Frozen Conflicts Kant reloaded - "Frozen Conflicts Kant reloaded" by Stefani Weiss
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Frozen Conflicts Kant reloaded «Frozen Conflicts Kant reloaded» by Stefani Weiss Source: Spotlight Europe (Spotlight Europe), issue: 10 / 2008, pages: 18, on www.ceeol.com. The following ad supports maintaining our C.E.E.O.L. service
spotlight europe # 2008/10 – September 2008 Frozen Conflicts - Kant reloaded Stefani Weiss Bertelsmann Stiftung, stefani.weiss@bertelsmann.de Für die künftige Rolle der Europäischen Union im postsowjetischen Raum sind vier Punkte zentral: Sie darf bei der Anerkennung der Unabhängig- keit von Staaten nicht mit zweierlei Maß messen. Ihr Selbstbewusstsein muss produktiver sein und soft power als strategisches Potential besser genutzt werden. Nicht zuletzt benötigt sie die neuen Mechanismen der Außen- und Sicherheitspolitik, wie im Vertrag von Lissabon vorgesehen. Die jüngste Krise in Georgien stellt nicht in Afrika, dem Kaukasus oder auf dem Bal- nur mit neuer Wucht die Frage, wie es die kan im Einzelnen unterscheiden. Gemein- spotlight europe # 2008/10 Europäer künftig mit Russland halten wol- sam ist ihnen, dass sich Jahrzehnte, len. Sie entzieht gleichzeitig das Problem manchmal sogar Jahrhunderte von Gewalt, der sogenannten „eingefrorenen Konflikte“ Verfolgung und Unterdrückung nicht den in Europa vorherrschenden Verdrän- schlagartig vergessen machen lassen. gungsneigungen. Dabei musste sich die Europäische Union, wie die internationale Insofern kann die Politik es schon als Er- Gemeinschaft als Ganzes, erneut eingeste- folg feiern, wenn sie solche Sezessions- hen, dass ihre Fähigkeiten zur Konfliktlö- konflikte unterhalb der Kriegsschwelle sung auch nach dem Wegfall des Ost-West- einfrieren kann. Die EU muss sich daher Gegensatzes immer noch sehr begrenzt weniger zum Vorwurf machen, dass sie sind. diese Konflikte um Unabhängigkeit in ih- rer Nachbarschaft noch nicht lösen konn- Die in den 1990er Jahren wieder aufge- te. Den Vorwurf, den sie sich jedoch nicht flammten postkolonialen und postkommu- nur in Zusammenhang mit Georgien gefal- nistischen Konflikte über nationale len lassen muss, ist, dass sie nach der er- Selbstbestimmung und Souveränität eigne- folgreichen Osterweiterung bei Problemen ten sich kaum für „quick fixes“. Das gilt in ihrer neuen Nachbarschaft zu gleichgül- unabhängig davon, wie sehr sich die tig geblieben und zu sehr auf Zeit gesetzt strukturellen Ursachen für diese Konflikte hat.
