Psychiatrische Komorbidität bei Epilepsie
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Psychiatrische Komorbidität bei Epilepsie Thomas Leyhe Zentrum für Alterspsychiatrie, Universitäre Psychiatri- sche Kliniken Basel Zusammenfassung biological relationship between epilepsy and anxiety is complex and only partially understood. In the accom- Es gibt eine erhöhte Prävalenz von psychiatrischen panying psychosis episodic psychosis (ictal, postictal Erkrankungen bei Epilepsiepatienten im Vergleich and alternative psychoses) with fixed temporal rela- mit der Allgemeinbevölkerung und auch mit anderen tionship to the epileptic seizures and chronic psychosis chronischen Erkrankungen. Umgekehrt haben auch (interictal psychosis) without temporal relationship to Patienten mit psychiatrischen Erkrankungen ein erhöh- the seizures can be distinguished. Since 2008, the U.S. tes Epilepsierisiko. Depressionen sind die häufigsten Food and Drug Administration demands warnings of psychischen Komorbiditäten. Sie beeinflussen die Le- an increased risk of suicidal thoughts or actions for all bensqualität bei Epilepsiepatienten, das Auftreten von antiepileptic drugs. However, the suicide risk of antie- unerwünschten Wirkungen von Antiepileptika, die The- pileptic drugs must probably be seen differentiatedly. rapieresistenz und das Outcome bei Epilepsiechirugie. There is an urgent need for further clarification. Am zweithäufigsten finden sich Angsterkrankungen als psychische Komorbidität bei Epilepsien. Die neurobio- Key words: Epilepsy, psychiatric comorbidity, depres- logischen Beziehungen zwischen Epilepsie und Angst sion, anxiety disorder, psychosis, suicidality sind kompliziert und erst teilweise geklärt. Bei den Begleitpsychosen können sogenannte episodische Psy- chosen (iktale, postiktale und Alternativpsychosen), die La comorbidité psychiatrique dans l’épilepsie in einem fixen zeitlichen Bezug zum Anfallsgeschehen stehen, und chronische Psychosen (interiktale Psycho- La prévalence d’affections psychiatriques est plus sen) ohne zeitlichen Bezug zu den Anfällen, unterschie- élevée chez les patients épileptiques par rapport à la po- den werden. Seit 2008 fordert die U.S. Food and Drug pulation générale, mais aussi à la population souffrant Administration Warnhinweise vor einem erhöhten Risi- d’autres affections chroniques. Inversement, les pa- ko suizidaler Gedanken oder Handlungen bei allen An- tients souffrant de troubles psychiatriques présentent tiepileptika. Wahrscheinlich muss aber das Suizidrisiko aussi un risque plus élevé d’épilepsie. Les dépressions bei Antiepileptika differenzierter gesehen werden. Hier sont les comorbidités psychiques les plus fréquentes. besteht dringend weiterer Klärungsbedarf. Elles influencent la qualité de vie des patients épilep- tiques, la survenue d’effets indésirables des antiépilep- Epileptologie 2016; 33: 44 – 49 tiques, la résistance thérapeutique et le résultat de la chirurgie épileptique. Les troubles anxieux occupent la Schlüsselwörter: Epilepsie, psychiatrische Komorbidität, deuxième place des comorbidités psychiatriques dans Depression, Angsterkrankung, Psychose, Suizidalität l’épilepsie. Les relations neurobiologiques entre épilep- sie et anxiété sont complexes et pas encore totalement clarifiées. Parmi les psychoses accompagnant l’épilep- Psychiatric Comorbidity in Patients with Epilepsy sie, on distingue celles dites épisodiques (psychoses ictales, postictales et alternatives), qui ont un lien There is an increased prevalence of psychiatric disor- temporel fixe avec le déroulement de la crise, et celles ders in patients with epilepsy compared with the gen- chroniques (psychoses interictales), qui n’ont pas