Bemüht reicht nicht - GEW Hamburg
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KESS (I) Bemüht reicht nicht Die von der Schulbehörde vorgenommene Klassifizierung der Schulen in Form eines Sozialindex offenbart die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft Das mittlerweile für diese Zei- Segregation hinweist (s. Kasten dass sich das Bild in der Öffent- tung geflügelte Wort: „Sage mir, S. 29 oben). Gleichzeitig wer- lichkeit geschönt darbietet. wo du wohnst und ich sage dir, den regelmäßig die Hoffnungen Die BSB hat im Rahmen ih- was du wirst“ ist leider keine Zu- auf soziale Durchlässigkeit ent- rer Möglichkeiten frühzeitig spitzung in ironischer oder gar täuscht, wenn man mal von den versucht, der offensichtlichen zynischer Absicht, sondern harte Ausnahmen absieht, denen aller- sozialen Benachteiligung vieler Wirklichkeit. Dies zeigen alle dings mediale Aufmerksamkeit Kinder in der Stadt entgegenzu- sozialen Analysen von unserer garantiert ist. Ein paar Sportler_ wirken. Schon Ende der 1990er Gesellschaft, wobei die Dyna- innen oder Showbiz-Menschen Jahre hatte unter der Ägide der mik der Entwicklung in diesem vermögen dabei allerdings den sozialdemokratischen Schul- Zusammenhang deutlich auf eine Trend nicht umzukehren. Statt- senatorin Rosemarie Raab der sich immer weiter verschärfende dessen tragen sie eher dazu bei, 2008 von der Grünen Schulse- // PRESSEINFORMATION // Landesverband Hamburg Nr. 26/2021 vom 16. April 2021 „Umverteilen reicht nicht!“ GEW zur Anpassung des Sozialindex Gestern hat die Schulbehörde die Bescheide über den neuen Sozialindex an die Schulen versendet. Der Sozialindex bildet die sozialen Rahmenbedingungen der Schülerschaft jeder Schule auf einer sechsstufigen Skala von 1 (besonders schwierige Rahmenbedingungen) bis 6 (sehr günstige Rahmenbedingungen) ab. Je nach Einstufung, werden einer Schule unterschiedlich viele pädagogische Stellen zugewiesen. Die Behörde spricht dabei von „gerechteren Startchancen“. Anstatt dafür aber mehr Geld in die Hand zu nehmen, wird tatsächlich nur umverteilt. „Hamburgweit werden 44 Grundschulen im sogenannten KESS‐Faktor hochgestuft. Hunderte von Arbeitsstunden, den sogenannten WAZ, müssen allein an 16 Schulen im Bezirk Eimsbüttel eingespart werden. Einsparen müssen die Schulen Ressourcen im Bereich der Sprachförderung und im Bereich LSE. Dagegen werden 41 Schulen herabgestuft. Die WAZe werden also durchgereicht. Das mag vor dem Hintergrund unterschiedlicher Sozialstrukturen gerecht klingen. Tatsächlich sind aber an den Schulen, die nun z.T. Stellen abbauen müssen, die Schüler*innen mit Sprach‐ und sonderpädagogischen Förderbedarf LSE ja nicht plötzlich verschwunden. Sie fallen einfach hinten runter“, kommentiert Anja Bensinger‐Stolze, Vorsitzende der GEW Hamburg: „Besonders in Corona‐Zeiten ist das Vorgehen der Schulbehörde, die zu knappe Decke hier etwas weg‐ und dort etwas hinzuziehen, völlig kontraproduktiv! Durch die (erstmalige) Berücksichtigung ausschließlich der Stadtteildaten und nicht mehr dem Blick auf die konkrete Schüler+innenschaft einer Schule wird es zu massiven Ungerechtigkeiten und Unterfinanzierungen an einzelnen Schulen kommen. Gerade in Coronazeiten, wo unstrittig ist, dass Kinder mit schwierigen Rahmenbedingungen deutlich stärker gefördert werden müssen, müssen die Mittel für die sozialindexbezogene Stundenzuweisungen deutlich aufgestockt und nicht umverteilt werden. Die GEW‐Forderung ist dabei: Mindestens Bestandsschutz für alle Schulen und zusätzlich Zuweisungen an die Schulen, für die sich die Daten verschlechtert haben“, so Bensinger‐Stolze abschließend. 28 hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 5-6/2021
