DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN - Kompetenzrechtliche Vorgaben für ein Demokratiefördergesetz des Bundes
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OKTOBER 2020 GUTACHTEN DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN Kompetenzrechtliche Vorgaben für ein Demokratiefördergesetz des Bundes Prof. Dr. Christoph Möllers Wir denken weiter.
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ Inhalt WARUM DIESES GUTACHTEN (UND WARUM JETZT)? 4 ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE 6 A. SACHVERHALT UND GUTACHTENFRAGE 8 B. VERFASSUNGSRECHTLICHE WÜRDIGUNG 9 I. GESETZGEBUNGSKOMPETENZ DES BUNDES 9 1. Kompetenz des Bundes qua Staatsleitung? 9 2. Kompetenz des Bundes kraft Natur der Sache? 10 A. RECHTSPRECHUNG DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS 10 B. ANWENDUNG AUF EIN DEMOKR ATIEFÖRDERGESETZ DES BUNDES 12 3. Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG 13 A. BEGRIFF DER ÖFFENTLICHEN FÜRSORGE 13 B. ANWENDUNG AUF EIN DEMOKR ATIEFÖRDERGESETZ DES BUNDES 16 aa. Demokratieförderung als öffentliche Fürsorge 16 bb. Demokratieförderung als strukturell verwandt mit klassischer Fürsorge 17 cc. Gegenprobe: Systematik der bundesstaatlichen Gesetzgebungskompetenzen 19 4. Zwischenergebnis 20 5. Erforderlichkeit der bundesgesetzlichen Regelung gem. Art. 72 Abs. 2 GG 21 A. UNBERÜHRTHEIT L ANDESPOLITISCHER GESTALTUNGSSPIELR ÄUME 21 B. HERSTELLUNG GLEICHWERTIGER LEBENSVERHÄLTNISSE 22 C. WAHRUNG DER RECHTSEINHEIT 23 6. Demokratieförderung als sozialstaatliches Projekt? 24 7. Zwischenergebnis 25 II. VERWALTUNGSKOMPETENZ DES BUNDES 25 1. Vorbemerkung: Zur Abgrenzung von Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz 25 2. Verwaltungskompetenz gem. Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG 25 A. SELBSTÄNDIGE BUNDESOBERBEHÖRDEN 25 B. ART. 72 ABS. 2 GG IM R AHMEN DES ART. 87 ABS. 3 SATZ 1 GG 26 C. ZENTR ALITÄT DER VERWALTUNGSAUFGABE 26 www.progressives-zentrum.org 2
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ aa. Indiz: Bewahrung der Länderzuständigkeiten 27 bb. Finanzielle Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements 27 cc. Koordination zivilgesellschaftlichen Engagements 28 dd. Informations- und Bildungsangebote zur Extremismusprävention 28 3. Zwischenergebnis 28 III. FINANZKOMPETENZ DES BUNDES 28 1. Maßstab: Aufgabe nach Art. 104a Abs. 1 GG 28 2. Anwendung auf den vorliegenden Fall 29 3. Insbesondere: keine weiteren Begrenzungen der Ausgabenstruktur 29 DER AUTOR / DANKSAGUNG 30 DAS PROGRESSIVE ZENTRUM / IMPRESSUM 31 www.progressives-zentrum.org 3
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ Warum dieses Gutachten (und warum jetzt)? „Vorbeugen ist besser als Heilen, das sollte nicht nur in der Medizin Leitmotiv sein, sondern auch in dem Bestreben, unsere Demokratie und unsere freiheitlich-demokratische Dominic Schwickert Grundordnung zu bewahren.“ Das Progressive Zentrum Mit diesen Worten reagierte Bundesfamilienministerin NACH DEM WECKRUF VON HALLE UND HANAU: Franziska Giffey im Oktober 2019 in einem Gastbeitrag FAHRPLAN IM KAMPF GEGEN RECHTSEXTREMISMUS für den Tagesspiegel auf die Anschläge von Halle (Saale). Konkret reagierte die Bundesregierung auf Hanau, indem Ihre politische Botschaft: Um nicht nur „die Symptome, sie nur vier Wochen nach den Anschlägen den „Kabinetts- sondern die Ursache (zu) bekämpfen, müssen wir dau- ausschuss Rechtsextremismus“ ins Leben rief. Der Kampf erhaft noch mehr dagegen tun“. Es brauche nun endlich gegen Rassismus, Antisemitismus und Hasskriminalität eine verlässliche Absicherung „nachweislich wirksamer, wurde dabei zur Chefsache erklärt, was sich nicht zuletzt praxiserprobter Projekte“ auf gesetzlicher Grundlage. in der Zusammensetzung widerspiegelt: Bundeskanzle- Halle sei in diesem