de eral population and also with other chronic diseases. lien temporel avec les crises. Depuis 2008, la Food and Conversely, patients with psychiatric disorders have an Drug Administration américaine demande des mises en increased risk of epilepsy. Depression is the most com- garde relatives au risque accru de pensées ou gestes sui- mon psychic comorbidity. It affects the quality of life cidaires pour tous les antiépileptiques. Vraisemblable- in epilepsy patients, the occurrence of adverse effects ment, le risque de suicide pour les antiépileptiques doit of anti-epileptic drugs, the therapy resistance and the cependant être vu de manière plus différenciée. Dans outcome in epilepsy surgery. The second most common ce domaine, le besoin de clarification se fait urgent. psychic comorbidities are anxiety disorders. The neuro- 44 Epileptologie 2016; 33 Psychiatrische Komorbidität bei Epilepsie | T. Leyhe
Mots clés : Epilepsie, comorbidité psychiatrique, dé- Stunden bis Tage [5, 7 - 10]. Postiktale Verhaltenssymp- pression, troubles anxieux, psychose, risque suicidaire tome sind Depressionen, Angst, Psychose und transien- te Aggression [11 - 13]. Postiktale Psychosen treten zwi- schen 12 Stunden und bis zu 5 - 7 Tagen nach dem letz- Einleitung ten Anfall auf, sind von relativ kurzer Dauer zwischen wenigen Stunden bis selten 3 - 4 Wochen, sind gekenn- Psychiatrische Erkrankungen treten bei Epilep- zeichnet durch gut systematisierte Wahnvorstellungen siepatienten signifikant häufiger auf als in der All- und Halluzinationen bei erhaltener Orientierung (als gemeinbevölkerung. So findet man Depressionen in Unterscheidung zur postiktalen Verwirrung) und ein 17 - 80 %, Manien und bipolare Störungen in 3 - 8 %, schnelles Ansprechen auf niedrig dosierte Neuroleptika Angststörungen in 19 - 66 %, Zwangserkrankungen in oder Benzodiazepine [11, 12, 14]. 14 - 22 %, Aufmerksamkeitsdefizitsyndrome in 30 - 40 Es gibt eine Reihe von Risikofaktoren für die Ent- %, zumeist abhängige oder ängstlich vermeidende wicklung von interiktalen psychiatrischen Störungen. Persönlichkeitsakzentuierungen oder -störungen in 21 Psychosoziale Faktoren sind ein niedriger sozio-öko- % und Psychosen in 6 -10 %. Die Häufigkeit von Suizi- nomischer Status, eine schlechte kulturelle Akzeptanz den, Suizidversuchen und Suizidgedanken liegt bei 13 der Epilepsie, schlechtere Ausbildung, geringe Erwar- - 25 % [1]. Zudem ist die psychiatrische Komorbidität tungen der Eltern und Lehrer, Arbeitslosigkeit, Fahrun- bei Epilepsien signifikant höher als bei anderen chroni- fähigkeit, geringes Selbstwertgefühl, soziale Isolation schen Erkrankungen wie zum Beispiel bei Asthma [2]. und Stigmatisierung, eheliche Spannungen sowie ver- Dies lässt auf eine gemeinsame biologische Grundla- mindertes sexuelles Verlangen [1]. ge von psychiatrischen Erkrankungen und Epilepsien Temporal- oder Frontallappenepilepsien, prolon- schliessen [3]. gierte Auren, schwere, häufige und therapieresisten- Die Einteilung von psychiatrischen Störungen bei te Anfälle und vor allem linksseitige Foci sind ebenso Epilepsiepatienten erfolgt gemäss ihrer zeitlichen Be- mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung von ziehung zu den epileptischen Anfällen und deren Be- psychiatrischen Erkrankungen verbunden wie kogniti- handlung. So können psychiatrische Störungen entwe- ve Defizite, Dysfunktionen bestimmter Hirnareale und der in einer fixen zeitlichen Beziehung zu den Anfällen Leitungsbahnen, die das limbische System, den Schlä- auftreten (man unterscheidet dabei präiktale, iktale fenlappen, den Frontallappen, orbitofrontale Regionen, und postiktale psychiatrische Störungen) oder sich die anteriore Insula, den anterioren