Frozen Conflicts Kant reloaded - "Frozen Conflicts Kant reloaded" by Stefani Weiss

 
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Frozen Conflicts ­ Kant reloaded

                               «Frozen Conflicts ­ Kant reloaded»

by Stefani Weiss

Source:
Spotlight Europe (Spotlight Europe), issue: 10 / 2008, pages: 1­8, on www.ceeol.com.

                                              The following ad supports maintaining our C.E.E.O.L. service
Frozen Conflicts Kant reloaded - "Frozen Conflicts Kant reloaded" by Stefani Weiss
spotlight europe
                             # 2008/10 – September 2008

                             Frozen Conflicts -
                             Kant reloaded

                             Stefani Weiss
                             Bertelsmann Stiftung, stefani.weiss@bertelsmann.de

Für die künftige Rolle der Europäischen Union im postsowjetischen Raum
sind vier Punkte zentral: Sie darf bei der Anerkennung der Unabhängig-
keit von Staaten nicht mit zweierlei Maß messen. Ihr Selbstbewusstsein
muss produktiver sein und soft power als strategisches Potential besser
genutzt werden. Nicht zuletzt benötigt sie die neuen Mechanismen der
Außen- und Sicherheitspolitik, wie im Vertrag von Lissabon vorgesehen.
                             Die jüngste Krise in Georgien stellt nicht       in Afrika, dem Kaukasus oder auf dem Bal-
                             nur mit neuer Wucht die Frage, wie es die        kan im Einzelnen unterscheiden. Gemein-
spotlight europe # 2008/10

                             Europäer künftig mit Russland halten wol-        sam ist ihnen, dass sich Jahrzehnte,
                             len. Sie entzieht gleichzeitig das Problem       manchmal sogar Jahrhunderte von Gewalt,
                             der sogenannten „eingefrorenen Konflikte“        Verfolgung und Unterdrückung nicht
                             den in Europa vorherrschenden Verdrän-           schlagartig vergessen machen lassen.
                             gungsneigungen. Dabei musste sich die
                             Europäische Union, wie die internationale        Insofern kann die Politik es schon als Er-
                             Gemeinschaft als Ganzes, erneut eingeste-        folg feiern, wenn sie solche Sezessions-
                             hen, dass ihre Fähigkeiten zur Konfliktlö-       konflikte unterhalb der Kriegsschwelle
                             sung auch nach dem Wegfall des Ost-West-         einfrieren kann. Die EU muss sich daher
                             Gegensatzes immer noch sehr begrenzt             weniger zum Vorwurf machen, dass sie
                             sind.                                            diese Konflikte um Unabhängigkeit in ih-
                                                                              rer Nachbarschaft noch nicht lösen konn-
                             Die in den 1990er Jahren wieder aufge-           te. Den Vorwurf, den sie sich jedoch nicht
                             flammten postkolonialen und postkommu-           nur in Zusammenhang mit Georgien gefal-
                             nistischen Konflikte über nationale              len lassen muss, ist, dass sie nach der er-
                             Selbstbestimmung und Souveränität eigne-         folgreichen Osterweiterung bei Problemen
                             ten sich kaum für „quick fixes“. Das gilt        in ihrer neuen Nachbarschaft zu gleichgül-
                             unabhängig davon, wie sehr sich die              tig geblieben und zu sehr auf Zeit gesetzt
                             strukturellen Ursachen für diese Konflikte       hat.
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                                                                                                          an der Peripherie der EU erst zu dem, was
                                                                                 I                        sie heute sind: eingefrorene Konflikte.
                                                                                                          Man könnte darüber spekulieren, dass sie
                                                            Neben den von Georgien Unabhängigkeit         deshalb eingefroren genannt werden, weil
                                                            suchenden Gebieten Südossetien und Ab-        der Eishauch des Kalten Krieges, wie nicht
                                                            chasien, die gerade zur großen Empörung       wenige Beobachter behaupten, nach wie
                                                            der meisten westlichen Mitglieder der in-     vor über ihnen hängt. Das schlichtere Ad-
                                                            ternationalen Staatengemeinschaft von         jektiv wäre jedoch sicher „ungelöst“. Denn
                                                            Russland anerkannt wurden, zählen heute       bisher bestand der Beitrag der Interventi-
                                                            noch Nagorny-Karabach und Transnistrien       onen vor allem darin, Zeit zu gewinnen,
                                                            zu den eingefrorenen Konflikten außerhalb     egal, welche „Lösungen“ jeweils im Hin-
                                                            der Russischen Föderation. Potentiell kon-    terkopf erwogen wurden.
                                                            fliktträchtig sind auch weitere Regionen in
                                                            Europas östlicher Nachbarschaft, wie die      Am Versuch, Zeit zu gewinnen, ist nichts
                                                            jüngst zunehmenden Spannungen um die          falsches, wenn diese Zeit nur gut genutzt
                                                            Krim belegen.                                 wird. Im Sinne einer erfolgreichen Frie-
                                                                                                          dens- und Stabilisierungspolitik hätte aber
                                                            Allen diesen Gebieten ist gemeinsam, dass     von der EU der Modernisierungsdruck zur
                                                            sie zum Machtbereich des russisch-            Stärkung demokratischer, rechtsstaatli-
                                                            sowjetischen Imperiums gehörten und           cher und marktwirtschaftlicher Strukturen
                                                            wenn nicht schon in der Zarenzeit, dann       konstant hoch gehalten werden müssen.
                                         Seite 2

