Cannabis: Ein umfassendes Informations- und Behandlungsangebot - Beratungsstelle für Drogenprobleme Winterthur
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Cannabis: Ein umfassendes Informations- und Behandlungsangebot Beratungsstelle für Drogenprobleme Winterthur 01.06.2006 Seite 1
Inhaltsverzeichnis 1. Ausgangslage 2. Substanzkonsum und Jugendalter 3. Situation der Beratungsstelle für Drogenprobleme 4. Ziele und Grundlagen der Behandlung 4.1. Ziele 4.2. Zielgruppe 4.3. Einordnung im Behandlungssystem Sucht und institutionelle Rahmenbedingungen 4.4. Grundsätze des Informations- und Behandlungsangebotes 4.5. Behandlungsangebot: differenziert und Standardisiert 5. Anmeldeprocedere 6. Abklärung und Indikation 6.1. Zuständigkeit 6.2. Motivation 6.3. Gefährdung 7. Kernprozesse (Behandlungsmodule) 8. Substanzspezifische Information 9. Weitere Arbeitshilfen 10. Vernetzung und Zusammenarbeit 11. Öffentlichkeitsarbeit 12. Qualitätssicherung Literaturverzeichnis Glossar Anhang • Kernprozesse • Substanzspezifische Information • Arbeitshilfen 01.06.2006 Seite 2
1. Ausgangslage Unsere Erfahrung aber auch wissenschaftliche Studien belegen (BAG, 2005), dass der Cannabiskonsum in den Neunzigerjahren des letzten Jahrhunderts insbesondere bei Jugendlichen massiv zugenommen hat. Die Zahlen der Schweizerischen Gesundheitsbefragung (SFA, 2004) illustrieren beispielsweise diesen Konsumanstieg deutlich: Während 1992 lediglich 16.3 % der 15- bis 39-Jährigen Cannabis einmal konsumierte, waren es im Jahre 2002 bereits 27.7 %; was einem Anstieg um fast 70% entspricht. In den letzten drei Jahren – gemäss verschiedener Befragungen – dürfte sich der Cannabiskonsum auf hohem Niveau stabilisiert haben. Resultate der ersten systematischen, repräsentativen Längsschnittstudie zum Cannabiskonsum für das Jahr 2004 in der Schweiz (BAG, 2005) zeigen, dass rund 46 % der befragten 13- bis 29-Jährigen in ihrem Leben schon Cannabis konsumierten. Davon sind gut 13% sogenannt aktuelle Konsumierende, das heisst, sie haben in den letzten 6 Monaten vor der Befragung Cannabis zu sich genommen. Mit diesen Zahlen nimmt die Schweiz im internationalen Vergleich eine Spitzenposition ein. Verschiedene Studien weisen darauf hin, dass wir es nicht nur mit einer Zunahme des Freizeit- und Probierkonsums zu tun haben, sondern auch mit einer Zunahme des regelmässigen Konsums. So ist beispielsweise die Wochenprävalenz des Cannabisgebrauchs zwischen 1992 und 2002 noch stärker angestiegen als die Lebenszeitprävalenz (SFA, 2004). Eine Schweizer Multizenter Studie von 2002 kommt ebenfalls zum Schluss, dass es eine wachsende Anzahl Jugendlicher gibt, die täglich oder mehrmals täglich Cannabis konsumieren (Narring et al., 2003). Gemäss dieser Studie gaben 4 % der Mädchen und 13 % der Jungen an, täglich Cannabis zu sich zu nehmen. Es ist in erster Linie die Zunahme des regelmässigen Konsums, insbesondere in jungen Jahren, die Anlass zur Sorge gibt, da ein häufiger Cannabis- konsum ein problematisches Konsummuster und ein Zeichen von Gefährdung sein kann. In der Literatur findet man entsprechende Hinweise die zeigen, dass die Konsumfrequenz ein starker Prädiktor von Substanz assoziierten Problemen ist (z.B. Chen et al., 1997). Dies wird in der Schweizer Studie bestätigt (BAG, 2005), in der etwa ein Drittel der Personen, die in den vergangenen sechs Monaten Cannabis konsumierten, (32.1 %) angeben, unter Folgeproblemen des Cannabiskonsums zu leiden. Folgeprobleme können Gedächtnis- und Konzentrationsschwierigkeiten, Angst die Kontrolle über den Konsum zu verlieren oder soziale Sanktionen sein. Diese Personen müssen als problematisch Konsumierende eingestuft werden. 