Bemüht reicht nicht - GEW Hamburg

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Bemüht reicht nicht - GEW Hamburg
KESS (I)

Bemüht reicht nicht
Die von der Schulbehörde vorgenommene Klassifizierung der Schulen in
Form eines Sozialindex offenbart die tiefe Spaltung unserer Gesellschaft
   Das mittlerweile für diese Zei-      Segregation hinweist (s. Kasten         dass sich das Bild in der Öffent-
tung geflügelte Wort: „Sage mir,        S. 29 oben). Gleichzeitig wer-          lichkeit geschönt darbietet.
wo du wohnst und ich sage dir,          den regelmäßig die Hoffnungen              Die BSB hat im Rahmen ih-
was du wirst“ ist leider keine Zu-      auf soziale Durchlässigkeit ent-        rer Möglichkeiten frühzeitig
spitzung in ironischer oder gar         täuscht, wenn man mal von den           versucht, der offensichtlichen
zynischer Absicht, sondern harte        Ausnahmen absieht, denen aller-         sozialen Benachteiligung vieler
Wirklichkeit. Dies zeigen alle          dings mediale Aufmerksamkeit            Kinder in der Stadt entgegenzu-
sozialen Analysen von unserer           garantiert ist. Ein paar Sportler_      wirken. Schon Ende der 1990er
Gesellschaft, wobei die Dyna-           innen oder Showbiz-Menschen             Jahre hatte unter der Ägide der
mik der Entwicklung in diesem           vermögen dabei allerdings den           sozialdemokratischen       Schul-
Zusammenhang deutlich auf eine          Trend nicht umzukehren. Statt-          senatorin Rosemarie Raab der
sich immer weiter verschärfende         dessen tragen sie eher dazu bei,        2008 von der Grünen Schulse-

     // PRESSEINFORMATION //

                                                                           Landesverband Hamburg
                                                                           Nr. 26/2021 vom 16. April 2021
     „Umverteilen reicht nicht!“

     GEW zur Anpassung des Sozialindex
     Gestern hat die Schulbehörde die Bescheide über den neuen Sozialindex an die Schulen versendet. Der
     Sozialindex bildet die sozialen Rahmenbedingungen der Schülerschaft jeder Schule auf einer sechsstufigen
     Skala von 1 (besonders schwierige Rahmenbedingungen) bis 6 (sehr günstige Rahmenbedingungen) ab. Je
     nach Einstufung, werden einer Schule unterschiedlich viele pädagogische Stellen zugewiesen. Die Behörde
     spricht dabei von „gerechteren Startchancen“. Anstatt dafür aber mehr Geld in die Hand zu nehmen, wird
     tatsächlich nur umverteilt.
     „Hamburgweit werden 44 Grundschulen im sogenannten KESS‐Faktor hochgestuft. Hunderte von
     Arbeitsstunden, den sogenannten WAZ, müssen allein an 16 Schulen im Bezirk Eimsbüttel eingespart
     werden. Einsparen müssen die Schulen Ressourcen im Bereich der Sprachförderung und im Bereich LSE.
     Dagegen werden 41 Schulen herabgestuft. Die WAZe werden also durchgereicht.
     Das mag vor dem Hintergrund unterschiedlicher Sozialstrukturen gerecht klingen. Tatsächlich sind aber an
     den Schulen, die nun z.T. Stellen abbauen müssen, die Schüler*innen mit Sprach‐ und
     sonderpädagogischen Förderbedarf LSE ja nicht plötzlich verschwunden. Sie fallen einfach hinten runter“,
     kommentiert Anja Bensinger‐Stolze, Vorsitzende der GEW Hamburg: „Besonders in Corona‐Zeiten ist das
     Vorgehen der Schulbehörde, die zu knappe Decke hier etwas weg‐ und dort etwas hinzuziehen, völlig
     kontraproduktiv! Durch die (erstmalige) Berücksichtigung ausschließlich der Stadtteildaten und nicht
     mehr dem Blick auf die konkrete Schüler+innenschaft einer Schule wird es zu massiven Ungerechtigkeiten
     und Unterfinanzierungen an einzelnen Schulen kommen. Gerade in Coronazeiten, wo unstrittig ist, dass
     Kinder mit schwierigen Rahmenbedingungen deutlich stärker gefördert werden müssen, müssen die
     Mittel für die sozialindexbezogene Stundenzuweisungen deutlich aufgestockt und nicht umverteilt
     werden. Die GEW‐Forderung ist dabei: Mindestens Bestandsschutz für alle Schulen und zusätzlich
     Zuweisungen an die Schulen, für die sich die Daten verschlechtert haben“, so Bensinger‐Stolze
     abschließend.