                                                            spätestens unter Stalin dem Herrschafts-      Zudem hätten sich die EU-Politiken zur
                                                            bereich einer der Sowjetrepubliken            Transformation nicht nur an den internati-
                                                            zwangsweise zugeschlagen wurden. Mit          onal anerkannten Staat, also an Armenien,
                                                            dem Kollaps des kommunistischen Sys-          Moldau, Aserbaidschan oder Georgien
                                                            tems wollten daher nicht nur die meisten      richten dürfen, sondern sezessionswilligen
                                         Frozen Conflicts

                                                            der Republiken der sowjetischen Föderati-     Gebiete einschließen müssen. Schließlich
                                                            on unabhängig werden. Auch manche ih-         fehlen funktionierende Staatlichkeit und
                                                            rer Regionen oder autonomen Teilgebiete       eine zivilgesellschaftlich verankerte De-
                                                            hofften, die Gunst der Stunde für eigene      mokratie oftmals auf beiden Seiten.
                                                            Unabhängigkeitsbestrebungen nutzen zu
                                                            können.                                       Sicherlich wird die Zeit nicht gut genutzt,
                                                                                                          wenn man die „abtrünnigen Gebiete“ nach
                                                             „Über den eingefrorenen                      Waffenstillstandsabkommen mehr oder
                              spotlight europe # 2008/10

