Appetithappen - Reformierte Stadtkirche

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Appetithappen - Reformierte Stadtkirche
Appetithappen

      Die zaghafte Wiederfreigabe des Kulturbesuchs enthüllt noch nicht den viel
kolportierten Kulturhunger. In den durch Hygieneauflagen reduziert zugänglichen
Ausstellungsräumen „tummeln“ sich nur wenige Menschen, weit weniger als zuläs-
sig. Der Hunger nach Kultur mag groß sein, aber der Appetit scheint stark beschä-
digt. Da aber der Appetit bekanntlich beim Essen kommt, sind Rundgänge durch die
Musentempel empfehlenswert. Einige Häuser locken mit neuen Ausstellungen. Doch
selbst ein Rundgang durch das Kunsthistorische Museum, wo derzeit Sonder-
schauen erst in Vorbereitung sind, lohnt es sich, um Bekanntes wieder zu genießen
sowie lange Verborgenes unter den Neu- und Umhängungen zu entdecken. Wie et-
wa die beiden Gemälde von Otto van Veen (Lehrer von Rubens), die lange Zeit, ob
ihres provokanten und irritierenden Sujets, verschämt im Depot zurückgehalten
wurden.
                                        Die Perserinnen

Amazonen und Skythen

      Bis vor ein paar Jahren die amerikanische Künstlerin R. H. Quaytman bei ei-
nem Besuch in der Werkstatt des KHM auf diese stieß und ihre Restaurierung unter-
stützte. Sie ließ sich von ihnen inspirieren und benutzte Marcantonio Raimondis
Kupferstich „Das Urteil des Paris“ für Übermalungen der Bilder und Übertragungen
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in andere Materialien, die sie dann 2017/18 in ihrer Ausstellung „An Evening. Chap-
ter 32“ in der Secession neben dem ausgeliehenen Bild der Perserinnen zeigte,
während die Amazonen bereits wieder in die Schauräume des KHM einzogen. In
den bei Herodot und Plutarch entdeckten Szenen antiker Frauenpower zeigt sich ein
eher verdrängtes Bild von Frauen als Kriegstreiberinnen. Ganz anders jedenfalls als
die an den Rand der Nachrichten gedrängten Szenen während der Jugoslawienkrie-
ge zum Ausgang des letzten Jahrhunderts. Damals haben in Serbien Frauen Kaser-
nen belagert, um ihre Männer, Väter und Söhne herauszuholen und am Einsatz im
Bruderkrieg zu hindern. Das wurde nicht überall goutiert, wie auch Österreich De-
serteuren das Asylrecht verweigerte.

      Das Leopoldmuseum hat sich seinerseits in den eigenen Beständen umge-
tan und eine Sonderschau zusammengestellt MENSCHHEITSDÄMMERUNG. Zwi-
schen lyrischer Empfindsamkeit und sachlicher Weltauffassung. Die Ausstel-
lungsstücke verdanken sich fast ausschließlich der Sammeltätigkeit des Ehepaars
Elisabeth und Rudolf Leopold und befinden sich in den Beständen des Leopoldmu-
seums sowie der Privatsammlung Leopold. Ergänzt werden sie für die Präsentation
durch einige wenige Objekte aus anderen Privatsammlungen in Wien. Der an-
spruchsvolle und vielverheißende Titel versteht sich als Hinweis auf den in der kur-
zen Zwischenkriegszeit einsetzenden Aufbruch in die malerische Moderne Öster-
reichs. Ein Augenschmaus schlechthin. Die farbenfrohen Szenen des Lebens in den
Alpendörfern mit dem charakteristischen und hervorstechenden Schneeweiß der
Ölgemälde von Alfons Walde. Den ähnlich stämmig wiedergegebenen Gestalten in
den Bildern von Albin Egger-Lienz, der den Krieg anprangert und den Blick auf die
Kriegsfolgen und die Verelendung lenkt.

Albin Egger-Lienz, Protest der Toten, erster Entwurf, 1920

     Die ästhetischen Spielereien in grell bunten Stillleben von Herbert Boeckl
oder Rudolf Wacker bis hin zu den kubistischen Ansätzen bei Alfred Wicken-
burg. Porträts und Landschaftsmalereien von Hans Böhler, Josef Dobrowsky,
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Anton Faistauer, Sergius Pauser, Anton Kolig und Gerhart Frankl. Die Vielfalt
und Farbintensivität beeindrucken und geben einen Einblick in die kurze Epoche ei-
nes Neuanfangs, der so schnell vom Kulturfaschismus abgebrochen wurde. Die
Wiedergewinnung ist den Besuch allemal wert.

Hans Böhler, Badener Landschaft, 1925    Rudolf Wacker, Die hysterische Puppe, um 1923

      In den Räumen ihrer Tietze Galleries, die im Haus den Fotografien vorbehal-
ten sind, hat die Albertina durch ihren Kurator Walter Moser eine spannende
Ausstellung der Porträtfotografie zusammengestellt, die die radikale Erneuerung in
diesem Metier in Deutschland und Österreich ebenfalls der Zwischenkriegszeit prä-
sentiert unter dem Titel Faces. Die Macht des Gesichts.

