In Verteidigung des Lebens - Über die Corona-Pandemie, die sozialökologische Großkrise und die Möglichkeit eines neuen Sozialismusbegriffs - Prokla

 
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PROKLA 199 | 50. Jahrgang | Nr. 2 | Juni 2020 |des
                                                              In Verteidigung     S. 345-353
                                                                                      Lebens
                                           https://doi.org/10.32387/prokla.v50i199.1885

Raul Zelik*1

In Verteidigung des Lebens
Über die Corona-Pandemie, die sozialökologische
Großkrise und die Möglichkeit eines neuen
Sozialismusbegriffs

Zusammenfassung: Die Corona-Pandemie hat die schon länger heraufziehende sozial-
ökologische Großkrise vorweggenommen und verweist auf eine letztlich antagonis-
tische Beziehung von Kapital und Leben. Dieser Widerspruch wirft die Frage auf, ob
antikapitalistische Alternativen nicht grundsätzlich als »Projekte des Lebens« neu
gedacht werden müssen. In diesem Sinne plädiert der Autor für einen Sozialismusbe-
griff, der zwar weiterhin die Eigentumsfrage als zentrales Machtverhältnis benennt,
aber auf einem Care-Paradigma beruht, wie es in queerfeministischen Debatten skiz-
ziert wird – der Sorge um Menschen, Leben und soziale Beziehungen.
Schlagwörter: Corona, Pandemie, sozialökologische Krise, Sozialismus, Care, quee-
rer Feminismus

In defense of life
About the Corona Pandemic, the socio-ecological large-scale crisis and the
possibility of a new concept of socialism
Abstract: The corona pandemic has anticipated the looming socio-ecological system
crisis and points to an ultimately antagonistic relationship between capital and life.
This contradiction raises the question whether anti-capitalist alternatives should not
be fundamentally rethought as »projects of life«. In this sense, the author pleads for
a concept of socialism that, while continuing to name the question of property as a
central power relationship, is based on a care paradigm as outlined in queer-feminist
debates - the care for human beings, life in general and social relations.
Keywords: Corona, pandemic, socio-ecological crisis, socialism, care, queer feminism

* Raul Zelik war Associate Professor für Internationale Politik an der Nationaluniversität
Kolumbiens und lebt als freier Autor in Berlin. Im Sommer 2020 erscheint sein Buch Wir
Untoten des Kapitals. Über politische Monster und den grünen Sozialismus (edition suhrkamp),
auf dem der Beitrag beruht.

