischen Determinanten der Verkehrs-
  – Welche Rolle nimmt dabei die Pkw-Nutzung ein?                 nachfrage (z.B. sozio-demographische Merkmale) für man-
                                                                  che Forschende nach wie vor als die wichtigsten Erklärungs-
  – Welche Logiken sind mit automobilen Praktiken ver-            faktoren des Mobilitätsverhaltens2 erweisen (Scheiner, 2007:
    knüpft?                                                       704), ist „die Verkehrsnachfrage noch immer nicht ,gut er-
Mobilitätspraxis wird hier in Anlehnung an Wilde (2014)           klärbar‘ [. . .], sondern [unterliegt] einem erheblichen Eigen-
als alltägliches, praktisches Tun eingebettet in soziale Struk-   sinn der Verkehrsnachfrager“. Es wird angenommen, dass
turen verstanden. Mobilität soll dadurch „über den Akt der        „Verkehrshandeln möglicherweise von ganz anderen Para-
Raumüberwindung hinaus gehend – als sozial und kulturell          metern, Rationalitäten und Entscheidungslogiken bestimmt
konstituierte, reproduzierte Lebenspraxis aufgefasst“ werden      ist als denjenigen, die in der Forschung untersucht werden“
(ebd.: 160). Beim Begriff „Logiken“ geht es nicht (allein)        (ebd.). Die bisher dominierenden Ansätze aus klassischer
um Rationalitäten, sondern um sämtliche intentionale wie          Verkehrswissenschaft und Planungspraxis beobachten und
nicht-intentionale, implizite Faktoren, die letztendlich zur      erklären Mobilität meist durch isolierte, rational gefällte Ent-
Ausführung einer Praxis führen (vgl. Kapitel 2, Reckwitz,         scheidungen und aus einer Außenperspektive. Die Verknüp-
2003: 290). Mit Berücksichtigung unterschiedlicher Mobili-        fung von realisiertem Verkehrsverhalten mit den individuel-
tätspraktiken kann der Forderung nach einer stärkeren Ori-        len Lebenskontexten sowie den Mobilitätspraktiken zugrun-
entierung der Forschung an der Lebenspraxis der Menschen          de liegenden Logiken der NutzerInnen bleibt dabei meist un-
(z.B. Manderscheid, 2019: 179–180) begegnet werden.               berücksichtigt.
   Zur Beantwortung der Forschungsfragen wird eine empi-             Jüngere, sozialwissenschaftlich ausgerichtete Arbeiten der
risch begründete Beschreibung von unterschiedlichen Mobi-         Mobilitätsforschung schenken diesen komplexen Wirkungs-
litätstypen sowie deren Mobilitätspraktiken und damit ver-        zusammenhängen, die intentionale wie nicht-intentionale
knüpfte Logiken präsentiert. Die nötige Komplexitätsredu-         Faktoren einbeziehen, mehr Beachtung. Mobilität wird hier
zierung bei Typisierungen führt häufig dazu, dass eine Zu-        nicht nur als Raumüberwindung nach rationalen Entschei-
ordnung der Individuen zu einem dominanten Verkehrsmit-           dungsmustern, sondern als „ein soziales Phänomen“ – als
tel vorgenommen wird (z.B. Hunecke und Haustein, 2007).           „sozial und kulturell konstituierte Bewegung des Akteurs“
Auch die Planungspraxis betrachtet VerkehrsteilnehmerIn-          (Wilde, 2014: 36) verstanden (vgl. z.B. Hannam et al., 2006;
nen häufig nur als Momentaufnahme im Straßenverkehr (Au-          Urry, 2007).
tofahrerIn, RadfahrerIn, FußgängerIn), deren Bedürfnisse es          Bei einigen handlungstheoretischen Arbeiten wird – als
zu adressieren gilt. Allerdings sind die NutzerInnen in ih-       bewusster Gegensatz zu behavioristischen, nur an Kennzah-
rem Alltag häufig nicht nur auf ein Verkehrsmittel fokussiert     len orientierten Ansätzen – der Fokus auf die Motive und
und ihre Bedürfnisse entsprechend vielfältiger. Multi- und        Motivationen der Handelnden gesetzt (Scheiner, 2014: 149;
intermodale Verkehrsmittelnutzung, also die Nutzung meh-          De Vos et al., 2016; Segert, 2009). Ziel ist es, das Han-
rerer unterschiedlicher Verkehrsmittel im Verlauf einer Wo-       deln von Individuen zu verstehen, oft als Ergebnis ratio-
che bzw. eines Weges (Chlond, 2013), gehört insbesondere          nal oder normativ geformter Entscheidungen. Im Anschluss
in Großstädten immer mehr zur Lebenspraxis der Menschen               2 Wenn in diesem Beitrag von „Mobilitätsverhalten“ gespro-
und wird daher in dieser Studie bei der Typisierung explizit
                                                                  chen wird, ist das klassische Konzept quantitativ gemessener Bewe-
berücksichtigt.                                                   gung einer Person zwischen erdräumlichen Positionen (vgl. Schopf,
   Kapitel 2 gibt einen kurzen Überblick zum Stand der For-       2001: 5) gemeint. Ausgeklammert sind dabei noch die diesen
schung bezogen auf Mobilitätspraktiken und -logiken und           Bewegungen zugrunde liegenden materiellen, sozialen und psy-
beschreibt die theoretische Brille der Forscherinnen bei die-     chologischen Bedingungen. Diese bezieht ein komplexeres, sozio-
ser Studie. Auf dieser Basis beschreibt Kapitel 3 das metho-      technisches Verständnis von Mobilität ein, das sich im Begriff der
dische Vorgehen. Kapitel 4 präsentiert fünf Mobilitätstypen,      „Mobilitätspraktiken“ äußert.

Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021                                                        https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
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an diese handlungstheoretische Mobilitätsforschung etabliert    oben genannten Ansätze von Wilde (2014) und Le Bris
sich derzeit zudem eine neuere, praxistheoretische Perspek-     (2015).
tive auf Mobilität. Die Praxistheorien betrachten den Akt des      Von Reckwitz‘ Grundannahmen ausgehend entwirft Wilde
Handelns und das dafür erforderliche praktische Wissen, al-     ein Modell der Mobilitätspraxis, das Materialität, Wissen und
so mehr das knowing how anstatt knowing that. Die theore-       Routinen als Grundelemente sozialer Praktiken einbezieht
tischen Grundlagen stammen aus der Soziologie (vor allem        (Wilde, 2014). Die Materialität umfasst die Orte, Strecken,
Giddens, 1984; Schatzki, 1996; Reckwitz, 2003), wurden je-      Werkzeuge und Verkehrsmittel, die zur Verwirklichung einer
doch jüngst im Feld der Mobilitätsforschung aufgegriffen        Praxis gehören, sowie den Körper der Praktizierenden selbst.
(Shove et al., 2012; Wilde, 2013; Manderscheid, 2019). Der      Wissen setzt sich zusammen aus motivational-emotionalem
Mehrwert der Praxisperspektive auch für das Thema Mo-           Wissen (Motiven, Gefühlen und Stimmungen), interpretati-
bilität liegt unter anderem in der Offenlegung von implizi-     vem Verstehen (z.B. Symboliken bestimmter Orte oder Ver-
tem Wissen und sozio-technischen Konstellationen (Schei-        kehrsmittel) und methodischem Wissen, also den Kompe-
ner, 2014). Praxeologischen Arbeiten gelingt es, die Lücke      tenzen in der Planung und Ausführung bestimmter Mobili-
zwischen reinem Strukturalismus auf der einen und Sub-          tätspraktiken. Routinen sind hier „gewohnheitsmäßige Hand-
jektorientierung auf der anderen Seite zu schließen. Bei-       lungsabfolgen [. . .] in einem alltäglichen Strom sozialer Pra-
spielsweise versucht Wilde (2014) mit seiner Perspektive ei-    xis“ (Wilde, 2014: 167). Dieses Modell der Grundelemente
ner sozialgeographischen Mobilitätsforschung auf Alltags-       von Mobilitätspraktiken wird im weiteren Verlauf als Aus-
praktiken älterer Menschen im ländlichen Raum das Span-         gangspunkt für die Analyse der empirischen Ergebnisse ge-
nungsverhältnis zwischen (routinisiertem) Verhalten, Struk-     nutzt.
turen und „anderen Rationalitäten“ mithilfe der Praxistheo-        Neben diesen Grundelementen sozialer Praktiken soll hier
rien zu verstehen. Er schafft es dabei, die Innenperspektive    außerdem das Konzept der „,impliziten‘ bzw. ,informellen‘
mit den Konzepten der Praxistheorie zu verknüpfen. Ähnlich      Logik“ von Praktiken aufgegriffen werden (Reckwitz, 2003:
gehen Le Bris (2015), die Mobilitätspraktiken von Pedelec-      290). Die „implizite Logik“ einer Praktik beschreibt eine
BesitzerInnen betrachtet oder Wörmer (2016), der Praktiken      komplexe Verbindung von Intentionalität und Motivation,
analysiert, mit denen Menschen versuchen, ihr Privatleben       Routinen und Know-How (Reckwitz, 2003). Das Soziale las-
mit den berufsbedingten Mobilitätsanforderungen zu verein-      se sich nur begreifen, wenn man seine Materialität und seine
baren, vor. Diese Arbeiten unterscheiden sich von praxis-       implizite, nicht-rationalistische Logik nachvollziehe (ebd.:
theoretischen Arbeiten, die eher an der strukturellen Formie-   290). Schatzki (2012: 1–2) umschreibt dieses Konzept als
rung von Praktiken interessiert sind als an der Perspektive     nonpropositional ability, die Eigenschaft einer Person, die
der Praktizierenden selbst (siehe z.B. Schatzki, 2012; Man-     soziale, psychologische und körperliche Elemente in einem
derscheid, 2019).                                               Moment zusammenbringt, um eine bestimmte Praxis zu voll-
   Die praxeologische Brille erlaubt es, über die sprachli-     führen. Giddens spricht von einem practical consciousness,
che Artikulation hinaus die mit menschlichem Tun einherge-      das alle sozialen, materiellen und psychologischen Wissens-
henden Verkörperungen, Materialisierungen, impliziten Wis-      komponenten umfasst, die im Moment des Handelns zur
sensbestände und Raumaneignungen zu erfassen. Die Prak-         Ausführung einer bestimmten, routinisierten Praxis führen
tiken werden einerseits durch die kognitiven und materiel-      (Giddens, 1984: 6–7, 167).
len Strukturen geprägt – andererseits werden Praktiken und         Anlehnend daran wird hier von einer Logik von Mobili-
die sie verstetigenden Strukturen durch die Handelnden erst     tätspraktiken gesprochen, die – ähnlich wie Reckwitz’ im-
hervorgebracht und sind grundsätzlich veränderlich (Reck-       plizite Logik – nicht primär rationalistisch zu verstehen ist.
witz, 2003: 296). Auch aus der eher sozial-psychologischen      Ähnlich wie bei Giddens’ practical consciousness sollen da-
Forschung gibt es vergleichbare Überlegungen, zum Beispiel      bei alle Elemente inbegriffen werden, die die Ausführung
das Konzept der body-mind-world assemblage von Venn             einer bestimmten Praktik erklären können. Der Begriff soll
(2010), das von Schwanen et al. (2012: 526–527) aufgegrif-      also als Rahmen dienen, um alle möglichen Elemente – rou-
fen wurde, womit routinisiertes Handeln in den materiellen      tinisierte wie intentionale –, die tatsächlich zur Ausführung
und sozialen Kontext eingebettet werden soll. Die grundsätz-    der Praxis geführt haben, zu identifizieren und zusammenzu-
liche Zielgerichtetheit des menschlichen Handelns wird von      fassen.
einigen PraxistheoretikerInnen dennoch vorausgesetzt, etwa
von Giddens (1984). Auch bleibt bei ihm das Potenzial ei-
nes Subjekts erhalten, strukturell reproduzierte Praktiken zu   3   Methodik
reflektieren, zu ersetzen oder anzupassen.
   Angelehnt daran sollen hier Mobilitätspraktiken ebenfalls    Ausgangspunkt für die vorliegende Mixed-Methods-Studie
sowohl strukturell geprägt als auch durch intentionales Han-    ist die Annahme, dass Akteure Mobilität unter den Bedin-
deln veränderlich verstanden werden. Im Gegensatz zu man-       gungen ihres Lebensalltags produzieren und reproduzieren
chen Praxistheorien hat hier auch das Subjekt und dessen        (Hannam et al., 2006; Dangschat und Segert, 2011). Unser
Perspektive eine zentrale Bedeutung – in Anlehnung an die       sequentieller Mixed-Methods-Ansatz hat dabei die Identifi-