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Bemüht reicht nicht - GEW Hamburg
Grafik: Statistikamt Nord
Wenn „Ausgewogenheit“ bedeutete, dass maximal die Hälfte der SuS einer Schule einen Migrationshintergrund
haben soll (BuMi Karliczek forderte 2015 nicht mehr als 38 Prozent!), dann könnte der HVV einen beachtlichen
Beitrag zur Mobilitätsförderung leisten ...

natorin Christa Goetsch im Rah-          das nicht einfach hinzunehmen –      können, ist ein unwiderlegbarer
men einer Schwarz-Grünen-Ko-             s. Presserklärung.)                  Beweis, dass es so nicht geht (s.
alition ins Amt gesetzte Staatsrat                                            Kasten S. 30)! Die Ursache für
Ulrich Vieluf ein 6-stufiges Mo-         Erwartungen enttäuscht               das Scheitern liegt – so einfach
dell entwickelt, das Schulen in             An dieser Stelle soll aber das    ist das – in den unterschiedlichen
Abhängigkeit von ihrer sozialen          Augenmerk darauf gerichtet           sozialen Ausgangsbedingungen.
Klientel mit einem unterschied-          werden, was solch eine Klassi-       Und um die zu kompensieren,
lichen personellen Schlüssel             fizierung eigentlich gesellschaft-   bedarf es einer gemeinsamen
ausstattete. (s. nachfolgendes           lich bedeutet. Der erhoffte kom-     Beschulung, in der die Starken
Interview)                               pensatorische Effekt trat nämlich    die Schwachen stützen. Wie bit-
   Diese Kategorisierung, be-            nicht ein! Natürlich kann man        te soll ein Kind, dessen Famili-
kannt als KESS1-Faktoren, be-            damit argumentieren, dass es         ensprache nicht deutsch ist, den
stimmt seither die Personalres-          ohne diese Maßnahme noch             hiesigen Bildungsanforderungen
source der einzelnen Schule und          schlimmer gekommen wäre,             genügen, wenn es mehr oder we-
muss von Zeit zu Zeit der verän-         aber angesichts des ausbleiben-      niger ausschließlich mit Kindern
derten Struktur der Schüler_in-          den Schulerfolgs der benachtei-      zusammen ist, die ebenfalls nicht
nen- bzw. Elternschaft angepasst         ligten Schüler_innenschaft kann      muttersprachlich in Deutsch so-
werden. Dass dies regelmäßig zu          man auch zu der Einsicht gelan-      zialisiert sind bzw. deren Eltern
Unruhe an den Schulen führt, ist         gen, dass diese Art der Kompen-      nur rudimentär Deutsch spre-
nachvollziehbar, da dann plötz-          sation gescheitert ist.              chen? Da reicht es eben nicht,
lich von der ohnehin zu kurzen              Das desaströse Ergebnisse,        wenn in der Klasse auf der Ved-
Personaldecke ein Stück verlus-          dass nahezu 20 bis 30 Prozent der    del ein paar weniger Schüler_in-
tig geht. (Und natürlich sind wir        Schüler_innen nicht zu dem ge-       nen sitzen als in Blankenese.
als Gewerkschaft aufgerufen,             führt werden, was allgemein als         Das ist die unbequeme Wahr-
                                         Basis dafür erachtet wird, um in     heit! Zu der gehört dann auch,
1
  Kompetenzen und Einstellungen von      unserer Gesellschaft bestehen zu     dass das an sich gut gedachte
Schülerinnen und Schülern (KESS)