Access via CEEOL NL Germany an der Peripherie der EU erst zu dem, was I sie heute sind: eingefrorene Konflikte. Man könnte darüber spekulieren, dass sie Neben den von Georgien Unabhängigkeit deshalb eingefroren genannt werden, weil suchenden Gebieten Südossetien und Ab- der Eishauch des Kalten Krieges, wie nicht chasien, die gerade zur großen Empörung wenige Beobachter behaupten, nach wie der meisten westlichen Mitglieder der in- vor über ihnen hängt. Das schlichtere Ad- ternationalen Staatengemeinschaft von jektiv wäre jedoch sicher „ungelöst“. Denn Russland anerkannt wurden, zählen heute bisher bestand der Beitrag der Interventi- noch Nagorny-Karabach und Transnistrien onen vor allem darin, Zeit zu gewinnen, zu den eingefrorenen Konflikten außerhalb egal, welche „Lösungen“ jeweils im Hin- der Russischen Föderation. Potentiell kon- terkopf erwogen wurden. fliktträchtig sind auch weitere Regionen in Europas östlicher Nachbarschaft, wie die Am Versuch, Zeit zu gewinnen, ist nichts jüngst zunehmenden Spannungen um die falsches, wenn diese Zeit nur gut genutzt Krim belegen. wird. Im Sinne einer erfolgreichen Frie- dens- und Stabilisierungspolitik hätte aber Allen diesen Gebieten ist gemeinsam, dass von der EU der Modernisierungsdruck zur sie zum Machtbereich des russisch- Stärkung demokratischer, rechtsstaatli- sowjetischen Imperiums gehörten und cher und marktwirtschaftlicher Strukturen wenn nicht schon in der Zarenzeit, dann konstant hoch gehalten werden müssen. Seite 2 spätestens unter Stalin dem Herrschafts- Zudem hätten sich die EU-Politiken zur bereich einer der Sowjetrepubliken Transformation nicht nur an den internati- zwangsweise zugeschlagen wurden. Mit onal anerkannten Staat, also an Armenien, dem Kollaps des kommunistischen Sys- Moldau, Aserbaidschan oder Georgien tems wollten daher nicht nur die meisten richten dürfen, sondern sezessionswilligen Frozen Conflicts der Republiken der sowjetischen Föderati- Gebiete einschließen müssen. Schließlich on unabhängig werden. Auch manche ih- fehlen funktionierende Staatlichkeit und rer Regionen oder autonomen Teilgebiete eine zivilgesellschaftlich verankerte De- hofften, die Gunst der Stunde für eigene mokratie oftmals auf beiden Seiten. Unabhängigkeitsbestrebungen nutzen zu können. Sicherlich wird die Zeit nicht gut genutzt, wenn man die „abtrünnigen Gebiete“ nach „Über den eingefrorenen Waffenstillstandsabkommen mehr oder spotlight europe # 2008/10 Konflikten hängt der Eis- weniger sich selbst überlässt. Verhindert man nämlich einerseits, dass die interna- hauch des Kalten Krieges.“ tional anerkannte Nation gewaltsam ihre Hoheitsrechte wiederherstellen kann, wie Wie bei den fast zeitgleichen Sezessions- andererseits, dass die de facto Souveräni- bewegungen auf dem Balkan, die durch tät in eine internationale Anerkennung als den Zusammenbruch Jugoslawiens ausge- Staat mit allen Rechten und Pflichten löst wurden, mündeten diese Bestrebun- überführt wird, dann entstehen zwangs- gen in Bürgerkriegen. Allerdings waren läufig nur neue rechtsfreie, weil staatsfer- diese Kriege wesentlich unblutiger als auf ne Räume. Welche Stabilitätsrisiken sol- dem Balkan. Ihnen fehlte auch der ethni- che Zonen auch für die internationale Si- sche und religiöse Furor, der Serben, Bos- cherheit bedeuten, ist dabei zu Genüge niaken, Albanern und Kroaten zu immer bekannt. monströseren Gewaltausbrüchen ansta- chelte. II Die Einhegungsversuche von außen, mit denen eine gewaltsame Konfliktlösung un- Überall, wo das staatliche Gewaltmonopol terbunden wurde, machten diese Konflikte nur eingeschränkt oder gar nicht ausgeübt