2. Substanzkonsum und Jugendalter Laut Forschern gibt es einige Hinweise, dass der Konsumanstieg in den 1990er Jahren mit einem sinkenden Einstiegsalter (Müller, Gmel, 2002) einher gegangen ist. Häufiger Cannabiskonsum während der Adoleszenz muss grundsätzlich als proble- matisches Verhalten angesehen werden, da sich Jugendliche in einer wichtigen Entwicklungsphase befinden, die mit vielen Aufgaben und Anforderungen einhergeht; also eine Phase, die eine aktive Auseinandersetzung mit sich und der Umwelt verlangt. Die Adoleszenz birgt viel Entwicklungs- und Reifepotenzial, was zwangs- läufig auch heisst, dass es sich um eine sensible und störanfällige Phase handelt. In anderen Worten: Entwicklungspotenzial und Verletzlichkeit von Jugendlichen gehen miteinander einher. Werden in dieser Zeit häufig psychoaktive Substanzen wie Cannabis konsumiert, besteht die Gefahr, dass die anstehenden Entwicklungs- aufgaben nicht in ausreichendem Masse bewältigt werden können, was Entwick- 01.06.2006 Seite 3
lungsdefizite mit sich bringen kann. In der Folge ist eine gesunde psychosoziale Entwicklung erschwert und die Integration in die Gesellschaft gefährdet. Obschon ein gewisses Ausmass an Probierkonsum von psychoaktiven Substanzen ein Phänomen der Adoleszenz sein kann, muss ein häufiger Konsum – insbesondere in jungen Jahren – grundsätzlich als problematisch, im Sinne eines Zeichens von Gefährdung, angesehen werden. In diesem Sinne ist es uns ein Anliegen, mit unserem Angebot im Bereich Cannabis der Früherkennung von Problem belasteten Jugendlichen und jungen Erwachsenen und solchen, bei denen sich die Entwicklung einer psychischen Störung abzeichnet, besondere Bedeutung beizumessen. Bei Letzterem ist beispielsweise das möglichst rechtzeitige Erkennen von psychischen Störungen aus dem schizophrenen Formen- kreis gemeint: Solche Störungen beginnen typischerweise während der Adoleszenz und sind oftmals – wahrscheinlich zum Zwecke der Selbstmedikation – mit einem starken Cannabiskonsum verbunden. Daneben gibt es aber noch eine Reihe weiterer psychischer Symptomatiken und Störungen wie insbesondere affektive Störungen (wie beispielsweise depressive Störungen), Angst- und Belastungsstörungen sowie hyperkinetische Störungen, die zusätzlich zur Cannabisproblematik vorhanden sein können und von denen wir annehmen dürfen, dass diese bei der Entstehung und Aufrechterhaltung des problematischen Cannabiskonsums eine bedeutsame Rolle spielen. Mögliche Begleiterkrankungen müssen sowohl in der Abklärung wie auch in der laufenden Behandlung berücksichtigt werden. 3. Situation der Beratungsstelle für Drogenprobleme Winterthur Die stark zunehmende Verbreitung des Cannabiskonsums mit den auch damit ver- bundenen fachlichen und politischen Fragen und Auseinandersetzungen, liessen das Thema in den letzten Jahren mehr und mehr zum Gegenstand der öffentlichen Berichterstattung werden, was wiederum zu einer erhöhten Sensibilität - zuweilen auch Unsicherheit - in der Bevölkerung beitrug. Die vom Nationalrat im Juni 2004 abgelehnte Revision des Betäubungsmittelgesetzes und die begonnene Debatte über die bevorstehende Volksabstimmung (Hanfinitiative) sorgen dafür, dass das Thema Cannabiskonsum weiterhin eine grosse Präsenz in der Öffentlichkeit haben wird. Die Beratungsstelle für Drogenprobleme Winterthur verzeichnete in den vergangenen Jahren eine kontinuierliche Zunahme von Anfragen und Anmeldungen wegen Cannabiskonsum. Die Anmeldungen kommen von Cannabis konsumierenden Erwachsenen, Jugendlichen oder von besorgten Eltern und anderen Bezugspersonen. Mit der Entwicklung unseres Informations- und Behandlungs- angebotes im Bereich Cannabis versuchen wir, einen fachlich fundierten, gleichzeitig auch differenzierten Umgang mit der relativ neuen Problematik zu finden. Als Institution im Bereich der Behandlung von Substanzstörungen ist es unsere Aufgabe, ein Angebot für die Personen bereitzustellen, bei denen sich die Entwicklung eines problematischen Konsums abzeichnet oder die bereits einen missbräuchlichen oder abhängigen Konsum von Cannabis aufweisen. Dabei müssen wir der Tatsache Rechung tragen, dass ein Teil der Cannabis konsumierenden Personen unter zusätzlichen psychischen Begleitstörungen leidet. Den Aspekt der Co-Morbidität muss selbstverständlich in der Abklärung und Behandlung berücksichtigt werden. Da es sich bei einem beachtlichen Teil der Cannabiskonsumenten um Jugendliche handelt, ist es ein Erfordernis jugendspezifische Aspekte in die Behandlung zu 01.06.2006 Seite 4