Zusammenhang „der letzte Weckruf“. rin Merkel hat den Vorsitz inne, ihre Stellvertreter sind Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz sowie Weitere Bewegung kam in die Debatte, als auch Bun- Bundesinnenminister Horst Seehofer, der zugleich soge- desinnenminister Horst Seehofer im Januar 2020 im nannter Beauftragter Vorsitzender des Gremiums ist. Spiegel und bei Zeit Online damit zitiert wurde, dass ein Demokratiefördergesetz „in diesen Zeiten notwendig" Das selbstgesteckte Ziel: einen konkreten und weitrei- sei – gerade nachdem sich seit dem NSU „eine rechtsext- chenden Maßnahmenkatalog in der Bekämpfung des remistische Blutspur durch Deutschland gezogen" habe. Rechtsextremismus zu erarbeiten und zu beschließen. Weitreichend sind zugleich auch die damit geweckten Tatsächlich wird bereits seit einigen Jahren immer wieder Hoffnungen in der organisierten Zivilgesellschaft auf eine bundesgesetzliche Ausgestaltung von Demokratie- eine große gesetzgeberische Strukturreform. förderung, Extremismusprävention und weiteren Maß- nahmen gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit Nach zahlreichen Voranhörungen mit VertreterInnen gefordert. So hat der NSU-Untersuchungsausschuss aus der organisierten Zivilgesellschaft - besonders Mig- des Deutschen Bundestages schon im Sommer 2013 rantInnenorganisationen - und Wissenschaft steht im fraktionsübergreifend eine entsprechende Empfehlung Herbst 2020 der Beschluss eines Maßnahmenpakets auf ausgesprochen. der politischen Agenda. Es soll auch Eckpunkte für ein Demokratiefördergesetz enthalten, das die derzeitigen Doch erst die erschütternden Ereignisse von Halle im Aktivitäten der Bundesregierung auf dem Gebiet der Herbst 2019, denen der Mord an Regierungspräsident Demokratieförderung auf eine neue rechtliche Grundlage Walter Lübcke im Sommer 2019 vorausging, und denen stellen soll. die rassistisch motivierten, mörderischen Anschläge in Hanau vom Februar 2020 folgten, haben den politischen DEMOKRATIEFÖRDERUNG IM BUND: Handlungsdruck erhöht. Damit wurde eine neue Dynamik KEINE VERLÄSSLICHEN RAHMENBEDINGUNGEN in die großkoalitionären Verhandlungen um ein „Demo- Im aktuellen Bundeshaushalt 2020 unterstützt der Bund kratiefördergesetz“ gebracht, nachdem ein eher zaghafter zivilgesellschaftliches Engagement für Demokratie, Viel- Versuch auf Ebene eines ersten Referentenentwurfs einige falt und Extremismusprävention vor allem durch die Jahre zuvor gescheitert war. Bundesprogramme „Zusammenhalt durch Teilhabe“ des www.progressives-zentrum.org 4
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ Bundesinnenministeriums sowie „Demokratie leben!“ des Mio. im Jahr 2020 auf 150,50 Mio. Euro im Jahr 2021, 165 Bundesfamilienministeriums mit einem Jahresbudget Mio. Euro in 2022 sowie 200 Millionen Euro für das Jahr von addiert 127,5 Millionen Euro. Trotz zahlreicher Erfolge 2023. haben diese Bundesprogramme mit Blick auf Förderstruk- tur, Befristung von Förderperioden und bürokratischen Auch hat sich innerhalb der Großen Koalition (wie auch Auflagen ihre Tücken und Schwächen. im demokratischen Spektrum der deutschen Partei- enlandschaft insgesamt) mehrheitlich die Erkenntnis Kritische Stimmen bemängeln, dass für (Förder-)Aktivi- durchgesetzt, dass demokratiegefährdendem Extremis- täten des Bundes im Bereich „Demokratieförderung und mus mit Hilfe einer neuen gesetzlichen Grundlage viel Extremismusprävention“ bislang keinerlei nachhaltige entschiedener und vor allem strukturell entgegengewirkt und rechtlich verlässliche Rahmenbedingungen bestehen. werden könnte, als dies mit dem derzeitigen rechtlichen So ist dem Bund laut der aktuellen Förderrichtlinien eine Rahmen möglich ist. Die Chancen für eine Einigung auf dauerhafte Förderung erfolgreicher zivilgesellschaftli- ein Demokratiefördergesetz