werden kann, entsteht ein Machtvakuum, wäsche. In Südossetien, einem Landstrich das dazu einlädt, aufgefüllt zu werden. Der mit nur 70.000 Einwohnern, werden nach Druckausgleich kann von außen erfolgen. Schätzungen jedes Jahr allein 100 Milliar- Dann nutzen benachbarte Staaten die den US-Dollar mit illegalen Geschäften Schwäche zur Ausdehnung ihrer eigenen umgesetzt. Schon von daher wird deutlich, Macht- und Einflusssphären aus oder füh- wie groß der Nutzen ist, den die Füh- len sich zumindest eingeladen, die prekäre rungseliten aus der mangelhaft ausgebil- Situation für ihre eigenen politischen deten Staatlichkeit und den Bürgerkriegs- Zwecke zu instrumentalisieren. Die Politik ökonomien ziehen. Sie haben keinerlei In- Russlands in Abchasien, Südossetien und teresse an der Beendigung der Konflikte Transnistrien ist sicher nicht frei von sol- und dem Aufbau funktionierender Staat- chen Neigungen und stellt seit längerem lichkeit. Nicht übersehen werden darf, wie die Rolle Russlands als unparteiischer sehr auch die Bevölkerung in ihrer Sub- Schlichter und Friedensmacht in diesen sistenzwirtschaft von diesen kriminellen Regionen in Frage. Sonderwirtschaftszonen profitiert. Sie un- terstützt daher ebenfalls die Perpetuierung dieses Ausnahmesta- tus, und dies über eth- nische Grenzen hin- weg. Denn hier ziehen Georgier, Russen und Seite 3 Osseten durchaus an einem Strang. Gerade in Fällen wie Transnistrien oder Süd- Frozen Conflicts ossetien lässt sich da- her fragen, wie stark jenseits der offiziellen Deklarationen tatsäch- lich das Interesse an einer Eigenstaatlichkeit ausgeprägt ist. Schließ- lich führt die Anerken- spotlight europe # 2008/10 nung als Staat diese Regionen aus einer rechtlichen Grauzone, in der sie sich recht komfortabel eingerich- Der Druckausgleich kann aber auch tet hatten. Faktisch waren sie bisher uner- gleichzeitig von innen heraus erfolgen. reichbar für jede Art von internationaler Dann übernehmen private Gewaltakteure Ächtung, vor Sanktionen und Strafverfol- die Macht. Sie bauen staatsähnliche Struk- gung. turen auf, inthronisieren von ihnen ab- hängige politische Regime und integrieren diese Regionen in ihre weltweit operieren- III den kriminellen Netzwerke. Die Bezeichnung „eingefroren“ ist noch Einiges spricht dafür, dass die Staatsbil- aus anderen Gründen problematisch. Sie dungsprozesse im Kaukasus nach diesem suggeriert nämlich, dass der zum Zeit- Muster abgelaufen sind. Alle in Rede ste- punkt des Waffenstillstands erzielte Status henden Quasi-Staaten sind Zentren des quo konserviert und die Geschichte an- Drogen- und Waffenhandels und der Geld- gehalten werden könnte. Folglich wird ver-
kannt, welche Spuren die normative Kraft Das erstaunt zumindest vor dem Hinter- des Faktischen über die Jahre im Bewusst- grund, dass im Fall des Kosovo gerade die sein der sezessionswilligen Bevölkerung normative Kraft des Faktischen, an die hinterlässt. Deren Wahrnehmung lässt Serbien ebenfalls nicht glauben mochte, sich nämlich nicht einfrieren, sondern den Ausschlag gegeben hat. Serbiens verändert sich dynamisch - mit der Folge, Recht auf territoriale Integrität wurde zu- dass der Graben zur Titularnation mit der gunsten der Unabhängigkeit des Kosovo Zeit immer größer wird und letzte Reste negiert. Das Kosovo mutierte damit zur von Zusammengehörigkeitsgefühl endgül- „Mutter aller Präzedenzen“, wenn sich tig beseitigt. auch alle westlichen Politiker darin über- treffen, das Gegenteil zu behaupten. Auch schwinden mit der Zeit alle instituti- onellen und ökonomischen Verbindungen. Hierin liegt eine Spur selektiver Wahr- Dass Abchasien anno 2008, in dem seit nehmung, die auch gefährlich auf die EU 1993 kein Polizist der georgischen zurückschlagen