integrieren, was unter anderem auch heisst, Angehörige und Bezugspersonen explizit mit unserem Angebot anzusprechen und entsprechend in den Behandlungs- prozess miteinzubeziehen. 4. Ziele und Grundlagen des Informations- und Behandlungsangebotes 4.1 Ziele Das Ziel besteht darin, ein umfassendes Angebot im Bereich Information und Behandlung für Betroffene und ihre Angehörigen bereitzustellen, bei denen sich ein problematisches Konsummuster von Cannabinoiden abzeichnet oder bei denen eine Substanzstörung vorliegt. Unter einer Substanzstörung von Cannabinoiden verstehen wir gemäss ICD-10 einen missbräuchlichen Konsum oder ein Abhängig- keitssyndrom. Ein spezieller Fokus soll auf der Behandlung von jugendlichen Konsumenten, deren Angehörigen und Bezugspersonen liegen. Dabei soll der Früherkennung und Früh- intervention (indizierte Prävention II) eine zentrale Bedeutung beigemessen werden: Gefährdungen und sich abzeichnende Störungen sollen so früh wie möglich erkannt und geeignete Hilfemassnahmen eingeleitet werden. Zusammengefasst lassen sich zwei Grobziele definieren: • Bereitstellung eines umfassenden und differenzierten Informations- und Behandlungsangebotes im Bereich Cannabis für Personen, die einen miss- bräuchlichen Konsum von Cannabinoiden betreiben oder ein Abhängigkeits- syndrom aufweisen. • Frühes Erkennen von Gefährdungen und sich abzeichnenden Ent- wicklungsstörungen / psychischen Störungen und Einleiten geeigneter Hilfe- massnahmen. 4.2 Zielgruppen Grob können drei unterschiedliche Zielgruppen beschrieben werden: • Jugendliche und erwachsene Personen, die einen problematischen Konsum von Cannabinoiden aufweisen: Missbräuchlicher Konsum oder Abhängigkeits- syndrom. • Angehörige (insbesondere Eltern und Partner) • Primärerfasser wie beispielsweise, Lehrer, Lehrmeister, Betreuer, Hausärzte, Justiz, etc. 01.06.2006 Seite 5
4.3. Einordnung im Behandlungssystem Sucht und Institutioneller Rahmen Die Graphik illustriert das Kontinuum von der Sekundär- bis zur Tertiärprävention mit der dazwischen liegenden Schnittsstelle der Früherkennung. Diese Graphik stellt gleichzeitig auch das Kontinuum einer möglichen Störungsentwicklung dar: Vom Vorliegen erster Zeichen von Gefährdung bis hin zur manifesten Störung. Das Informations- und Behandlungsangebot Cannabis der Beratungsstelle für Drogen- probleme Winterthur lässt sich in die Bereiche Früherkennung / Frühintervention (indizierte Prävention II) und Behandlung (tertiär Prävention) einordnen. Alle Interventionen unseres Angebotes sind personenorientiert und auf das Individuum ausgerichtet. Im voran gelagerten Bereich der indizierten Prävention I ist die Sucht- präventionsstelle Winterthur tätig, die vorwiegend strukturell und umgebungsorientiert interveniert. Ebenfalls im Bereich indizierte Prävention II, also der Personen orien- tierten Früherkennung, ist die Beratungsstelle für Jugendliche angesiedelt, mit der speziell im Bereich Früherkennung von psychotischen Frühphasen eng zusammen- gearbeitet wird. Die Beratungsstelle für Drogenprobleme Winterthur ist eine Einrichtung mit öffentlich- rechtlichem Auftrag, die vom Sozialdepartement der Stadt Winterthur und der Integrierten Psychiatrie Winterthur gemeinsam getragen wird. Die Beratungsstelle ist eine politisch und konfessionell neutral geführte Institution, die neben psychiatrischen, auch psychologische und sozialarbeiterische Kompetenzen und Zugangsweisen in einem Hause integriert. Die institutionellen Rahmenbedingungen sind so gestaltet, dass sich neben Personen mit schon bestehenden Substanz- störungen insbesondere auch Jugendliche und deren Familien angesprochen fühlen. 01.06.2006 Seite 6