                                                             Konflikten hängt der Eis-                    weniger sich selbst überlässt. Verhindert
                                                                                                          man nämlich einerseits, dass die interna-
                                                            hauch des Kalten Krieges.“                    tional anerkannte Nation gewaltsam ihre
                                                                                                          Hoheitsrechte wiederherstellen kann, wie
                                                            Wie bei den fast zeitgleichen Sezessions-     andererseits, dass die de facto Souveräni-
                                                            bewegungen auf dem Balkan, die durch          tät in eine internationale Anerkennung als
                                                            den Zusammenbruch Jugoslawiens ausge-         Staat mit allen Rechten und Pflichten
                                                            löst wurden, mündeten diese Bestrebun-        überführt wird, dann entstehen zwangs-
                                                            gen in Bürgerkriegen. Allerdings waren        läufig nur neue rechtsfreie, weil staatsfer-
                                                            diese Kriege wesentlich unblutiger als auf    ne Räume. Welche Stabilitätsrisiken sol-
                                                            dem Balkan. Ihnen fehlte auch der ethni-      che Zonen auch für die internationale Si-
                                                            sche und religiöse Furor, der Serben, Bos-    cherheit bedeuten, ist dabei zu Genüge
                                                            niaken, Albanern und Kroaten zu immer         bekannt.
                                                            monströseren Gewaltausbrüchen ansta-
                                                            chelte.
                                                                                                                               II
                                                            Die Einhegungsversuche von außen, mit
                                                            denen eine gewaltsame Konfliktlösung un-      Überall, wo das staatliche Gewaltmonopol
                                                            terbunden wurde, machten diese Konflikte      nur eingeschränkt oder gar nicht ausgeübt
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werden kann, entsteht ein Machtvakuum,         wäsche. In Südossetien, einem Landstrich
                              das dazu einlädt, aufgefüllt zu werden. Der    mit nur 70.000 Einwohnern, werden nach
                              Druckausgleich kann von außen erfolgen.        Schätzungen jedes Jahr allein 100 Milliar-
                              Dann nutzen benachbarte Staaten die            den US-Dollar mit illegalen Geschäften
                              Schwäche zur Ausdehnung ihrer eigenen          umgesetzt. Schon von daher wird deutlich,
                              Macht- und Einflusssphären aus oder füh-       wie groß der Nutzen ist, den die Füh-
                              len sich zumindest eingeladen, die prekäre     rungseliten aus der mangelhaft ausgebil-
                              Situation für ihre eigenen politischen         deten Staatlichkeit und den Bürgerkriegs-
                              Zwecke zu instrumentalisieren. Die Politik     ökonomien ziehen. Sie haben keinerlei In-
                              Russlands in Abchasien, Südossetien und        teresse an der Beendigung der Konflikte
                              Transnistrien ist sicher nicht frei von sol-   und dem Aufbau funktionierender Staat-
                              chen Neigungen und stellt seit längerem        lichkeit. Nicht übersehen werden darf, wie
                              die Rolle Russlands als unparteiischer         sehr auch die Bevölkerung in ihrer Sub-
                              Schlichter und Friedensmacht in diesen         sistenzwirtschaft von diesen kriminellen
                              Regionen in Frage.                             Sonderwirtschaftszonen profitiert. Sie un-
                                                                             terstützt daher ebenfalls die Perpetuierung
                                                                                                 dieses    Ausnahmesta-
                                                                                                 tus, und dies über eth-
                                                                                                 nische Grenzen hin-
                                                                                                 weg. Denn hier ziehen
                                                                                                 Georgier, Russen und
           Seite 3

                                                                                                 Osseten durchaus an
                                                                                                 einem Strang.

                                                                                                 Gerade in Fällen wie
                                                                                                 Transnistrien oder Süd-
           Frozen Conflicts