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zierung und das Verstehen unterschiedlicher Mobilitätstypen       3.1   Identifizierung von Mobilitätstypen
und deren Mobilitätspraktiken zum Ziel. Damit verbunden
ist die Annahme, dass bestimmte Mobilitätspraktiken durch         Die Grundlage für die Mobilitätstypen bildet eine im Jahr
bestimmte Gruppen getragen werden, die durch Lebenssitua-         2016 durchgeführte quantitative Befragung in Berlin zum ak-
tion, strukturelle Faktoren sowie soziodemographische Fak-        tuellen Mobilitätsverhalten mit 1098 Personen (vgl. Oosten-
toren charakterisiert sind (Shove et al., 2012). Eine gruppen-    dorp und Gebhardt, 2018). Die TeilnehmerInnen entstam-
spezifische Betrachtung kann helfen, bedarfsgerechte Maß-         men einer geschichteten Zufallsstichprobe aus dem Ein-
nahmen zu entwickeln, die unter Umständen zu Verhaltens-          wohnermelderegister. Die Befragung ist auf der Individual-
änderungen führen können (Dangschat, 2017).                       ebene konzipiert, enthält jedoch auch Informationen zum
    Segmentierungsansätze sind ein etabliertes methodisches       Haushaltskontext des Individuums, wie beispielsweise der
Mittel zur Analyse und Strukturierung von heterogenen             Haushaltszusammensetzung oder der Anzahl der im Haus-
Gruppen bzw. deren Praktiken und helfen, Komplexität zu re-       halt vorhandenen Pkw. Der Fragebogen erfasste unter ande-
duzieren (Anable, 2005; Bartz, 2015; Manderscheid, 2019).         rem in detaillierter Weise das Mobilitätsverhalten der Be-
Disziplinen, die mit Segmentierungsansätzen arbeiten, um-         fragten, differenziert nach Verkehrsmittelnutzung und We-
fassen die Psychologie (z.B. Hunecke und Haustein, 2007;          gezwecken. Die abgefragten Variablen zur Häufigkeit uni-
Hunecke, 2015), die Soziologie (z.B. Bolte, 2000; Jensen,         modaler und intermodaler Verkehrsmittelnutzung für unter-
2009) und auch die Verkehrswissenschaften (Haustein und           schiedliche Wegezwecke dienten als Einflussvariablen für ei-
Nielson, 2016; Wittwer, 2014). Meistens werden die Typolo-        ne kombinierte Faktor- und Clusteranalyse. Die daraus re-
gien mittels quantitativer Daten und Clusteranalysen erarbei-     sultierenden Cluster werden entsprechend der Einflussvaria-
tet.                                                              blen nicht allein durch ein Verkehrsmittel bestimmt, son-
    Die Arbeit mit Mobilitätstypen weist Parallelitäten zur aus   dern zeigen das vielfältige Mobilitätsverhalten im Alltag der
der Produktentwicklung stammenden „Persona-Methode“               Befragten. Die multi- und intermodalen Verhaltensweisen
(Cooper, 2004) auf, da hier ebenfalls mit prototypischen Nut-     der BefragungsteilnehmerInnen sind demnach von zentra-
zerInnen gearbeitet wird. Im Gegensatz zu den dort erstellten     ler Bedeutung für die quantitative Segmentierung und in-
Personae hat der vorliegende Ansatz nicht eine Konsumentin        folgedessen für die Unterscheidung der Mobilitätstypen. Die
bzw. einen Konsumenten als Verständnisgrundlage, sondern          Cluster bilden schließlich die Basis für die Mobilitätstypen,
bestimmte Praktiken in ihren jeweiligen Kontexten. Wissen-        die anschließend mit weiteren Informationen aus der Befra-
schaftlich erarbeitete Typologien sind von Personae außer-        gung zu sozio-demographischen Merkmalen und verfügba-
dem abzugrenzen, da letztere meist durch design-thinking-         ren Mobilitätsressourcen charakterisiert wurden. Aufgrund
Prozesse ohne wissenschaftlich fundierte empirische Basis         dieses Vorgehens grenzen sich die Mobilitätstypen tatsäch-
beschrieben und primär für Produktentwicklung genutzt wer-        lich durch ihr Mobilitätsverhalten voneinander ab und die Ty-
den (Chapman und Milham, 2006).                                   pisierung ist nicht ein Ergebnis sozio-demographischer Un-
    Unser Mixed-Methods-Ansatz geht über die reine Iden-          terschiede der Befragten.
tifikation von Typen durch quantitative Daten hinaus, in-            Vor dem Hintergrund der Fragestellungen (vgl. Kapitel 1)
dem neben der quantitativen Erhebung und Identifizierung          wurden fünf Typen als Untersuchungsgruppen für die quali-
von Typen diese und deren Logiken im qualitativen Teil der        tative Erhebung ausgewählt, die im Ergebnisteil (vgl. Kapi-
Studie „verstanden“ und näher beschrieben werden. Stärken         tel 4) dargestellt werden. Bei der Auswahl der Typen wur-
quantitativer sowie qualitativer Methoden bzw. Daten wer-         de darauf geachtet, dass sie unterschiedliches Mobilitätsver-
den somit im Sinne von Mixed-Methods aufsummiert (John-           halten aufweisen, um verschiedene Perspektiven auf Pkw-
son et al., 2007; Kuckartz, 2016). Ein weiterer Mehrwert ei-      Nutzung aus den Interviews abzubilden. Für eine Übersicht
nes Mixed-Methods-Ansatzes liegt in der Robustheit der Er-        aller Mobilitätstypen sowie zur methodischen Vorgehenswei-
gebnisse (ebd.). Die Methoden-Triangulation hilft, dass sich      se bei der Typenbildung siehe Oostendorp et al. (2019).
verschieden erhobene Daten gegenseitig stützen und validie-
ren oder blinde Flecken bzw. Analysefehler erkannt werden         3.2   Exploration der Nutzerperspektive mittels
(Johnson und Onwuegbuzie, 2004).                                        qualitativer Interviews mit visuellen Elementen
    Abbildung 1 zeigt das methodische Vorgehen des sequen-
ziellen Mixed-Methods-Ansatzes. Der Schwerpunkt dieses            Es wurden 22 qualitative Tiefeninterviews mit Stellvertrete-
Beitrags liegt auf dem qualitativen Teil der Studie, da die       rInnen der ausgewählten Mobilitätstypen in Berlin im Jahr
Interviews tiefergehende Informationen hinsichtlich der For-      2018 durchgeführt. Die InterviewpartnerInnen konnten ge-
schungsfragen dieses Beitrags geben. Die vorhergehenden           zielt aus den TeilnehmerInnen der quantitativen Befragung
quantitativen Analyseschritte sind ausführlich in Oostendorp      ausgewählt werden. Sie stehen für den jeweiligen Mobilitäts-
et al. (2019) dokumentiert.                                       typ, decken in der Summe aber auch eine gewisse Bandbreite
                                                                  unterschiedlicher Personen- und Haushaltsmerkmale ab.
                                                                     Die Interviews wurden durch die „Nadelmethode“
                                                                  (Rohrauer, 2014) sowie „Fotogeleitete Hervorlockung“ (Har-

Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021                                                      https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie                         119

Abb. 1. Methodisches Vorgehen.

