Behinderungsbilder in Griechenland - Geschichte und Gegenwart

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München,13.03.14

Behinderungsbilder in Griechenland

Geschichte und Gegenwart
- Nicht jedes Neugeborene Kind wurde ohne weiteres der spartanischen Erziehung für
würdig befunden ( dies bezieht sich nur auf den Staat Sparta in der Antike). Eigens dafür
bestellte alte Männer begutachteten, ob das Kind "lebenstüchtig" sei. Wenn es stark und
wohlgebaut war, überließen sie es dem Vater es aufziehen. War es aber schwach und
unschön gestaltet, so ließen sie es in den sogenannten Apothetai, ein tiefes Loch am
Taygetos Gebirge, werfen, weil man glaubte, dass ein Mensch, der schon vom Mutterleib
aus an einen schwachen und gebrechlichen Körper hat, sowohl sich selbst als auch dem
Staat zur Last fallen müsse.
Hitler und seine NS-Ideologen haben diese Maßnahmen der Spartaner "zur Reinerhaltung
der Rasse" sehr geschätzt, so dass sie sich zur Begründung der im zweiten Weltkrieg
ablaufenden Aktion der Vernichtung "lebensunwürdiger Kinder", unter anderem auf den
spartanischen Brauch beriefen ( C.W. Weber, die Spartaner, Dssd.1977).

Dabei verehrten die Hellenen ihre 12 Götter, darunter auch Hephaistos, Gott der
Schmiede und ein kluger Kopf, ein Erfinder, der eine Geh-Behinderung hatte. So heißt es
in Homers Odyssee (achter Gesang 305-310):
„Vater Zeus, ihr anderen unsterblichen Götter! Kommt und schaut den abscheulichen
Frevel an, den mir Aphrodite und der Bösewicht Ares (er hatte sie in seinem Ehe-Lager
ertappt) antun. Weil jener so schön ist und gerade von Beinen, ich aber solche
Krüppelgestalt! Doch keiner ist Schuld an der Lähmung als die Eltern allein! Oh, hätten sie
mich nimmer gezeugt.“ (Nach einer Befragung wiederholt sich diese Schuldzuweisung an
die Eltern in den Aussagen von behinderten Menschen der heutigen Zeit.)

- Menschen mit Epilepsie wurden als besondere, von den Göttern gesegnete, Wesen
betrachtet.

- Im gegenwärtigen Hellas sind Behinderungen epidemisch geworden, aber es geschehen
noch “Wunder“, auf Zakynthos gibt es „blinde Menschen“, die Auto fahren können, in
Kalymnos tauchen sie nach Schwämmen.

- Im Juli 2013 deckte die Sozialkasse IKA eine Reihe von Scheinbehinderten auf, die
aufgrund von ärztlichen Gutachten Blindengeld bekamen. Denn Not macht erfinderisch.

- „Kinder und Erwachsene mit besonderen Bedürfnissen“, so die offizielle Bezeichnung,
haben tagtäglich folgende Probleme zu lösen (Es sind zwar organisatorische
Schwierigkeiten, aber bezeichnend für die ignorante Begegnung durch die soziale
Umgebung und die politisch Zuständigen):
Die wichtigsten Örtlichkeiten sind nicht zugänglich. Es gibt kaum Rampen oder Übergänge
auf den Bürgersteigen, bei öffentlichen Gebäuden, in Schulen, Universität, Theater usw.,
oft sind selbst Bürgersteige, die behindertengerecht sind, durch Autos, Mopeds oder
Müllcontainer zugestellt.

- Der Staat hat sich gegenüber der EU verpflichtet, alle öffentlichen Gebäude bis 2020
behindertengerecht auszurüsten. Bis dahin müssen jedoch noch vielfältige Probleme
gelöst werden. Es ist ein weiter und schwieriger Weg.
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Auswirkungen der Krise
Die meisten Anwesenden hier haben im letzten Jahr die Schlagzeilen um die Krise in
Griechenland mitverfolgt und können sich ausdenken, welche Konsequenzen daraus
für die Sozialleistungen zu erwarten sind.
Menschen mit Behinderung können aufgrund dessen ihre täglichen Bedürfnisse nicht
oder nur begrenzt erfüllen.