des Bundes waren also wohl cher Initiativen untersagt. Stattdessen darf er beispiels- nie größer: Die Bundesregierung prüft derzeit im Rahmen weise lediglich Gelder für explizit innovative Projekte der Ressortabstimmung mögliche Eckpunkte für eine („Leuchtturm-Charakter“) und dies auch nur befristet Einigung noch in der laufenden Legislaturperiode. bereitstellen. Dies wiederum führt dazu, dass unzählige zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für Demo- Unklarheit besteht derzeit noch in einigen verfassungs- kratiepolitik engagieren, nicht langfristig planen können. rechtlichen Grundsatzfragen, insbesondere mit Blick auf die Bundeskompetenz. Hier setzt das vorliegende Gut- Nicht selten halten sich diese Organisationen nur unter achten von einem der profiliertesten Verfassungsrechtler prekären Bedingungen über Wasser und ihre Mitarbei- des Landes, Prof. Dr. Christoph Möllers, an. Es soll einen tenden müssen sich von einem kurzfristigen Vertrag zum Beitrag dazu leisten, die rechtliche Ausgangslage besser nächsten hangeln. Statt in der konkreten Projektarbeit zu verstehen. und mit den relevanten Menschen vor Ort müssen die Mitarbeitenden einen guten Teil ihrer knappen Zeit im Bislang beziehen sich die Befürworter eines Demokratie- Bürokratiedickicht von formalen Vorgaben und Regularien gesetzes vor allem auf ein vor einigen Jahren erstelltes verbringen. Zudem müssen sie sich dabei regelmäßig Rechtsgutachten von Prof. Dr. Ulrich Battis im Auftrag dem „Zwangswettbewerb” stellen, immer wieder neue des Bundesfamilienministeriums. Das hier vorgelegte innovative Modellprojekte aufzusetzen, die formaljuris- Gutachten schließt daran an und teilt die Einschätzung tisch abbildbar sind. der dringenden Notwendigkeit eines solchen Gesetzes. Prof. Dr. Christoph Möllers kommt jedoch bei der ver- Hinzu kommt: Damit die Bundesmittel fließen kön- fassungsrechtlichen Herleitung der Bundeskompetenz nen, müssen die von Bundesprogrammen geförderten zu dem Ergebnis, dass sich die Kompetenz des Bundes Organisationen in der Regel beträchtliche Eigenmittel weniger aus der „Staatsleitungsfunktion“ des Bundes beziehungsweise zusätzliche Mittel aus Förderungen oder der „Natur der Sache“ ergibt, als vielmehr aus der von Landes- und kommunaler Ebene beisteuern. Vor Gesetzgebungskompetenz für die „öffentliche Fürsorge“ allem für kleine Vereine in der Fläche bedeutet dies große (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Grundgesetz). Dies scheint eine gang- Herausforderungen. bare, wenn nicht die verfassungsrechtliche Lösungsant- wort auf die zu klärende Kompetenzfrage zu sein. DIE NÄCHSTEN SCHRITTE. UND NOCH OFFENE FRAGEN In finanzieller Hinsicht hat die Bundesregierung bereits Möllers zeigt zudem, warum eine bundeseinheitliche Fakten geschaffen. Das Bundeskabinett hat am 23. Sep- Regelung erforderlich ist, und schlussfolgert unter tember 2020 den Regierungsentwurf für den Bundes- anderem, dass dem Bund mit dem Erlass eines Demo- haushalt 2021 und den Finanzplan bis 2024 beschlossen. kratiefördergesetzes auch eine entsprechende Aufga- Eingeplant ist eine substanzielle Mittelaufstockung des benkompetenz zusteht, die nicht auf die Förderung von Bundesprogramms „Demokratie leben!“ von derzeit 115,5 Modellprojekten beschränkt sein muss. www.progressives-zentrum.org 5