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Raul Zelik

V   iele linke Sozialwissenschaftler*in-
    nen haben in den vergangenen Wo-
chen darauf hingewiesen, dass es im
                                            die staatlichen Ausgabenprogramme in
                                            den meisten Ländern am Ende durch
                                            Reallohnverluste und neue Einschnit-
Zusammenhang mit der Corona-Krise           te bei der öffentlichen Daseinsvorsorge
wahrlich keinen Grund für Optimismus
gebe. Bei der überall zu beobachten-            Dennoch haben die Autor*innen
den Hilfsbereitschaft handele es sich       des Instituts für Gesellschaftsanalyse
um den »Schrumpfsolidarismus« von           (2020) recht, wenn sie anmerken, dass
Nationalgemeinschaften, schrieb Ste-        die Krise zugleich ein Gelegenheitsfens-
phan Lessenich (2020), und Klaus Dörre      ter eröffnet und dass die Möglichkei-
(2020) stieß ins selbe Horn, als er da-     ten emanzipatorischer Veränderung
ran erinnerte, dass die vermeintliche       benannt werden müssen. Zum einen
Entschleunigung des Augenblicks ein         nämlich führt das Krisenmanagement
Klassenprivileg sei und mit einer Ab-       vor Augen, was möglich wäre, wenn
kehr von Wachstumszwängen nichts            eine ökologisch-soziale Transformati-
zu tun habe.                                on politisch gewollt wäre: Im April 2020
    Tatsächlich ist das dystopische Po-     ging der Flugverkehr in Deutschland
tenzial der Krise offenkundig: Die Bilder   um 85 Prozent zurück1, ohne dass die
aus den Armenvierteln Delhis und Te-        Zivilisation zusammengebrochen wäre;
gucigalpas, aber auch von den Schlan-       die Versorgung mit Nahrung und Gü-
gen vor den Lebensmitteltafeln in den       tern des täglichen Bedarfs erweist sich
USA vermitteln eine Vorstellung von         trotz unterbrochener Wertschöpfungs-
der bevorstehenden Massenverelen-           ketten als ziemlich stabil, was immer-
dung. Man muss kein Prophet sein,
um vorhersagen zu können, dass der          Wirtschaft« und materielle Versorgung
Deglobalisierungs-Schock der letzten        zwei völlig unterschiedliche Angelegen-
Wochen keine ökologische Konversi-          heiten sind. Und schließlich ist es nach
on des Verkehrsmodells, sondern eine        Jahrzehnten der neoliberalen Gehirn-
Verschärfung der Grenzregime nach           wäsche auch nicht ganz unbedeutend,
sich ziehen wird. Hilfreich ist auch die    dass öffentliche Ausgabenprogramme
Erinnerung von Renaud Lambert und           in Billionenhöhe beschlossen werden
Pierre Rimbert (2020), dass bereits nach    können, ohne dass der Staat deswegen
der Finanzkrise 2008 grundlegende Be-       pleite ginge.
schränkungen der Marktmechanismen               Zum anderen, und das scheint mir
angekündigt wurden, die Regierenden         noch entscheidender, verschiebt die
dann aber doch schnell »auf den Weg         Pandemie für einen kurzen histori-
des gewöhnlichen Wahnsinns (zurück-         schen Moment den Fokus der öffentli-
kehrten), sobald das Unwetter vorüber       chen Wahrnehmung. Auf einmal ste-
war«. Auch wenn gerade überall da-          hen das Leben und die Sorge darum im
von die Rede ist, dass das öffentliche      Mittelpunkt der politischen Debatten,
Gesundheitswesen besser ausgestattet
                                            1 »85 Prozent weniger Flugverkehr«,
sollte, müssen wir davon ausgehen, dass     https://www.tagesschau.de (2.4.2020).

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und es zeigt sich, dass kapitalistische    Perspektiven für einen neuen – queer-
Verwertung damit nicht nur wenig an-       feministischen und grünen – Sozialis-
fangen kann, sondern sich dadurch so-      musbegriff eröffnen.
gar bedroht sieht. Wenn marktlibera-
le Extremisten wie Trump, Bolsonaro,
FDP-Chef Lindner und Friedrich Merz
                                           Krisenmanagement
»die Wirtschaft« vor einer allzu rigoro-   Zur Offenheit des historischen Mo-
sen Verteidigung des Lebens bewahren       ments gehört, dass das Krisenma-
wollen, sagt das alles, was man über das   nagement bisher keineswegs einem
Wesen kapitalistischer Führungseliten      Masterplan zur Umstrukturierung
wissen muss. Damit die Kapitalverwer-      folgt, sondern eher die Tiefenstruk-
tung nicht ins Stocken gerät, muss der     turen der jeweiligen Regulationsmo-
Tod von Millionen Menschen in Kauf ge-     delle offenbart. Während sich in den
nommen werden. Nun mag schon sein,         USA ein Laissez-Faire-Kapitalismus
dass ein derartiger Zusammenhang auch      manifestiert, in dem der Staat zwar
vor der Pandemie schon zu erkennen                                              -
gewesen wäre, doch im Unterschied          se sichert2, aber die Kranken ihrem
zu den großen nationalen Narrativen,       Schicksal überlässt, kommt sowohl
mit denen die wirtschaftlichen Motive      in Frankreich als auch in Spanien ein
von Kriegen verschleiert werden, kann      skurriler Militarismus zum Vorschein.
das Sterben der Patient*innen kaum         Präsident Macron, der sich wie einst
als heroische Tat inszeniert werden.       Charles de Gaulle als strafend-sorgen-
Die Held*innen des Augenblicks sind        der Vater der Nation inszeniert, lässt
keine Soldaten, die »für das Vater-        Polizei und Armee aufmarschieren. In
                                           Spanien werden die Pressekonferenzen
Ärzt*innen und Putzkräfte, die das Le-     trotz einer nominell linken Regierung
ben zu bewahren suchen. Den verletz-       von Generälen beherrscht. Hierzulan-
lichen Kranken gegenüber steht eine        de hingegen machen die staatlichen
»Wirtschaft«, die vor den Bedürfnissen     Maßnahmen den Eindruck, als solle
der Menschen beschützt werden muss.        die »sozialpartnerschaftlich« gehegte
Selten hat sich das nekropolitische Kal-   Klassenherrschaft vorübergehend ein-
kül (vgl. Mbembe 2003) bürgerlicher        gefroren werden. So darf auf der einen
Ökonomie so plump offenbart wie in         Seite BMW 20.000 Beschäftigte in die
diesen Wochen.                                                                  -
    Der sich offenbarende Antagonis-       cken, während der Konzern gleichzei-
mus von Kapital und Leben stellt, wie      tig 1,64 Milliarden Euro an Dividenden
ich im zweiten Teil dieses Artikels er-    auszahlt3 – knapp die Hälfte davon an
örtern möchte, aber auch eine Heraus-      die beiden Geschwister Stefan Quandt
forderung für die Linke dar: Er wirft
die Frage auf, ob eine antikapitalisti-
                                           2 »$2 Trillion Coronavirus Stimulus Bill Is
sche Alternative nicht in erster Linie     Signed Into Law«, New York Times (27.3.2020).
als ein Projekt des Lebens verstanden      3 »Dividende trotz Staatshilfe«, Handels-
werden muss und inwiefern sich damit       blatt (6.4.2020).