per, 2009) angereichert. Bei der Nadelmethode handelt es        men der qualitativen Interviews die Grundlage dafür. Dabei
sich um eine Methode der Sozialraumanalyse, deren Ziel es       sprechen wir zum Beispiel von Peter, dem Allzweck-Pkw-
ist, die persönlichen Lebensräume der Befragten und deren       Nutzer, er ist als Stellvertreter für seine Gruppe zu verstehen.
subjektive Relevanz zu rekonstruieren, indem sie relevante      Die Inhalte und Zitate stammen von unterschiedlichen Inter-
Punkte ihres Alltags und ihre Wege mit Hilfe von Nadeln         viewten des jeweiligen Typs.
auf einer vorgelegten Karte markieren (Rohrauer, 2014). In
dieser Studie wurde die Grundidee dieser Methode genutzt
und mit Aspekten der Methode der „narrativen Landkarte“         4.1   Beschreibung von Mobilitätstypen
(Behnken und Zinnecker, 2010) ergänzt, jedoch in digitaler      Tabelle 1 zeigt auf Grundlage der Daten aus der quantitati-
Form angewandt. Die befragten Personen wurden aufgefor-         ven Befragung eine Übersicht über die Merkmale der fünf
dert, ihre alltäglichen Wege in eine digitale Karte auf einem   für die qualitative Erhebung ausgewählten und für die Fra-
Tablet einzuzeichnen und dabei mündlich zu beschreiben.         gestellung in diesem Beitrag relevanten Mobilitätstypen. Die
    Das ethnographische Verfahren der „Fotogeleiteten Her-      deskriptive Beschreibung der Typen dient dazu, die folgen-
vorlockung“ (Collier und Collier, 1986; Harper, 2009) dient     den qualitativen Ergebnisse einordnen zu können.
als visueller Diskussionsstimulus im Interview und hat sich        Bei der Gegenüberstellung der Merkmale auf Grundlage
vor allem für das Verständnis der Alltagspraktiken aus der      der quantitativen Befragung wird deutlich, dass die Mobili-
Perspektive der Befragten bewährt. So wurden die Interview-     tätstypen jeweils ein klares Profil nicht nur hinsichtlich ih-
ten aufgefordert, die ihnen visuell vorgelegten Mobilitätsop-   res Mobilitätsverhaltens haben, sondern auch Unterschiede
tionen (in Form von Fotos) zu beurteilen, deren Nutzung und     in den sozio-demographischen Merkmalen und der Verfüg-
Nicht-Nutzung zu bewerten, eine Auswahl zu treffen und zu       barkeit von Mobilitätsressourcen bestehen. Die Unterschiede
begründen. Gerade Diskrepanzen zwischen der Rationalisie-       bei der Verkehrsmittelnutzung sind durch die bei der Clus-
rung der Praktiken durch die Befragten selbst und deren er-     teranalyse verwendeten Input-Variablen bedingt (vgl. Ka-
fasstes Verhalten sowie ihr implizites, nicht kommuniziertes    pitel 3.1). Die multi- und intermodalen Verhaltensweisen
Wissen lassen sich durch den gewählten Ansatz besser iden-      der BefragungsteilnehmerInnen als zentraler Bestandteil der
tifizieren, wenngleich ein solches Vorgehen zeitintensiv ist.   quantitativen Segmentierung zeigen sich entsprechend deut-
    Die Interviews wurden transkribiert und in Anlehnung an     lich in der Unterschiedlichkeit der Mobilitätstypen. Gleich-
die Grundelemente der Theorie sozialer Praktiken – Materia-     zeitig sind trotz unterschiedlichen Mobilitätsverhaltens auch
lität, Wissen, und Routinen (vgl. Reckwitz, 2003) – struktu-    Gemeinsamkeiten zwischen einzelnen Typen erkennbar. So
riert und analysiert. Diese Kategorisierung wurde – im Sinne    weisen der Allzweck-Pkw-Nutzer und die intermodale Pkw-
der „Grounded Theory“ (Charmaz, 2014; Glaser und Strauss,       und-ÖV-Kombiniererin beide eine hohe Pkw-Verfügbarkeit
1967) – durch Aspekte aus dem empirischen Material im zir-      und einen geringen Anteil an ÖV-Tickets auf. Die Typen
kulären Auswertungsprozess kontinuierlich ergänzt.              Allzweck-Pkw-Nutzer, Fahrrad-Kombinierer und situations-
                                                                abhängige multimodale Nutzerin ähneln sich dagegen in ih-
4   Ergebnisse                                                  ren sozio-demographischen Merkmalen und sind alle durch
                                                                einen hohen Anteil berufstätiger Personen in Familienhaus-
Im Folgenden werden die fünf unterschiedlichen Mobilitäts-      halten geprägt.
typen, deren Mobilitätspraktiken sowie die mit den Praktiken       Die quantitativ identifizierten Mobilitätstypen ermögli-
verbundenen Logiken beschrieben. Vor dem Hintergrund der        chen es, durch ihre Charakteristika verschiedene Arten der
eingangs formulierten Forschungsfragen wird der Fokus auf       Pkw-Nutzung bei dem im Folgenden dargestellten qualita-
automobilen Praktiken und den damit verbundenen Logiken         tiven Analyseschritt der Mixed-Methods-Studie zu betrach-
liegen, um zu verstehen, in welchen Situationen Personen        ten, die in unterschiedliche Kontexte des multi- und intermo-
einen Pkw nutzen. Neben Informationen aus der quantitati-       dalen Mobilitätsverhaltens sowie in unterschiedliche sozio-
ven Befragung sind vor allem die Narrationen der Interview-     demographische und ressourcenbezogene Rahmenbedingun-
ten beim Zeichnen eines typischen Alltagsweges im Rah-          gen der Lebenspraxis eingebettet sind. Dadurch kann ein

https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021                                                     Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021
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Tabelle 1. Merkmale der Mobilitätstypen auf Grundlage der quantitativen Befragung.

      Mobilitätstyp1                   Mobilitätsverhalten                               Vorwiegende sozio-                       Vorwiegende Verfügbarkeit
                                       (auf Basis der Clusteranalyse; über-              demographische Merkmale                  von Mobilitätsressourcen
                                       / unterdurchschnittlich bezogen auf
                                       gesamten Datensatz)
      Allzweck-Pkw-Nutzer              – hohe unimodale Pkw-Nutzung                      – eher männlich                          – Pkw-Verfügbarkeit und
      (unimodal)                       zu allen Wegezwecken                              – stärkste Altersgruppen:                Anteil Carsharing
      (Peter)                          – ergänzende Fahrradnutzung                       36–45 und 46–55 Jahre                    -Mitgliedschaften hoch
                                       – geringe Nutzung intermodaler                    – hoher Anteil Berufstätiger             – niedriger Anteil
                                       Kombinationen                                     – viele Familienhaushalte                ÖV-Tickets
                                                                                         – leben häufig am Stadtrand
      ÖV-Nutzerin                      – hohe tägliche ÖV-Nutzung                        – eher weiblich                          – hoher Anteil ÖV-Tickets
      (Olga)                           (uni- und intermodal)                             – stärkste Altersgruppe:                 – Pkw-Verfügbarkeit
                                       – vor allem auf Arbeitswegen und                  26–35 Jahre                              sehr niedrig
                                       zu Freizeitzwecken                                – hoher Anteil StudentInnen              – Anteil Carsharing-
                                                                                         und SchülerInnen                         Mitgliedschaften
                                                                                         – viele Ein-Personen-                    unterdurchschnittlich
                                                                                         und Paarhaushalte
                                                                                         – leben häufig in gut
                                                                                         angebundenen Quartieren
      Intermodale Pkw- und             – kombiniert häufig Pkw und ÖV,                   – eher weiblich                          – Pkw-Verfügbarkeit sehr
      ÖV-Nutzerin                      vor allem zum Einkaufen und für                   – stärkste Altersgruppe:                 hoch
      (Paula)                          private Erledigungen                              66–75 Jahre                              – Nur wenige haben ein
                                       – außerdem hohe unimodale Pkw-                    – Hoher Anteil RentnerInnen              ÖV-Ticket oder Carsharing-
                                       Nutzung                                           – viele Paarhaushalte                    Mitgliedschaft
                                                                                         – leben häufig am Stadtrand
      Intermodale Fahrrad-             – kombiniert häufig Fahrrad                       – eher männlich                          – Anteil ÖV-Tickets und
      Kombinierer (Steffen)            und ÖV                                            – stärkste Altersgruppe:                 Carsharing-Mitgliedschaf-
                                       – intermodal zu vielen verschiede-                36–45 Jahre                              ten hoch
                                       nen Zwecken, auch auf Arbeitswe-                  – hoher Anteil Berufstätiger,            – Pkw-Verfügbarkeit
                                       gen                                               vor allem in Vollzeit                    vergleichsweise gering
                                       – auch unimodale Fahrradnutzung,                  – viele Familienhaushalte
                                       vor allem für Einkaufen, Freizeit                 – leben häufig in urbanen
                                       und private Erledigungen                          Quartieren
                                       – unimodale Pkw-Nutzung unter-
                                       durchschnittlich
      situationsabhängige              – sowohl intermodal als auch                      – eher weiblich                          – Pkw-Verfügbarkeit und
      multimodale Nutzerin             unimodal unterwegs                                – stärkste Altersgruppen:                Anteil ÖV-Tickets ist et-
      (Silvia)                         – intermodale Kombinationen für                   46–55 Jahre und 56–65 Jahre              wa gleich hoch auf einem
                                       alle Wegezwecke überdurch-                        – hoher Anteil Berufstätiger             durchschnittlichen Niveau
                                       schnittlich                                       – viele Familienhaushalte                – Anteil Carsharing-
                                       – zusätzlich hohe unimodale                       – leben häufig am Stadtrand              Mitgliedschaften sehr
                                       Pkw- und Fahrradnutzung                                                                    gering
   1 Bei den Namen der Mobilitätstypen wurde jeweils das Geschlecht gewählt, dass bei diesem Typ im Datensatz stärker vertreten ist. D.h. Peter der Allzweck-Pkw-Nutzer
   und Paula die ÖV-Nutzerin.
   2 ÖV-Ticket meint hier den Besitz einer Zeitfahrkarte (Monats- oder Jahrestickets) für den ÖV.