      Kurt Kranz, Augen, 1935/36
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Eine Entdeckungsreise in die Ausdruckssprache der Stummfilmzeit. Videobei-
spiele demonstrieren die Korrespondenz zwischen Kameraauge und den Spielenden,
die das Fehlen der hörbaren Sprache durch eine intensive mimische Sprache insbe-
sondere des Gesichts ersetzen. Porträtserien wie die von Helmar Lerski, der in
Nahaufnahmen des immer gleichen Gesichtes durch Variationen des Lichts aber
auch der Gestik des Modells eine schier nicht enden wollende Vielzahl unterschiedli-
cher Persönlichkeiten demonstriert und durchspielt. Dazu Bilder des Langzeitprojek-
tes von August Sander „Menschen des 20. Jahrhunderts“. Prominente wie Unbe-
kannte aus mannigfachen beruflichen oder privaten Bezügen. Inszenierte Selbst-
porträts von Marta Astfalck Vietz und Gertrud Arndt, die sich in wechselnden
Rollen selbstbewusst und emanzipiert zeigen. Experimentelle Installationen – „Kopf
mit Taschenlampe“ von Oskar Nerlinger – oder Irene Beyers Clownerie („ohne
Titel“). Extremnahaufnahmen von Körperpartien bis hin zu den „Wellenbergen der
Stirn“ von Paul Edmund Hahn. Eine Schau, die mehr als einen Einblick in eine Zeit
anbietet. Eine Erkennen der Bedeutung des Gesichtes, das wir derzeit umstände-
halber nur in verdeckter Form dem Gegenüber anbieten können.

                                                Selbstporträt mit Pinsel und Maltafel
Edmund Kesting, ca. 1929

      Das 21er Haus des Belvedere lädt anlässlich seines 100. Geburtstags zur
Wiederbegegnung mit dem Ausnahmekünstler des letzten Jahrhunderts ein: Jo-
seph Beuys, Denken. Handeln. Vermitteln. Eine geradezu archäologische Prä-
sentation, die sich der Herausforderung stellt, ein Werk, das im direkten Vollzug zur
Kunst wurde, wieder lebendig erfahrbar zu machen. Und das ist mehr als die
Baumpflanzung während der Pressekonferenz am 3. März im Skulpturengarten des
Hauses in Erinnerung und Fortsetzung der großen Pflanzaktion von 7.000 Eichen,
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die er zur Documenta in Kassel 1982 begann und die bis über seinen Tod hinaus
dauerte, bzw. der Baumpflanzung bei seinem Wienbesuch. Nicht von ungefähr ge-
steht die Generaldirektorin Stella Rollig: „Joseph Beuys auszustellen bietet auch
die Chance, die traditionelle Rolle des Museums und die eigene Museumsarbeit ei-
ner kritischen Prüfung zu unterziehen.“ Er hat den Kunstbegriff grundlegend erwei-
tert und mit der Behauptung, dass jeder Mensch Künstler sei, generalisiert und poli-
tisiert.

      Damit ist weniger gemeint, dass in jedem ein Munch oder jeder eine Moder-
sohn-Becker steckt oder alle so krakelhaft zeichnen könnte, wie er sich in lässiger
Pose erlaubt hat. Es ist die soziale Zuordnung und Wahrnehmung als ein Kunstwerk
(„Soziale Plastik“) in einer Welt, die als umfassendes Kunstwerk erkannt und gelebt
werden möchte. So wollte er als Kunstwerk, als das er sich in seiner Kunst, seinen
Auftritten und Aktionen gab, sein Publikum in den Prozess der gesellschaftlichen
Erneuerung hineinziehen. Als Mitbegründer der Partei der „Grünen“ und der Kandi-
datur für den Deutschen Bundestag und das Europaparlament steht er in Person für
ökologisches und gesellschaftliches Engagement, das er auf naturwissenschaftliche
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Basis stellte wie auch der Inspiration aus Naturreligionen oder in Selbsterfahrungen
aus dem Tierreich. In New York 1974 lebt er in einer Galerie tagelang alleine abge-
schottet mit einem Kojoten. Oder er erklärt 1965 vor Publikum einem toten Hasen
Bilder. Von den Aktionen, die er auch gerne in Wien veranstaltet hat, sind nurmehr
die Relikte zu sehen wie etwa Regenrinnen einst unter der nassen Wäsche oder
Schläuche und die „Honigpumpe“. Videos und Textzeugnisse der Ereignisse geben
jedoch über den antiquarischen Blick hinaus die Chance, sich hineinziehen zu las-
sen. Im Nacherleben entfaltet sich der Anspruch und die Botschaft, die nichts von
ihrer Aktualität verloren hat.