Tortenschlacht
                                                                                                                   Grafik: Statistikamt Nord

                                      BLANKENESE                              VEDDEL
Schließt man biologistische Begründungen für die reziproke Situation aus, sprechen diese Prozentanteile für sich

hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 5-6/2021                                                                    29
Bemüht reicht nicht - GEW Hamburg
Schwarz auf weiß
        „Schülerinnen und Schülern aus wohlhabenden        II auf ca. 30 Prozent. Für diesen Teil der Schü-
     Familien stehen viele Wege zu einem erfolgrei-        ler_innen, der sogenannten Risikogruppe, stellt
     chen Leben offen. Schüler_innen aus benachtei-        die Organisation von Schule und Unterricht zu-
     ligten Familien haben dagegen in der Regel nur        mindest eine Lernbarriere, wenn nicht eine Lern-
     eine einzige Chance im Leben – eine gute Lehr-        behinderung dar. Um diese Schüler_innen zu
     kraft bzw. eine gute Schule. Bleibt diese Chance      erreichen, sind die Gestaltungsmöglichkeiten der
     ungenutzt, nehmen die anfänglichen Unterschie-        Selbstverantworteten Schule offensichtlich nicht
     de bei den Lernergebnissen auf dem weiteren Bil-      genutzt worden.
     dungsweg tendenziell eher zu als ab. So gesehen                KLAUS BULLAN, KAY STOECK, in: hlz 1-2/2020
     ist es enttäuschend, dass in vielen Ländern nach
     wie vor die Postleitzahl des Wohnorts und der            * Es gibt zurzeit noch keine aktuelleren Zah-
     Schule der beste Prädiktor für die Leistungen der     len, wobei sich Grundsätzliches nicht verändert
     Schülerinnen und Schüler ist.“ (José Ángel Gur-       haben dürfte. Dieser Tage, am 3. Mai, stellten
     ría Treviño, Generalsekretär der OECD)                der PISA-Bildungsexperte Andreas Schleicher
        Das gilt besonders in Deutschland. Leistungs-      zusammen mit Bundesministerin Anja Karliczek
     unterschiede der Schüler_innen werden innerhalb       eine Sonderauswertung im Rahmen der PISA-
     von Schulen und zwischen den Schulen vergli-          Daten von 2018 vor. Gegenstand der Untersu-
     chen. Im OECD-Durchschnitt werden 29 Prozent          chung war, inwieweit Schüler_innen gegen Ende
     der Leistungsunterschiede mit Unterschieden           ihrer Pflichtschulzeit Kenntnisse und Fähigkeiten
     zwischen den Schulen erklärt, in Deutschland          erworben haben, die es ihnen ermöglichen, an
     mehr als 50 Prozent. Damit gehört Deutschland         der Wissensgesellschaft teilzuhaben. Das Ergeb-
     zu den fünf Ländern, in denen es für den Schul-       nis für Deutschland ist desaströs. Danach können
     erfolg besonders entscheidend ist, auf welche         mehr als die Hälfte der 15-Jährigen hierzulande
     Schule ein_e Schüler_in geht. Und das ist so, ob-     (55 Prozent) in Texten nicht Fakten von Meinun-
     wohl das Privatschulwesen hierzulande im inter-       gen unterscheiden. Wie gut die Lesekompetenzen
     nationalen Vergleich eher klein ist.                  im digitalen Raum sind, hänge in Deutschland
        Die ermittelten Lernstände erweisen sich seit      stark vom sozialen Hintergrund ab, so Schlei-
     den letzten Jahren (2012-2018*) als stagnierend,      cher. Laut der Studie schneiden Schüler_ innen
     aber stabil. Das gilt auch für den Anteil der Schü-   aus privilegierten Elternhäusern hierzulande so
     ler_innen, der die Mindeststandards nicht erfüllt.    gut wie in keinem anderen Land ab, während
     Liegt der Anteil im Leistungsbereich Deutsch bei      Jugendliche aus benachteiligten Haushalten nur
     26 Prozent, liegt er im Bereich Mathematik bei 28     im oberen Mittelfeld lagen. Nachzulesen ist das
     Prozent. Dieser Anteil liegt signifikant über dem     alles unter: 21st-Century Readers: Developing
     Mittelwert aller Ergebnisse. Je nach Betrachtung      Literacy Skills in a Digital World, PISA, OECD
     bzw. Bewertung erhöht sich die Risikogruppe um        Publishing, Paris, 2021 https://doi.org/10.1787/
     einen Teil der Schüler_innen der Kompetenzstufe       a83d84cb-en JG