breites Spektrum an verschiedenen Lebenswelten und da-                                    4.2       Mobilitätspraktiken und -logiken unterschiedlicher
mit verbundenen Perspektiven auf die Thematik der Pkw-                                              Mobilitätstypen
Nutzung in den Interviews berücksichtigt werden.
                                                                                          In Anlehnung an Reckwitz (2003) bzw. Wilde (2014) wur-
                                                                                          den die drei Haupt-Analysekategorien Materialität, Wissen
                                                                                          und Routinen für die Analyse und Ergebnisdarstellung ge-
                                                                                          wählt. Bezogen auf das hier in den Blick genommene Thema

Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021                                                                                    https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
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Pkw-Nutzung lässt sich die Kategorie Materialität anhand        möglicht eine flexible, individuelle Planung, mehrere Wege-
der Aspekte Pkw-Verfügbarkeit und deren Bedeutung für           zwecke können kombiniert werden. Er wird als zeiteffizient
den Mobilitätstyp, Aussagen zum Transport von Personen          und kostengünstig empfunden, wobei im Gespräch indirekt
und Gepäck sowie zu Kosten analysieren. Außerdem sind           zum Ausdruck kommt, dass Staus, die tägliche Parkplatzsu-
die beschriebenen Orte und Strecken dieser Kategorie zuzu-      che sowie versteckte Kosten diese Argumente auch entkräf-
ordnen. Die Kategorie Wissen lässt sich in den Ergebnissen      ten könnten. Hier zeigt sich, dass die Logiken des Allzweck-
durch methodisches Wissen über die Nutzungsweise der ein-       Pkw-Nutzers nicht auf ein rein zweckrationales Abwägen re-
zelnen Verkehrsmittel, Ortskenntnisse des Straßen- und ÖV-      duziert werden können. Teil dessen Logik ist, dass psycholo-
Netzes, die Nutzung von Mobilitäts-Apps und Carsharing,         gische und normative Elemente diese in der Praxis verborge-
aber auch durch motivational-emotionales Wissen und inter-      nen Paradoxien verschleiern und sie dadurch subjektiv nach
pretatives Verstehen (z.B. symbolische Aufladung von Ver-       sozial erwünschten Maßstäben interpretiert und rationalisiert
kehrsmitteln und Orten) darstellen. Vor allem die Narratio-     werden. Hier spielen emotional-motivationale Aspekte, wie
nen zu den auf eine Karte gezeichneten Alltagswegen zei-        das Empfinden des eigenen Autos als ein zweites Wohnzim-
gen implizites Wissen der Befragten. Aussagen zu Routinen       mer oder als ein Rückzugsraum, eine zentrale Rolle. Im Ar-
lassen sich im empirischen Material zum Beispiel durch Be-      tefakt Auto materialisiert sich sozusagen die Logik dieses
schreibungen des Arbeitsweges, Aussagen zu Zeit und Flexi-      Typs.
bilität oder auch Aussagen zu häufig wiederkehrenden Stau-
situationen und der Parkplatzsuche finden.                      Olga (ÖV-Nutzerin)

Peter (Allzweck-Pkw-Nutzer)
                                                                Die ÖV-Nutzerin Olga wohnt in der Regel in einem gut an-
                                                                gebundenen urbanen Gebiet und hat eine Auswahl an Ver-
Für den Allzweck-Pkw-Nutzer Peter ist der Pkw das opti-         kehrsmitteln zur Verfügung. Die meisten Befragten dieses
male Verkehrsmittel, das selten in Frage gestellt wird: „Und    Typs haben kein eigenes Auto. Bei der Entscheidung ge-
deswegen ist Auto eigentlich so das Standardverkehrsmit-        gen das Auto spielen die Kosten und die verlorene Zeit in
tel“ (A4). Obwohl Peter von manchen Aspekten der Pkw-           Staus und bei der Parkplatzsuche eine entscheidende Rolle.
Nutzung, wie dem täglichen Stau in der Stadt, genervt ist,      Wenn etwas transportiert werden muss oder für Fahrten in
gibt es praktisch keine Abwägung zwischen unterschiedli-        Gebiete außerhalb der Stadt, wird gelegentlich ein Pkw ge-
chen Mobilitätsoptionen. Die Pkw-Nutzung ist ein fester,        nutzt. Das Fahrrad ist für diese Gruppe wiederum keine at-
hochroutinierter Bestandteil des Alltags geworden. Die Ma-      traktive Alternative, da es zu wetterabhängig ist und weni-
terialität des Pkws wird dem Anspruch nach Flexibilität,        ger Komfort als der ÖV bietet. Der ÖV stellt für sie im Ver-
Komfort und Privatheit gerecht. Der Pkw-Besitz wird als ge-     gleich zu anderen Alternativen die komfortabelste, flexibels-
sellschaftlicher Normalzustand gesehen, wie ein Interview-      te sowie zeit- und kosteneffizienteste Mobilität dar. Häufig
ter zum Ausdruck bringt:„Wir haben einen großen und einen       werden verschiedene Verkehrsmittel des ÖV genutzt. Anders
kleinen [Pkw], wie das so üblich ist und da geht es dann bei    als der Allzweck-Pkw-Nutzer Peter hat Olga dabei methodi-
Fernstrecke der große, der kann mehr“ (A1). Als einen typi-     sches Wissen darüber, welche Verkehrsmittel wann und wo
schen Alltagsweg zeichnen die meisten InterviewpartnerIn-       verfügbar sind. Welche Verkehrsmittel letztendlich gewählt
nen ihren Arbeitsweg. Abbildung 2 (links) zeigt beispielhaft    werden, wird situations- und tagesabhängig entschieden –
den täglichen Weg von Peter vom Wohnort zur Schule der          mal ist die Zeitersparnis wichtiger, mal der Komfort. In der
Tochter und dann quer durch die Stadt zur Arbeitsstätte.        Abwägung der Vor- und Nachteile der Alternativen zeigt sich
   Bei gutem Wetter wird nach dem Pkw am ehesten das            ihr Wissen in Form von interpretativem Verstehen. Es besteht
Fahrrad diesen Anforderungen gerecht. Die Selbstbestimmt-       also keine Routine bei der Nutzung eines bestimmten Ver-
heit beider Verkehrsmittel scheint hier ein zentraler Aspekt    kehrsmittels, vielmehr ist die Praktik des flexiblen Agierens
zu sein. Sich an die Materialität eines vorgegebenen Sys-       eine Routine. Die Entscheidung für den ÖV und gegen das
tems, an Abfahrtzeiten und vorgegebene Routen anzupassen,       Auto fällt dabei pragmatisch und nicht, weil eine grundsätz-
wird als Einschränkung empfunden. Daher wird der ÖV auch        liche emotional-motivationale Präferenz besteht. Im Gegen-
nicht als echte Option wahrgenommen. Dabei verfügt Peter        teil scheint der ÖV allein deswegen häufig das Verkehrsmit-
kaum über fundiertes Wissen zu potentiellen Verkehrsmit-        tel der Wahl zu sein, weil es für Olga in vielen Situationen
telalternativen. Stattdessen liegt eine gute Ortskenntnis des   weniger nachteilhafte Aspekte hat als andere Verkehrsmittel.
Straßennetzes (vor allem auf Routinewegen) vor.                 Kein Auto zu haben oder es in der Stadt nicht zu nutzen,
   Der Transport von Personen (insb. Kindern), Tieren und       sondern stattdessen zwischen verschiedenen ÖV-Optionen
Gepäck ist ein weiterer, essentieller Grund für die Pkw-        wählen zu können, wird teils als grundsätzlich positiver Zu-
Nutzung im Alltag. In diesem Punkt wird die Materiali-          stand gesehen: „Es hat tatsächlich was mit Lebensqualität
tät der Pkw-Nutzung besonders deutlich. Das „Alles-unter-       zu tun, dass man sich eben nicht stresst, sondern eben doch
einen Hut-bringen“ eines komplexen Alltags ist vor allem        mit der Straßenbahn fährt. [. . . ] in der Stadt bedeutet Au-
für Mütter ein Grund für die Auto-Nutzung. Der Pkw er-          to eher Stress“(O4). Hier kommt das Wissen im Sinne des