Gyrus cinguli, die unabhängig vom Auftreten der Anfälle manifestieren Amygdala, die Basalganglien und das periaquädukta- (interiktale psychiatrische Störung). In seltenen Fällen le Grau sowie Dysfunktionen des zerebralen g-Amino- kommt es ausschliesslich in Phasen der Anfallsfreiheit buttersäure (GABA)-, Katacholamin-, Dopamin-, Nor- zu psychiatrischen Störungen, während diese bei Wie- adrenalin- und Serotoninsystems einschliessen [1]. derauftreten der Anfälle remittieren (alternative psy- Eine Vorgeschichte von psychiatrischen Erkrankun- chiatrische Störung). Schliesslich können psychiatrische gen, eine genetische Vulnerabilität oder Familienge- Störungen auch durch Antiepileptika verursacht oder schichte für psychische Störungen, die prämorbide Per- verschlechtert werden [4]. sönlichkeit, endokrine und/oder metabolische Effekte Fast ein Drittel der Patienten, insbesondere Patien- von Anfällen, Schlafstörungen aufgrund der Anfälle so- ten mit sekundär generalisierten Anfällen entwickeln wie Drogenmissbrauch sind ebenfalls mit einem erhöh- präiktale Prodromalsymptome Stunden bis Tage vor ten Risiko für die Entwicklung psychischer Störungen Anfällen. Prodromalsymptome beinhalten: Verände- bei Epilepsiepatienten verbunden [1]. rungen der Stimmung, Depression, abnorme Gefühle, Reizbarkeit, Unruhe oder motorische Hyperaktivität und schlechte Frustrationstoleranz. Solche Symptome Epilepsien und affektive Störungen enden häufig durch das Auftreten der Anfälle oder hal- ten ein paar Tage an [5]. Iktale Verhaltenssymptome Die Depression stellt die häufigste psychiatrische treten bei ca. 25 % der Auren (insbesondere bei verlän- Begleiterkrankung bei Epilepsie dar. Die Häufigkeit von gerten Auren) im Anschluss an eine Serie von komple- Depressionen korreliert dabei mit der Anfallskontrolle: xen partiellen und sekundär generalisierten Anfällen Sie liegt zwischen 3 und 9 % bei gut kontrollierter Epi- bei Temporallappenepilepsie oder nonkonvulsivem lepsie, jedoch zwischen 20 und 55 % bei Patienten mit Status epilepticus auf [6]. Iktale Verhaltenssymptome therapieresistenten Epilepsien [15]. sind: Depression, Angst, Stress, Nervosität, Wut, Reiz- Umgekehrt belegen mehrere Studien, dass eine po- barkeit, Panikattacken, Phobien, Zwangsgedanken und sitive Anamnese für eine Depression einen signifikan- -handlungen sowie Aggression. Sie beginnen in der Re- ten Risikofaktor für das Neuauftreten einer Epilepsie gel plötzlich, sind von kurzer Dauer und nicht provoziert darstellt [16, 17]. Zudem hatten Patienten nach einem durch Umweltreize. Postiktale Verhaltenssymptome Suizidversuch ein 5,1-fach erhöhtes Risiko, unprovozier- treten in der Regel nach einer Serie von Anfällen, insbe- te Anfälle zu erleiden [18]. sondere bei Temporallappenepilepsie auf und dauern Psychiatrische Komorbidität bei Epilepsie | T. Leyhe Epileptologie 2016; 33 45
Es gibt einen starken Einfluss von affektiven Erkran- ist: (1) Spezifische Symptome wie paroxysmale Irritabi- kungen auf die Lebensqualität bei Epilepsiepatienten, lität und euphorische Stimmung, (2) labile depressive auf das Auftreten von unerwünschten Wirkungen von Symptome wie depressive Stimmung, Anergie, Schmer- Antiepileptika, auf die Therapieresistenz und auf ein zen und Insomnie, sowie (3) labile affektive Symptome schlechtes Outcome bei Epilepsiechirurgie [19]. wie Phobie und Angst. Damit überlappt die interiktale Die bidirektionale Beziehung zwischen Epilepsie dysphorische Störung mit den affektiven, den somato- und Depression entsteht möglicherweise durch ge- formen und den Angststörungen [24]. meinsame Pathomechanismen. Hier sind einerseits Auch ärztliche Massnahmen können einen Einfluss eine veränderte