System der KESS-Faktoren dazu           men, um ihr Kind von diesem           KESS-Faktor anzumelden.
beiträgt, die ungleichen Verhält-       Milieu fernzuhalten. Und zu die-         Dass das Ganze mit einer
nisse zu zementieren. Den Eltern        sem Nichtaussprechen gehört,          Flucht aus den entsprechenden
bleibt schließlich nicht verbor-        dass man bereit ist, den Preis für    Wohnorten einhergeht, auch das
gen, mit welchem Faktor die             die ungleiche Ausstattung der         haben wir viele Male in dieser
Schule, auf die ihr Kind wohn-          Schulen mit Personal zu zahlen.       Zeitung dokumentiert. Und so
ortbezogen gehen soll, belegt           Konkret: Man nimmt lieber vol-        tragen die KESS-Faktoren ob-
ist. Alle wissen es, aber niemand       le Klassen in Kauf, als dass man      jektiv zur Vertiefung der sozialen
spricht gern darüber, welche            bereit ist, sein Kind freiwillig an   Spaltung bei. Man wundert sich
Anstrengungen Eltern unterneh-          einer Schule mit „schlechtem“         manchmal, dass diese Entwick-
                                                                              lung von den Betroffenen immer
                                                                              noch (!) so hingenommen wird.
 Art. 3, Absatz 3 Grundgesetz (GG)
   (3) Niemand darf wegen seines Geschlechtes, seiner Abstam-                 Schlechtes Gewissen
 mung, seiner Rasse, seiner Sprache, seiner Heimat und Herkunft,                 Auf die Ungerechtigkeit an-
 seines Glaubens, seiner religiösen oder politischen Anschauungen             gesprochen, senken viele Mit-
 benachteiligt oder bevorzugt werden. (…)                                     telschichtseltern den Kopf.
                                                                              Verständlich: sie spüren die Un-

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Bildnachweis: Montecruzfoto.org, gemeinfrei
Vorboten einer Entwicklung wegen zunehmender Ungleichheit, ungleiche Bildungschancen eingeschlossen, die
den sozialen Frieden aufs Spiel setzen? (Hamburg im Juli 2017 während des G20-Gipfels)