Grafik: Statistikamt Nord Wenn „Ausgewogenheit“ bedeutete, dass maximal die Hälfte der SuS einer Schule einen Migrationshintergrund haben soll (BuMi Karliczek forderte 2015 nicht mehr als 38 Prozent!), dann könnte der HVV einen beachtlichen Beitrag zur Mobilitätsförderung leisten ... natorin Christa Goetsch im Rah- das nicht einfach hinzunehmen – können, ist ein unwiderlegbarer men einer Schwarz-Grünen-Ko- s. Presserklärung.) Beweis, dass es so nicht geht (s. alition ins Amt gesetzte Staatsrat Kasten S. 30)! Die Ursache für Ulrich Vieluf ein 6-stufiges Mo- Erwartungen enttäuscht das Scheitern liegt – so einfach dell entwickelt, das Schulen in An dieser Stelle soll aber das ist das – in den unterschiedlichen Abhängigkeit von ihrer sozialen Augenmerk darauf gerichtet sozialen Ausgangsbedingungen. Klientel mit einem unterschied- werden, was solch eine Klassi- Und um die zu kompensieren, lichen personellen Schlüssel fizierung eigentlich gesellschaft- bedarf es einer gemeinsamen ausstattete. (s. nachfolgendes lich bedeutet. Der erhoffte kom- Beschulung, in der die Starken Interview) pensatorische Effekt trat nämlich die Schwachen stützen. Wie bit- Diese Kategorisierung, be- nicht ein! Natürlich kann man te soll ein Kind, dessen Famili- kannt als KESS1-Faktoren, be- damit argumentieren, dass es ensprache nicht deutsch ist, den stimmt seither die Personalres- ohne diese Maßnahme noch hiesigen Bildungsanforderungen source der einzelnen Schule und schlimmer gekommen wäre, genügen, wenn es mehr oder we- muss von Zeit zu Zeit der verän- aber angesichts des ausbleiben- niger ausschließlich mit Kindern derten Struktur der Schüler_in- den Schulerfolgs der benachtei- zusammen ist, die ebenfalls nicht nen- bzw. Elternschaft angepasst ligten Schüler_innenschaft kann muttersprachlich in Deutsch so- werden. Dass dies regelmäßig zu man auch zu der Einsicht gelan- zialisiert sind bzw. deren Eltern Unruhe an den Schulen führt, ist gen, dass diese Art der Kompen- nur rudimentär Deutsch spre- nachvollziehbar, da dann plötz- sation gescheitert ist. chen? Da reicht es eben nicht, lich von der ohnehin zu kurzen Das desaströse Ergebnisse, wenn in der Klasse auf der Ved- Personaldecke ein Stück verlus- dass nahezu 20 bis 30 Prozent der del ein paar weniger Schüler_in- tig geht. (Und natürlich sind wir Schüler_innen nicht zu dem ge- nen sitzen als in Blankenese. als Gewerkschaft aufgerufen, führt werden, was allgemein als Das ist die unbequeme Wahr- Basis dafür erachtet wird, um in heit! Zu der gehört dann auch, 1 Kompetenzen und Einstellungen von unserer Gesellschaft bestehen zu dass das an sich gut gedachte Schülerinnen und Schülern (KESS) Tortenschlacht Grafik: Statistikamt Nord BLANKENESE VEDDEL Schließt man biologistische Begründungen für die reziproke Situation aus, sprechen diese Prozentanteile für sich hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 5-6/2021 29