4.4. Grundsätze des Informations- und Behandlungsangebotes Ein wertschätzender und respektvoller Umgang mit Menschen bildet den Boden unseres beruflichen Handelns. Ausserdem fühlen wir uns der Wissenschaft verpflichtet: So ist es uns ein Anliegen, evidenzbasierte Aspekte in die Behandlung zu integrieren. Grundlage unserer Behandlung sind die Prinzipien der Vertraulich- keit (ärztliche Schweigepflicht) und der Anonymität. Des Weiteren ist es uns wichtig, unser Angebot für die verschiedenen Zielgruppen gut zugänglich zu gestalten. Die gute Zugänglichkeit spiegelt sich beispielsweise in einem flexiblen und raschen Anmeldeprocedere, wie auch in einer guten Vernetzung der Beratungsstelle mit anderen relevanten Institutionen und Primärerfassern, was insbesondere für eine gute Erreichbarkeit von Jugendlichen bedeutsam ist. Eine gute Zugänglichkeit des Angebotes wird auch dadurch erreicht, dass die bereits bestehenden Komm- Strukturen mit Geh-Strukturen ergänzt werden. Eine gute Zugänglichkeit zur Beratungsstelle soll auch durch eine möglichst nicht-stigmatisierende Art der Behandlung unterstützt werden. Unser Informations- und Behandlungsangebot soll umfassend gestaltet sein: So ist es uns ein zentrales Anliegen, den Substanzkonsum nicht isoliert zu betrachten, sondern diesen in Beziehung zur Person, deren Umfeld und Lebenssituation zu setzen und zu verstehen. Umfassend heisst auch, dass wir unterschiedliche berufliche Perspektiven, Kompetenzen und Zugangsweisen in die Behandlung integrieren. Um jugendlichen Klienten und deren Eltern gerecht zu werden, müssen jugendspezifische Aspekte in die Behandlung integriert werden. Hierzu gehört die Integration von adoleszentenspezifischen Aspekten in die Behandlung, wie beispielsweise die Berücksichtigung des spezifischen Entwicklungskontextes und des sozialen Umfeldes. Des Weiteren ist ein fachlich qualifizierter Einbezug von Angehörigen und Bezugspersonen in den Behandlungsprozess von zentraler Bedeutung. Neben entwicklungspsychologischem Wissen und familiendynamischen Kenntnissen ist auch eine entsprechende Handlungskompetenz im therapeutischen Umgang mit Jugendlichen und Familien unerlässlich. In der Arbeit mit Jugendlichen ist eine aktive und zugehende Arbeitsweise des Therapeuten wichtig. So ist es für die Aufrechterhaltung des therapeutischen Prozesses wichtig, dass Jugendlichen aktiv nachgegangen wird, wenn sie beispielsweise nicht zu Terminen erscheinen. Je nach Situation kann dies telefonisch oder schriftlich erfolgen. Insgesamt soll sich unser berufliches Handeln an Grundsätzen wie Kontextsensibilität und Ressourcen- orientierung leiten lassen. 4.5 Behandlungsangebot: differenziert und standardisiert Das Behandlungsangebot im Bereich Cannabis besteht aus sechs unterschiedlichen Behandlungsmodulen (siehe Diagramm Behandlungsprozess: Abklärung und Indikation). Mit der Definition und Beschreibung der einzelnen Module wollen wir einerseits ein gewisses Mass an Standardisierung erreichen, andererseits ist aber das gleichberechtigte Nebeneinander von verschiedenen Modulen auch Ausdruck dafür, dass Menschen mit einer Störung von Cannabinoiden unterschiedlichste Grund- oder Begleitproblematiken bzw. Störungen haben können und auch mit ver- schiedenen Anliegen in Bezug auf die Behandlung zu uns gelangen. Hinzu kommt wiederum, dass die verschiedenen Zielgruppen des Behandlungsangebotes auch verschiedener Interventionen bedürfen. Vor allem ein Modul verfolgt einen störungs- spezifischen Ansatz, der gezielt den Cannabiskonsum fokussiert und eine Reduktion 01.06.2006 Seite 7
oder Beendigung des Konsums zum Ziel hat. Die einzelnen Module können und sollen miteinander kombiniert werden. Die Vielzahl der Module ist demnach ein Ausdruck der unterschiedlichen Problematiken, die in Verbindung mit Cannabis- konsum stehen können und soll daher eine möglichst differenzierte und massgeschneiderte Behandlung ermöglichen. Die Standardisierung wiederum soll die Qualität der Behandlung sichern, indem bestimmte Abläufe wie Indikations- stellung, Exploration und Teile der weiteren Behandlung beschrieben werden, so dass die Abläufe eine gewisse Struktur und Konstanz erhalten. 