In Verteidigung des Lebens - Über die Corona-Pandemie, die sozialökologische Großkrise und die Möglichkeit eines neuen Sozialismusbegriffs - Prokla
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PROKLA 199 | 50. Jahrgang | Nr. 2 | Juni 2020 |des In Verteidigung S. 345-353 Lebens https://doi.org/10.32387/prokla.v50i199.1885 Raul Zelik*1 In Verteidigung des Lebens Über die Corona-Pandemie, die sozialökologische Großkrise und die Möglichkeit eines neuen Sozialismusbegriffs Zusammenfassung: Die Corona-Pandemie hat die schon länger heraufziehende sozial- ökologische Großkrise vorweggenommen und verweist auf eine letztlich antagonis- tische Beziehung von Kapital und Leben. Dieser Widerspruch wirft die Frage auf, ob antikapitalistische Alternativen nicht grundsätzlich als »Projekte des Lebens« neu gedacht werden müssen. In diesem Sinne plädiert der Autor für einen Sozialismusbe- griff, der zwar weiterhin die Eigentumsfrage als zentrales Machtverhältnis benennt, aber auf einem Care-Paradigma beruht, wie es in queerfeministischen Debatten skiz- ziert wird – der Sorge um Menschen, Leben und soziale Beziehungen. Schlagwörter: Corona, Pandemie, sozialökologische Krise, Sozialismus, Care, quee- rer Feminismus In defense of life About the Corona Pandemic, the socio-ecological large-scale crisis and the possibility of a new concept of socialism Abstract: The corona pandemic has anticipated the looming socio-ecological system crisis and points to an ultimately antagonistic relationship between capital and life. This contradiction raises the question whether anti-capitalist alternatives should not be fundamentally rethought as »projects of life«. In this sense, the author pleads for a concept of socialism that, while continuing to name the question of property as a central power relationship, is based on a care paradigm as outlined in queer-feminist debates - the care for human beings, life in general and social relations. Keywords: Corona, pandemic, socio-ecological crisis, socialism, care, queer feminism * Raul Zelik war Associate Professor für Internationale Politik an der Nationaluniversität Kolumbiens und lebt als freier Autor in Berlin. Im Sommer 2020 erscheint sein Buch Wir Untoten des Kapitals. Über politische Monster und den grünen Sozialismus (edition suhrkamp), auf dem der Beitrag beruht. 345
Raul Zelik V iele linke Sozialwissenschaftler*in- nen haben in den vergangenen Wo- chen darauf hingewiesen, dass es im die staatlichen Ausgabenprogramme in den meisten Ländern am Ende durch Reallohnverluste und neue Einschnit- Zusammenhang mit der Corona-Krise te bei der öffentlichen Daseinsvorsorge wahrlich keinen Grund für Optimismus gebe. Bei der überall zu beobachten- Dennoch haben die Autor*innen den Hilfsbereitschaft handele es sich des Instituts für Gesellschaftsanalyse um den »Schrumpfsolidarismus« von (2020) recht, wenn sie anmerken, dass Nationalgemeinschaften, schrieb Ste- die Krise zugleich ein Gelegenheitsfens- phan Lessenich (2020), und Klaus Dörre ter eröffnet und dass die Möglichkei- (2020) stieß ins selbe Horn, als er da- ten emanzipatorischer Veränderung ran erinnerte, dass die vermeintliche benannt werden müssen. Zum einen Entschleunigung des Augenblicks ein nämlich führt das Krisenmanagement Klassenprivileg sei und mit einer Ab- vor Augen, was möglich wäre, wenn kehr von Wachstumszwängen nichts eine ökologisch-soziale Transformati- zu tun