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Abb. 2. Im Interview gezeichneter typischer Alltagsweg vom Allzweck-Pkw-Nutzer (links) und der Pkw-und-ÖV-Kombiniererin (rechts).
Rot = Pkw; gelb = ÖV; hellblau = zu Fuß. Kartengrundlage: FIS Broker 2019.

emotional-motivationalen Wissens (Vermeidung von Stress             mag ich sehr gerne und ich hoffe, dass ich noch länger mobil
als Motiv) und interpretativen Verstehens (Einfluss auf per-        bleibe und mir das erhalten kann“ (P3).
sönliche Lebensqualität) des Typs noch einmal deutlich zum             Bei der Beschreibung eines typischen Weges von Paula
Ausdruck.                                                           (vgl. Abb. 2) – die Fahrt mit dem Pkw von zuhause zur S-
                                                                    Bahnstation und mit der S-Bahn in die Innenstadt – wird klar,
                                                                    dass diese Praxis zu ihrer Routine geworden ist und die Si-
Paula (Intermodale Pkw- und ÖV-Kombiniererin)                       tuation an Ein- und Umstiegspunkten ihr wohl bekannt ist.
                                                                    Meist werden daher die gleichen Orte aufgesucht. Die Rou-
Für die Pkw-und-ÖV-Kombiniererin Paula kommen aus Al-               tine sowie ihr methodisches Wissen tragen zum Sicherheits-
tersgründen oder wegen körperlicher Beeinträchtigungen              und Komfortempfinden Paulas bei, weil spontanes und fle-
manche Verkehrsmittel nur noch eingeschränkt in Frage. Der          xibles Agieren an unbekannten Orten (z.B. ÖV-Stationen)
Aspekt der Materialität, sowohl bezogen auf Verkehrsmit-            dann nicht notwendig ist.
tel als auch auf die Körperlichkeit der Person, wird damit
deutlich. Nutzbar scheinen nur die Verkehrsmittel, die ein
                                                                    Steffen (Intermodaler Fahrrad-Kombinierer)
bestimmtes Maß an Sicherheit, Zugänglichkeit und Komfort
bieten, was aus Paulas Sicht häufig nur der Pkw, teilweise          Der intermodale Fahrrad-Kombinierer Steffen nutzt bevor-
der ÖV und eingeschränkt das Fahrrad sind. Anders als bei           zugt das Fahrrad sowie den ÖV oder Carsharing, häufig
der ÖV-Nutzerin spielt Zeit- oder Geldersparnis eher keine          in Kombination, um an sein Ziel zu gelangen. Bei unbe-
Rolle.                                                              kannten Strecken plant er, oft mit Hilfe von Mobilitäts-
   Im nahen Umfeld scheint die Nutzung des eigenen Fahr-            Apps, welche Verkehrsmittel genutzt und kombiniert wer-
zeuges die komfortabelste und routinierteste Lösung zu sein:        den können. Dabei bedient er sich routiniert verschiedener
„Also das Auto nehme ich sehr häufig, so als Anfahrt, um            Apps, die auf das jeweilige Verkehrsmittel abgestimmt sind.
die Wege, die dann beschwerlich für mich sind, in dem Sin-          Dementsprechend verfügt er auch häufig über ÖV-Karten
ne, dass ich kein Fahrrad nehmen kann, oder dass zu Fuß zu          und Sharing-Mitgliedschaften. Hier kommt, analog zur Pkw-
weit ist“ (P1). Für weitere Fahrten in der Stadt ist die Kom-       ÖV-Kombiniererin Paula, die Verknüpfung von Materialität,
bination des Pkws mit dem ÖV für sie die beste Option, da           (methodischem) Wissen sowie Routinen in seiner Mobilitäts-
sie aufgrund ihrer Erfahrung den als herausfordernd wahr-           praktik zum Ausdruck.
genommenen Innenstadtverkehr und die Parkplatzsuche ver-               Steffen möchte so schnell wie möglich an sein Ziel kom-
meiden möchte. Die Kombination Pkw-ÖV ermöglicht das                men, wobei ihm die flexible Auswahl verschiedener Mobili-
Wohnen am Stadtrand sowie die Partizipation am urbanen              tätsangebote hilft, dies umzusetzen. Häufig wohnt er urban,
Leben in der Innenstadt. Die Interviewten schätzen diese als        arbeitet Vollzeit und hat eine Familie, wodurch tagtäglich
selbstbestimmt wahrgenommene Mobilität sehr: „So lange              verschiedene Wege und Bedürfnisse zeiteffizient gemanagt
es geht behalt ich es [Auto], weil es mir diese Beweglichkeit       werden müssen. Das Fahrrad ist aus Steffens Sicht dafür das
gibt, es doch ein gutes Mittel ist im Alter lebendig zu blei-       schnellste und flexibelste Fortbewegungsmittel. Steffen ver-
ben und dieses Lebendigbleiben bringt ja auch Gesundheit            fügt zudem über gute Ortskenntnisse, was einen weiteren Ef-
mit sich und Wachheit und auch die Neugierde“ (P1). „Das            fizienzfaktor für ihn darstellt.

Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021                                                        https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie                          123

   Das Auto ist dabei für Steffen keine attraktive Alternative,    ist es eine etwas luxuriöse Situation, weil im Grunde brau-
da Autofahren als unnötig und unpraktisch empfunden wird:          chen wir es eigentlich nicht“ (S4). Gleichzeitig erfordert der
„Ich finde Autofahren anstrengend, gerade besonders in der         Lebensalltag Silvias zwischen ihrer Arbeit, ihrem Sozialle-
Stadt. Ich finde das echt nervig. [. . . ] inzwischen ist es so    ben und ihrer Familie ein komplexes Management von Mo-
voll und ich finde es wirklich stressig. Und dann immer diese      bilitätsbedürfnissen. Um diese – idealerweise effizient – be-
Parkplatzsucherei, schrecklich“ (R1). Ein Auto nutzt Steffen       wältigen zu können, fällt Silvias Wahl dennoch gelegentlich
nur, „wenn ich etwas zu transportieren habe, was halt größer       auf den Pkw: „Früher als die Kinder noch zu Hause waren,
ist“ (R3). In diesen Fällen nutzt er aufgrund deren Flexibilität   brauchte man natürlich mehr, dann war ich auch öfter mit
häufig Carsharing-Angebote.                                        dem Auto unterwegs [. . . ] und dann kann man auch gleich
   Generell trifft Steffen seine Wahl eher zweckorientiert und     verschiedene Sache in einem Ritt erledigen“ (S2).
spontan, aber auch präferenzorientierte Gründe, also sein
motivational-emotionales Wissen, beeinflussen seine Mobi-
litätspraktik. Beispielsweise ist es ihm wichtig, beim Fahr-
radfahren an der frischen Luft sein zu können. Zudem denkt
Steffen über das Gemeinwohl und den unterschiedlichen
                                                                   5   Diskussion der Mobilitätstypen und
Nutzen, den Mobilitätsoptionen für ihn und die anderen Ver-
                                                                       Anknüpfungspunkte für die Praxis
kehrsteilnehmer haben, nach.

Situationsabhängige multimodale Nutzerin (Silvia)
                                                                   Die Ergebnisse der Mixed-Methods-Studie zeigen, dass es in
                                                                   der Stadt heutzutage eine ganze Bandbreite an Mobilitätsty-
Die situationsabhängig multimodale Nutzerin Silvia wählt           pen mit unterschiedlichen Praktiken, aber auch unterschied-
pragmatisch und situationsbedingt ein Verkehrsmittel.              lichen, den Praktiken zugrunde liegenden Logiken gibt. So-
Zeitersparnis spielt eine große Rolle. Anders als bei-             wohl die quantitative als auch die qualitative Analyse und
spielsweise der Allzweck-Pkw-Nutzer hat sie aber keine             Darstellung der unterschiedlichen Mobilitätspraktiken und
prinzipielle Präferenz für ein bestimmtes Verkehrsmittel und       vor allem Nutzungspraktiken des Pkws haben gezeigt, dass
keine besonders ausgeprägte Routine. Stattdessen ist ihrem         es nicht den einen „Pkw-Nutzer“ gibt, wie er in einigen Mo-
Unterwegssein ein anspruchsvoller Abwägungsprozess                 bilitätstypologien zum Beispiel neben dem Typ „Fahrrad-
von Vor- und Nachteilen verschiedener Verkehrsmittel               Fahrer“ präsentiert wird (z.B. Hunecke und Haustein, 2007:
vorgeschaltet, bei dem – basierend auf ihren Erfahrungen           „Pkw-Individualisten“ vs. „Radfans“ etc.). Stattdessen wird
und ihrem Wissen – mal pragmatische und mal emotionale             in diesem Beitrag die Vielfalt intermodaler und multimoda-
Aspekte Einfluss zeigen. Zur Arbeit fährt sie beispielsweise       ler Verhaltensweisen bei der Pkw-Nutzung deutlich. Die Er-
mit dem ÖV, weil das die zeiteffizienteste Lösung ist. Sobald      gebnisse bestätigen existierende Studien in dem Punkt, dass
der Weg mit dem Pkw leichter und flexibler zu absolvieren          die Pkw-Nutzung bei einigen Nutzertypen durch emotionale,
ist, wird auch dieser genutzt: „Also Freunde besuchen auch         symbolische Gründe (Schlag und Schade, 2007; Steg, 2005)
wenn Sie nicht unbedingt öffentlich gut erreichbar sind            oder eine feste Nutzungsroutine motiviert ist (Tertoolen et
oder wenn man abends flexibler sein will“ (S2). Silvia             al., 1998; Gärling und Axhausen, 2003). Gleichzeitig sind
schätzt aber auch den Komfort eines Pkws, zum Beispiel             bei anderen Nutzertypen pragmatische Faktoren verantwort-
bei schlechtem Wetter: „Wenn es regnet natürlich. Es ist           lich für die Pkw-Nutzung (Alteneder und Risser, 1995; Steg
gut, wenn man so ein Ding [Pkw] hat, finde ich wirklich            et al., 2001). Die letztendlich vollzogene Praktik – die Pkw-
luxuriös und nicht durch den Regen laufen zu U-Bahn                Nutzung – ist dabei womöglich dieselbe. Die dahinterlie-
und S-Bahn“ (S4). Gute Ortskenntnisse sowie ein breites            genden Logiken unterscheiden sich jedoch stark. Materielle
Wissen über unterschiedliche Mobilitätsangebote sind die           Parameter wie Zeit und Geld, die in der Literatur meist als
Grundlage für die situationsangepasste Entscheidung für ein        die wichtigsten zur Erklärung der Verkehrsmittelwahl ange-
Verkehrsmittel. Teil dessen sind auch Mobilitäts-Apps, die         ben werden, sind nicht für jeden Typ (gleich) bedeutend. So
helfen, den optimalen Weg von A nach B zu finden: „Also            sind für den Allzweck-Pkw-Nutzer emotional-motivationale
da würde ich mich [. . . ] erstmal über die App erkundigen         Aspekte, wie die Qualität der Zeit beim Fahren, wichtig. Das
wie viel Zeit ich brauche und würde dann vergleichen, wie          Fahren wird häufig als Genuss oder me-time empfunden und
viel ich mit dem Auto brauche und würde dann nach der Zeit         wertgeschätzt. Dagegen sind für die situationsbedingte mul-
entscheiden, wie ich am schnellsten eben zurück komme“             timodale Nutzerin und die ÖV-Nutzerin Zeiteffizienz bzw.
(S2).                                                              ersparnis wichtig, und die Aufenthaltsqualität im Verkehrs-
   Grundsätzlich wird das Auto eher als verzichtbarer Luxus        mittel spielt eine untergeordnete Rolle. Es gilt in der Praxis
und nicht als Notwendigkeit wahrgenommen. „Mit dem Auto            Lösungen zu finden, die diese unterschiedlichen Logiken der
ab und zu, muss aber nicht sein, wenn ich rausfahre aus der        Zeitnutzung und -wahrnehmung berücksichtigen.
Stadt schon und wenn ich was Größeres transportieren muss             Für diejenigen, für die das Auto ein Ort der Entspan-
auch, aber sonst steht das meistens rum [. . . ] Im Moment         nung und me-time bedeutet, könnten Luxus-Varianten von

https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021                                                        Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021
124                 L. Gebhardt and R. Oostendorp: Alles eine Frage der Logik?! Erkenntnisse einer Mixed-Method-Studie