                                                                                                 ossetien lässt sich da-
                                                                                                 her fragen, wie stark
                                                                                                 jenseits der offiziellen
                                                                                                 Deklarationen tatsäch-
                                                                                                 lich das Interesse an
                                                                                                 einer Eigenstaatlichkeit
                                                                                                 ausgeprägt ist. Schließ-
                                                                                                 lich führt die Anerken-
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                                                                                                 nung als Staat diese
                                                                                                 Regionen aus einer
                                                                                                 rechtlichen Grauzone,
                                                                                                 in der sie sich recht
                                                                                                 komfortabel eingerich-
                              Der Druckausgleich kann aber auch
                                                                             tet hatten. Faktisch waren sie bisher uner-
                              gleichzeitig von innen heraus erfolgen.
                                                                             reichbar für jede Art von internationaler
                              Dann übernehmen private Gewaltakteure
                                                                             Ächtung, vor Sanktionen und Strafverfol-
                              die Macht. Sie bauen staatsähnliche Struk-
                                                                             gung.
                              turen auf, inthronisieren von ihnen ab-
                              hängige politische Regime und integrieren
                              diese Regionen in ihre weltweit operieren-                         III
                              den kriminellen Netzwerke.
                                                                             Die Bezeichnung „eingefroren“ ist noch
                              Einiges spricht dafür, dass die Staatsbil-     aus anderen Gründen problematisch. Sie
                              dungsprozesse im Kaukasus nach diesem          suggeriert nämlich, dass der zum Zeit-
                              Muster abgelaufen sind. Alle in Rede ste-      punkt des Waffenstillstands erzielte Status
                              henden Quasi-Staaten sind Zentren des          quo konserviert und die Geschichte an-
                              Drogen- und Waffenhandels und der Geld-        gehalten werden könnte. Folglich wird ver-
kannt, welche Spuren die normative Kraft       Das erstaunt zumindest vor dem Hinter-
                              des Faktischen über die Jahre im Bewusst-      grund, dass im Fall des Kosovo gerade die
                              sein der sezessionswilligen Bevölkerung        normative Kraft des Faktischen, an die
                              hinterlässt. Deren Wahrnehmung lässt           Serbien ebenfalls nicht glauben mochte,
                              sich nämlich nicht einfrieren, sondern         den Ausschlag gegeben hat. Serbiens
                              verändert sich dynamisch - mit der Folge,      Recht auf territoriale Integrität wurde zu-
                              dass der Graben zur Titularnation mit der      gunsten der Unabhängigkeit des Kosovo
                              Zeit immer größer wird und letzte Reste        negiert. Das Kosovo mutierte damit zur
                              von Zusammengehörigkeitsgefühl endgül-         „Mutter aller Präzedenzen“, wenn sich
                              tig beseitigt.                                 auch alle westlichen Politiker darin über-
                                                                             treffen, das Gegenteil zu behaupten.
                              Auch schwinden mit der Zeit alle instituti-
                              onellen und ökonomischen Verbindungen.         Hierin liegt eine Spur selektiver Wahr-
                              Dass Abchasien anno 2008, in dem seit          nehmung, die auch gefährlich auf die EU
                              1993 kein Polizist der georgischen             zurückschlagen könnte. Man male sich nur
                              Staatsmacht mehr den Straßenverkehr ge-        aus, in welche Erklärungsnöte die westli-
                              regelt oder ein georgisches Gericht Recht      che Position geraten wäre, wenn die Rus-
                              gesprochen hätte, noch dasselbe wäre wie       sen in ihrem jüngsten Coup nicht nur
                              vor der Unabhängigkeitsbewegung 1992,          Südossetien und Abchasien, sondern auch
                              ist eine Fiktion.                              das Kosovo anerkannt hätten.

                                                                               „Georgiens territoriale
           Seite 4

                              Georgiens territoriale Integrität besteht
                              zwar noch de jure, de facto aber schon
                              längst nicht mehr. Die jüngsten Entwick-
                                                                             Integrität besteht de facto
                              lungen mit all ihren neuen Traumata dürf-          längst nicht mehr.“
                              ten daher eher in die Hände der Separatis-
           Frozen Conflicts

                              ten gespielt, als dass sie die Chancen Ge-     Schon vor der Kosovo-Entscheidung setzte
                              orgiens auf Rückgewinnung dieser Gebiete       sich der Westen dem Vorwurf aus, das
                              verbessert hätten. Da hätte es noch nicht      Völkerrecht in Bezug auf die National-
                              einmal der Anerkennung von Abchasien           staatsbildungsprozesse parteiisch auszu-
                              und Südossetien durch Russland bedurft.        legen oder gar mit komplett unterschiedli-
                                                                             chen Nationalstaatslogiken zu operieren.
                              Allerdings wird es interessant sein zu be-     Anders lässt sich sonst kaum erklären,
                              obachten, wie Südossetien seine Unabhän-       warum, fast im Sinne der Marxschen Un-
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                              gigkeit gestalten wird. Kommt es zu einer      terscheidung zwischen historischen und
                              Wiedervereinigung mit Russland? Oder           geschichtslosen Nationen, die sezessionis-
                              beobachten wir gerade die Geburtsstunde        tischen Bewegungen in Abchasien, Südos-
                              der ossetischen Nation? Letzteres dürfte       setien und Transnistrien im Westen kei-
                              Moskau nicht gefallen. Schließlich warten      nerlei Unterstützung fanden, während die
                              auf russischem Territorium noch viele an-      Staatsgründung Montenegros wie zum
                              dere Völker auf ihre Befreiung. Erinnert       Schluss auch die des Kosovo ausdrücklich
                              sei hier nur an Tschetschenien.                gutgeheißen wurden.