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ Gründen ein Durchbruch in der Bekämpfung von Rechts- Die rechtsextremen Anschläge von extremismus. Es würde auch im europäischen Kontext Halle und Hanau haben den poli- Maßstäbe setzen. tischen Handlungsdruck der Bun- Bundesministerin Franziska Giffey hat völlig recht, wenn desregierung erhöht. Die Chancen sie im oben zitierten Gastbeitrag feststellt, dass „Demo- für eine Einigung auf ein Demokra- kratieförderung nichts ist, was man mal macht und dann wieder lässt“. Damit unsere Demokratie auch wirklich tiefördergesetz des Bundes waren dauerhaft gefördert wird, geht es in den nun anstehenden wohl nie größer. politischen Entscheidungen nicht nur um das „Ob“ eines neuen Gesetzes, sondern vor allem auch um das „Wie“. Denn ein Gesetz auf verfassungsrechtlich „wackeligen Welchen rechtlichen Weg die Bundesregierung letztlich Beinen“ könnte die so dringend erforderlichen stabilen auch einschlagen wird: Strukturelle Verbesserungen in Rahmenbedingungen einer Zivilgesellschaft gefährden, der Demokratiearbeit sind überfällig, ein entsprechendes die doch für eine robuste und vitale Demokratie in unse- Demokratiefördergesetz wäre nicht nur aus symbolischen rem Land tagtäglich so unverzichtbare Arbeit leistet. Zusammenfassung der Ergebnisse 1. Die Bekämpfung extremistischer politischer Ansichten 3. Seit langem wird gefordert, entsprechende Programme und Absichten sowie die Förderung gesellschaftlicher durch ein „Demokratiefördergesetz“ auch auf eine Akzeptanz für den demokratischen Rechtsstaat sind materiell-rechtliche Grundlage zu stellen. Damit nicht allein Gegenstände gesellschaftlicher Selbstor- könnte die Aufgabenerfüllung des Bundes in diesem ganisation, sondern gehören auch zu den Aufgaben Gebiet verstetigt werden und die Wahrnehmung dieser des Staates. Dies zeigt sich nicht zuletzt in einem Aufgabe durch ein demokratisch besonders legitimier- verstärkten finanziellen Engagement des Bundes bei tes parlamentarisches Verfahren sowohl politische der Unterstützung demokratiefördernder Programme, Anerkennung als auch eine angemessene rechtliche namentlich bei der Extremismusprävention. Form bekommen. 2. Dieses Engagement verwirklicht sich neben der Arbeit 4. Ein solches Gesetz würde zunächst mit der Aufga- der zum Ressort des Bundesinnenministeriums (BMI) benbestimmung eine materielle Grundlage für die gehörenden Bundeszentrale für politische Bildung Sicherung einer stetigen Finanzierung liefern. Es würde (BpB) namentlich in zwei Bundesprogrammen: zum durch die Festschreibung von Verfahren der Förderung, einen im gleichfalls beim BMI angesiedelten Programm insbesondere durch die Bestimmung von Eigenschaf- „Zusammenhalt durch Teilhabe“, zum anderen in dem ten der Geförderten, Anforderungen an private und im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Fami- öffentliche natürliche oder juristische Personen definie- lie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) operierenden ren und schließlich die wissenschaftliche Begleitung Programm „Demokratie leben!“. Beide Programme der Auswahl und Durchführung von Projekten regeln. haben in den letzten Jahren einen starken Aufwuchs erlebt und werden mit deutlich mehr als 100 Millionen 5. Für den Erlass eines solchen Gesetzes bedarf der Bund Euro aus dem Bundeshaushalt gefördert. einer Verbandskompetenz. Diese ergibt sich in der hier vertretenen Rechtsauffassung entgegen einer www.progressives-zentrum.org 6
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ in der Gutachtenliteratur entwickelten und verbrei- es diese zunächst verhindern möchte, bei erfolgter teten Ansicht aber nicht aus dem Gesichtspunkt der Realisierung aber Nachsorge in Form von Beratung „Staatsleitungsfunktion“ des Bundes. Dieses Argu- vorsieht. Wie es für den Fall der öffentlichen Fürsorge ment hatte eine Kammer des Ersten Senats des Bun- typisch ist, sieht das Gesetz ein Zusammenspiel von desverfassungsgerichts in einem Beschluss zu einer Fürsorge durch öffentliche und private Träger vor. Dabei Verfassungsbeschwerde gegen die Bundeszentrale verbleibt es im engen Bereich der Extremismuspräven- für politische Bildung verwendet. Freilich dient die tion und okkupiert nicht die der Landesgesetzgebung Figur dort wie auch sonst in der