serotoninerge, noradrenerge, dopami- auf die Entwicklung von Depressionen bei Epilepsie nerge und GABAerge Neurotransmission sowie ande- haben, so die Gabe von Antiepileptika mit negativen rerseits strukturelle und funktionelle Veränderungen psychotropen Eigenschaften wie Barbiturate, Benzo- im mesialen Temporallappen, im orbitofrontalen Kor- diazepine, Tiagabin, Vigabatrin, Topiramat, Zonisamid, tex und im Bereich subkortikaler Strukturen bei beiden Levetiracetam, das Absetzen von Antiepileptika mit Erkrankungen anzuführen [20]. stimmungsstabilisierenden oder antidepressiven/an- Als pathogenetischer Mechanismus für die Ent- xiolytischen Eigenschaften bei Patienten mit bekannten wicklung einer Hippokampusatrophie bei Depressio- affektiven Erkrankungen wie Valproat, Carbamazepin, nen wird eine erhöhte Glukokortikoid-Exposition durch Oxcarbamazepin, Lamotrigin, Gabapentin, Pregabalin exzessive Aktivierung der Hypothalamus-Hypophy- und Benzodiazepine, oder der Einsatz von enzymindu- sen-Nebennierenachse diskutiert. Akuter und chroni- zierenden Antiepieleptika in Kombination mit Antide- scher Stress führen zu einer Konzentrationsabnahme pressiva wie zum Beispiel Phenobarbital, Primidon, Phe- des Brain Derived Neurotrophic Factor im Gyrus den- nytoin, Carbamazepin, Topiramat oder Oxcarbamazepin. tatus, der Pyramidenzellschicht des Hippokampus, Depressionen finden sich in den ersten 6 Monaten bei im Corpus amygdaloideum und im Neokortex und in 20 % bis 30 % der Epilepsiechirurgiepatienten [25]. weiterer Folge zu einer Hippokampusatrophie. Diese Die Evidenz für die Behandlung von Depressionen Veränderung kann auch für die Epilepsieentstehung re- bei Patienten mit Epilepsie ist begrenzt [26]. Oft wird levant sein. Bei beiden Erkrankungen spielen inflamma- wegen der Angst vor einer Steigerung der Anfallsfre- torische Prozesse eine Rolle [21]. quenz mit dem Einsatz von Antidepressiva gezögert. Depressionen werden bei Epilepsiepatienten un- Dabei konnte gezeigt werden, dass gerade die moder- terdiagnostiziert und unterbehandelt. Hierfür können nen Antidepressiva (selektive Serotonin-Wiederaufnah- folgende Gründe angeführt werden: (1) Die Patienten mehemmer, Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnah- dissimulieren ihre Depressivität aus Angst vor weiterer mehemmer, Mirtazapin, Trazodon, Monoaminooxida- Stigmatisierung; (2) psychiatrische Symptome werden se-Hemmer) eher einen positiven Effekt auf die Anfalls- bei Epilepsiepatienten nicht systematisch erhoben; (3) frequenz haben [27]. Bupoprion und Clomipramin sind Patienten und Ärzte interpretieren die Symptome ei- kritisch zu bewerten, die trizyklischen Antidepressiva ner Depression als normale Reaktion bzw. Adaptation haben ein mittleres Risiko. Da eine Depression ja die an eine chronische Erkrankung; (4) Depressionen prä- Epilepsie verschlechtern kann, sollte sie auf jeden Fall sentieren sich bei Epilepsiepatienten oft atypisch und behandelt werden [22]. erfüllen nicht die Kriterien einer Major Depression [4]. Hinweise auf Evidenz bestehen für die Behandlung Die typischen Nebenwirkungen von Antiepilep- von Angst und Depression bei Epilepsie durch kognitive tika (zum Beispiel Konzentrationsstörungen, Müdig- Verhaltenstherapie. Sie sollte bei Patienten, die keine keit, Schlafstörungen etc.) sowie neuropsychologische Antidepressiva einnehmen oder sie nicht vertragen und Störungen im Rahmen der Epilepsie (zum Beispiel Ge- bei chronischen Verläufen der affektiven Störungen dächtnisstörungen) können die Diagnose einer Depres- eingesetzt werden [25]. sion bei Epilepsiepatienten erschweren [22]. Auch bipolare Störungen kommen bei Epilepsien gehäuft vor, und Patienten mit bipolaren Störungen Epilepsien und