Schwarz auf weiß „Schülerinnen und Schülern aus wohlhabenden II auf ca. 30 Prozent. Für diesen Teil der Schü- Familien stehen viele Wege zu einem erfolgrei- ler_innen, der sogenannten Risikogruppe, stellt chen Leben offen. Schüler_innen aus benachtei- die Organisation von Schule und Unterricht zu- ligten Familien haben dagegen in der Regel nur mindest eine Lernbarriere, wenn nicht eine Lern- eine einzige Chance im Leben – eine gute Lehr- behinderung dar. Um diese Schüler_innen zu kraft bzw. eine gute Schule. Bleibt diese Chance erreichen, sind die Gestaltungsmöglichkeiten der ungenutzt, nehmen die anfänglichen Unterschie- Selbstverantworteten Schule offensichtlich nicht de bei den Lernergebnissen auf dem weiteren Bil- genutzt worden. dungsweg tendenziell eher zu als ab. So gesehen KLAUS BULLAN, KAY STOECK, in: hlz 1-2/2020 ist es enttäuschend, dass in vielen Ländern nach wie vor die Postleitzahl des Wohnorts und der * Es gibt zurzeit noch keine aktuelleren Zah- Schule der beste Prädiktor für die Leistungen der len, wobei sich Grundsätzliches nicht verändert Schülerinnen und Schüler ist.“ (José Ángel Gur- haben dürfte. Dieser Tage, am 3. Mai, stellten ría Treviño, Generalsekretär der OECD) der PISA-Bildungsexperte Andreas Schleicher Das gilt besonders in Deutschland. Leistungs- zusammen mit Bundesministerin Anja Karliczek unterschiede der Schüler_innen werden innerhalb eine Sonderauswertung im Rahmen der PISA- von Schulen und zwischen den Schulen vergli- Daten von 2018 vor. Gegenstand der Untersu- chen. Im OECD-Durchschnitt werden 29 Prozent chung war, inwieweit Schüler_innen gegen Ende der Leistungsunterschiede mit Unterschieden ihrer Pflichtschulzeit Kenntnisse und Fähigkeiten zwischen den Schulen erklärt, in Deutschland erworben haben, die es ihnen ermöglichen, an mehr als 50 Prozent. Damit gehört Deutschland der Wissensgesellschaft teilzuhaben. Das Ergeb- zu den fünf Ländern, in denen es für den Schul- nis für Deutschland ist desaströs. Danach können erfolg besonders entscheidend ist, auf welche mehr als die Hälfte der 15-Jährigen hierzulande Schule ein_e Schüler_in geht. Und das ist so, ob- (55 Prozent) in Texten nicht Fakten von Meinun- wohl das Privatschulwesen hierzulande im inter- gen unterscheiden. Wie gut die Lesekompetenzen nationalen Vergleich eher klein ist. im digitalen Raum sind, hänge in Deutschland Die ermittelten Lernstände erweisen sich seit stark vom sozialen Hintergrund ab, so Schlei- den letzten Jahren (2012-2018*) als stagnierend, cher. Laut der Studie schneiden Schüler_ innen aber stabil. Das gilt auch für den Anteil der Schü- aus privilegierten Elternhäusern hierzulande so ler_innen, der die Mindeststandards nicht erfüllt. gut wie in keinem anderen Land ab, während Liegt der Anteil im Leistungsbereich Deutsch bei Jugendliche aus benachteiligten Haushalten nur 26 Prozent, liegt er im Bereich Mathematik bei 28 im oberen Mittelfeld lagen. Nachzulesen ist das Prozent. Dieser Anteil liegt signifikant über dem alles unter: 21st-Century Readers: Developing Mittelwert aller Ergebnisse. Je nach Betrachtung Literacy Skills in a Digital World, PISA, OECD bzw. Bewertung erhöht sich die Risikogruppe um Publishing, Paris, 2021 https://doi.org/10.1787/ einen Teil der Schüler_innen der Kompetenzstufe a83d84cb-en JG System der KESS-Faktoren dazu men, um ihr Kind von diesem KESS-Faktor anzumelden. beiträgt, die ungleichen Verhält- Milieu fernzuhalten. Und zu die- Dass das Ganze mit einer nisse zu zementieren. Den Eltern sem Nichtaussprechen gehört, Flucht aus den entsprechenden bleibt schließlich nicht verbor- dass man bereit ist, den Preis für Wohnorten einhergeht, auch das gen, mit welchem Faktor die die ungleiche Ausstattung der haben wir viele Male in dieser Schule, auf die ihr Kind wohn- Schulen mit Personal zu zahlen. Zeitung dokumentiert. Und so ortbezogen gehen soll, belegt Konkret: Man nimmt lieber vol- tragen die KESS-Faktoren ob- ist. Alle wissen es, aber niemand le Klassen in