                                                                             Nach der Anerkennung des Kosovo kann
                                                  IV                         man sich jedenfalls des Vorwurfs nicht
                                                                             leicht erwehren, dass das Völkerrecht
                              Vor der normativen Kraft des Faktischen        auch in seiner westlichen Auslegungspra-
                              hat der Westen bei allen eingefrorenen         xis mehr mit Geographie und Einfluss-
                              postkommunistischen Konflikten bis heute       sphären als mit universellen Prinzipien zu
                              konsequent die Augen verschlossen und          tun haben könnte. An der europäischen
                              die territoriale Integrität des anerkannten    Peripherie gälte demnach für die Nachfol-
                              Staates, wie zuletzt in Georgien, über alles   gestaaten der Sowjetunion die postkolonia-
                              andere gestellt.                               le uti possidetis-Regel uneingeschränkt.
Danach sind die vorgefundenen Grenzen          legitimieren können und allen seinen Bür-
                              unantastbar, wie artifiziell sie auch immer    gern ein Mindestmaß an Schutz und Si-
                              gezogen sein mögen und wie wenig der in        cherheit bieten.
                              Frage stehende Staat zu einer auch seine
                              Minderheiten einschließenden inneren Be-       Kein Staat wie kein Regierungsführer
                              friedung beitragen kann. Näher am Kern-        dürfte sich daher auch mehr hinter dem
                              gebiet der EU darf sich hingegen das           Nichteinmischungsgebot        verschanzen
                              Selbstbestimmungsrecht der Völker entfal-      können, wenn er Verbrechen gegen die
                              ten, territoriale Integrität wie Nichteinmi-   Menschlichkeit oder Völkermord auf sei-
                              schungsgebot hin oder her. Letzteres gilt      nem Staatsgebiet duldet oder selbst ver-
                              im Übrigen auch für die sehr viel weiter       übt. Vielmehr hätte die internationale
                              entfernten Konfliktzonen in Afrika.            Staatengemeinschaft heute das Recht und
                                                                             die Pflicht, im Namen dieses sich neu
                              Träfe dieser Befund tatsächlich zu, steht      entwickelnden humanitären Völkerrechts
                              zu befürchten, dass sich die EU bei der        notfalls auch mit Gewalt zu intervenieren.
                              von ihr angestrebten Verwirklichung einer      Das ist die Theorie. Die Praxis zeigt der
                              effektiven, auf Multilateralismus gründen-     Krieg in Darfur.
                              den neuen Weltordnung selbst in die Que-
                              re kommt. Mehr als alles andere und alle       Ein paar Tausend Tote machen danach,
                              anderen ist sie dabei auf die Einhaltung       zynisch gesprochen, noch keinen Völker-
                              des Völkerrechts wie dessen konstruktiver      mord. Man erinnere sich, dass Ende der
           Seite 5

                              Weiterentwicklung angewiesen.                  1960er Jahre im Biafrakrieg über eine Mil-
                                                                             lion Tote die internationale Staatenge-
                                                                             meinschaft nicht veranlassen konnte, die
                                                   V                         Unabhängigkeit dieser Region von Nigeria
                                                                             anzuerkennen. Transnistrien oder Südos-
           Frozen Conflicts

                              Beispiele für eine solche konstruktive         setien können ihre Unabhängigkeitsbe-
                              Weiterentwicklung in jüngerer Zeit, für        strebungen rechtswirksam nicht mit der
                              die sich die Mitglied-
                              staaten der EU erfolg-
                              reich eingesetzt haben,
                              sind die von den Verein-
                              ten Nationen verab-
                              schiedete „responsibility
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                              to protect“ wie auch das
                              Statut zur Gründung des
                              Internationalen Strafge-
                              richtshofs in Den Haag.