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Raul Zelik

und Susanne Klatten. Auf der anderen           es aus emanzipatorischer Perspekti-
Seite jedoch garantiert der Staat auch         ve darum gehen, Vermögenssteuern,
den unteren Klassen eine Absicherung,          die Erhöhung von Spitzensteuersätzen
von der man in Südeuropa nur träu-             oder auch                    für Mono-
men kann. Begleitet wird dies von ei-          polkonzerne durchzusetzen (vgl. Saez/
ner Sorge- und Solidaritätsrhetorik,           Zucman 2020). 2) Auf die proklamierte
die in Anbetracht der deutschen Hal-                                                 -
tung zu europäischen Corona-Bonds              arbeiten und öffentlicher Infrastruktu-
höhnisch wirken mag, aber sich eben            ren wird keine entsprechende Politik
doch auch positiv abgrenzt von den             folgen – es sei denn, diese wird durch
Kriegsmetaphern, wie sie anderswo              gesellschaftliche Kämpfe erzwungen.
längst nicht nur von Rechten verbrei-          Dementsprechend sollten die Kämpfe
tet werden.4                                   von Care-Beschäftigten (vgl. Winker
    Die auch von der Leopoldina (2020:         2015; Dück 2018) ebenso in den Mittel-
17) unterstützte Forderung nach Steu-          punkt progressiver Politik rücken wie
ersenkungen oder die bereits im März           die Stärkung der öffentlichen Daseins-
erfolgte Lockerung des Arbeitszeitge-          fürsorge (vgl. Foundational Economy
setzes verweisen allerdings darauf,            Collective 2019). 3) Nach dem relativ
dass unter dem Deckmantel des Kri-             erfolgreichen Krisen-Containment in
senmanagements zunehmend strate-               China ist zu beobachten, dass digita-
gische Interessen verhandelt werden.           le Überwachungstechnologien eine
Welche Auseinandersetzungen hier               nie da gewesene Legitimation erlan-
zu erwarten sind und welche Positio-           gen. Hier gilt es, die Verfestigung der
nen Linke, Gewerkschaften und sozia-           Grundrechtsbeschränkungen zu ver-
le Bewegungen darin beziehen sollten,          hindern. 4) Die desaströse Politik der
scheint mir auf der Hand zu liegen. 1)         US-Administration, aber auch die un-
                                     -         solidarische Haltung der reichen EU-
ziert werden müssen, werden sich die           Staaten gegenüber Italien werden die
innergesellschaftlichen Verteilungs-           geopolitischen Machtverschiebungen
kämpfe schon bald spürbar verschär-            beschleunigen. Noch dringlicher als zu-
fen. In diesem Zusammenhang muss               vor muss hier eine Position eingenom-
                                               men werden, welche die linksliberalen
                                               Idealisierungen »des Westens« ebenso
4 Tatsächlich teilten Linksradikale in Spa-    scharf zurückweist wie alle (von Teilen
nien in sozialen Netzwerken die Rede von
                                               der traditionellen Linken gehegten) Il-
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier,
um darauf hinzuweisen, dass ein nicht-mili-    lusionen in den aufstrebenden Akteur
taristischer Diskurs in der Gesundheitskrise   China. 5) Nach dem Zusammenbruch
möglich wäre. Reichlich paradox in Spanien     transnationaler Produktionsketten
war auch, dass Kinder während der Quaran-      wird auch im bürgerlichen Lager über
täne zwei Monate lang die Wohnung nicht        die Notwendigkeit einer Deglobalisie-
verlassen durften, während die Eltern die
meiste Zeit davon normal arbeiten gehen
                                               rung nachgedacht. Das scheint sich auf
sollten – wohlgemerkt unter der angeblich      den ersten Blick mit linken Forderun-
»linkesten« Regierung Europas.                 gen nach einer ökologisch wünschens-