Für behinderte Menschen und ihre Angehörigen in GR gilt: Erhöhte
Lebenskosten, intensiverer Unterstützungsbedarf, höhere eigene
Leistungserbringung bei medizinischen Maßnahmen und schwierigerer Zugang zu
Bildung und Beschäftigung.
Im letzten Jahr gab es Demonstrationen von Behinderten, Organisationen und
Interessenten unter der Forderung:

„Ja zu einem Leben mit Würde“ und „Gleichheit und Respekt für Alle“

Aber das Sozialschutzsystem war schon vor der Krise schwach ausgebildet. 2010
wurden die Ausgaben für Gesundheit und Integration um 8,7% gekürzt, die
Arbeitslosenquote für Menschen mit Behinderung im Jahr 2002 war 8,9%, im Jahr
2011 war sie 16,3%, also doppelt so hoch.

Diese Zahlen scheinen gering im Vergleich zu der Arbeitslosenquote von jungen
Menschen, die bei 50% liegt.

Behinderte Arbeitnehmer sind durch besondere Gesetze geschützt, sind also nicht so
leicht kündbar.

Zahlen und Fakten
Weitere Details sind unter den ANED-Indikatoren für die Gleichbehandlung von
Menschen mit Behinderungen in Europa zu finden. Die folgenden Eckpunkte, die für
die Europäische Strategie zugunsten von Menschen mit Behinderungen 2010–2020
und die Europa-2020-Ziele besonders relevant sind, wurden aus verschiedenen
Datenquellen auf europäischer und nationaler Ebene zusammengefasst.

Indikatoren im Bereich der Bildung:
Der Anteil von jungen Menschen (zwischen 18 und 24 Jahren) mit Behinderungen
die die Schule abgebrochen haben, lag in Griechenland bei 23,5 %, im Vergleich zu
5,9 % bei Menschen ohne Behinderungen.

Indikatoren im Bereich der Beschäftigung:
Die Beschäftigungsquote von Menschen mit Behinderungen (zwischen 20 und 64
Jahren) lag in Griechenland bei 31,4 % (Männer: 39,6 %, Frauen: 24,7 %),
gegenüber 68,1 % bei Menschen ohne Behinderungen.
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Indikatoren im Bereich Armut und Einkommen:
Der Anteil von Menschen mit Behinderungen (zwischen 16 und 59 Jahren), die in
armutsgefährdeten Haushalten leben oder von sozialer Ausgrenzung betroffen sind,
lag in Griechenland bei 22,6 % (Männer: 23,9 %, Frauen: 21,6 %), im Vergleich zu
5,0 % bei Menschen ohne Behinderungen.

Fast ein Drittel der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze. Viele sind verzweifelt.
Fast täglich wird in den Medien von Selbstmord als Folge der wirtschaftlichen bzw.
sozialen Ratlosigkeit berichtet. In den letzten 4 Jahren waren es 4.000.

In Griechenland leben 2,2 Mill. Menschen unter der Armutsgrenze. 440.000 davon
sind Kinder. Das bedeutet, dass 23% der Kinder unter der Armutsgrenze leben, in
Deutschland sind es 17%.
Die niedrigste Quote hat Dänemark mit 10,9 %, die höchste Quote hat Bulgarien mit
26,9%.

In dieser Notlage sind sehr viele Projekte aus Eigeninitiative entstanden. Eines hebt
sich besonders hervor, das ohne Unterscheidung alle Kinder aufnimmt, deren
tägliche Ernährung von den Eltern nicht sichergestellt werden kann.
Die Organisation " Lächeln des Kindes" nimmt alle Kinder auf, damit sie wenigstens
eine warme Mahlzeit am Tag bekommen können.

Exkurs zum Thema Co-pädagogische Erziehung
Ein Vergleich zwischen der optimistischen Aussage von „Aktion Mensch“ und den
Angaben von ANED:

Aussage Aktion Mensch:
Inklusive Bildung - ein weiter Weg?
Deutsche Politiker haben in den vergangenen Monaten viel auf Griechenland
herumgehackt: das Land gebe zu viel Geld aus und setze die Sparpläne nicht
entschieden genug um. In einem jedoch kann sich die Bundesrepublik an den
Griechen ein Beispiel nehmen: Sie haben die Salamanca-Erklärung der UNESCO
von 1994 umgesetzt.
Die Salamanca-Erklärung:
In dem Dokument, das auch Deutschland unterschrieben hat, verpflichten sich die
Staaten, sich für "Eine Schule für Alle" und einen "diskriminierungsfreien Zugang zur
Regelschule" stark zu machen. In Griechenland ist dieser Anspruch zu 80 Prozent
erfüllt. Ganz anders in Deutschland: Hier besuchen nur 20 Prozent der insgesamt
390.000 Kinder und Jugendlichen mit Behinderung eine Regelschule.