Angststörungen haben ein erhöhtes Risiko für die Entwicklung einer Epilepsie. Obwohl beide Erkrankungen einen ähnlichen Die zweithäufigsten psychiatrischen Störungen, die episodischen und oft chronischen Verlauf haben und zusammen mit Epilepsien auftreten, sind Angststörun- einige Antiepileptika bei bipolaren Störungen wirksam gen [4, 28]. Sie können wie folgt klassifiziert werden: sind, ist wenig zu einer mutmasslichen gemeinsamen (1) Präiktale Angst (Prodromalphase mit Angst Stunden Pathophysiologie gesichert [23]. bis Tage vor einem Anfall), (2) iktale Angst (verursacht Hinsichtlich der atypischen Präsentation von af- durch epileptische Aktivität im Corpus amygdaloideum, fektiven Störungen bei Epilepsien wurde der Begriff im anterioren Gyrus cinguli, im orbitofrontalen und der „Interiktalen dysphorischen Störung“ geprägt, die präfrontalen Kortex), (3) postiktale Angst (Angst nach durch ein chronisch verlaufendes intermittierendes Bild einem Anfall für die Dauer von Stunden bis Tagen) und wechselnder heterogener affektiver Symptomatik und (4) interiktale Angst (Angst im Rahmen einer Komor- die folgenden drei Schlüsselsymptome gekennzeichnet bidität von Angsterkrankung und Epilepsie; Angst als 46 Epileptologie 2016; 33 Psychiatrische Komorbidität bei Epilepsie | T. Leyhe
iatrogen verursachte Komorbidität [Nebenwirkung der und depressive Verstimmungen sowie fluktuierende antiepileptischen oder epilepsiechirurgischen Thera- Bewusstseinsstörungen, Automatismen und Lidmyo- pie]; Angst als psychologische/psychodynamische Re- klonien auftreten. Das EEG liefert den entscheidenden aktion auf die Tatsache, an Epilepsie erkrankt zu sein) diagnostischen Beitrag [34 - 36]. [29 - 31]. Postiktale Psychosen, die 25 % der epileptischen Die neurobiologischen Beziehungen zwischen Epi- Psychosen repräsentieren, sind durch psychotische und lepsie und Angst sind kompliziert und erst teilweise affektive Symptome (paranoide Wahninhalte) charak- geklärt. Eine Vielzahl von Befunden deutet darauf hin, terisiert, die nach einer, dem Anfallsereignis folgenden, dass eine gesteigerte Erregungsbildung in limbischen längstens 7 Tage andauernden symptomfreien Perio- Strukturen das Korrelat der anfallsartig auftretenden de auftreten (luzides Intervall). Die Symptomatik stellt Angst und Panik ist und somit ähnliche Pathomecha- dabei nicht nur eine Aggravierung des vor dem An- nismen wie bei mesiotemporalen Epilepsien eine Rolle fallsereignis bestehenden psychiatrischen Status oder spielen könnten. So finden sich insbesondere bei Pati- der Persönlichkeit dar und ist nicht durch andere medi- enten mit strukturellen mesiotemporalen Läsionen im zinisch psychiatrische Ursachen erklärbar (zum Beispiel Anfall Angstsymptome, die sich auch von Erfahrenen Drogenintoxikation, metabolische Entgleisung etc.). Das von einer Panikerkrankung differenzialdiagnostisch oft Bewusstsein ist nicht wesentlich beeinträchtigt (wie et- nur schwer abgrenzen lassen. Besteht ein Verdacht auf wa beim Delir), die Symptome sind zeitlich limitiert und epileptische Angstattacken, ist sorgfältig nach anderen, dauern üblicherweise Tage, selten Wochen an [34 - 36, oft vom Patienten nicht beachteten, fokalen Anfällen 38]. und nach einer amygdalären Läsion im speziell einge- Unter Alternativpsychose (Synonyme: forcierte Nor- stellten Magnetresonanztomogramm zu fahnden. Die malisierung, paradoxe Normalisierung) versteht man Unterscheidung ist oft schwierig, weil iktale Angst – eine inverse Beziehung zwischen Anfallskontrolle bzw. ähnlich wie eine Panikattacke mit Phänomenen wie Hy- Normalisierung des EEGs einerseits und psychotischen perventilation, Tachykardie, Schwitzen, gastrointesti- Symptomen andererseits. Eine