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werten »Lokalisierung« der Produktion         der schon länger anbahnenden Krisen
und nach politischer Souveränität (der        vorgreift und diese verschärft. Birgit
Gesellschaft gegenüber dem Markt) zu          Mahnkopf (2013) argumentiert bereits
decken. Doch unter den heute beste-           seit einigen Jahren, dass es sich bei
henden Kräfteverhältnissen kann eine          diesen Krisenprozessen – dem Über-
solche »Deglobalisierung« nur natio-          schreiten biophysikalischer Grenzen
nalistisch ausgestaltet werden und zu         (vgl. Rockström 2009), der Finanziali-
einer Verschärfung nicht nur der ras-         sierung (vgl. Arrighi 2010), der wach-
sistischen Grenzregime, sondern auch          senden globalen Ungleichheit (Chancel/
der innerimperialistischen Konkurrenz         Piketty 2015; Piketty 2014) und dem
führen. Die Herausforderung besteht           Siegeszug rechtsextremer Bewegungen
darin, eine Politik zu formulieren, die       (Geiselberger 2017) – nicht etwa um
die Kapital- und Warenströme zu-
gunsten politischer Intervention ein-         oder eine »ökonomisch-ökologische
schränkt, aber Migration ermöglicht           Doppelkrise« (Klaus Dörre)6 handelt,
– die also ein echtes Gegenprojekt zur        sondern um eine Art perfect storm. Mit
kapitalistischen Globalisierung mit ih-       diesem Hinweis will Mahnkopf deut-
rer Bewegungsfreiheit für das Kapital         lich machen, dass diese Prozesse nur
und ihrem harten Grenzregime für die          in einem Gesamtzusammenhang er-
unteren Klassen des Südens artikuliert.       klärt werden können. Das geht einher
                                              mit dem theoretischen Anspruch, die
                                              Natur- und gesellschaftlichen Verhält-
»Perfect Storm«                               nisse als sozialökologisches System zu
Mir scheint es falsch, die Pandemie als       analysieren, in dem Ökonomie, Stoff-
Krise des Kapitalismus zu interpretie-        wechsel, Klassen- und Geschlechterbe-
ren. Plausibler ist, dass es sich um ei-      ziehungen kontingent, aber untrennbar
nen externen Schock handelt, der sich         verschränkt sind. Ökosozialistische An-
auch unter anderen Vorzeichen hätte           sätze versuchen diesen Zusammenhang
ereignen können.5 Trotzdem wirkt die
Pandemie wie ein Brandbeschleuniger,          Foster 2000; Altvater 2005; Saito 2017;
                                              Moore 2015).7
5 Die von Mike Davis (2006) formulierte
These, dass das Entstehen neuer Krank-        6 Seit einiger Zeit verwendet Dörre den Be-
heiten auf die kapitalistische Agrarindust-   griff der »Zangenkrise«, was auf eine en-
rie zurückzuführen sei, scheint mir bei der   gere Verschränkung der beiden Dynami-
SARS2-Pandemie nicht wirklich überzeu-        ken verweist.
gend – zumindest nicht für den Fall, dass     7 Am ambitioniertesten ist wahrscheinlich
sich die Lungenkrankheit auf traditionel-     der world-ecology-Ansatz von Jason Moore
len Märkten entwickelt hat. Der Hinweis,      (2015), der marxistische Werttheorie, die
dass die Zerstörung von Ökosystemen den       feministische Analyse der unentlohnten
Übersprung von Tierviren auf Menschen         Aneignung von Haus- und Sorgearbeit, die
erleichtert (vgl. Shah 2020), geht in eine    Kritik der cartesianischen Scheidung von
etwas andere Richtung. Auch die Zerstö-       Mensch und Natur sowie die Thesen der
                                              Weltsystemtheorie miteinander zu ver-
kapitalistisch.                               binden sucht.