                              Mit diesen beiden Völ-
                              kerrechtsakten wurden
                              wichtige Lehren aus den
                              zahlreichen, nach dem
                              Ende der Blockrivalität
                              entbrannten      Bürger-
                              kriegen gezogen. Für
                              einen Staat im 21. Jahr-
                              hundert reicht es nicht
                              mehr aus, wenn er über
                              ein international aner-
                              kanntes Territorium, ein
                              Staatsvolk und das Gewaltmonopol ver-          Verfolgung ihrer Bevölkerung begründen.
                              fügt. Er muss sich ebenfalls innerstaatlich    Umgekehrt gilt das auch für die jüngste
russische Intervention und die folgenden       jetzt im Südkaukasus, dass nach Maßgabe
                              Anerkennungen, die ihre Rechtfertigung         und Lage der Dinge nur die EU diese Ver-
                              nicht aus diesem Tatbestand ziehen kön-        handlungsmacht sein kann. Der einzige
                              nen.                                           „Gewinner“ des Georgienkonflikts, wenn
                                                                             unter diesen tragischen Umständen über-
                              Unabhängig davon, wie hoch die Todesrate       haupt solche Kategorien eröffnet werden
                              anzusetzen ist, leidet die Glaubwürdigkeit     dürfen, wäre – so absurd das zunächst
                              der EU, wenn sie den Universalitätsan-         klingt - die EU.
                              spruch des Völkerrechts nicht verteidigt.
                              Das Vorgehen Georgiens hätte von der           Denn, was hat Russland durch seine un-
                              westlichen Politik seit 1992 sehr viel kri-    verhältnismäßige Strafaktion in Georgien
                              tischer begleitet werden müssen. Auch          erreicht? Dass es jederzeit in der Lage ist,
                              demokratisch     legitimierten   Politikern    ein Land von der Größe Georgiens militä-
                              können Völkerrechtsverletzungen nicht          risch zu überrollen, hätte keines Beweises
                              nachgesehen werden.                            bedurft. Ein attraktives politisches Kon-
                                                                             zept oder die soft power, hier wie in den
                                                                             anderen Teilen des post-sowjetischen
                                                  VI                         Raums für eine Revision der politischen
                                                                             Verhältnisse zu seinen Gunsten zu sorgen,
                              Die erste Herausforderung für und Forde-       hatte und hat Moskau nicht. So bleibt
                              rung an die EU besteht daher darin, sich       nicht nur der in Russland ungeliebte Saa-
           Seite 6

                              noch nicht einmal dem Anschein auszu-          kaschwili - zumindest vorerst - weiter im
                              setzen, sie messe mit zweierlei Maß, wenn      Amt. Über seine Nachfolge wird, wenn,
                              es in den eingefrorenen Konflikten darum       nicht Moskau sondern der Westen ent-
                              geht, zwischen nationaler Selbstbestim-        scheiden. Russland ist international nur
                              mung einerseits und der Unveränderlich-        noch weiter isoliert. Selbst sein engster
           Frozen Conflicts

                              keit der Staatsgrenzen sowie der Staats-       Verbündeter Lukaschenko ging zunächst
                              souveränität andererseits zu vermitteln.       ostentativ auf Distanz. Der volkswirt-
                              Sie muss außerdem in jedem dieser Fälle        schaftliche Schaden dürfte außerdem er-
                              den Anforderungen des humanitären Völ-         heblich sein. Die Moskauer Börse notierte
                              kerrechts gerecht werden, wie sie sich aus     schon in den ersten Tagen Verluste von 11
                              dem neuen Grundsatz der „responsibility        Milliarden.
                              to protect“ ableiten. Geographische Ent-
                              fernung oder die sogenannten legitimen         Georgien ist ebenfalls keinem seiner Ziele
spotlight europe # 2008/10