5. Anmeldeprocedere Gerade bei der Anmeldung von Jugendlichen, deren Angehörigen und Bezugspersonen hat das Aufnahmeverfahren eine besondere Bedeutung, da dabei der erste Kontakt hergestellt und erste Entscheidungen in Bezug auf das Personensetting gefällt werden. Demnach sollen Anmeldungen von Fachpersonen entgegengenommen werden. Um dem Prinzip einer guten Zugänglichkeit nachzukommen, soll das Anmeldeverfahren flexibel gestaltet und ein Termin für das Erstgespräch vor allem für Jugendlichen rasch verfügbar sein. 6. Behandlungsprozess: Abklärung und Indikation In der Abklärung, die je nach Komplexität des Falles ein bis drei Gespräche umfasst, geht es neben dem Kontakt- und Beziehungsaufbau darum, ein erstes Fallverständnis zu entwickeln, das als Grundlage für die weitere Behandlungs- planung dient. Das Fallverständnis wird aus dem jeweiligen Einzelfall heraus entwickelt und ist daher individuell. Daneben muss aber in jedem Erstgespräch bzw. in der Anfangsphase des Behandlungsprozesses standardmässig eine Einschätzung über • Die institutionelle Zuständigkeit, • die Motivation in Bezug auf die Behandlung und • den Grad der Gefährdung stattfinden. Eine Einschätzung dieser drei Aspekte muss in jedem Fall erfolgen. Sie dient als Grundlage für die Indikation des passenden Behandlungsmoduls (siehe Darstellung Behandlungsprozess: Abklärung und Indikation). 6.1 Zuständigkeit Die Beratungsstelle für Drogenprobleme ist grundsätzlich zuständig, wenn sich bei der betroffenen Person eine Substanzstörung von Cannabinoiden abzeichnet oder sie eine solche Störung aufweist. Jugendliche, die neben einem problematischen Konsum von Cannabinoiden noch andere Symptome zeigen, fallen ausdrücklich in die Zuständigkeit der BSD. 01.06.2006 Seite 8
6.2 Motivation für die Behandlung Die Einschätzung der Motivation für eine Veränderung ist ebenfalls ein Faktor, der für die Wahl des weiteren Vorgehens entscheidend ist. Entscheidend scheint vor allem zu sein, dass bei geringer Motivation, dem Prozess der Motivationsbildung am Anfang der Behandlung eine besondere Bedeutung zukommt. Hingegen gehen wir davon aus, dass eine substanzspezifische Behandlung eine bereits fortgeschrittene Veränderungsmotivation verlangt. Zur Einschätzung der Motivation für eine Veränderung beziehen wir uns auf das Transtheoretische Modell nach Prochaska and DiClemente (1983), das fünf verschiedene Phasen der Verhaltensänderung beschreibt. Wobei davon ausgegangen wird, dass je nach Phase der Verhaltens- änderung ein passendes therapeutisches Vorgehen gewählt werden muss, wenn die Behandlung Aussicht auf Erfolg haben soll (siehe Arbeitshilfe). Unser Verständnis von Motivation ist prozesshaft und geht zudem davon aus, dass Motivation nicht nur ein internal gebildeter Zustand ist, sondern eine so genannte interaktionelle Komponente hat (vgl. Miller, Rollnick, 1999). Das heisst, dass das Umfeld eines Menschen bei der Bildung und Aufrechterhaltung der Behandlungsmotivation eine wichtige Rolle spielt. In diesem Sinne ist es uns ein Anliegen, Angehörige, Bezugs- personen und auch die Beziehung zwischen Berater / Therapeut und Klient als wichtige Ressourcen wahrzunehmen. 6.3 Gefährdung Für die Indikation einer Behandlung bedarf es immer einer Einschätzung des Gefährdungsgrades des psychosozialen Zustandes und damit verbunden der weiteren Entwicklung. Vier verschiedene Gefährdungsgrade werden unterschieden: • Gefährdungsgrad I: keine bis leichte Gefährdung Freizeit- und Probierkonsum, keine Folgen des Konsums, keine psychische Symptomatik, wenig sonstige Belastungsfaktoren. • Gefährdungsgrad II: leichte bis mittlere Gefährdung Mässiger Konsum (mehrmals wöchentlich) mit gewissem Ausmass an psychischer Symptomatik, Folgeerscheinungen, sonstigen Belastungsfaktoren und mässiges Ausmass an Ressourcen. • Gefährdungsgrad III: mittlere bis schwerwiegende Gefährdung Starker Konsum (mehrmals wöchentlich bis täglich) mit deutlichem Ausmass an psychischer Symptomatik und Folgeerscheinungen. Mehrere sonstige Belastungsfaktoren mit mässigen bis geringen Ressourcen. • Gefährdungsgrad IV: akute Gefährdung Die verschiedenen Faktoren deuten auf eine akute Gefährdung hin, ambulanter Rahmen wird im Moment nicht als ausreichend in Bezug auf Schutz und Struktur eingestuft. 01.06.2006 Seite 9