könnte. Man male sich nur Staatsmacht mehr den Straßenverkehr ge- aus, in welche Erklärungsnöte die westli- regelt oder ein georgisches Gericht Recht che Position geraten wäre, wenn die Rus- gesprochen hätte, noch dasselbe wäre wie sen in ihrem jüngsten Coup nicht nur vor der Unabhängigkeitsbewegung 1992, Südossetien und Abchasien, sondern auch ist eine Fiktion. das Kosovo anerkannt hätten. „Georgiens territoriale Seite 4 Georgiens territoriale Integrität besteht zwar noch de jure, de facto aber schon längst nicht mehr. Die jüngsten Entwick- Integrität besteht de facto lungen mit all ihren neuen Traumata dürf- längst nicht mehr.“ ten daher eher in die Hände der Separatis- Frozen Conflicts ten gespielt, als dass sie die Chancen Ge- Schon vor der Kosovo-Entscheidung setzte orgiens auf Rückgewinnung dieser Gebiete sich der Westen dem Vorwurf aus, das verbessert hätten. Da hätte es noch nicht Völkerrecht in Bezug auf die National- einmal der Anerkennung von Abchasien staatsbildungsprozesse parteiisch auszu- und Südossetien durch Russland bedurft. legen oder gar mit komplett unterschiedli- chen Nationalstaatslogiken zu operieren. Allerdings wird es interessant sein zu be- Anders lässt sich sonst kaum erklären, obachten, wie Südossetien seine Unabhän- warum, fast im Sinne der Marxschen Un- spotlight europe # 2008/10 gigkeit gestalten wird. Kommt es zu einer terscheidung zwischen historischen und Wiedervereinigung mit Russland? Oder geschichtslosen Nationen, die sezessionis- beobachten wir gerade die Geburtsstunde tischen Bewegungen in Abchasien, Südos- der ossetischen Nation? Letzteres dürfte setien und Transnistrien im Westen kei- Moskau nicht gefallen. Schließlich warten nerlei Unterstützung fanden, während die auf russischem Territorium noch viele an- Staatsgründung Montenegros wie zum dere Völker auf ihre Befreiung. Erinnert Schluss auch die des Kosovo ausdrücklich sei hier nur an Tschetschenien. gutgeheißen wurden. Nach der Anerkennung des Kosovo kann IV man sich jedenfalls des Vorwurfs nicht leicht erwehren, dass das Völkerrecht Vor der normativen Kraft des Faktischen auch in seiner westlichen Auslegungspra- hat der Westen bei allen eingefrorenen xis mehr mit Geographie und Einfluss- postkommunistischen Konflikten bis heute sphären als mit universellen Prinzipien zu konsequent die Augen verschlossen und tun haben könnte. An der europäischen die territoriale Integrität des anerkannten Peripherie gälte demnach für die Nachfol- Staates, wie zuletzt in Georgien, über alles gestaaten der Sowjetunion die postkolonia- andere gestellt. le uti possidetis-Regel uneingeschränkt.
Danach sind die vorgefundenen Grenzen legitimieren können und allen seinen Bür- unantastbar, wie artifiziell sie auch immer gern ein Mindestmaß an Schutz und Si- gezogen sein mögen und wie wenig der in cherheit bieten. Frage stehende Staat zu einer auch seine Minderheiten einschließenden inneren Be- Kein Staat wie kein Regierungsführer friedung beitragen kann. Näher am Kern- dürfte sich daher auch mehr hinter dem gebiet der EU darf sich hingegen das Nichteinmischungsgebot verschanzen Selbstbestimmungsrecht der Völker entfal- können, wenn er Verbrechen gegen die ten, territoriale Integrität wie Nichteinmi- Menschlichkeit oder Völkermord auf sei- schungsgebot hin oder her. Letzteres gilt nem Staatsgebiet duldet oder selbst ver- im Übrigen auch für die sehr viel weiter übt. Vielmehr hätte die internationale entfernten Konfliktzonen in Afrika. Staatengemeinschaft heute das Recht und die Pflicht, im Namen dieses sich neu Träfe dieser Befund tatsächlich zu, steht entwickelnden humanitären Völkerrechts zu befürchten, dass sich die EU bei der notfalls auch mit Gewalt zu intervenieren. von ihr angestrebten Verwirklichung einer Das ist die Theorie. Die Praxis zeigt der effektiven, auf Multilateralismus gründen- Krieg in Darfur. den neuen Weltordnung selbst in die Que- re kommt. Mehr als alles andere und alle Ein paar Tausend Tote machen danach, anderen ist sie dabei auf die Einhaltung zynisch gesprochen, noch keinen Völker- des Völkerrechts wie dessen konstruktiver mord. Man erinnere sich, dass Ende der Seite 5 Weiterentwicklung angewiesen. 