Auf Lampedusa ist die Flüchtlingskrise zurück
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Auf Lampedusa ist die Flüchtlingskrise zurück Stand: 11.05.2021 19:37 Uhr Von Salvo Palazzolo Warten, frieren, hoffen: Flüchtlinge nach ihrer Ankunft auf Lampedusa Quelle: AP Im Hafen von Lampedusa sind an einem Tag mehr als 2000 Flüchtlinge angekommen. Die Lage vor Ort ist desaströs. Obwohl sie absehbar war, fehlt es den Helfern vor Ort an allem. Ein Besuch zeigt eine Insel im Ausnahmezustand, die noch Schlimmeres befürchtet.
Der kleine Ismail hat Angst davor, auf den Pier zu gehen, durch eine Menschenmenge dicht an dicht stehenden Frauen und Männer, die sich an ihren Decken festklammern. Es ist vier Uhr morgens und sehr kalt. „Ich muss auf die Toilette“, flüstert der algerische Junge. Er ist sieben Jahre alt. Sein Vater nimmt ihn in die Arme und versucht, sich gemeinsam mit einer freiwilligen Helferin einen Weg zu der einzigen verbliebenen Chemietoilette zu bahnen, die 732 Menschen zur Verfügung steht. So viele sind in den letzten Stunden hier am Hafen von Favaloro auf Lampedusa gelandet. „Als wir die Tür zu der Toilette öffneten, schlug uns fürchterlicher Gestank entgegen“, erzählt die Helferin von „Mediterranean Hope“, dem Auswanderer- und Flüchtlingsprogramm der evangelischen Kirche. „Ich habe mich geschämt, denn die Toilette war in einem schlimmen Zustand. Und trotzdem hat Ismail gelächelt. Und dann sagte er zu mir: ‚Ich bin froh, dass ich in Ihr Land gekommen bin.‘“ MIGRATION
Abschied von der Willkommenskultur Es ist ein Pier der Hoffnung, und ein Pier der Schande. Die 20 innerhalb nur eines Tages angekommenen Boote und die Ankunft von 2128 Flüchtlingen haben das Hilfssystem vor Ort in eine Krise gestürzt. Lampedusa liegt zwischen Nordafrika und der Hauptinsel Sizilien, zu der sie verwaltungsmäßig gehört. Auf der Insel leben normalerweise rund 6000 Menschen. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Flüchtlinge verdreifacht, die Situation ist so schlimm wie lange nicht mehr. Die Hilfsorganisationen vor Ort sind schlecht ausgestattet, Politiker rufen die Regierung in Rom dazu auf, endlich zu reagieren. Ein Schiff der Küstenwache bringt die Migranten nach Lampedusa Quelle: REUTERS Im Flüchtlingszentrum in der Mitte der Insel ist kein Platz mehr: Es kann 250 Personen aufnehmen, doch schon jetzt sind dort mehr als 1000 eingepfercht. Hinzu kommt, dass das Quarantäneschiff wegen aufkommender Winde nicht andocken kann.
Am Pier von Favaloro herrscht eine bedrückende Stille. Ein junges Somali von vielleicht 19 oder 20 Jahren kann sich zwar nicht verständlich machen, zeigt den Freiwilligen aber immer wieder die Narben auf seinem Rücken. Und dann flüstert er: „Libyen“. Und das Jahr: „2017“. Marta Bernardini von „Mediterranean Hope“ erklärt: „Wir haben herausgefunden, dass er in einem Gefangenenlager schwer gefoltert worden ist.“ UMSIEDLUNG So wird die humanitäre Hilfe zur Migrationslotterie So wie Kalifa, eine junge Somalierin, die von den Helfern in die Poliklinik gebracht wurde. „Sie konnte nicht gehen“, erklärt Helferin Elisa Biason. „Sie hat erzählt, dass sie gemeinsam mit ihrer Schwester von zu Hause wegging. An der Grenze zu Libyen wurden sie entführt. Und dann begann auch für sie die Tortur im Gefangenenlager: Sie wurde geschlagen und gefoltert. Dabei hat der Gefangenenwärter alles gefilmt, um die