      Nach der sensationellen Gerhard Richter-Ausstellung ist der Direktorin des
Bank Austria Kunstforum Ingried Brugger gemeinsam mit ihrem Team unter den
derzeit erschwerten Bedingungen die zweite große und lange geplante Ausstellung
gelungen. Eine umfassende Retrospektive der Werke von Daniel Spoerri, des in
Rumänien geborene Schweizers, der in Wien lebt und in Hadersdorf am Kamp sein
„Kunst-Staulager“ mit Esslokal unterhält und gerade 91 Jahre alt geworden ist. An-
ders als in der Beuys-Schau erscheinen hier die Relikte mancher Aktion und Per-
formance nicht als archäologische Versatzstücke, sondern als transformierte
Kunstwerke. Die Reste von diversen Tischgelagen sind zwar im Letztzustand kon-
serviert und festgeklebt aber durch eine 90°-Drehung von der Horizontalen in die
Vertikale als Wandtafel aufgezogen. Damit geraten sie zur Komposition, die über
die Erinnerung oder den Verweis auf ein Ereignis hinausgeht, den Blick konzentriert
und andere Assoziationen weckt. Als Erfinder dieser „Fallenbilder“ („Tableau piège“)
hat er das Sammeln und Zusammenstellen exzessiv erweitert.

#26, Flohmarkt Wien, April 2016 (Was bleibt)
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Werkzeug- und Objektsammlun-
gen angeheftet und betitelt – oder nicht
– setzt er Akzente, hebt heraus und
lässt neu entdecken. Und anders als
Beuys, mit dem ihn das ökologische In-
teresse verbindet (ein ironisch entlar-
vender Film vom rückwärts laufenden
Weg des Rinderschnitzels oder die Brot-
objekte), spiegelt sich bei Spoerri in sei-
nen Werken ein verspieltes Kind und ein
Schelm, der sich seinen Teil denkt. Nicht
von ungefähr gehören zu seinen Freun-
den und Kolleginnen beispielsweise Niki
de Saint Phalle und Jean Tinguely.
Das Leben ist bunter als man denkt.
Aber man kann es sich ausmalen lassen.

               Yadim, 2010
               Assemblage von Tora-Zeigern

       Apropos noch einen Abstecher hinüber ins NHM: An die 900 Soldatinnen und
Soldaten sind im Ausland auf Friedensmission. Der überwiegende Teil in Afrika und
dem Nahen Osten. Die Vorbereitung für den jeweils 6-monatigen Einsatz betrifft
neben der Einweisung in den Auftrag, die Orientierung über die örtlichen und klima-
tischen Bedingungen sowie die Einschulung in den Umgang mit der Bevölkerung
auch die Aufklärung über die natürlichen Gefahren in der fremden Umgebung. Das
betrifft insbesondere die Berührung mit unbekannten giftigen Pflanzen und noch
wichtiger die Begegnung mit der Tierwelt. Der nötige Abstand will gehalten sein zu
beispielsweise den trägen, eher pflanzenfressenden Nilpferden, die zu lebensgefähr-
lichen Angreiferinnen werden, wo sie ihre Jungtiere schützen. Aber auch Miniaturle-
bewesen, wie Einzeller, die durch Fliegen verbreitet werden und schwere Hautschä-
den hervorrufen können. Am ehesten denkt man aber an die vielen bei uns nur in
den Zoos zu sehenden Schlangen, Spinnen, Skorpione oder stechende Insekten.

                                                   Ministerin Klaudia Tanner präsentiert die
Datenbank gemeinsam mit der Generaldirektorin des NHM Katrin Vohland sowie Silke Schweiger,
Brigadier Friedrich Teichmann und Christoph Hörweg
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Das österreichische Bundesheer arbeitet seit fast 10 Jahren gemeinsam mit
der Forschungsabteilung des Naturhistorischen Museums zusammen und hat mit
der Erstellung einer Datenbank begonnen. Darin werden für alle Einsatzgebiete die
Tiere erfasst und über sie aufgeklärt sowie die Schutz- und Rettungsmaßnahmen
einschließlich der Standorte der nächstgelegenen Spitäler aufgelistet. Die Zusam-
menarbeit ist ein Win-win-Unternehmen und hat inzwischen auch bei anderen Inte-
resse gefunden wie der deutschen Bundeswehr. Das Heer profitiert von der Fach-
kompetenz der Spezialistinnen und Spezialisten des Museums. Und diese wiederum
gewinnen weitergehende Erkenntnisse aus den Rückmeldungen und Erfahrungen
der Heeresangehörigen vor Ort und der Zusammenarbeit mit den betreffenden
Stabsstellen. Die Ausstellung im NHM „Gefährliche Fauna“ präsentiert diese Er-
folgsgeschichte und wird wohl nicht nur Fernreisende interessieren. Die Faszination
der fernen Gefahr wird das Ihre tun.

                                      Bilder und Text Johannes Langhoff
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