habe. on politisch gewollt wäre: Im April 2020 Tatsächlich ist das dystopische Po- ging der Flugverkehr in Deutschland tenzial der Krise offenkundig: Die Bilder um 85 Prozent zurück1, ohne dass die aus den Armenvierteln Delhis und Te- Zivilisation zusammengebrochen wäre; gucigalpas, aber auch von den Schlan- die Versorgung mit Nahrung und Gü- gen vor den Lebensmitteltafeln in den tern des täglichen Bedarfs erweist sich USA vermitteln eine Vorstellung von trotz unterbrochener Wertschöpfungs- der bevorstehenden Massenverelen- ketten als ziemlich stabil, was immer- dung. Man muss kein Prophet sein, um vorhersagen zu können, dass der Wirtschaft« und materielle Versorgung Deglobalisierungs-Schock der letzten zwei völlig unterschiedliche Angelegen- Wochen keine ökologische Konversi- heiten sind. Und schließlich ist es nach on des Verkehrsmodells, sondern eine Jahrzehnten der neoliberalen Gehirn- Verschärfung der Grenzregime nach wäsche auch nicht ganz unbedeutend, sich ziehen wird. Hilfreich ist auch die dass öffentliche Ausgabenprogramme Erinnerung von Renaud Lambert und in Billionenhöhe beschlossen werden Pierre Rimbert (2020), dass bereits nach können, ohne dass der Staat deswegen der Finanzkrise 2008 grundlegende Be- pleite ginge. schränkungen der Marktmechanismen Zum anderen, und das scheint mir angekündigt wurden, die Regierenden noch entscheidender, verschiebt die dann aber doch schnell »auf den Weg Pandemie für einen kurzen histori- des gewöhnlichen Wahnsinns (zurück- schen Moment den Fokus der öffentli- kehrten), sobald das Unwetter vorüber chen Wahrnehmung. Auf einmal ste- war«. Auch wenn gerade überall da- hen das Leben und die Sorge darum im von die Rede ist, dass das öffentliche Mittelpunkt der politischen Debatten, Gesundheitswesen besser ausgestattet 1 »85 Prozent weniger Flugverkehr«, sollte, müssen wir davon ausgehen, dass https://www.tagesschau.de (2.4.2020). 346
In Verteidigung des Lebens und es zeigt sich, dass kapitalistische Perspektiven für einen neuen – queer- Verwertung damit nicht nur wenig an- feministischen und grünen – Sozialis- fangen kann, sondern sich dadurch so- musbegriff eröffnen. gar bedroht sieht. Wenn marktlibera- le Extremisten wie Trump, Bolsonaro, FDP-Chef Lindner und Friedrich Merz Krisenmanagement »die Wirtschaft« vor einer allzu rigoro- Zur Offenheit des historischen Mo- sen Verteidigung des Lebens bewahren ments gehört, dass das Krisenma- wollen, sagt das alles, was man über das nagement bisher keineswegs einem Wesen kapitalistischer Führungseliten Masterplan zur Umstrukturierung wissen muss. Damit die Kapitalverwer- folgt, sondern eher die Tiefenstruk- tung nicht ins Stocken gerät, muss der turen der jeweiligen Regulationsmo- Tod von Millionen Menschen in Kauf ge- delle offenbart. Während sich in den nommen werden. Nun mag schon sein, USA ein Laissez-Faire-Kapitalismus dass ein derartiger Zusammenhang auch manifestiert, in dem der Staat zwar vor der Pandemie schon zu erkennen - gewesen wäre, doch im Unterschied se sichert2, aber die Kranken ihrem zu den großen nationalen Narrativen, Schicksal überlässt, kommt sowohl mit denen die wirtschaftlichen Motive in Frankreich als auch in Spanien ein von Kriegen verschleiert werden, kann skurriler Militarismus zum Vorschein. das Sterben der Patient*innen kaum Präsident Macron, der sich wie einst als heroische Tat inszeniert werden. Charles de Gaulle als strafend-sorgen- Die