1960er Jahre im Biafrakrieg über eine Mil- lion Tote die internationale Staatenge- meinschaft nicht veranlassen konnte, die V Unabhängigkeit dieser Region von Nigeria anzuerkennen. Transnistrien oder Südos- Frozen Conflicts Beispiele für eine solche konstruktive setien können ihre Unabhängigkeitsbe- Weiterentwicklung in jüngerer Zeit, für strebungen rechtswirksam nicht mit der die sich die Mitglied- staaten der EU erfolg- reich eingesetzt haben, sind die von den Verein- ten Nationen verab- schiedete „responsibility spotlight europe # 2008/10 to protect“ wie auch das Statut zur Gründung des Internationalen Strafge- richtshofs in Den Haag. Mit diesen beiden Völ- kerrechtsakten wurden wichtige Lehren aus den zahlreichen, nach dem Ende der Blockrivalität entbrannten Bürger- kriegen gezogen. Für einen Staat im 21. Jahr- hundert reicht es nicht mehr aus, wenn er über ein international aner- kanntes Territorium, ein Staatsvolk und das Gewaltmonopol ver- Verfolgung ihrer Bevölkerung begründen. fügt. Er muss sich ebenfalls innerstaatlich Umgekehrt gilt das auch für die jüngste
russische Intervention und die folgenden jetzt im Südkaukasus, dass nach Maßgabe Anerkennungen, die ihre Rechtfertigung und Lage der Dinge nur die EU diese Ver- nicht aus diesem Tatbestand ziehen kön- handlungsmacht sein kann. Der einzige nen. „Gewinner“ des Georgienkonflikts, wenn unter diesen tragischen Umständen über- Unabhängig davon, wie hoch die Todesrate haupt solche Kategorien eröffnet werden anzusetzen ist, leidet die Glaubwürdigkeit dürfen, wäre – so absurd das zunächst der EU, wenn sie den Universalitätsan- klingt - die EU. spruch des Völkerrechts nicht verteidigt. Das Vorgehen Georgiens hätte von der Denn, was hat Russland durch seine un- westlichen Politik seit 1992 sehr viel kri- verhältnismäßige Strafaktion in Georgien tischer begleitet werden müssen. Auch erreicht? Dass es jederzeit in der Lage ist, demokratisch legitimierten Politikern ein Land von der Größe Georgiens militä- können Völkerrechtsverletzungen nicht risch zu überrollen, hätte keines Beweises nachgesehen werden. bedurft. Ein attraktives politisches Kon- zept oder die soft power, hier wie in den anderen Teilen des post-sowjetischen VI Raums für eine Revision der politischen Verhältnisse zu seinen Gunsten zu sorgen, Die erste Herausforderung für und Forde- hatte und hat Moskau nicht. So bleibt rung an die EU besteht daher darin, sich nicht nur der in Russland ungeliebte Saa- Seite 6 noch nicht einmal dem Anschein auszu- kaschwili - zumindest vorerst - weiter im setzen, sie messe mit zweierlei Maß, wenn Amt. Über seine Nachfolge wird, wenn, es in den eingefrorenen Konflikten darum nicht Moskau sondern der Westen ent- geht, zwischen nationaler Selbstbestim- scheiden. Russland ist international nur mung einerseits und der Unveränderlich- noch weiter isoliert. Selbst sein engster Frozen Conflicts keit der Staatsgrenzen sowie der Staats- Verbündeter Lukaschenko ging zunächst souveränität andererseits zu vermitteln. ostentativ auf Distanz. Der volkswirt- Sie muss außerdem in jedem dieser Fälle schaftliche Schaden dürfte außerdem er- den Anforderungen des humanitären