Aussage von ANED:
Aber nach den ANED-Indikatoren für die Gleichbehandlung von Behinderten
Menschen in Europa wurden aus verschiedenen Datenquellen auf europäischer und
nationaler Ebene folgende Eckpunkte zusammengefasst, die mit der Aussage von“
Aktion Mensch“ nicht ganz übereinstimmen:
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Von 1.063.500 Schülern benötigen 106.349 besondere pädagogische Förderungen,
also ca. 10-12%. Aber nur 29.755 Schulkinder, das sind 35%, nehmen am
Förderunterricht teil. Die Übrigen 65% halten sich in den Schulen ohne besonderen
Zusatzunterricht auf.

Im Regierungsblatt der Republik GR 3699 von 2008 wird das Gesetz der Co-
Pädagogik auf 21 Seiten niedergeschrieben.
Schon seit 2000 gibt es die Bewegung: „Pädagogik für Alle“, die auf Druck von
Elterninitiativen und versch. behinderten Vereinen gesetzlich verankert wurde.
Es wurde Wert auf eine Änderung der Bezeichnung gelegt: Anstelle von „ Personen
mit besonderen Bedürfnissen“, heißt es jetzt „Personen mit besonderen
pädagogischen Bedürfnissen“, dazu gehören Lernbehinderung, körperlich-geistige,
psychische auch emotionale und soziale Besonderheiten.
Ziele sind: Zugang zur Bildung für alle und Reduzierung der Anzahl der
Schulabbrecher.

Eine Befragung von Lehrern hinsichtlich der Akzeptanz und Befürwortung der Co-
Pädagogischen Methode ergab:
Lehrer, die mit diesem System arbeiten, haben eine positive Einstellung dazu, dass
behinderte Kinder zusammen mit nicht Behinderten erfolgreich unterrichtet werden
können. Eine ähnliche Meinung haben Lehrer, die sich während des Studiums mit
Sonderschulpädagogik befasst haben. Lehrer, die über wenige Kenntnisse in diesem
Bereich verfügten, haben eine negative Einstellung dazu.

Untersuchung: Haltung von Bürgern und Unternehmen
gegenüber Behinderten
Das Department Sozialpsychologie der Universität Patras unter der Trägerschaft des
Bundes Behinderter Westgriechenlands und der Ionischen Inseln, hat 1.600
Personen anhand von anonymen Fragebögen befragt. Eine Frage lautete:

Welche Schwierigkeiten glauben Sie, haben Behinderte Menschen bei der
Bewältigung ihres Alltags?

Die Studie ergab: 93,5% der Befragten glauben, dass Behinderte vielfältige
Probleme bewältigen müssen, wie Freundschaften schließen und pflegen, Zugang
zur Bildung, bei der Gründung einer Familie, bei der Arbeitssuche, in der Akzeptanz
der Gesellschaft und bei der medizinischen Versorgung.

Fasst die Hälfte ist davon überzeugt, dass die Gesellschaft behinderte Menschen zu
einem sehr hohen Grad mit Vorurteilen, mit negativen Emotionen, Distanz, Mitleid
und Gleichgültigkeit begegnet.
Auch bewerten sie, dass die Massenmedien nur zu 26,3% ein positives Bild über
behinderte Menschen präsentieren.

www.socialpsychology.gr/patra
www.E-Nets.gr
www.e-a.gr/axaia/articles/aricle.jsp103 Präsident: CHAROKOPOS Antonis
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Was haben Behinderte für Bilder über sich in Bezug zu den
"Nicht-Behinderten“?
Mir wurde bewusst, dass einige meiner Familienangehörigen und Menschen aus
meinem Freundeskreis sowohl von Geburt aus, als auch durch Unfälle oder
Krankheit behindert sind und auch in Behinderten- Organisationen aktiv sind.

Ich habe bei ihnen und auch in zwei Behinderteneinrichtungen kleine Interviews
durchgeführt mit den Fragen:

   •   „Wie habt Ihr es geschafft, trotz Not und widriger Umstände so toll und
       selbstbewusst zu werden?“

   •   „Habt Ihr die Möglichkeit, ein selbstbestimmtes Leben zu führen“?