Held*innen des Augenblicks sind der Vater der Nation inszeniert, lässt keine Soldaten, die »für das Vater- Polizei und Armee aufmarschieren. In Spanien werden die Pressekonferenzen Ärzt*innen und Putzkräfte, die das Le- trotz einer nominell linken Regierung ben zu bewahren suchen. Den verletz- von Generälen beherrscht. Hierzulan- lichen Kranken gegenüber steht eine de hingegen machen die staatlichen »Wirtschaft«, die vor den Bedürfnissen Maßnahmen den Eindruck, als solle der Menschen beschützt werden muss. die »sozialpartnerschaftlich« gehegte Selten hat sich das nekropolitische Kal- Klassenherrschaft vorübergehend ein- kül (vgl. Mbembe 2003) bürgerlicher gefroren werden. So darf auf der einen Ökonomie so plump offenbart wie in Seite BMW 20.000 Beschäftigte in die diesen Wochen. - Der sich offenbarende Antagonis- cken, während der Konzern gleichzei- mus von Kapital und Leben stellt, wie tig 1,64 Milliarden Euro an Dividenden ich im zweiten Teil dieses Artikels er- auszahlt3 – knapp die Hälfte davon an örtern möchte, aber auch eine Heraus- die beiden Geschwister Stefan Quandt forderung für die Linke dar: Er wirft die Frage auf, ob eine antikapitalisti- 2 »$2 Trillion Coronavirus Stimulus Bill Is sche Alternative nicht in erster Linie Signed Into Law«, New York Times (27.3.2020). als ein Projekt des Lebens verstanden 3 »Dividende trotz Staatshilfe«, Handels- werden muss und inwiefern sich damit blatt (6.4.2020). 347
Raul Zelik und Susanne Klatten. Auf der anderen es aus emanzipatorischer Perspekti- Seite jedoch garantiert der Staat auch ve darum gehen, Vermögenssteuern, den unteren Klassen eine Absicherung, die Erhöhung von Spitzensteuersätzen von der man in Südeuropa nur träu- oder auch für Mono- men kann. Begleitet wird dies von ei- polkonzerne durchzusetzen (vgl. Saez/ ner Sorge- und Solidaritätsrhetorik, Zucman 2020). 2) Auf die proklamierte die in Anbetracht der deutschen Hal- - tung zu europäischen Corona-Bonds arbeiten und öffentlicher Infrastruktu- höhnisch wirken mag, aber sich eben ren wird keine entsprechende Politik doch auch positiv abgrenzt von den folgen – es sei denn, diese wird durch Kriegsmetaphern, wie sie anderswo gesellschaftliche Kämpfe erzwungen. längst nicht nur von Rechten verbrei- Dementsprechend sollten die Kämpfe tet werden.4 von Care-Beschäftigten (vgl. Winker Die auch von der Leopoldina (2020: 2015; Dück 2018) ebenso in den Mittel- 17) unterstützte Forderung nach Steu- punkt progressiver Politik rücken wie ersenkungen oder die bereits im März die Stärkung der öffentlichen Daseins- erfolgte Lockerung des Arbeitszeitge- fürsorge (vgl. Foundational Economy setzes verweisen allerdings darauf, Collective 2019). 3) Nach dem relativ dass unter dem Deckmantel des Kri- erfolgreichen Krisen-Containment in senmanagements zunehmend strate- China ist zu beobachten, dass digita- gische Interessen verhandelt werden. le Überwachungstechnologien eine Welche Auseinandersetzungen hier nie da gewesene Legitimation erlan- zu erwarten sind und welche Positio- gen. Hier gilt es, die Verfestigung der nen Linke, Gewerkschaften und sozia- Grundrechtsbeschränkungen zu ver- le Bewegungen darin beziehen sollten, hindern. 4) Die desaströse Politik der scheint mir auf der Hand zu liegen. 