Kauf, als dass man jektiv zur Vertiefung der sozialen spricht gern darüber, welche bereit ist, sein Kind freiwillig an Spaltung bei. Man wundert sich Anstrengungen Eltern unterneh- einer Schule mit „schlechtem“ manchmal, dass diese Entwick- lung von den Betroffenen immer noch (!) so hingenommen wird. Art. 3, Absatz 3 Grundgesetz (GG) (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstam- Schlechtes Gewissen mung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft, Auf die Ungerechtigkeit an- seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen gesprochen, senken viele Mit- benachteiligt oder bevorzugt werden. (…) telschichtseltern den Kopf. Verständlich: sie spüren die Un- 30 hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 5-6/2021
Bildnachweis: Montecruzfoto.org, gemeinfrei Vorboten einer Entwicklung wegen zunehmender Ungleichheit, ungleiche Bildungschancen eingeschlossen, die den sozialen Frieden aufs Spiel setzen? (Hamburg im Juli 2017 während des G20-Gipfels) gerechtigkeit, die sie befördern, sein Kind auf dem Altar eines ten Systems opfern!? Deswegen wenn sie ihr Kind von diesem zwar nach Gerechtigkeit schrei- verbietet sich ein Bashing dieser Umfeld fernhalten. Wer wollte enden, aber eben tief ungerech- Eltern, weil man nicht erwarten kann, dass sie in einer auf Kon- kurrenz und Leistung basieren- „KESS-Index“ oder „Sozialindex“? den Gesellschaft altruistisch Zum Schuljahr 1998/99 wurden in Hamburg erstmalig För- handeln. Deswegen muss es der derressourcen auf der Basis eines Sozialindexes zugewiesen. Staat richten, nicht zuletzt auch Grundlage seiner Berechnung waren Daten zur soziokulturellen deshalb, weil er bzw. die Bür- Lage der Schüler_innenfamilien aus der 1996 gestarteten Lern- ger_innen langfristig an einem ausgangslagenuntersuchung LAU. In den 2000er Jahren wurde sozialen Frieden interessiert sein der sogenannte „LAU-Index“ durch den „KESS-Index“ abgelöst. sollten. Dieser schulbezogene Sozialindex wurde auf der Grundlage von Und wie? So abstrus – weil Daten aus der Studie „Kompetenzen und Einstellungen von Schü- unrealistisch – die Forderung lerinnen und Schülern (KESS)“ berechnet. Der „KESS-Index“ auf den ersten Blick erscheinen unterschied sechs Index-Gruppen, die u.a. nach dem ökonomi- mag: Es müsste eine Quotie- schen, sozialen und kulturellen Kapital der Schüler_innenfamilien rung her, die garantiert, dass gebildet wurden. die Schüler_innen von Beginn Nach Einführung des „Zwei-Säulen-Modells“ wurde eine Neu- ihrer Schulkarriere an in sozial berechnung des Sozialindexes vom Institut für Bildungsmonito- gemischten Klassen unterrichtet ring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) vorgenommen, der ab 2013 werden. Die SUVs müssten dann den „KESS-Index“ ablöste. Der neu entwickelte Sozialindex be- eben etwas länger unterwegs hielt die sechs Index-Gruppen bei, verwendete aber unabhängig sein bzw. es müsste – solange in von der KESS-Studie erhobene Daten. Sachen städtebauliche Durchmi- Seiher kommt es immer wieder zu Verwechslungen. Obwohl schung der Gesellschaft nichts der Sozialindex seit acht Jahren ohne jeden Bezug zur KESS- geschehen ist – ein Busing ein- Studie besteht, werden in der Schulöffentlichkeit nach wie vor die geführt werden, von dem man Begriffe „KESS-Index“ und „KESS-Faktor“ verwendet. Und da bisher geglaubt hat, dass es sich nach wie vor Lernstandserhebungen mit dem Testinstrumentari- um eine seltsame, längst der Ver- um der KESS-Studie in Hamburgs Schulen durchgeführt werden, gangenheit angehörenden Blüte besteht eine mitunter verwirrende „Verwechslungsgefahr“. US-amerikanischer Geschichte ULRICH VIELUF aus den 1960er Jahren handelt. Aber machen wir uns nichts hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 5-6/2021 31