Völ- heblich sein. Die Moskauer Börse notierte kerrechts gerecht werden, wie sie sich aus schon in den ersten Tagen Verluste von 11 dem neuen Grundsatz der „responsibility Milliarden. to protect“ ableiten. Geographische Ent- fernung oder die sogenannten legitimen Georgien ist ebenfalls keinem seiner Ziele spotlight europe # 2008/10 Interessen sollten jedenfalls nicht zu einer durch den Militärangriff nähergekommen. unterschiedlichen Auslegung oder Anwen- Die staatliche Einheit scheint weiter weg dung völkerrechtlicher Grundsätze führen. denn je. Insofern unterstreicht auch dieser Krieg, wie gering heute der Beitrag militä- Die Zeiten eines ideologisch-machtpoli- rischer Macht zur Lösung von Konflikten tischen Manichäismus sind vorbei. Die ist. Sie scheint noch nicht einmal mehr zur Logik des „He is a son of a bitch, but our Mäßigung oder Eindämmung zu taugen. son of a bitch“ hat ausgedient. Die EU darf Schließlich sucht die mit Abstand größte sich daher, und das ist die zweite Forde- Militärmacht der Welt, die USA, bisher rung wie Herausforderung, auch nicht immer noch vergeblich nach ihrer Rolle in immer wieder von denjenigen ins Bocks- diesem Konflikt. horn jagen lassen, die zwar stets betonen, dass der Kalte Krieg vorüber sei, aber das Ein erfolgreiches Friedensprojekt wie die Gegenteil davon denken und tun. EU, das unter seinen Mitgliedern eine auf verbindlichen Normen und Werten, auf Ge- Wenn Einfluss zu haben auch etwas - und waltverzicht und Einbindung beruhende womöglich am meisten - damit zu tun hat, Ordnung geschaffen hat und in dem Gren- ob man anderen bei der Lösung von Prob- zen längst dem freien Verkehr von Men- lemen helfen kann, dann zeigt sich schon schen, Waren, Dienstleistungen und Kapi-
tal gewichen sind, muss daher mit sehr Das heißt nicht, dass unter Umständen viel mehr (produktivem) Selbstbewusst- noch immer gerechte Kriege zu führen sein agieren. Es ist die Attraktivität des sein werden. Krieg ist aber kein Ersatz für europäischen Integrationsmodells und sei- schlechte Politik. Schlechte Politik ist, ner soft power, die gegen alles Säbelras- wenn die EU es unterlässt, die Rahmenbe- seln zuletzt den Unterschied ausmachen dingungen dafür zu schaffen, ihr außenpo- wird. Das geht nicht von heute auf mor- litisches Potential auszuspielen. gen. Aber es geht, wie der Fall Zyperns zeigt. Die vierte Forderung und Herausforde- rung für die EU besteht insofern darin, mit Die dritte Forderung wie Herausforderung der gemeinsamen Außen- und Sicherheits- besteht darin, dass sich die EU zu ihrem politik endlich ernst zu machen. Sie eigenen strategischen Potential bekennen braucht einen Präsidenten der EU, der muss. In einer Zeit in der hard power im- nicht alle 6 Monate wechselt. Sie braucht mer weniger zählt, kann jedenfalls der einen Außenminister, der die den Mit- Mangel an militärischer Stärke allein kein gliedstaaten zur Verfügung stehenden Mit- Argument mehr sein, die Verantwortung tel mit den schon vorhandenen außenpoli- für Frieden und Stabilität anderen zu über- tischen Gemeinschaftsinstrumenten der lassen. Kommission zusammenführt. Es reicht Es ist immer wieder argumentiert worden, nicht, in Konfliktregionen durch die Kom- und die EU hat sich nur allzu gern hinter mission vorrangig technische Hilfen zu Seite 7 diesem Argument versteckt, dass die bis- geben und über Nichtregierungsorganisa- herigen Schwächen der EU in der Außen- tionen in einer fast unüberschaubaren An- und Sicherheitspolitik daher rühren, dass zahl von Kleinprojekten auf die Entwick- eine Gemeinschaft, für die das Recht und lung einer zivilen Streitkultur zu hoffen. der friedliche Interessenausgleich konsti- Der