gerechtigkeit, die sie befördern,       sein Kind auf dem Altar eines     ten Systems opfern!? Deswegen
wenn sie ihr Kind von diesem            zwar nach Gerechtigkeit schrei-   verbietet sich ein Bashing dieser
Umfeld fernhalten. Wer wollte           enden, aber eben tief ungerech-   Eltern, weil man nicht erwarten
                                                                          kann, dass sie in einer auf Kon-
                                                                          kurrenz und Leistung basieren-
 „KESS-Index“ oder „Sozialindex“?                                         den Gesellschaft altruistisch
    Zum Schuljahr 1998/99 wurden in Hamburg erstmalig För-                handeln. Deswegen muss es der
 derressourcen auf der Basis eines Sozialindexes zugewiesen.              Staat richten, nicht zuletzt auch
 Grundlage seiner Berechnung waren Daten zur soziokulturellen             deshalb, weil er bzw. die Bür-
 Lage der Schüler_innenfamilien aus der 1996 gestarteten Lern-            ger_innen langfristig an einem
 ausgangslagenuntersuchung LAU. In den 2000er Jahren wurde                sozialen Frieden interessiert sein
 der sogenannte „LAU-Index“ durch den „KESS-Index“ abgelöst.              sollten.
 Dieser schulbezogene Sozialindex wurde auf der Grundlage von                Und wie? So abstrus – weil
 Daten aus der Studie „Kompetenzen und Einstellungen von Schü-            unrealistisch – die Forderung
 lerinnen und Schülern (KESS)“ berechnet. Der „KESS-Index“                auf den ersten Blick erscheinen
 unterschied sechs Index-Gruppen, die u.a. nach dem ökonomi-              mag: Es müsste eine Quotie-
 schen, sozialen und kulturellen Kapital der Schüler_innenfamilien        rung her, die garantiert, dass
 gebildet wurden.                                                         die Schüler_innen von Beginn
    Nach Einführung des „Zwei-Säulen-Modells“ wurde eine Neu-             ihrer Schulkarriere an in sozial
 berechnung des Sozialindexes vom Institut für Bildungsmonito-            gemischten Klassen unterrichtet
 ring und Qualitätsentwicklung (IfBQ) vorgenommen, der ab 2013            werden. Die SUVs müssten dann
 den „KESS-Index“ ablöste. Der neu entwickelte Sozialindex be-            eben etwas länger unterwegs
 hielt die sechs Index-Gruppen bei, verwendete aber unabhängig            sein bzw. es müsste – solange in
 von der KESS-Studie erhobene Daten.                                      Sachen städtebauliche Durchmi-
    Seiher kommt es immer wieder zu Verwechslungen. Obwohl                schung der Gesellschaft nichts
 der Sozialindex seit acht Jahren ohne jeden Bezug zur KESS-              geschehen ist – ein Busing ein-
 Studie besteht, werden in der Schulöffentlichkeit nach wie vor die       geführt werden, von dem man
 Begriffe „KESS-Index“ und „KESS-Faktor“ verwendet. Und da                bisher geglaubt hat, dass es sich
 nach wie vor Lernstandserhebungen mit dem Testinstrumentari-             um eine seltsame, längst der Ver-
 um der KESS-Studie in Hamburgs Schulen durchgeführt werden,              gangenheit angehörenden Blüte
 besteht eine mitunter verwirrende „Verwechslungsgefahr“.                 US-amerikanischer Geschichte
                                                        ULRICH VIELUF     aus den 1960er Jahren handelt.
                                                                             Aber machen wir uns nichts

hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 5-6/2021                                                                 31
Foto: hlz
Kein Witz – die Busing-Linie ist schon eingerichtet!