Verschiedene Faktoren werden bei der Einschätzung des jeweiligen Gefährdungs- grades herangezogen. Es geht also um ein Zusammenspiel von verschiedenen personalen und sozialen Faktoren und nicht um eine isolierte Betrachtung des Substanzkonsums. 7. Behandlungsmodule Die schematische Darstellung der Abklärung und der Indikation gibt einen Überblick über die sechs Behandlungsmodule: • Behandlungsmodul I: Bezugspersonengespräch • Behandlungsmodul II: Infogespräch • Behandlungsmodul III: Überweisungsgespräch / Triage • Behandlungsmodul IV: Motivationsbildung • Behandlungsmodul V: Problembearbeitung allgemein • Behandlungsmodul VI: substanzspezifische Behandlung (Realize-it) • Behandlungsmodul VII: Arbeit mit Angehörigen: Elterncoaching, Familienbera- tung, Einzelarbeit mit Eltern Der Inhalt und Ablauf der einzelnen Behandlungsmodule ist durch die Beschreibung von so genannten Kernprozessen näher definiert. Das Behandlungsmodul "Arbeit mit Angehörigen" enthält mehrere Kernprozesse. Alle Kernprozesse sind im Anhang enthalten. Das Behandlungsmodul "substanzspezifische Behandlung (Realize-it)" ist im Ablauf genau strukturiert, da es sich um ein bereits definiertes Programm handelt. Realize-it ist eine strukturierte Kurzintervention, die den Cannabiskonsum direkt fokussiert mit dem Ziel der Reduktion oder Beendigung des Konsums. Dieses Programm wird vom Bundesamt für Gesundheit gefördert und zurzeit begleitend wissenschaftlich evaluiert. Der Ablauf des Programms ist im dazugehörigen Manual detailliert beschrieben. Integraler Bestandteil dieses Programms ist ein so genanntes Booklet, das als Arbeitshilfe den Klienten abgegeben wird. Des weiteren definierten wir zusätzliche Kernprozesse, die nicht im eigentlichen Sinne als Behandlungsmodule angesehen werden, aber trotzdem für das Angebot Cannabis von zentraler Bedeutung sind, es sind dies die folgenden Kernprozesse: • Kernprozess Bezugspersonengespräch (Primärerfasser) • Kernprozess telefonische Anfrage eines besorgten Elternteils • Kernprozess Indikationsgespräch mit dem Oberarzt 8. Substanzspezifische Informationen Ein wichtiger Aspekt der Behandlung – also aller Behandlungsmodule – liegt auch in der Vermittlung fachlich differenzierter substanzspezifischer Informationen. Eine Zu- sammenstellung der wichtigen Informationen ist ebenfalls im Anhang enthalten. 01.06.2006 Seite 10
Zusätzlich existiert eine Zusammenstellung von Infomaterial, das Betroffenen, Angehörigen und Bezugspersonen abgegeben werden kann. 9. Weitere Arbeitshilfen Der Begriff weitere Arbeitshilfen ist selbsterklärend und meint eine Zusammenstellung von Listen und Instrumenten, die als Unterstützung in der Behandlung gedacht sind. Diese Arbeitshilfen befinden sich ebenfalls im Anhang und können laufend ergänzt werden. Zurzeit sind folgende Arbeitshilfen im Anhang enthalten: • Einschätzung Grad der Gefährdung • Schutzfaktoren und Risikofaktoren • Raster Familiendiagnose • Fragen zur Wirklichkeits- und Möglichkeitskonstruktion • Transtheoretisches Modell (Stages of Change) • Phasen der Adoleszenz 10. Vernetzung und Zusammenarbeit Wie bereits mehrfach erwähnt, wird der fachlichen Vernetzung und der Zusammen- arbeit mit anderen relevanten Institutionen, insbesondere der Suchtprävention Winterthur und der Beratungsstelle für Jugendliche und Primärerfassern, eine grosse Bedeutung beigemessen. Die Beratungsstelle wird in diesem Bereich auch vermehrt Geh-Strukturen einsetzen. 11. Öffentlichkeitsarbeit Die Öffentlichkeitsarbeit ist vor allem bei der Bekanntmachung und der kontinuierlichen Verankerung des Behandlungsangebotes im Bereich Cannabis wichtig. Hierzu gehört auch die Vermittlung von fachlich fundierter und differenzierter Information an die Bevölkerung. 12. Qualitätssicherung Verschiedene Instrumente der Qualitätssicherung werden eingesetzt: Ergebnisqualität • Erfassung der Ergebnisqualität mittels Katamnesen (Nachbefragungen) bei Patienten und Primärerfasser • Erfassung der Anmeldungen und Abschlüsse • Psyrec-Statistik mit CGI, GAF und andere geeignete Instrumente 01.06.2006 Seite 11