gemeinsame politische Wille der EU, Frozen Conflicts tutiv ist, keine Macht- und Interessenpoli- Bedrohungen der Sicherheit in keinem Fall tik jenseits ihrer Grenzen führen könne, hinzunehmen, muss vielmehr zu jeder Zeit die ihren eigenen Konstruktionsprinzipien deutlich werden. Dafür braucht es das En- diametral zuwiderläuft. Sie könne das je- gagement der Spitzenpolitik. Und nicht zu- denfalls nicht, ohne selbst Schaden zu letzt einen Auswärtigen Dienst und ein nehmen. europäisches Friedenscorps. „Die Kaukasus-Krise wird Die jüngste Kaukasus-Krise wird hoffent- spotlight europe # 2008/10 lich den visionäreren Kräften in der EU hoffentlich visionäre den Rücken stärken. Die auf dem Sonder- Kräfte in der EU stärken.“ Gipfel der EU zur Georgien-Krise gezeigte Einigkeit macht Mut. Der bis auf weiteres Dieses Argument gilt jedoch nur unter der eingefrorene Lissabonner Vertrag gehört Bedingung, dass das internationale System enteist. Es sollte jedenfalls schon in der tatsächlich etwas anderes als ein anarchi- nahen Zukunft nicht mehr möglich sein, scher Raum sein kann, in dem allein das auf der Website der Europäischen Kom- Recht des Stärkeren gilt und alle Politik in mission zum großen Projekt der Europäi- einem Nullsummenspiel endet. Ist aber sche Nachbarschaftspolitik (ENP) schlicht nicht die EU selbst der beste Beweis dafür, zu lesen: „Bedauerlicherweise gibt es eine dass es in den internationalen Beziehun- Reihe ungelöster Konflikte in oder zwi- gen auch andere, nicht bellizistische Ord- schen den ENP-Partnerländern – von der nungsmodelle geben kann? Und schließ- Republik Moldau bis zum Südkaukasus, lich lässt sich fragen, wofür die EU über- vom Nahen Osten bis zur West-Sahara. Die haupt Machtpolitik betreiben sollte, wenn ENP ist an sich keine Politik zur Konflikt- sie durch Verhandlungen mehr erreichen vermeidung.“ kann.
Weiterführende Literatur: Morton Deutsch, The resolution of Conflict. Constructive and Destructive Processes, New Haven and London 1973 Stefani Weiss und Joscha Schmierer (Hrsg.), Prekäre Staatlichkeit und internationale Ordnung, Wiesbaden 2007 Wim van Meurs, Eingefrorene Konflikte. Wie weiter mit den Quasistaaten? In: Osteuropa 57(2007)11, S.111-120. Die Ausgabe ist dem Thema Minderheiten in Europa. Ansprüche, Rechte, Konflikte gewidmet. Ivan Krastev, Die Krise der europäischen Ordnung und Russlands neuer Konfrontationskurs mit dem Westen/The Crisis of the Post-Cold War European Order. What to do about Russia’s newly found taste for confrontation with the West? In: Transit. Europäische Revue, Heft 35, Sommer 2008 Antje Herrberg, Conflict resolution in Georgia. A synthesis analysis with a legal perspective, Crisis management Initiative, June 2007 Seite 8 Frozen Conflicts V.i.S.d.P. Zuletzt erschienen: spotlight europe # 2008/10 Bertelsmann Stiftung Spotlight europe # 2008/09 Carl Bertelsmann Straße 256 Eine Stimme für den Euro D-33311 Gütersloh Robert B. Vehrkamp www.bertelsmann-stiftung.de spotlight europe # 2008/08 Dr. Dominik Hierlemann Neues im Osten: Erwartungen an ein EU- dominik.hierlemann@bertelsmann.de Russland-Abkommen Telefon +49 5241 81 81537 Piotr Buras, Fraser Cameron, Cornelius Ochmann, Andrei Zagorski Joachim Fritz-Vannahme joachim.vannahme@bertelsmann.de spotlight europe # 2008/07 Telefon +49 5241 81 81421 Hallo Nachbar! Für eine neue EU-Politik von Marokko bis Aserbaidschan Joachim Fritz-Vannahme, Armando García Schmidt, Margarethe Gawelek, Christian-Peter Hanelt, Cornelius Ochmann Alle Ausgaben des "spotlight europe" stehen im Internet als Download bereit: ISSN 1865-7451 www.bertelsmann-stiftung.de/spotlight
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