Alternativpsychose wird nalen Störungen (Übelkeit), Parästhesien und weiteren heute definiert durch eine Verhaltensstörung mit aku- autonomen Symptomen vergesellschaftet sein kann. tem/subakutem Beginn begleitet von einer Denk- und „Goldstandard“ für die exakte Diagnose iktaler Angst Wahrnehmungsstörung, einer signifikanten Änderung ist bei ausreichender Anfallshäufigkeit das prolongierte der Affektivität (Depression oder Manie), sowie einer Video-EEG-Monitoring mit Aufzeichnung von Anfällen Angststörung mit Ich-Störung oder dissoziativen Symp- [30, 31]. tomen, die im Zusammenhang mit einer 50 %-igen Ab- Es gibt keine gut kontrollierten Studien zur Behand- nahme der Zahl der interiktalen Spikes im EEG im Ver- lung von Angsterkrankungen bei Epilepsiepatienten. gleich zum Vorbefund oder mit einer kompletten Anfalls- Eine Übersichtsarbeit adaptierte daher die allgemeinen freiheit von mindestens einer Woche (berichtet durch ei- evidenzbasierten Empfehlungen bei Angsterkrankun- nen Aussenstehenden) auftritt. Alternativpsychosen sind gen für Epilepsiepatienten. So werden als erste Wahl selten, sie machen 1 % der epileptischen Psychosen aus. zur Behandlung von Panikstörungen, sozialen Phobien Die Pathomechanismen sind unklar [39 - 41]. und posttraumatischen Belastungsstörungen selektive Bei den interiktalen Psychosen, die 20 % der epi- Serotonin-Wiederaufnahmehemmer ggfs. in Kombina- leptischen Psychosen ausmachen, manifestieren sich tion mit kognitiver Verhaltenstherapie, bei der genera- die psychotischen Symptome zeitlich unabhängig vom lisierten Angststörung Pregabalin und bei Zwangsstö- Anfallsgeschehen. Nur 50 - 70 % der Patienten erfüllen rungen kognitive Verhaltenstherapie empfohlen [32]. die diagnostischen Kriterien einer Schizophrenie, insbe- sondere besteht keine Negativsymptomatik (Apathie, Affektverflachung, Anhedonie etc.), die Persönlichkeit Epilepsien und psychotische Störungen und die interpersonellen Beziehungen bleiben erhal- ten. Illusionäre Verkennungen, religiöse Anmutungs- Auch psychotische Störungen sind bei Patienten mit erlebnisse und paranoid-halluzinatorische Symptome Epilepsie häufiger als in der Allgemeinbevölkerung. Da- stehen im Vordergrund. Insgesamt ist die Symptoma- bei können sogenannte episodische Psychosen (iktale, tik oft milder und der Verlauf günstiger als bei einer postiktale und Alternativpsychosen), die in einem fixen Schizophrenie [35, 36, 42]. zeitlichen Bezug zum Anfallsgeschehen stehen, und chro- Es gibt keine Studien zum Risiko von Krampfanfäl- nische Psychosen (interiktale Psychosen) ohne zeitlichen len beim Einsatz von Antipsychotika bei Epilepsien. Das Bezug zu den Anfällen, unterschieden werden [33 - 37]. höchste Risiko für EEG-Auffälligkeiten oder Anfälle bei Iktale Psychosen stellen die klinische Manifestation Patienten ohne Epilepsie haben Clozapin und Olanza- eines nicht-konvulsiven Status epilepticus (einfach foka- pin, ein moderates Risiko besteht bei Risperidon, ein ler Status, komplex fokaler Status oder Absencenstatus) niedriges Risiko für Quetiapin, so dass empfohlen wird, dar. Die Symptomatik besteht in Wahnvorstellungen, il- Clozapin und Olanzapin zu meiden und eher Amisul- lusionären Verkennungen und Halluzinationen, zudem pirid, Aripiprazol, Quetiapin, Ziprasidon oder Butyyro- können auch affektive Symptome wie panische Angst phenone einzusetzen [43]. Psychiatrische Komorbidität bei Epilepsie | T. Leyhe Epileptologie 2016; 33 47