Foto: hlz Kein Witz – die Busing-Linie ist schon eingerichtet! vor: das allein würde die Chan- politischen Machtverhältnisse liebe Deutsche, die ihr uns seit cengleichheit auch nicht garan- wenig Anlass bieten zu hoffen, Jahren verschaukelt, um eure tieren. Die einzige Lösung, aus man könne so etwas wie Busing, Privilegien nicht zuletzt über diesem Dilemma herauszukom- Quotierung oder städtebauliche das gegliederte Schulsystem auf- men, ist in der Tat – in Ergän- Neuorientierung in einer nicht rechtzuerhalten, haltet in dieser zung zu den oben erwähnten mehr auf den freien Markt sich Angelegenheit mal den Mund! Maßnahmen – unser gegliedertes berufende Wohnungswirtschaft Ihr könnt es nämlich gar nicht Schulsystem aufzuheben. Erst in naher Zukunft realisieren. Po- ermessen, was es bedeutet, jetzt ‚Eine Schule für Alle‘ böte die litik ist schließlich kein Wunsch- schon über mehrere Generatio- Voraussetzung für wahre Chan- konzert! Deshalb mache ich an nen hinweg gesagt zu bekom- cengleichheit! Wieso das nicht diese Stelle einen Schnitt und men, dass wir uns als Einge- möglich sein soll, wo es in nahe- blende über zu dem, was gera- wanderte erstmal hintanstellen zu allen Ländern um uns herum de identitätspolitisch im Gan- müssten. Wir fordern das ein, – und auch dort gibt es Einwan- ge ist (s. hlz 2-3/2021, S. 47ff). was ihr selbst als Postulat ins derung – möglich ist, will mir Reduziert man nämlich die bil- Grundgesetz geschrieben habt nicht in den Kopf. Unmöglich in dungspolitische Benachteiligung (s. Kasten): Die volle Gleichbe- Deutschland? auf Kinder und Jugendliche mit rechtigung! Und zwar so lange, Migrationshintergrund, was zu- bis diesem formalen Anspruch – Kein Wunschkonzert gleich die Schwäche des identi- und mehr ist dies nämlich nicht Wer bis hierhin gelesen hat, tätspolitischen Ansatzes offen- – auch die reale Gleichstellung wird sagen, dass er oder sie ge- bart, kriegt das Ganze vor dem folgt. nau dies doch immer wieder in Hintergrund der beschriebenen Wenn man nun einen optimis- dieser Zeitung gelesen hat. Ja, Interessenlage plötzlich ein Ge- tischen Geschichtsverlauf unter- richtig! Ich habe lediglich die sicht. stellt, wär‘ es ja nicht undenkbar, Nachrichten über die Anpassung dass der Widerstand, der sich in der KESS-Faktoren als Aufhän- Cancel culture alive diesem identitätspolitische Fens- ger genutzt, um wieder mal den Der identitätspolitischen Sicht ter spiegelt, die Chance eröffnet, Finger in die Wunde zu legen. zufolge müssten nämlich die alle bisher sozial benachteiligten Und natürlich weiß ich, dass die Betroffenen selbst sagen: Ihr, Gruppen im Kampf um Gleich- 32 hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 5-6/2021
berechtigung mitzuziehen! tung vertieft hat. Von daher lasst sellschaft als quasi naturwüchsig uns in Erinnerung rufen, vor erscheint und damit für unüber- Reset welchem Hintergrund wir neu windbar gehalten wird. Die Rol- Die Sensationsnachrichten starten. Solche Neustarts sind le, die wir dabei einzunehmen über Covid19 in Bezug auf ja oft mit guten Vorsätzen ver- haben, ist damit klar umrissen: Schule und Unterricht werden bunden. In diesem Fall gilt für Bestärken und unterstützen wir in wenigen Wochen so schnell Viele von uns, dass wir mehr als all jene in ihrem Kampf um