                              Interessen sollten jedenfalls nicht zu einer   durch den Militärangriff nähergekommen.
                              unterschiedlichen Auslegung oder Anwen-        Die staatliche Einheit scheint weiter weg
                              dung völkerrechtlicher Grundsätze führen.      denn je. Insofern unterstreicht auch dieser
                                                                             Krieg, wie gering heute der Beitrag militä-
                              Die Zeiten eines ideologisch-machtpoli-        rischer Macht zur Lösung von Konflikten
                              tischen Manichäismus sind vorbei. Die          ist. Sie scheint noch nicht einmal mehr zur
                              Logik des „He is a son of a bitch, but our     Mäßigung oder Eindämmung zu taugen.
                              son of a bitch“ hat ausgedient. Die EU darf    Schließlich sucht die mit Abstand größte
                              sich daher, und das ist die zweite Forde-      Militärmacht der Welt, die USA, bisher
                              rung wie Herausforderung, auch nicht           immer noch vergeblich nach ihrer Rolle in
                              immer wieder von denjenigen ins Bocks-         diesem Konflikt.
                              horn jagen lassen, die zwar stets betonen,
                              dass der Kalte Krieg vorüber sei, aber das     Ein erfolgreiches Friedensprojekt wie die
                              Gegenteil davon denken und tun.                EU, das unter seinen Mitgliedern eine auf
                                                                             verbindlichen Normen und Werten, auf Ge-
                              Wenn Einfluss zu haben auch etwas - und        waltverzicht und Einbindung beruhende
                              womöglich am meisten - damit zu tun hat,       Ordnung geschaffen hat und in dem Gren-
                              ob man anderen bei der Lösung von Prob-        zen längst dem freien Verkehr von Men-
                              lemen helfen kann, dann zeigt sich schon       schen, Waren, Dienstleistungen und Kapi-
tal gewichen sind, muss daher mit sehr         Das heißt nicht, dass unter Umständen
                              viel mehr (produktivem) Selbstbewusst-         noch immer gerechte Kriege zu führen
                              sein agieren. Es ist die Attraktivität des     sein werden. Krieg ist aber kein Ersatz für
                              europäischen Integrationsmodells und sei-      schlechte Politik. Schlechte Politik ist,
                              ner soft power, die gegen alles Säbelras-      wenn die EU es unterlässt, die Rahmenbe-
                              seln zuletzt den Unterschied ausmachen         dingungen dafür zu schaffen, ihr außenpo-
                              wird. Das geht nicht von heute auf mor-        litisches Potential auszuspielen.
                              gen. Aber es geht, wie der Fall Zyperns
                              zeigt.                                         Die vierte Forderung und Herausforde-
                                                                             rung für die EU besteht insofern darin, mit
                              Die dritte Forderung wie Herausforderung       der gemeinsamen Außen- und Sicherheits-
                              besteht darin, dass sich die EU zu ihrem       politik endlich ernst zu machen. Sie
                              eigenen strategischen Potential bekennen       braucht einen Präsidenten der EU, der
                              muss. In einer Zeit in der hard power im-      nicht alle 6 Monate wechselt. Sie braucht
                              mer weniger zählt, kann jedenfalls der         einen Außenminister, der die den Mit-
                              Mangel an militärischer Stärke allein kein
                                                                             gliedstaaten zur Verfügung stehenden Mit-
                              Argument mehr sein, die Verantwortung
                                                                             tel mit den schon vorhandenen außenpoli-
                              für Frieden und Stabilität anderen zu über-
                                                                             tischen Gemeinschaftsinstrumenten der
                              lassen.
                                                                             Kommission zusammenführt. Es reicht
                              Es ist immer wieder argumentiert worden,       nicht, in Konfliktregionen durch die Kom-
                              und die EU hat sich nur allzu gern hinter      mission vorrangig technische Hilfen zu
           Seite 7

                              diesem Argument versteckt, dass die bis-       geben und über Nichtregierungsorganisa-
                              herigen Schwächen der EU in der Außen-         tionen in einer fast unüberschaubaren An-
                              und Sicherheitspolitik daher rühren, dass      zahl von Kleinprojekten auf die Entwick-
                              eine Gemeinschaft, für die das Recht und       lung einer zivilen Streitkultur zu hoffen.
                              der friedliche Interessenausgleich konsti-     Der gemeinsame politische Wille der EU,
           Frozen Conflicts

                              tutiv ist, keine Macht- und Interessenpoli-    Bedrohungen der Sicherheit in keinem Fall
                              tik jenseits ihrer Grenzen führen könne,       hinzunehmen, muss vielmehr zu jeder Zeit
                              die ihren eigenen Konstruktionsprinzipien      deutlich werden. Dafür braucht es das En-
                              diametral zuwiderläuft. Sie könne das je-      gagement der Spitzenpolitik. Und nicht zu-
                              denfalls nicht, ohne selbst Schaden zu         letzt einen Auswärtigen Dienst und ein
                              nehmen.                                        europäisches Friedenscorps.