Familien dazu zu bringen, sie freizukaufen. Ihre Schwester starb, sie hat man schließlich auf der Straße ausgesetzt.“ Favaloro ist auch der Pier der Verzweiflung. „Als Kalifa von ihrer Schwester erzählte, konnte sie nicht aufhören zu weinen.“ Es ist aber auch der Hafen der Entrüstung. Vom Pier aus sieht man die vielen Ferienhotels, die im Moment alle geschlossen sind. Lampedusa ist in der Corona-Pandemie eine rote Zone. Der Strom reißt nicht ab „Es fühlt sich so an, als wären wir wieder im Jahr 2011“, sagt Paola La Rosa, eine langjährige Freiwillige des Solidaritätsforums Lampedusa. „700 Menschen hier auf dem Pier, erst in der Kälte, dann in der glühenden Mittagshitze. Und das mit nur einer kleinen Flasche Wasser und einem Päckchen Cracker. Es ist eine dramatische Situation.“ Und Marta Bernardini fragt: „Wir haben doch schon vor ein paar Wochen gemerkt, dass wieder mehr Boote landeten. Wie ist es nur möglich, dass niemand so eine Situation vorausgesehen und die Aufnahmemaschinerie entsprechend ausgerüstet hat?“ Flüchtlinge auf der Insel Lampedusa Quelle: REUTERS
Die Flüchtlinge auf dem Pier berichten, dass noch weitere Boote unterwegs sind. Tatsächlich werden mitten in der Nacht vier weitere Barkassen gerettet, mit 635 Personen an Bord, die aus Tunesien und Libyen kommen, aber auch aus Syrien und Bangladesch. Und schließlich landen am frühen Nachmittag noch 97 weitere Migranten, darunter vier Frauen und zwei Kinder. Die Küstenwache hatte sie zwölf Seemeilen vor der Küste entdeckt. Für die Helfer vor Ort ist es jetzt ein Wettlauf gegen die Zeit, den Pier freizumachen. Dann verbreitet sich die Meldung, dass 500 Personen aus Contrada Imbriacola, einem anderen Hotspot auf Lampedusa, in andere Zentren in Italien transferiert werden sollen. Und so können die Migranten auf dem Pier endlich in einen Bus einsteigen. Es ist vier Uhr nachmittags. BOSNIEN
Hier zeigt sich das Scheitern der EU-Asylpolitik Die Angst, dass weitere Boote landen werden, ist groß. Die Feuerwehr trifft ein und stellt einige Zelte auf. Auch eine weitere Toilette wird errichtet. Ein Freiwilliger, der seit 24 Stunden nicht mehr geschlafen hat, meint: „Diese Leute barfuß auf diesem Betonsteg laufen zu sehen, zwischen Müllsäcken und leeren Abfalleimern, das hat bei uns ein Gefühl von großer Bitterkeit hinterlassen.“ Der Pier der Schande ist aber auch ein Pier der Solidarität. Da sind zum Beispiel die Polizisten der Mobilen Abteilung: Zwei Beamte machen Platz auf diesem menschlichen Teppich, um einem Mann helfen zu können, der nicht aus eigener Kraft gehen kann. Und auf der anderen Seite des Piers die Sanitäter der Ambulanz, die für jeden, zu dem sie kommen, ein Lächeln haben, und das schon seit vielen Stunden. MIGRATION WÄHREND CORONAKRISE Die neue Flüchtlingsroute
„Wir sind fünf Ärzte und drei Krankenpfleger für alle Flüchtlinge, die hier in den letzten Stunden gelandet sind“, erklärt Francesco Cascio, Verantwortlicher der ambulanten Klinik. „Wir arbeiten mit der höchstmöglichen Sorgfalt, um diesen Menschen zu helfen, die hier erschöpft ankommen. Und vor allem müssen wir zu vermeiden suchen, dass sich hier das Coronavirus plötzlich ausbreitet, bei 1000 Menschen, die sich auf dem Pier zusammendrängen.“ Auch Bürgermeister Salvatore Martello macht sich Sorgen: „Angesichts einer derartigen Anzahl von Menschen muss man begreifen, dass man nicht nur bei der Ankunft, sondern vor allem bei der Abreise handeln muss.“ Martello fordert Ministerpräsident Mario Draghi auf, die Migration ungeachtet der Corona-Pandemie auf die politische Tagesordnung zu setzen. Der frühere Innenminister Matteo Salvini von der Lega-Partei forderte ebenfalls ein Krisengespräch. Mittlerweile ist es heiß geworden auf dem Pier. Dennoch verteilen die Freiwilligen heißen Tee an die gerade gelandeten Männer und Frauen. Deren Kleidung ist völlig durchnässt. Sie sind erschöpft. Und endlich in Sicherheit. Dieser Text stammt aus der Zeitungskooperation Leading European Newspaper Alliance (LENA). Ihr gehören neben WELT die italienische Zeitung „La Repubblica“, „El País“ aus Spanien, „Le Figaro“ aus Frankreich, „Gazeta Wyborcza“ aus Polen, „Le Soir“ aus Belgien sowie aus der Schweiz „La Tribune de Genève“ und „Tages-Anzeiger“ an.
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