verschwunden sein wie sie ge- zuvor Anstrengungen unterneh- Gleichstellung, Anerkennung, ja, kommen sind. Mit den Auswir- men müssen, um die noch weiter Emanzipation, die als Betroffene kungen der Pandemie auf die aufgerissenen Gräben kenntlich unter den jetzigen Ungerech- Kinder und Jugendlichen werden zu machen, damit letztendlich tigkeiten des Systems zu leiden wir noch länger zu kämpfen ha- die Betroffenen selbst erkennen, haben. ben. Wir wissen schon jetzt, dass wer dafür verantwortlich ist und JOACHIM GEFFERS die Pandemie die soziale Spal- warum die Spaltung in der Ge- Alle fünf Jahre angepasst Erläuterungen zu KESS Auswirkungen bend. Vielmehr beziehen sich die Daten, auf de- Der Sozialindex teilt die Hamburger Schulen nen der Sozialindex beruht, auf die Familien der in sechs Gruppen ein. Diese Einteilung wird für Schülerinnen und Schüler sowie deren Wohnge- verschiedene Zwecke genutzt, zum Beispiel bei biete. Weil die Schülerinnen und Schüler nicht der Festlegung von finanziellen Mitteln oder bei immer aus der unmittelbaren Umgebung ihrer der Ermittlung des Personalbedarfs von Schulen: Schule kommen, kann die soziale Belastung ei- • Personalbedarf für den Unterricht ner Schule anders sein als die von benachbarten • Inklusion Schulen oder Schulen in derselben Region. • Additive Sprachförderung Schulen, an denen ein solcher Widerspruch • Vorstellung der Viereinhalbjährigen zwischen ermitteltem Sozialindex und erlebter • Ganztagsangebote sozialer Belastung auftritt, können sich an ihre • Schulbüro zuständige Schulaufsicht oder das IfBQ wenden. Außerdem wird der Sozialindex auch für die Berechnung „fairer Vergleichswerte“, z.B. im Sprache als Indikator für Benachteiligung Rahmen von KERMIT genutzt. Die nicht-deutsche Familiensprache geht als Hilfskonstrukt in die Berechnung mit ein, da Berechnung sie in großen Stichproben aktueller Studien sehr Hauptsächlich werden die Kriterien durch stark mit ungünstigeren sozio-ökonomischen das Team des Hamburger Sozialindex am IfBQ Rahmenbedingungen zusammenhängt und da- in einem langwierigen Prozess der rechneri- durch als amtlicher, schulspezifischer Indikator schen Prüfung, der inhaltlichen Diskussion und für den Sozialindex gut geeignet ist. des Abwägens ausgewählt. Zur Aktualisierung des Sozialindex im Jahr 2021 waren zusätzlich Aus: Antworten auf FAQs zum Hamburger Schulleitungen im Rahmen von Workshops ein- Sozialindex vom 15. April 2021. Der Text wurde geladen, sich an der Kriterienauswahl zu betei- stark gekürzt. Für eine nähere Beschäftigung mit ligen. dem gesamten Komplex empfiehlt sich der Origi- naltext https://www.hamburg.de/bsb/hamburger- Gewichtung sozialindex/4025318/artikel-faq-sozialindex/, (Die Gewichte werden) im Rahmen des Ver- der darüber hinaus Links zu den statistischen fahrens der Faktorenanalyse berechnet: so ge- Verfahren im Einzelnen enthält. JG nannte „Faktorladungen“ für jedes Kriterium. Wahrnehmung Für die Ermittlung des Sozialindex ist nicht die regionale Lage einer Schule ausschlagge- hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 5-6/2021 33