1) US-Administration, aber auch die un- - solidarische Haltung der reichen EU- ziert werden müssen, werden sich die Staaten gegenüber Italien werden die innergesellschaftlichen Verteilungs- geopolitischen Machtverschiebungen kämpfe schon bald spürbar verschär- beschleunigen. Noch dringlicher als zu- fen. In diesem Zusammenhang muss vor muss hier eine Position eingenom- men werden, welche die linksliberalen Idealisierungen »des Westens« ebenso 4 Tatsächlich teilten Linksradikale in Spa- scharf zurückweist wie alle (von Teilen nien in sozialen Netzwerken die Rede von der traditionellen Linken gehegten) Il- Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, um darauf hinzuweisen, dass ein nicht-mili- lusionen in den aufstrebenden Akteur taristischer Diskurs in der Gesundheitskrise China. 5) Nach dem Zusammenbruch möglich wäre. Reichlich paradox in Spanien transnationaler Produktionsketten war auch, dass Kinder während der Quaran- wird auch im bürgerlichen Lager über täne zwei Monate lang die Wohnung nicht die Notwendigkeit einer Deglobalisie- verlassen durften, während die Eltern die meiste Zeit davon normal arbeiten gehen rung nachgedacht. Das scheint sich auf sollten – wohlgemerkt unter der angeblich den ersten Blick mit linken Forderun- »linkesten« Regierung Europas. gen nach einer ökologisch wünschens- 348
In Verteidigung des Lebens werten »Lokalisierung« der Produktion der schon länger anbahnenden Krisen und nach politischer Souveränität (der vorgreift und diese verschärft. Birgit Gesellschaft gegenüber dem Markt) zu Mahnkopf (2013) argumentiert bereits decken. Doch unter den heute beste- seit einigen Jahren, dass es sich bei henden Kräfteverhältnissen kann eine diesen Krisenprozessen – dem Über- solche »Deglobalisierung« nur natio- schreiten biophysikalischer Grenzen nalistisch ausgestaltet werden und zu (vgl. Rockström 2009), der Finanziali- einer Verschärfung nicht nur der ras- sierung (vgl. Arrighi 2010), der wach- sistischen Grenzregime, sondern auch senden globalen Ungleichheit (Chancel/ der innerimperialistischen Konkurrenz Piketty 2015; Piketty 2014) und dem führen. Die Herausforderung besteht Siegeszug rechtsextremer Bewegungen darin, eine Politik zu formulieren, die (Geiselberger 2017) – nicht etwa um die Kapital- und Warenströme zu- gunsten politischer Intervention ein- oder eine »ökonomisch-ökologische schränkt, aber Migration ermöglicht Doppelkrise« (Klaus Dörre)6 handelt, – die also ein echtes Gegenprojekt zur sondern um eine Art perfect storm. Mit kapitalistischen Globalisierung mit ih- diesem Hinweis will Mahnkopf deut- rer Bewegungsfreiheit für das Kapital lich machen, dass diese Prozesse nur und ihrem harten Grenzregime für die in einem Gesamtzusammenhang er- unteren Klassen des Südens artikuliert. klärt werden können. Das geht einher mit dem theoretischen Anspruch, die Natur- und gesellschaftlichen Verhält- »Perfect Storm« nisse als sozialökologisches System zu Mir scheint es falsch, die Pandemie als analysieren, in dem Ökonomie, Stoff- Krise des Kapitalismus zu interpretie- wechsel, Klassen- und Geschlechterbe- ren. Plausibler ist, dass es sich um ei- ziehungen kontingent, aber untrennbar nen externen Schock handelt, der sich verschränkt sind. Ökosozialistische An- auch unter anderen Vorzeichen hätte sätze versuchen diesen Zusammenhang ereignen können.5 Trotzdem wirkt die Pandemie wie ein Brandbeschleuniger, Foster 2000; Altvater 2005; Saito 2017; Moore 2015).7 5 Die von Mike Davis (2006) formulierte These, dass das Entstehen neuer Krank- 6 Seit einiger Zeit verwendet Dörre den Be- heiten