Epilepsien und Suizid die auch von Erfahrenen von einer Panikerkrankung dif- ferenzialdiagnostisch oft nur schwer abzugrenzen sind. Die Suizidrate bei Epilepsien ist 5-mal höher als in Interiktale Psychosen bei Epilepsiepatienten haben der Allgemeinbevölkerung, bei Temporallappenepilepsie oft eine mildere Symptomatik und einen günstigeren und komplex-partiellen Anfällen 25-mal höher [44 - 46]. Verlauf als bei Schizophrenie. 2008 zeigte eine gepoolte Analyse von 199 klini- Seit 2008 fordert die FDA Warnhinweise vor einem schen Studien ein zweifach erhöhtes Risiko für Suizide, erhöhten Risiko suizidaler Gedanken oder Handlungen Suizidversuche oder Suizidgedanken bei Anwendung bei allen Antiepileptika. Wahrscheinlich muss aber das von Antiepileptika. Das Risiko lag bei 0,43 Prozent in Suizidrisiko bei Antiepileptika differenzierter gesehen den Verum- und 0,24 Prozent in den Placebo-Armen. werden. Hier besteht dringender Bedarf für weitere Die „Number needed to harm“ betrug 530. Seit der Zeit Klärung. besteht die Verfügung der amerikanischen Food and Drug Administration (FDA), dass es Warnhinweise vor einem erhöhten Risiko suizidaler Gedanken oder Hand- Referenzen lungen bei allen Antiepileptika geben muss [47]. Bestimmte Anfallstypen scheinen das Suizidrisiko 1. Hamed SA. Psychiatric symptomatologies and disorders related to epi- zu erhöhen. Entscheidend sind aber die Komorbidität lepsy and antiepileptic medications. Expert Opin Drug Saf 2011; 10: 913- mit Depression, Persönlichkeitsstörung und kogniti- 934 ver Störung, so dass der Behandlung dieser Störungen 2. Ettinger A, Reed M, Cramer J. Depression and comorbidity in community- entscheidende Bedeutung bei der Suizidprävention von based patients with epilepsy or asthma. Neurology 2004; 63: 1008-1014 Epilepsiepatienten zukommt [48]. 3. Lin JJ, Mula M, Hermann BP. Uncovering the neurobehavioural comorbi- Das Suizidrisiko der Antiepileptika muss man ver- dities of epilepsy over the lifespan. Lancet 2012; 380: 1180–1192 mutlich differenzierter sehen. So haben Carbamazepin, 4. Baumgartner C, Lehner-Baumgartner E. Epilepsie und psychiatrische Er- Oxcarbamazepin, Valproat, Gabapentin und Lamotri- krankungen: J Neurol Neurochir Psychiatr 2008; 9: 7-13 gin eher einen suizidprophylaktischen Effekt, während 5. Blanchet P, Frommer GP. Mood change preceding epileptic seizures. J Phenytoin, Levetiracetam, Topiramat und Vigabatrin Nerv Ment Dis 1986; 174: 471-476 das Suizidrisiko erhöhen [48]. 6. Manchanda R, Freeland A,Schaefer B et al. Auras, seizure focus, and psy- In einer aktuellen Fallkontrollstudie wurde gezeigt, chiatric disorders. Neuropsychiatry Neuropsychol Behav Neurol 2000; dass neuere Antikonvulsiva mit einem hohen Potenzial 13: 13-19 für die Verursachung von Depressionen (Levetiracetam, 7. Biraben A, Taussig D, Thomas P et al. Fear as the main feature of epileptic Tiagabin, Topiramat und Vigabatrin) ein etwa 3-fach er- seizures. J Neurol Neurosurg Psychiatry 2001; 70: 186-191 höhtes Risiko für selbstverletzendes oder suizidales Ver- 8. Kanemoto K, Kawasaki J, Mori E. Violence and epilepsy: a close relation halten haben, während das Risiko für die übrigen Anti- between violence and postictal psychosis. Epilepsia 1999; 40: 107-109 konvulsiva nicht erhöht war. Als Einzelsubstanz zeigte 9. Ertekin BA, Kulaksizoglu IB, Ertekin E et al. A comparative study of obses- nur Levetiracetam ein erhöhtes Risiko. Ausserdem war sive-compulsive disorder and other psychiatric comorbidities in patients eine Risikoerhöhung nur bei den Patienten auszuma- with temporal lobe epilepsy and idiopathic generalized epilepsy. Epilepsy chen, die eine vorbekannte psychiatrische Erkrankung Behav 2009; 14: 634-639 hatten [49]. Insgesamt besteht dringender Bedarf für 10. Alemayehu S, Bergey GK, Barry E et al. Panic attacks as ictal manifesta- grosse prospektive Studien zur weiteren Klärung des tions of parietal lobe seizures. 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