KESS (II) Schule ist kein Reparaturbetrieb Interview mit Ulrich Vieluf, der maßgeblich an der Entwicklung eines Sozialindexes für die Hamburger Schulen beteiligt war. Der sogenannte „KESS-Index“ sollte dazu beitragen, die „Verteilungsgerechtigkeit“ bei der Ressourcenzuweisung zu erhöhen hlz: Was hat seinerzeit dazu ritäten werden damit aber nicht geführt, einen schulbezogenen aufgehoben. Die ungleichen Le- Sozialindex einzuführen? benslagen gehen mit ungleichen Chancen der kulturellen Teilhabe Ulrich Vieluf: Eingeführt hat einher, die wiederum zu unglei- den Sozialindex die damalige chen Lernchancen führen. Wenn Schulsenatorin Rosemarie Raab Kinder außerschulisch wenig Ende der 1990er Jahre. Mit ihm Gelegenheit haben, die deutsche sollte das „Gießkannenprinzip“ (Schrift-)Sprache zu erwerben, überwunden werden, nach dem dann kann eine intensive schu- dann dazu, dass Schulen trotz ein Teil der über den Haushalt lische Förderung bis zu einem unveränderter oder sogar leicht bereitgestellten Förderressour- gewissen Grad Ausgleich schaf- gestiegener Zahl der zu fördern- cen an die Schulen verteilt wur- fen, aber sie kann die ungleichen den Schüler_innen weniger För- den. Mit der Berücksichtigung Erwerbschancen nicht neutrali- derressourcen erhalten. Mit an- der sozialen Zusammensetzung sieren. deren Worten: Der Sozialindex der Schüler_innenschaft sollte sollte nicht ausschließlich relati- den unterschiedlichen Anforde- hlz: Kann man etwas verbes- onal verwendet werden, sondern rungen und Bedarfen, die sich sern an dem System? auch steigende Bedarfe abbilden aus unterschiedlichen sozialen können. Lagen ergeben, Rechnung ge- Ulrich Vieluf: Ich halte die tragen werden. Dies betraf bei- Datenbasis für die Berechnung hlz: Wo sehen Sie die Grenzen, spielsweise die Zuteilung von des aktuellen Sozialindexes für mit einem solchen System nach- Sprachförderressourcen, die Ab- sehr tragfähig. Für problema- haltig zu mehr Bildungsgerech- senkung der Klassenfrequenzen tisch, um nicht zu sagen: für tigkeit zu gelangen? für Grundschulen in soziokultu- nicht sachgerecht halte ich aller- rell benachteiligten Stadtteilen, dings das „Nullsummenspiel“, Ulrich Vieluf: Die seit nun 25 zusätzliche Erzieher_innenstel- wonach unabhängig von der Jahren empirisch eindrucksvoll len für Ganztagsgrundschulen in tatsächlichen Anzahl der zu För- belegten sozialen Disparitäten diesen Stadtteilen wie auch den dernden immer dasselbe Stellen- innerhalb der hamburgischen Ausgleich des Mehraufwands kontingent bereitgestellt wird. Schullandschaft, die der sozia- bei der Durchführung des Vor- Wenn beispielsweise die Ge- len Spaltung der Stadt in „arme“ stellungsverfahrens für Vierein- samtzahl der Schüler_innen, die und „reiche“ Stadtteile bzw. halbjährige. Deutsch als zweite Sprache er- Quartiere folgen, wird durch wie werben, steigt, wäre zu erwarten, auch immer „gerecht“ verteilte hlz: Betrachten Sie den Ver- dass auch das Stellenkontingent Ressourcen nicht aufgehoben. such der Kompensation un- für die Förderung dieser Schü- Ein anregungsarmes Sozialmili- gleicher Bedingungen für das ler_innen steigt. Die Deckelung eu lässt sich nur begrenzt durch Lernen in Schule mittels des So- aber hat – unabhängig davon, zusätzliche Stellen pädagogisch zialindexes als gelungen? wie adäquat das gewählte Ver- ausgleichen. Schule ist kein Re- fahren für die Berechnung des paraturbetrieb für soziale und Ulrich Vieluf: Die nach dem Sozialindexes die tatsächlichen gesellschaftliche Missstände. Sozialindex zugewiesenen Res- Verhältnisse abbildet – nur eine sourcen führen systemimmanent Umverteilung des unveränder- hlz: Wir danken für die Beant- zu einer höheren Verteilungsge- ten Stellenkontingents zwischen wortung der Fragen (die Fragen rechtigkeit, die sozialen Dispa- den Schulen zur Folge. Das führt wurden schriftlich gestellt). JG 34 hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 5-6/2021
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