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    Meine These ist nun, dass diese An-   zyklus am Laufen halten – bis zu dem
sätze, die eine sozialökologische Sys-    Extrem, dass wir sterben müssen, um
temkrise heraufziehen sehen, durch        »die Wirtschaft« zu retten.
die Pandemie an Relevanz gewinnen.
Denn selbst wenn die Krankheit einen
externen Schock darstellt, der auch
                                          Ein feministischer Sozialismus
andere Gesellschaftsordnungen hät-        Klaus Dörre und Christine Schickert
te ereilen können, bestätigt sie eine     (2019) begründen ihren Anstoß zu ei-
zentrale These des sozialökologischen     ner »Neosozialismus«-Debatte damit,
Denkens: Der ökonomische Verwer-          dass emanzipatorische Politik eines
tungsprozess zerstört zwar Grundlagen     utopischen Horizonts bedarf. Wenn es
des Lebens, bleibt aber stets eingebet-   stimmt, dass es sich bei dem heraufzie-
tet in eben dieses »Netz des Lebens«      henden »großen Sturm« um eine so-
(Moore 2015). Diese Beobachtung wird      zialökologische Systemkrise handelt,
im Augenblick auf dramatische Wei-        die von der Pandemie nur zeitlich vor-
                                          gezogen wird, dann müssen kritische
                                      -   Wissenschaften und Linke sich auch
sundheitssysteme die Versorgung der       endlich der Aufgabe stellen, über die
Bevölkerung vielerorts bedroht, son-      unverzichtbaren Abwehrkämpfe hin-
dern auch, dass der Tod von Millionen     aus an einem Gegenprojekt zu arbeiten,
Menschen in Kauf genommen wird,           das eine emanzipatorische Alternative
um einen Stillstand der Wertschöp-        wieder vorstellbar macht.
fung zu verhindern. Das erinnert an           Die Corona-Pandemie kann dabei
die marxsche These aus dem Kapital,       helfen, diese Debatte zu fokussieren.
wonach die kapitalistische Produk-        Was die Krise der Gesundheitsversor-
tionsweise »die Springquellen alles       gung nämlich mit dem Kollaps der
Reichtums untergräbt: die Erde und        ökologischen Systeme verbindet, ist
den Arbeiter« (MEW 23: 530), verweist     der Umstand, dass nur die Sorge um
aber auch auf die eigenartige Verkeh-     das Leben einen emanzipatorischen
rung von Lebendigem und Totem in der      Ausweg weist.
bürgerlichen Gesellschaft: Da ist zum         Im Anschluss an die Aufforderung
einen der paradoxe Umstand, dass sich     von Dörre und Schickert (2019) möchte
Klassenverhältnisse im Kapitalismus       ich dafür plädieren, dass wir an einem
auf die Macht stützen, welche die tote,   feministischen Sozialismusbegriff ar-
»geronnene Arbeit« (d.i. das Kapital)     beiten, der das Care-Paradigma in den
über das Leben ausübt; zum anderen        Mittelpunkt stellt. Der Begriff des Sozi-
sind da aber auch die Fetischbeziehun-    alismus scheint mir, obwohl er durch
gen. Während Ware und Geld zum Le-        die stalinistische und sozialtechno-
ben erweckt sind, werden die sozialen     kratische Politik des 20. Jahrhunderts
Beziehungen zwischen den Menschen         nachhaltig diskreditiert wurde, des-
verdinglicht. Zugespitzt könnte man       halb unverzichtbar, weil die sozialis-
sagen: Das Kapital verwandelt uns in      tische Theorie die einzige ist, die das
seine Untoten, die den Verwertungs-       Eigentum als zentrale Machtressource