                              „Die Kaukasus-Krise wird                       Die jüngste Kaukasus-Krise wird hoffent-
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                                                                             lich den visionäreren Kräften in der EU
                                hoffentlich visionäre                        den Rücken stärken. Die auf dem Sonder-
                              Kräfte in der EU stärken.“                     Gipfel der EU zur Georgien-Krise gezeigte
                                                                             Einigkeit macht Mut. Der bis auf weiteres
                              Dieses Argument gilt jedoch nur unter der      eingefrorene Lissabonner Vertrag gehört
                              Bedingung, dass das internationale System      enteist. Es sollte jedenfalls schon in der
                              tatsächlich etwas anderes als ein anarchi-     nahen Zukunft nicht mehr möglich sein,
                              scher Raum sein kann, in dem allein das        auf der Website der Europäischen Kom-
                              Recht des Stärkeren gilt und alle Politik in   mission zum großen Projekt der Europäi-
                              einem Nullsummenspiel endet. Ist aber          sche Nachbarschaftspolitik (ENP) schlicht
                              nicht die EU selbst der beste Beweis dafür,    zu lesen: „Bedauerlicherweise gibt es eine
                              dass es in den internationalen Beziehun-       Reihe ungelöster Konflikte in oder zwi-
                              gen auch andere, nicht bellizistische Ord-     schen den ENP-Partnerländern – von der
                              nungsmodelle geben kann? Und schließ-          Republik Moldau bis zum Südkaukasus,
                              lich lässt sich fragen, wofür die EU über-     vom Nahen Osten bis zur West-Sahara. Die
                              haupt Machtpolitik betreiben sollte, wenn      ENP ist an sich keine Politik zur Konflikt-
                              sie durch Verhandlungen mehr erreichen         vermeidung.“
                              kann.
Weiterführende Literatur:

                              Morton Deutsch, The resolution of Conflict. Constructive and Destructive Processes, New Haven and
                              London 1973

                              Stefani Weiss und Joscha Schmierer (Hrsg.), Prekäre Staatlichkeit und internationale Ordnung,
                              Wiesbaden 2007

                              Wim van Meurs, Eingefrorene Konflikte. Wie weiter mit den Quasistaaten? In: Osteuropa 57(2007)11,
                              S.111-120. Die Ausgabe ist dem Thema Minderheiten in Europa. Ansprüche, Rechte, Konflikte
                              gewidmet.

                              Ivan Krastev, Die Krise der europäischen Ordnung und Russlands neuer Konfrontationskurs mit dem
                              Westen/The Crisis of the Post-Cold War European Order. What to do about Russia’s newly found taste
                              for confrontation with the West? In: Transit. Europäische Revue, Heft 35, Sommer 2008

                              Antje Herrberg, Conflict resolution in Georgia. A synthesis analysis with a legal perspective, Crisis
                              management Initiative, June 2007
           Seite 8
           Frozen Conflicts

                              V.i.S.d.P.                                              Zuletzt erschienen:
spotlight europe # 2008/10

                              Bertelsmann Stiftung                                    Spotlight europe # 2008/09
                              Carl Bertelsmann Straße 256                             Eine Stimme für den Euro
                              D-33311 Gütersloh                                       Robert B. Vehrkamp
                              www.bertelsmann-stiftung.de
                                                                                      spotlight europe # 2008/08
                              Dr. Dominik Hierlemann                                  Neues im Osten: Erwartungen an ein EU-
                              dominik.hierlemann@bertelsmann.de                       Russland-Abkommen
                              Telefon +49 5241 81 81537                               Piotr Buras, Fraser Cameron, Cornelius
                                                                                      Ochmann, Andrei Zagorski
                              Joachim Fritz-Vannahme
                              joachim.vannahme@bertelsmann.de                         spotlight europe # 2008/07
                              Telefon +49 5241 81 81421                               Hallo Nachbar! Für eine neue EU-Politik von
                                                                                      Marokko bis Aserbaidschan
                                                                                      Joachim Fritz-Vannahme, Armando García
                                                                                      Schmidt, Margarethe Gawelek, Christian-Peter
                                                                                      Hanelt, Cornelius Ochmann

                                                                                      Alle Ausgaben des "spotlight europe"
                                                                                      stehen im Internet als Download bereit:
                              ISSN 1865-7451                                          www.bertelsmann-stiftung.de/spotlight
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