auf die kapitalistische Agrarindust- griff der »Zangenkrise«, was auf eine en- rie zurückzuführen sei, scheint mir bei der gere Verschränkung der beiden Dynami- SARS2-Pandemie nicht wirklich überzeu- ken verweist. gend – zumindest nicht für den Fall, dass 7 Am ambitioniertesten ist wahrscheinlich sich die Lungenkrankheit auf traditionel- der world-ecology-Ansatz von Jason Moore len Märkten entwickelt hat. Der Hinweis, (2015), der marxistische Werttheorie, die dass die Zerstörung von Ökosystemen den feministische Analyse der unentlohnten Übersprung von Tierviren auf Menschen Aneignung von Haus- und Sorgearbeit, die erleichtert (vgl. Shah 2020), geht in eine Kritik der cartesianischen Scheidung von etwas andere Richtung. Auch die Zerstö- Mensch und Natur sowie die Thesen der Weltsystemtheorie miteinander zu ver- kapitalistisch. binden sucht. 349
Raul Zelik Meine These ist nun, dass diese An- zyklus am Laufen halten – bis zu dem sätze, die eine sozialökologische Sys- Extrem, dass wir sterben müssen, um temkrise heraufziehen sehen, durch »die Wirtschaft« zu retten. die Pandemie an Relevanz gewinnen. Denn selbst wenn die Krankheit einen externen Schock darstellt, der auch Ein feministischer Sozialismus andere Gesellschaftsordnungen hät- Klaus Dörre und Christine Schickert te ereilen können, bestätigt sie eine (2019) begründen ihren Anstoß zu ei- zentrale These des sozialökologischen ner »Neosozialismus«-Debatte damit, Denkens: Der ökonomische Verwer- dass emanzipatorische Politik eines tungsprozess zerstört zwar Grundlagen utopischen Horizonts bedarf. Wenn es des Lebens, bleibt aber stets eingebet- stimmt, dass es sich bei dem heraufzie- tet in eben dieses »Netz des Lebens« henden »großen Sturm« um eine so- (Moore 2015). Diese Beobachtung wird zialökologische Systemkrise handelt, im Augenblick auf dramatische Wei- die von der Pandemie nur zeitlich vor- gezogen wird, dann müssen kritische - Wissenschaften und Linke sich auch sundheitssysteme die Versorgung der endlich der Aufgabe stellen, über die Bevölkerung vielerorts bedroht, son- unverzichtbaren Abwehrkämpfe hin- dern auch, dass der Tod von Millionen aus an einem Gegenprojekt zu arbeiten, Menschen in Kauf genommen wird, das eine emanzipatorische Alternative um einen Stillstand der Wertschöp- wieder vorstellbar macht. fung zu verhindern. Das erinnert an Die Corona-Pandemie kann dabei die marxsche These aus dem Kapital, helfen, diese Debatte zu fokussieren. wonach die kapitalistische Produk- Was die Krise der Gesundheitsversor- tionsweise »die Springquellen alles gung nämlich mit dem Kollaps der Reichtums untergräbt: die Erde und ökologischen Systeme verbindet, ist den Arbeiter« (MEW 23: 530), verweist der Umstand, dass nur die Sorge um aber auch auf die eigenartige Verkeh- das Leben einen emanzipatorischen rung von Lebendigem und Totem in der Ausweg weist. bürgerlichen Gesellschaft: Da ist zum Im Anschluss an die Aufforderung einen der paradoxe Umstand, dass sich von Dörre und Schickert (2019) möchte Klassenverhältnisse im Kapitalismus ich dafür plädieren, dass wir an einem auf die Macht stützen, welche die tote, feministischen Sozialismusbegriff ar- »geronnene Arbeit« (d.i. das Kapital) beiten, der das Care-Paradigma in den über das Leben ausübt; zum anderen Mittelpunkt stellt. Der Begriff des Sozi- sind da aber auch die Fetischbeziehun- alismus scheint mir, obwohl er durch gen. Während Ware und Geld zum Le- die stalinistische und sozialtechno- ben erweckt sind, werden die sozialen kratische Politik des 20. Jahrhunderts Beziehungen zwischen den Menschen nachhaltig diskreditiert wurde, des- verdinglicht. Zugespitzt könnte man halb unverzichtbar, weil die sozialis- sagen: Das Kapital verwandelt uns in tische Theorie die einzige ist, die das seine Untoten, die den Verwertungs- Eigentum als zentrale Machtressource 350