Prozessqualität • Interdisziplinäre Fallbesprechung • Cannabis Intervisionsgruppe • Austausch mit anderen Stellen • Gespräche mit OA und LA / Stellenleitung • Supervision 01.06.2006 Seite 12
Literaturverzeichnis Annaheim, B., Arnaud, S., Dubois Arber, F., Gmel, G., Isenring, G.L., Killias, M., Müller, M., Neunschwander, M., Rehm, J., Zobel, F. (2005). Cannabiskonsum in der Schweiz und die Konsequenzen – Ein aktueller Überblick 2004. Bern, Bundesamt für Gesundheit. Chen, K., Kandel, D. B., et al. (1997). Relationships between frequency and quantity of marijuana use and last year proxy dependence among adolescents and adults in the United States. Drug and Alcohol Dependence 6; 46(1-2): 53-67. Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10. Weltgesundheitsorganisation (WHO), Bern, Verlag Hans Huber. Miller, W. R., Rollnick, S. (1999). Motivierende Gesprächsführung. Ein Konzept zur Beratung von Menschen mit Suchtproblemen. Freiburg im Breisgau, Lambertus. Müller, S., Gmel, G. (2002). Veränderungen des Einstiegsalters in den Cannabiskonsum: Ergebnisse der zweiten Schweizer Gesundheitsbefragung 1997. Sozial- und Präventivmedizin 47(1): 14-23. Narring, F., Tschumper, A., Inderwildi Bonivento, L., Jeannin, A., Addor, V., Bütikofer, A., Suris, JC., Diserens, C., Alsaker, F., Michaud, PA. (2004). Gesundheit und Lebensstil 16- bis 20-Jähriger in der Schweiz (2002). SMASH Swiss multicenter adolescent survey on health 2002. Lausanne, Institut universitaire de médecine sociale et préventive. Prochaska, J. O., DiClemente, C. C. (1986). Toward a comprehensive model of change. In W. R. Miller, N. Heather (Eds.), Treating addictive behaviours: Process of change (pp. 3-27). New York, Plenum Press. Schweizerische Fachstelle für Alkohol- und andere Drogenprobleme (SFA) (2004). Zahlen und Fakten. Lausanne, SFA. 01.06.2006 Seite 13
Glossar Adoleszenz: Mit Adoleszenz ist jener Lebensabschnitt gemeint, der den Abschied von der Kindheit und den Übertritt in das Erwachsenenleben beinhaltet. Adoleszenz ist also der Prozess des Heranwachsens, des Erwachsenwerdens zwischen Pubertät und erwachsenen Rollen- und Identitätsfindung. Affektive Störungen: Psychische Störungen, welche hauptsächlich das Gefühls- leben eines Menschen beeinträchtigen (beispielsweise die Depression). Angststörungen: Psychische Störungen, welche hauptsächlich durch Angst ge- kennzeichnet sind. Belastungsstörungen: Psychische Störungen, die als Reaktion auf starke Belastungen auftreten können, wie beispielsweise nach Traumatisierungen. Co-Morbidität: Gleichzeitiges Vorhandensein von mindestens zwei Krankheiten bzw. psychischen Störungen. In unserem Fall geht es um das gleichzeitige Vorhan- densein von einer Substanzstörung und einer weiteren psychischen Störung. Früherkennung / Frühintervention: Unter Früherkennung und Frühintervention versteht man das Erkennen von und das Intervenieren auf Auffälligkeiten und Symptome, von denen man annimmt, dass diese Hinweis sind auf eine sich abzeichnende Störung bzw. für eine ungünstige psychosoziale Entwicklung. Hyperkinetische Störungen: Psychische Störungen, die hauptsächlich durch eine Störung der Aufmerksamkeit und / oder eine erhöhte motorische Aktivität einhergeht. Ein älterer Begriff für das gleiche Phänomen ist Psychoorganisches Syndrom, kurz POS. Der heute gebräuchliche Begriff ist Aufmerksamkeits- und Hyper- aktivitätsstörung. Internationale Klassifikation psychischer Störungen (ICD-10): Die Internationale Klassifikation psychischer Störungen ist eine von der Weltgesundheitsorganisation herausgegebene internationale Klassifikation psychischer Störungen. Das heisst, es handelt sich um eine systematische Sammlung und Beschreibung psychischer Störungen anhand von diagnostischen Kriterien, die insbesondere eine einheitliche Diagnostik ermöglichen sollen. Komm-Strukturen / Geh-Strukturen: Mit den Begriffen Komm- bzw. Geh-Strukturen wird eine grundsätzliche Arbeitsweise einer Institution beschrieben hinsichtlich ihres Zugangs zu Klienten. Eine Institution mit Komm-Strukturen ist vor allem darauf aus- gerichtet, dass das Klientel das Angebot der Institution bei Bedarf selber aufsucht, das heisst von sich aus zur Institution "kommt". Geh-Strukturen hingegen beschreiben eine Arbeitsweise, die ein aktives "Zugehen" auf das Klientel und deren Bezugspersonen mit verschiedenen Methoden, wie beispielsweise Vorträge in Schulen, bei Elternvereinigungen, etc. beinhaltet. 01.06.2006 Seite 14