vor: das allein würde die Chan-         politischen Machtverhältnisse        liebe Deutsche, die ihr uns seit
cengleichheit auch nicht garan-         wenig Anlass bieten zu hoffen,       Jahren verschaukelt, um eure
tieren. Die einzige Lösung, aus         man könne so etwas wie Busing,       Privilegien nicht zuletzt über
diesem Dilemma herauszukom-             Quotierung oder städtebauliche       das gegliederte Schulsystem auf-
men, ist in der Tat – in Ergän-         Neuorientierung in einer nicht       rechtzuerhalten, haltet in dieser
zung zu den oben erwähnten              mehr auf den freien Markt sich       Angelegenheit mal den Mund!
Maßnahmen – unser gegliedertes          berufende Wohnungswirtschaft         Ihr könnt es nämlich gar nicht
Schulsystem aufzuheben. Erst            in naher Zukunft realisieren. Po-    ermessen, was es bedeutet, jetzt
‚Eine Schule für Alle‘ böte die         litik ist schließlich kein Wunsch-   schon über mehrere Generatio-
Voraussetzung für wahre Chan-           konzert! Deshalb mache ich an        nen hinweg gesagt zu bekom-
cengleichheit! Wieso das nicht          diese Stelle einen Schnitt und       men, dass wir uns als Einge-
möglich sein soll, wo es in nahe-       blende über zu dem, was gera-        wanderte erstmal hintanstellen
zu allen Ländern um uns herum           de identitätspolitisch im Gan-       müssten. Wir fordern das ein,
– und auch dort gibt es Einwan-         ge ist (s. hlz 2-3/2021, S. 47ff).   was ihr selbst als Postulat ins
derung – möglich ist, will mir          Reduziert man nämlich die bil-       Grundgesetz geschrieben habt
nicht in den Kopf. Unmöglich in         dungspolitische Benachteiligung      (s. Kasten): Die volle Gleichbe-
Deutschland?                            auf Kinder und Jugendliche mit       rechtigung! Und zwar so lange,
                                        Migrationshintergrund, was zu-       bis diesem formalen Anspruch –
Kein Wunschkonzert                      gleich die Schwäche des identi-      und mehr ist dies nämlich nicht
   Wer bis hierhin gelesen hat,         tätspolitischen Ansatzes offen-      – auch die reale Gleichstellung
wird sagen, dass er oder sie ge-        bart, kriegt das Ganze vor dem       folgt.
nau dies doch immer wieder in           Hintergrund der beschriebenen           Wenn man nun einen optimis-
dieser Zeitung gelesen hat. Ja,         Interessenlage plötzlich ein Ge-     tischen Geschichtsverlauf unter-
richtig! Ich habe lediglich die         sicht.                               stellt, wär‘ es ja nicht undenkbar,
Nachrichten über die Anpassung                                               dass der Widerstand, der sich in
der KESS-Faktoren als Aufhän-           Cancel culture alive                 diesem identitätspolitische Fens-
ger genutzt, um wieder mal den            Der identitätspolitischen Sicht    ter spiegelt, die Chance eröffnet,
Finger in die Wunde zu legen.           zufolge müssten nämlich die          alle bisher sozial benachteiligten
Und natürlich weiß ich, dass die        Betroffenen selbst sagen: Ihr,       Gruppen im Kampf um Gleich-

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berechtigung mitzuziehen!               tung vertieft hat. Von daher lasst   sellschaft als quasi naturwüchsig
                                        uns in Erinnerung rufen, vor         erscheint und damit für unüber-
Reset                                   welchem Hintergrund wir neu          windbar gehalten wird. Die Rol-
  Die     Sensationsnachrichten         starten. Solche Neustarts sind       le, die wir dabei einzunehmen
über Covid19 in Bezug auf               ja oft mit guten Vorsätzen ver-      haben, ist damit klar umrissen:
Schule und Unterricht werden            bunden. In diesem Fall gilt für      Bestärken und unterstützen wir
in wenigen Wochen so schnell            Viele von uns, dass wir mehr als     all jene in ihrem Kampf um
verschwunden sein wie sie ge-           zuvor Anstrengungen unterneh-        Gleichstellung, Anerkennung, ja,
kommen sind. Mit den Auswir-            men müssen, um die noch weiter       Emanzipation, die als Betroffene
kungen der Pandemie auf die             aufgerissenen Gräben kenntlich       unter den jetzigen Ungerech-
Kinder und Jugendlichen werden          zu machen, damit letztendlich        tigkeiten des Systems zu leiden
wir noch länger zu kämpfen ha-          die Betroffenen selbst erkennen,     haben.
ben. Wir wissen schon jetzt, dass       wer dafür verantwortlich ist und                    JOACHIM GEFFERS
die Pandemie die soziale Spal-          warum die Spaltung in der Ge-