In Verteidigung des Lebens der bürgerlichen Gesellschaft begreift Debatte über unsichtbar gemachte re- und den Prozess der Inwertsetzung produktive Arbeiten und der queeren schlüssig erklärt. Einen feministischen Dekonstruktion essentialistischer Vor- »reset« benötigt dieser Begriff inso- stellungen (von Natur und Geschlecht) fern, als wir einen radikalen Paradig- fragt Haraway nach der Verwobenheit menwechsel benötigen. Die klassische des Lebens und nach einem relationa- Nationalökonomie beschäftigte sich len Denken, das von den Beziehungen mit dem »Wohlstand der Nationen«, ausgeht (vgl. Hoppe 2019). In eine ähn- das sozialistische Denken kreiste um liche Richtung hat auch Bini Adamczak Klassenspaltung, Eigentum, Planung (2017) argumentiert, als sie einforderte, und Verteilung; unsichtbar verbunden ein revolutionäres Projekt der Zukunft waren beide Stränge durch die Frage müsse von der »Beziehungsweise« her nach der Steigerung der Produktivität. entfaltet werden: »Stärker als Gleich- Beide Probleme – die Frage, wie materi- heit und Freiheit, die sich eher an einem eller Reichtum in die Welt kommt und äußerlichen Maßstab manifestieren – wie die Spaltung der Gesellschaft (bzw. Verteilung von Gütern, Abwesenheit ihre Entfremdung von sich selbst) über- von direkten Zwängen –, erfordert das wunden werden kann – müssen auch in Verständnis der Solidarität ein Denken Zukunft beantwortet werden. Zugleich jenes zwischen, das den eigentlichen werden sie jedoch durch eine neue Fra- Lebensraum der Beziehungsweise bil- gestellung (im hegelschen Sinne) »auf- det.« (Ebd.: 225) gehoben«: nämlich durch die, wie der Ein in diesem Sinne hinterfragter gesellschaftliche Stoffwechsel mit der Sozialismusbegriff müsste von vorhan- Natur beschränkt werden kann. Sowohl denen Ansätzen politischer Praxis aus- die Corona-Pandemie als auch die öko- gehen. Abschließend möchte ich zumin- logische Krise verweisen auf die Ver- dest skizzieren, was damit gemeint ist wobenheit gesellschaftlich-materieller (ausführlicher: Zelik 2020). Ausgangs- Strukturen in das »Netz des Lebens«. punkt eines utopischen Projekts muss Ein Care-Paradigma, das »von der sein, dass eine Gesellschaftsalternati- Bedürftigkeit und Angewiesenheit der ve nicht die Form eines Modells haben anderen (ausgeht), die zugleich unsere kann, das der Gesellschaft aufgeherrscht eigene ist« (Hark 2020) und diese Sor- wird. Der einzig erfolgversprechende ge über den anthropozentrischen Ho- Ansatz ist, Sozialismus als eine Aneig- rizont hinausführt, ermöglicht diesen nungsbewegung zu begreifen, die glei- Perspektivwechsel. Mit Care-Paradigma chermaßen an Karl Marx und Friedrich - Engels (MEW 3: 35) – »Kommunismus geren Sinne oder die differenztheore- ist für uns nicht […] ein Ideal, wonach tische Idee gemeint, dass »Frauen« ei- die Wirklichkeit sich zu richten haben nen anderen Blick auf das Soziale und wird« – als auch an Karl Polanyi (1978: »die Natur« hätten. Vielmehr geht es 311) anknüpft – »Sozialismus ist […die ] um das Konzept einer sorgenden Pra- Tendenz, über den selbstregulierenden xis im Sinne Donna Haraways (2018). Markt hinauszugehen, indem man ihn Ausgehend von der feministischen bewusst einer demokratischen Gesell- 351