on-demand „Ridepooling“3 als iÖV (individualisierter öf-              tofahren zugeschrieben wird (te Brömmelstroet et al., 2017),
fentlicher Verkehr) eine Alternative sein. Aktuelle Beispie-          konnten bestätigt werden. Diese lassen sich einerseits einer
le von On-demand-Mobilitätsangeboten zeigen erste Ideen,              unmittelbaren emotionalen Motivation und andererseits ei-
wie diese Privatheit im iÖV beispielsweise durch mehr Platz,          nem interpretativen Verstehen sozialer Symboliken von Frei-
Distanz zu Mitfahrenden oder Sichtschutz gewährleistet wer-           heit und Unabhängigkeit zuschreiben, bzw. deren Materia-
den könnte.                                                           lisierung im Objekt „Auto“. Ähnliches gilt aber auch für
   In vielen Interviewpassagen kommt zum Ausdruck, dass               den Fahrradfahrer Steffen bezogen auf sein Fahrrad, das für
die Pkw-Nutzung bei der situationsabhängigen multimoda-               ihn Flexibilität und Freiheit symbolisiert. Für diejenigen, die
len Nutzerin (Silvia) und auch bei der ÖV-Nutzerin (Olga)             hauptsächlich ein Verkehrsmittel (Auto oder Fahrrad) nut-
meist aus einem Pragmatismus heraus zu erklären ist. Auch             zen, treiben symbolisch-interpretative Aspekte häufig eine
der intermodale Fahrrad-Kombinierer (Steffen) und die inter-          eher individuale Organisation ihrer Mobilität.
modale Pkw-und-ÖV-Kombiniererin (Paula) nutzen das Au-                   Gemein haben die Allzweck-Pkw-Nutzer und intermo-
to häufig aus organisatorischen Gründen und zur Bewälti-              dalen Fahrrad-Kombinierer die Präferenz, Nutzungsroutine
gung von familiären Sozialaktivitäten, was auch Dowling               sowie Passion für das jeweilige Verkehrsmittel. Die Ana-
und Maalsen (2020) in ihrer Studie in Bezug auf Fami-                 lyse der Logiken hinter diesen Mobilitätspraktiken zeigt,
lienmobilität beschreiben. Auch Manderscheid (2019) ver-              dass bei den Individualverkehrsmitteln eine Entscheidung
mutete bereits eine starke Kopplung von Familienmobili-               für diese gefällt wird, wohingegen die Nutzung öffentli-
tät und Auto-Praktiken mit solchen Logiken. Der private               cher Verkehrsmittel eher das Ergebnis der Entscheidung ge-
Pkw erfüllt damit häufig die Transport-, cocooning- und               gen andere ist (Pkw ist zu teuer, Fahrrad ist zu wetterab-
Bequemlichkeits-Bedürfnisse einer Familie. Kent und Dow-              hängig etc.). Das Herz der ÖV-Nutzerin oder der Pkw-und-
ling (2016) mutmaßen, dass die Idee von „Mobility-as-a-               ÖV-Kombiniererin schlägt also nicht für die gewählte Op-
Service“ (MaaS)4 ein Konzept sein könnte, das der Flexi-              tion. Emotional-motivationale und symbolisch-interpretative
bilität, die ein Auto bietet, nahekommt und somit eine Al-            Aspekte sind für sie weniger einflussreich. Ausschlaggeben-
ternative zum privaten Pkw sein könnte. Bestimmte Anfor-              der sind die materiellen Anforderungen ihrer Mobilität, die
derungen bzw. Situationen könnten dadurch adressiert wer-             ein pragmatischeres und weniger stark routinisiertes Abwä-
den. Vor dem Hintergrund der Ergebnisse dieser Studie ist je-         gen erfordern.
doch nur schwer vorstellbar, dass das Familien-Auto, das ei-             Für Paula, die intermodale Pkw-und-ÖV-Kombiniererin,
ne Reihe von Aufgaben erfüllt, dadurch gänzlich ersetzt wer-          sind weder äußere materielle Beschränkungen wie Zeit und
den kann. Auch werden die digitale Informationsbeschaffung            Geld noch interpretativ-symbolische, affektive Gründe ein
und Bedienung der neuen Angebote von vielen der Befragten             entscheidender Faktor bei ihrer Praxis. Paula hat viel Zeit
zunächst als unzufriedenstellend wahrgenommen. Das Her-               als Rentnerin und ihr ist bewusst, dass die Haltung eines ei-
unterladen einer weiteren App, die Anmeldung etc. werden              genen Pkws kostenintensiv ist. Dennoch ist ihr der Besitz ei-
als Barriere gesehen. Eine reduzierte Komplexität digitaler           nes eigenen Autos sehr wichtig. Entscheidender Faktor ist
Anwendungen würde in vielen Fällen zu einer höheren Nut-              für sie die gesellschaftliche Teilhabe – wie zum Beispiel der
zerakzeptanz führen.                                                  Theaterbesuch in der Innenstadt –, der ihr durch den Besitz
   Es ist festzuhalten, dass das Auto nicht für alle Autonut-         eines eigenen Autos auch im hohen Alter möglich ist (ana-
zerInnen, mit Alteneder und Risser (1995) sprechend, „ein             log das „Motiv der Zusammenkunft“ und der „routinisierte
Symbol für tief verwurzelte ideologische und psychologi-              Rhythmus sozialer Ereignisse“ bei Wilde, 2014: 151–152).
sche Projektion ist und rationale Argumente eher im Hin-              Der Mobilitätstyp Paula macht deutlich, dass auch Angebote
tergrund stehen“ (1995: 80). Während für den Allzweck-                für ältere, möglicherweise in ihrer Mobilität eingeschränkte
Pkw-Nutzer (Peter) das Wohlbefinden, die Unabhängig-                  und weniger digital- und technikaffine Bevölkerungsgruppen
keit und andere interpretativ-symbolische und emotional-              sowie in weniger urbanen Stadtquartieren geschaffen werden
motivationale Aspekte sowie die etablierte Routine des Au-            müssen.
tofahrens durchaus wichtig sind, sind für Silvia materielle              Vergleicht man die Ergebnisse dieser Studie mit denen
Anforderungen, wie zum Beispiel der Transport von Gü-                 vergangener Typologie-Studien (etwa Götz et al.,1998; Prill-
tern oder die Beförderung von Personen, stärkere Gründe               witz und Barr, 2011), dann lassen sich – trotz der zeitlichen
für die Praxis der Autonutzung. Individualistische Einstel-           Distanz und einer anderen theoretischen Brille – Parallelen
lungen, wie ein Gefühl der Unabhängigkeit, das oft dem Au-            feststellen. Ein auffälliger Unterschied zu diesen Typologien
                                                                      ist das Aufkommen von situativen, multimodalen Nutzungs-
   3 Beim Ridepooling werden mehrere Personen mit ähnlichem           praktiken von Pkws. Das Aufkommen von alternativen Mo-
Ziel anhand eines IT-Algorithmus gebündelt (Kloth und Mehler,         bilitätsangeboten und die höhere Planungsflexibilität durch
2018: 37f).                                                           digitale Angebote sind dafür wahrscheinliche Auslöser. Ge-
   4 Mobility-as-a-Service (MaaS) kombiniert öffentliche und pri-     nerell bestätigt sich aber die schon damals gemachte Beob-
vate Verkehrsangebote unterschiedlicher Anbieter mittels einheitli-   achtung einer tiefgreifenden Verwurzelung der Automobili-
chem Buchungsportal (Bitkom, 2018).                                   tät auf der interpretativ-symbolischen Ebene sowie auf der

Geogr. Helv., 76, 115–127, 2021                                                           https://doi.org/10.5194/gh-76-115-2021
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