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In Verteidigung des Lebens

der bürgerlichen Gesellschaft begreift    Debatte über unsichtbar gemachte re-
und den Prozess der Inwertsetzung         produktive Arbeiten und der queeren
schlüssig erklärt. Einen feministischen   Dekonstruktion essentialistischer Vor-
»reset« benötigt dieser Begriff inso-     stellungen (von Natur und Geschlecht)
fern, als wir einen radikalen Paradig-    fragt Haraway nach der Verwobenheit
menwechsel benötigen. Die klassische      des Lebens und nach einem relationa-
Nationalökonomie beschäftigte sich        len Denken, das von den Beziehungen
mit dem »Wohlstand der Nationen«,         ausgeht (vgl. Hoppe 2019). In eine ähn-
das sozialistische Denken kreiste um      liche Richtung hat auch Bini Adamczak
Klassenspaltung, Eigentum, Planung        (2017) argumentiert, als sie einforderte,
und Verteilung; unsichtbar verbunden      ein revolutionäres Projekt der Zukunft
waren beide Stränge durch die Frage       müsse von der »Beziehungsweise« her
nach der Steigerung der Produktivität.    entfaltet werden: »Stärker als Gleich-
Beide Probleme – die Frage, wie materi-   heit und Freiheit, die sich eher an einem
eller Reichtum in die Welt kommt und      äußerlichen Maßstab manifestieren –
wie die Spaltung der Gesellschaft (bzw.   Verteilung von Gütern, Abwesenheit
ihre Entfremdung von sich selbst) über-   von direkten Zwängen –, erfordert das
wunden werden kann – müssen auch in       Verständnis der Solidarität ein Denken
Zukunft beantwortet werden. Zugleich      jenes zwischen, das den eigentlichen
werden sie jedoch durch eine neue Fra-    Lebensraum der Beziehungsweise bil-
gestellung (im hegelschen Sinne) »auf-    det.« (Ebd.: 225)
gehoben«: nämlich durch die, wie der           Ein in diesem Sinne hinterfragter
gesellschaftliche Stoffwechsel mit der    Sozialismusbegriff müsste von vorhan-
Natur beschränkt werden kann. Sowohl      denen Ansätzen politischer Praxis aus-
die Corona-Pandemie als auch die öko-     gehen. Abschließend möchte ich zumin-
logische Krise verweisen auf die Ver-     dest skizzieren, was damit gemeint ist
wobenheit gesellschaftlich-materieller    (ausführlicher: Zelik 2020). Ausgangs-
Strukturen in das »Netz des Lebens«.      punkt eines utopischen Projekts muss
    Ein Care-Paradigma, das »von der      sein, dass eine Gesellschaftsalternati-
Bedürftigkeit und Angewiesenheit der      ve nicht die Form eines Modells haben
anderen (ausgeht), die zugleich unsere    kann, das der Gesellschaft aufgeherrscht
eigene ist« (Hark 2020) und diese Sor-    wird. Der einzig erfolgversprechende
ge über den anthropozentrischen Ho-       Ansatz ist, Sozialismus als eine Aneig-
rizont hinausführt, ermöglicht diesen     nungsbewegung zu begreifen, die glei-
Perspektivwechsel. Mit Care-Paradigma     chermaßen an Karl Marx und Friedrich
                                      -   Engels (MEW 3: 35) – »Kommunismus
geren Sinne oder die differenztheore-     ist für uns nicht […] ein Ideal, wonach
tische Idee gemeint, dass »Frauen« ei-    die Wirklichkeit sich zu richten haben
nen anderen Blick auf das Soziale und     wird« – als auch an Karl Polanyi (1978:
»die Natur« hätten. Vielmehr geht es      311) anknüpft – »Sozialismus ist […die ]
um das Konzept einer sorgenden Pra-       Tendenz, über den selbstregulierenden
xis im Sinne Donna Haraways (2018).       Markt hinauszugehen, indem man ihn
Ausgehend von der feministischen          bewusst einer demokratischen Gesell-