  Alle fünf Jahre angepasst
  Erläuterungen zu KESS

  Auswirkungen                                            bend. Vielmehr beziehen sich die Daten, auf de-
     Der Sozialindex teilt die Hamburger Schulen          nen der Sozialindex beruht, auf die Familien der
  in sechs Gruppen ein. Diese Einteilung wird für         Schülerinnen und Schüler sowie deren Wohnge-
  verschiedene Zwecke genutzt, zum Beispiel bei           biete. Weil die Schülerinnen und Schüler nicht
  der Festlegung von finanziellen Mitteln oder bei        immer aus der unmittelbaren Umgebung ihrer
  der Ermittlung des Personalbedarfs von Schulen:         Schule kommen, kann die soziale Belastung ei-
  • Personalbedarf für den Unterricht                     ner Schule anders sein als die von benachbarten
  • Inklusion                                             Schulen oder Schulen in derselben Region.
  • Additive Sprachförderung                                Schulen, an denen ein solcher Widerspruch
  • Vorstellung der Viereinhalbjährigen                   zwischen ermitteltem Sozialindex und erlebter
  • Ganztagsangebote                                      sozialer Belastung auftritt, können sich an ihre
  • Schulbüro                                             zuständige Schulaufsicht oder das IfBQ wenden.
     Außerdem wird der Sozialindex auch für die
  Berechnung „fairer Vergleichswerte“, z.B. im            Sprache als Indikator für Benachteiligung
  Rahmen von KERMIT genutzt.                                 Die nicht-deutsche Familiensprache geht als
                                                          Hilfskonstrukt in die Berechnung mit ein, da
  Berechnung                                              sie in großen Stichproben aktueller Studien sehr
     Hauptsächlich werden die Kriterien durch             stark mit ungünstigeren sozio-ökonomischen
  das Team des Hamburger Sozialindex am IfBQ              Rahmenbedingungen zusammenhängt und da-
  in einem langwierigen Prozess der rechneri-             durch als amtlicher, schulspezifischer Indikator
  schen Prüfung, der inhaltlichen Diskussion und          für den Sozialindex gut geeignet ist.
  des Abwägens ausgewählt. Zur Aktualisierung
  des Sozialindex im Jahr 2021 waren zusätzlich              Aus: Antworten auf FAQs zum Hamburger
  Schulleitungen im Rahmen von Workshops ein-             Sozialindex vom 15. April 2021. Der Text wurde
  geladen, sich an der Kriterienauswahl zu betei-         stark gekürzt. Für eine nähere Beschäftigung mit
  ligen.                                                  dem gesamten Komplex empfiehlt sich der Origi-
                                                          naltext https://www.hamburg.de/bsb/hamburger-
  Gewichtung                                              sozialindex/4025318/artikel-faq-sozialindex/,
    (Die Gewichte werden) im Rahmen des Ver-              der darüber hinaus Links zu den statistischen
  fahrens der Faktorenanalyse berechnet: so ge-           Verfahren im Einzelnen enthält. JG
  nannte „Faktorladungen“ für jedes Kriterium.

  Wahrnehmung
    Für die Ermittlung des Sozialindex ist nicht
  die regionale Lage einer Schule ausschlagge-

hlz – Zeitschrift der GEW Hamburg 5-6/2021                                                                   33
KESS (II)