Prädiktor: Daten oder Faktoren, auf die sich eine Prognose stützt, nennt man Prädiktoren. Prävalenz: Die Prävalenz ist eine epidemiologische Kennzahl, die aussagt, wie viele Individuen einer bestimmten Gruppe von etwas betroffen sind, bzw. in unserem Fall wie viele Individuen Substanzen konsumieren oder konsumiert haben. Hierzu gehörige Begriffe sind die Lebenszeit- und die Wochenprävalenz. Mit Lebens- zeitprävalenz meint man die Kennzahl, die angibt wie viele Individuen mindestens einmal in ihrem Leben beispielsweise eine bestimmte Substanz konsumierten. Mit Wochenprävalenz meint man die Kennzahl, die angibt wie viele Individuen in der vergangenen Woche mindestens einmal eine bestimmte Substanz konsumierten. Primärerfasser: Unter Primärerfassern verstehen wir Bezugspersonen, welche direkt in der Lebenswelt der jungen Menschen stehen, sei dies in einem institutionali- sierten Kontext (wie Schule oder Lehre), im Freizeitkontext (wie Vereine, Jugend- treffs) oder im Kontext der Familie. Primärerfasser haben eine Beziehung zu Jugendlichen und erkennen "problematische" Veränderungen bei diesen. Da sie oft deren Vertrauen geniessen, können sie als erste im Sinne der Früherkennung / Frühintervention reagieren. Primärerfasser können sowohl Laienhelfer wie Fachpersonen sein. Psychische Störung: Der Begriff "psychische Störung" entstammt dem medizinischen Vokabular. Damit werden definierte Krankheitsbilder bezeichnet, welche die psychische Gesundheit beeinträchtigen. Beispiele sind die Schizophrenie, die Depression, oder auch eine Cannabisabhängigkeit. Psychoaktive Substanzen: Psychoaktive Substanzen beinhalten Wirkstoffe, die auf das zentrale Nervensystem (insb. Gehirn) wirken und so die Stimmung, das Verhalten, die Wahrnehmung und das Denkvermögen beeinflussen können. In anderen Worten: Es handelt sich um Substanzen, die die Psyche beeinflussen. Synonyme sind: psychotrope Substanzen, Psychotropikum (umgangssprachlich ist das Wort Droge gebräuchlich). Schizophrenie: Dieser Begriff bezeichnet eine bestimmte Gruppe von psychischen Störungen, welche typischerweise mit Symptomen wie Wahnvorstellungen (z.B. Verfolgungswahn) und / oder Halluzinationen (z.B. Stimmen hören) einhergeht. Der Beginn einer Schizophrenie kann durch eine Art Vor- oder Frühphase (Frühphase von Psychosen) gekennzeichnet sein, die mit nicht so auffälligen Symptomen einher- gehen kann. Substanzstörung: Eine Substanzstörung ist eine psychische Störung, die auf dem Gebrauch einer oder mehrerer psychotroper Substanzen (mit oder ohne ärztliche Verordnung) beruht. Wichtige dazugehörige Begriffe sind: Missbrauch und Abhängigkeit. Missbrauch: ist ein Konsummuster von psychoaktiven Substanzen, das zu einer tatsächlichen Schädigung der psychischen oder physischen Gesundheit des Konsumenten führt. 01.06.2006 Seite 15
Abhängigkeit: Folgende Kriterien gehören zur Diagnose eines Abhängig- keitssyndroms (drei oder mehr Kriterien): • Starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren • Verminderte Kontrollfähigkeit bezüglich des Beginns, der Beendigung und der Menge des Konsums • Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums • Nachweis einer Toleranz • Fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums, erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu beschaffen, zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen • Anhaltender Substanzkonsum trotz Nachweises eindeutiger schädlicher Folgen. Symptome / Symptomatik: Ein Symptom ist ein Krankheitszeichen. Konzepterarbeitung: Charlotte Senn Christine Gäumann Ursula Lauffenburger Gianni Tiloca 01.06.2006 Seite 16
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