                                                                               351
Raul Zelik

schaft unterordnet.« Für eine derarti-         Altvater, Elmar (2005): Das Ende des Kapitalis-
ge Aneignungsbewegung gibt es heute                mus, wie wir ihn kennen. Münster.
                                               Arrighi, Giovanni (2010): The Long Twentieth
sechs Anknüpfungspunkte:                           Century. Money, Power, and the Origins of
    1) Soziale Kämpfe, in denen Men-               Our Times. London-New York.
schen sich egalitär zusammentun und            Chancel, Lucas / Piketty, Thomas (2015):
ermächtigen (dazu gehören demokra-                 Carbon and Inequality. From Kyoto to
tisierte Arbeitskämpfe, aber auch sozi-            Paris. Paris.
                                               Davis, Mike (2006): Vogelgrippe. Zur gesell-
ale Bewegungen und Solidarprojekte);
                                                   schaftlichen Produktion von Epidemien.
    2) Ansätze der Wirtschaftsdemo-                Hamburg-Berlin.
kratie (womit weniger die betriebli-                                                Vielfach-
che Mitbestimmung als der Anspruch                                                           -
gemeint sind, ökonomische Prozesse                 talismus. Hamburg.
gesellschaftlich zu kontrollieren und          Dörre, Klaus (2020): Nicht jede Krise ist eine
                                                   Chance. URL: https://jacobin.de/, Zu-
zu gestalten);                                     griff: 21.4.2020.
    3) Commoning, also die kollektive          Dörre, Klaus / Schickert, Christine (2019):
                                                   Neosozialismus. Solidarität, Demokratie
Gütern zur gemeinsamen Nutzung (vgl.               und Ökologie vs. Kapitalismus. München.
Helfrich 2014; Dyer-Wittford 2006);            Dück, Julia (2018): Feministischen Klassen-
                                                   politiken in Kämpfen um soziale Repro-
    4) Caring, hier verstanden als eine            duktion. In: Sub\urban 6(1): 129-140.
nicht-produktivistische Ökonomie ge-               DOI: https://doi.org/10.36900/subur-
genseitiger Sorge (vgl. Habermann                  ban.v6i1.343
2016);                                         Dyer-Witheford, Nick (2006): The circulation
    5) Solidarökonomie, also der trans-            of the Common. URL: http://dlc.dlib.in-
                                                   diana.edu, Zugriff: 21.4.2020.
formatorische Teil der Genossenschafts-
                                               Foster, John Bellamy (2000): Marx’s Ecology.
bewegung und                                       New York.
    6) »Infrastruktursozialismus«, ver-        Foundational Economy Collective (2019): Die
standen als politisch-institutionelle Pra-         Ökonomie des Alltagslebens – Für eine neue
xis zum Ausbau entgeltfreier, kollekti-            Infrastrukturpolitik. Berlin.
ver, öffentlicher Infrastrukturen (vgl.        Geiselberger, Heinrich (Hg.) (2017): Die große
                                                   Regression. Berlin
Steckner/Candeias 2014). Nur solche            Habermann, Friederike (2016): »Commons &
praktischen Ansätze gegen eine Kom-                Care. Der Weg über Halbinseln des ande-
                                                   ren Wirtschaftens«, in: AK Postwachs-
einen Ausweg aus der heraufziehenden               tum (Hg): Wachstum. Krise und Kritik,
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                                               Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben. Die
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Menschen, Gemeinschaft und das uns                 Frankfurt/M.-New York.
umgebende Leben) eine emanzipatori-            Hark, Sabine (2020): Die Netzwerke des Le-
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