Schule ist kein Reparaturbetrieb
Interview mit Ulrich Vieluf, der maßgeblich an der
Entwicklung eines Sozialindexes für die Hamburger
Schulen beteiligt war. Der sogenannte „KESS-Index“
sollte dazu beitragen, die „Verteilungsgerechtigkeit“
bei der Ressourcenzuweisung zu erhöhen
  hlz: Was hat seinerzeit dazu      ritäten werden damit aber nicht
geführt, einen schulbezogenen       aufgehoben. Die ungleichen Le-
Sozialindex einzuführen?            benslagen gehen mit ungleichen
                                    Chancen der kulturellen Teilhabe
   Ulrich Vieluf: Eingeführt hat    einher, die wiederum zu unglei-
den Sozialindex die damalige        chen Lernchancen führen. Wenn
Schulsenatorin Rosemarie Raab       Kinder außerschulisch wenig
Ende der 1990er Jahre. Mit ihm      Gelegenheit haben, die deutsche
sollte das „Gießkannenprinzip“      (Schrift-)Sprache zu erwerben,
überwunden werden, nach dem         dann kann eine intensive schu-       dann dazu, dass Schulen trotz
ein Teil der über den Haushalt      lische Förderung bis zu einem        unveränderter oder sogar leicht
bereitgestellten Förderressour-     gewissen Grad Ausgleich schaf-       gestiegener Zahl der zu fördern-
cen an die Schulen verteilt wur-    fen, aber sie kann die ungleichen    den Schüler_innen weniger För-
den. Mit der Berücksichtigung       Erwerbschancen nicht neutrali-       derressourcen erhalten. Mit an-
der sozialen Zusammensetzung        sieren.                              deren Worten: Der Sozialindex
der Schüler_innenschaft sollte                                           sollte nicht ausschließlich relati-
den unterschiedlichen Anforde-        hlz: Kann man etwas verbes-        onal verwendet werden, sondern
rungen und Bedarfen, die sich       sern an dem System?                  auch steigende Bedarfe abbilden
aus unterschiedlichen sozialen                                           können.
Lagen ergeben, Rechnung ge-            Ulrich Vieluf: Ich halte die
tragen werden. Dies betraf bei-     Datenbasis für die Berechnung           hlz: Wo sehen Sie die Grenzen,
spielsweise die Zuteilung von       des aktuellen Sozialindexes für      mit einem solchen System nach-
Sprachförderressourcen, die Ab-     sehr tragfähig. Für problema-        haltig zu mehr Bildungsgerech-
senkung der Klassenfrequenzen       tisch, um nicht zu sagen: für        tigkeit zu gelangen?
für Grundschulen in soziokultu-     nicht sachgerecht halte ich aller-
rell benachteiligten Stadtteilen,   dings das „Nullsummenspiel“,           Ulrich Vieluf: Die seit nun 25
zusätzliche Erzieher_innenstel-     wonach unabhängig von der            Jahren empirisch eindrucksvoll
len für Ganztagsgrundschulen in     tatsächlichen Anzahl der zu För-     belegten sozialen Disparitäten
diesen Stadtteilen wie auch den     dernden immer dasselbe Stellen-      innerhalb der hamburgischen
Ausgleich des Mehraufwands          kontingent bereitgestellt wird.      Schullandschaft, die der sozia-
bei der Durchführung des Vor-       Wenn beispielsweise die Ge-          len Spaltung der Stadt in „arme“
stellungsverfahrens für Vierein-    samtzahl der Schüler_innen, die      und „reiche“ Stadtteile bzw.
halbjährige.                        Deutsch als zweite Sprache er-       Quartiere folgen, wird durch wie
                                    werben, steigt, wäre zu erwarten,    auch immer „gerecht“ verteilte
   hlz: Betrachten Sie den Ver-     dass auch das Stellenkontingent      Ressourcen nicht aufgehoben.
such der Kompensation un-           für die Förderung dieser Schü-       Ein anregungsarmes Sozialmili-
gleicher Bedingungen für das        ler_innen steigt. Die Deckelung      eu lässt sich nur begrenzt durch
Lernen in Schule mittels des So-    aber hat – unabhängig davon,         zusätzliche Stellen pädagogisch
zialindexes als gelungen?           wie adäquat das gewählte Ver-        ausgleichen. Schule ist kein Re-
                                    fahren für die Berechnung des        paraturbetrieb für soziale und
  Ulrich Vieluf: Die nach dem       Sozialindexes die tatsächlichen      gesellschaftliche Missstände.
Sozialindex zugewiesenen Res-       Verhältnisse abbildet – nur eine
sourcen führen systemimmanent       Umverteilung des unveränder-           hlz: Wir danken für die Beant-
zu einer höheren Verteilungsge-     ten Stellenkontingents zwischen      wortung der Fragen (die Fragen
rechtigkeit, die sozialen Dispa-    den Schulen zur Folge. Das führt     wurden schriftlich gestellt). JG

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