Raul Zelik schaft unterordnet.« Für eine derarti- Altvater, Elmar (2005): Das Ende des Kapitalis- ge Aneignungsbewegung gibt es heute mus, wie wir ihn kennen. Münster. Arrighi, Giovanni (2010): The Long Twentieth sechs Anknüpfungspunkte: Century. Money, Power, and the Origins of 1) Soziale Kämpfe, in denen Men- Our Times. London-New York. schen sich egalitär zusammentun und Chancel, Lucas / Piketty, Thomas (2015): ermächtigen (dazu gehören demokra- Carbon and Inequality. From Kyoto to tisierte Arbeitskämpfe, aber auch sozi- Paris. Paris. Davis, Mike (2006): Vogelgrippe. Zur gesell- ale Bewegungen und Solidarprojekte); schaftlichen Produktion von Epidemien. 2) Ansätze der Wirtschaftsdemo- Hamburg-Berlin. kratie (womit weniger die betriebli- Vielfach- che Mitbestimmung als der Anspruch - gemeint sind, ökonomische Prozesse talismus. Hamburg. gesellschaftlich zu kontrollieren und Dörre, Klaus (2020): Nicht jede Krise ist eine Chance. URL: https://jacobin.de/, Zu- zu gestalten); griff: 21.4.2020. 3) Commoning, also die kollektive Dörre, Klaus / Schickert, Christine (2019): Neosozialismus. Solidarität, Demokratie Gütern zur gemeinsamen Nutzung (vgl. und Ökologie vs. Kapitalismus. München. Helfrich 2014; Dyer-Wittford 2006); Dück, Julia (2018): Feministischen Klassen- politiken in Kämpfen um soziale Repro- 4) Caring, hier verstanden als eine duktion. In: Sub\urban 6(1): 129-140. nicht-produktivistische Ökonomie ge- DOI: https://doi.org/10.36900/subur- genseitiger Sorge (vgl. Habermann ban.v6i1.343 2016); Dyer-Witheford, Nick (2006): The circulation 5) Solidarökonomie, also der trans- of the Common. URL: http://dlc.dlib.in- diana.edu, Zugriff: 21.4.2020. formatorische Teil der Genossenschafts- Foster, John Bellamy (2000): Marx’s Ecology. bewegung und New York. 6) »Infrastruktursozialismus«, ver- Foundational Economy Collective (2019): Die standen als politisch-institutionelle Pra- Ökonomie des Alltagslebens – Für eine neue xis zum Ausbau entgeltfreier, kollekti- Infrastrukturpolitik. Berlin. ver, öffentlicher Infrastrukturen (vgl. Geiselberger, Heinrich (Hg.) (2017): Die große Regression. Berlin Steckner/Candeias 2014). Nur solche Habermann, Friederike (2016): »Commons & praktischen Ansätze gegen eine Kom- Care. Der Weg über Halbinseln des ande- ren Wirtschaftens«, in: AK Postwachs- einen Ausweg aus der heraufziehenden tum (Hg): Wachstum. Krise und Kritik, sozialökologischen Großkrise zu wei- Frankfurt/M.: 223-244. Haraway, Donna (2018): Unruhig bleiben. Die sen, und nur das Prinzip der Sorge (um Verwandtschaft der Arten im Chthuluzän. Menschen, Gemeinschaft und das uns Frankfurt/M.-New York. umgebende Leben) eine emanzipatori- Hark, Sabine (2020): Die Netzwerke des Le- sche Perspektive zu eröffnen. bens. URL: https://www.fr.de (3.4.2020). Helfrich, Silke / Heinrich-Böll-Stiftung (Hg.) (2014): Commons. Für eine neue Politik jenseits von Markt und Staat. Bielefeld. Literatur Hoppe, Katharina (2019): Donna Haraways Adamczak, Bini (2017): Beziehungsweise Revo- Gefährt*innen. Zur Ethik und Politik der lution. 1917, 1968 und kommende. Berlin. Verwobenheit von Technologien, Ge- 352
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