Zusammengefasst stellten sich folgende Aussagen heraus:

   •   Beschwerden über die mangelnde Fürsorge des Staates und seiner
       Behörden,
   •   über das ignorante Verhalten der Gesellschaft,
   •   in der ersten Zeit wurde die Behinderung als Schicksal oder Pech und auch
       als Schuld der Eltern beurteilt,
   •   es folgten Rückzug und Isolation (z.B. haben sich die meisten Sehbehinderten
       eine Wohnung in Kallithea genommen, da dort die Blindenschule „Pharos
       Typhlon“ (Leuchtturm für Blinde) angesiedelt ist. (Die Übersetzung für
       Kallithea lautet „schöne Aussicht”),
   •   durch die Unterstützung von Familie, Freunde und Selbsthilfe Organisationen
       entstand eine Zunahme an Zuversicht und Selbstvertrauen.
   •   Alle waren sich aber einig, dass in den letzten 10 Jahren einiges besser
       geworden ist, eine größere Akzeptanz und Unterstützung im sozialen Umfeld
       erkennbar ist, vor allem durch die jüngeren Menschen.

Als Grund für diese positive Entwicklung gaben alle an:

Wir selbst haben uns geöffnet und sind aus unserer Isolation raus und haben ganz
bewusst Kontakte zu Menschen und Organisationen aufgenommen, d.h. mit
größerem Selbstbewusstsein die soziale Umwelt herausgefordert.

Das Ergebnis ist bisher ganz gut. Der Austausch findet jetzt eher auf Augenhöhe
statt; auch haben dabei die neuen technologischen Möglichkeiten diesen Weg
erheblich erleichtert.

Durch die Gespräche mit einigen Behindertenorganisationen, das Recherchieren auf
verschieden Web-Seiten, lesen von Zeitschriften und verschiedenen Blogs, hat sich
das Bild, dass ich von den Behinderten in Griechenland hatte, geändert. Ich war sehr
überrascht von der Vielfalt der Eigeninitiativen, der Präsenz und Dynamik dieser
Organisationen und der Menschen, die diese repräsentieren.

Um die Akzeptanz und Gleichstellung in der griechischen Gesellschaft sicher
zustellen, muss aber noch ein weiter Weg gegangen werden. Stereotype und
Vorurteile sind in der Gesellschaft noch tief verwurzelt.
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Welche Überlegungen könnten den Zugang zu den
griechischen Migranten, die eine Behinderung haben,
erleichtern?

- In den Selbsthilfeorganisationen sind Behinderte, die aus GR zugewandert sind,
kaum vertreten.

- Auch Migrantenorganisationen, Beratungsstelen und Vereine sind für behinderte
Menschen nicht eingerichtet.

- Es gibt auch kaum behinderte Migranten, die in diesem Bereich arbeiten und als
Rollenvorbilder zur Inklusion beitragen können.

- Internetportale könnten verbessert werden, wichtige Informationen in
verschiedenen Sprachen bereitstellen, wenigstens gibt es diese öfter in türkischer
oder russischer Sprache.

- Innovative Annäherung an Familien und Angehörigen von erwachsenen
Behinderten, die sich ein Leben lang kümmern und versorgen, erschöpft
und überfordert sind, aber aus verschiedenen Gründen nicht motiviert werden
können, externe Hilfe anzunehmen.

- Diversität wahrnehmen und akzeptieren - Gemeinsamkeiten sehen und weiter
ausbauen. (Viele griechische Mitbürger gehen zu muttersprachlichen
Beratungsstellen und Ärzten, weil sie sich dort nicht als Fremde fühlen, weil sie ihre
kulturell und religiös geprägten Vorstellungen und Handlungen - und damit die
Selbstbestimmung über ihr Leben - nicht ständig verteidigen müssen)

- Mutig sein und alternative Möglichkeiten entdecken, trotz subjektiver Vorurteile und
Stereotypisierungen, Begegnungen auf Augenhöhe anzustreben.

Es ist schwierig, immer wieder gegen die eigenen Vorurteile anzukämpfen und sich
nicht zu freuen, wenn diese manchmal bestätigt werden. Es ist auch wichtig, eine
Entscheidung zu treffen, wie man damit umgeht.

Meine Ausführung war nicht immer objektiv, sie ist vielmehr durch meine Erfahrungen
hier und in Griechenland geprägt und nicht frei von kulturellen, sprachlichen und
emotionalen Einflüssen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
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