Rechtsprechung des zugewiesenen Bereiche der Gefahrenabwehr und der Gerichts nicht zur Begründung einer Verbandskompe- Bildung. tenz, sondern zur Begrenzung des Gesetzesvorbehalts bei Informationshandeln der Bundesregierung. Im 8. Die Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen konkreten Fall war der Umstand zu bewerten, dass die Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG ergibt sich aus dem Bundeszentrale ohne gesetzliche Grundlage handelt Gesichtspunkt der Herstellung gleichwertiger Lebens- – und im Ergebnis auch handeln darf. verhältnisse. Dabei muss das Gesetz freilich klarstellen, dass es der bundesweiten Koordination und Vernet- 6. Eine Bundeskompetenz ergibt sich in der hier ver- zung von Einzelprojekten dient, indem es einen bun- tretenen Rechtsauffassung nur begrenzt aus dem desweiten Grundbestand sowohl an öffentlicher als Gesichtspunkt der „Natur der Sache“, den das Bun- auch privater Extremismusprävention schafft. desverfassungsgericht namentlich in seiner älteren Rechtsprechung für besondere Fälle als kompetenzbe- 9. Die Kompetenz des Bundes zur Vollziehung des Geset- gründend anerkannt hat. Diese Kompetenz ist über- zes folgt aus Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG, wenn das Gesetz haupt nur für solche Aufgaben einschlägig, deren selbstständige Bundesoberbehörden ausdrücklich mit Wahrnehmung durch die Länder denknotwendig aus- der Wahrnehmung der Aufgabe betreut. Als solche geschlossen wären. Dagegen können die von einem kommen im Geschäftsbereich des BMI das Bundesamt Demokratiefördergesetz zu bestimmenden Aufgaben für Verwaltung und im Geschäftsbereich des BMSFSJ grundsätzlich auch von den Ländern verfolgt werden. das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche Aufgaben in Frage. Die gesetzesakzessorische Verwal- 7. Die Kompetenz des Bundes ergibt sich aus der kon- tungskompetenz des Bundes setzt eine bestimmte kurrierenden Gesetzgebungskompetenz für die Zentralität der Aufgabenwahrnehmung voraus, die „öffentliche Fürsorge“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Dieser durch die Einhaltung der Maßstäbe einer bundes- Titel deckt bereits wesentliche Teile der Demokratie- einheitlichen Regelung (oben, 8.) aber gesichert sein förderprogramme des Bundes, ist aber in der Sache dürfte. Dagegen ist es nicht erforderlich, dass die weder auf die Unterstützung Jugendlicher noch auf Bundesämter jenseits der Entscheidung über die Ver- die Erbringung finanzieller Leistungen beschränkt. Das gabe von Fördermitteln eigene Verwaltungsaufgaben Demokratiefördergesetz teilt die wesentlichen Struk- in diesem Bereich wahrnehmen. turmerkmale klassischer Programme der öffentlichen Fürsorge. Es reagiert auf eine hinreichend konkrete – 10.Die Finanzierungskompetenz des Bundes folgt nach teils potenzielle, teils realisierte – soziale Gefahrenlage, Art. 104a GG der Aufgabenkompetenz. Die Aufgaben- die von verfassungsfeindlichen Bestrebungen ausgeht kompetenz ergibt sich nach allgemeiner Ansicht aus oder aus der Struktur eines zivilgesellschaftlichen der Verwaltungskompetenz. Danach steht dem Bund Engagements herrührt unter Rückgriff auf bewährte mit dem Erlass eines Demokratiefördergesetzes auch Regelungsstrukturen, die bereits Gegenstand bundes- eine entsprechende Aufgabenkompetenz zur Seite. verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zu Art. 74 Diese unterliegt selbstverständlich allgemeinen haus- Abs. 1 Nr. 7 GG waren. Es reagiert auch auf die vielfälti- haltsrechtlichen Regeln. Sie ist auf die Regelungen gen Notlagen, die verfassungsfeindliche Bestrebungen, im Gesetz beschränkt, aber nicht zwingend auf die Gruppierungen und Bewegungen auslösen, indem Förderung von Modellprojekten. www.progressives-zentrum.org 7
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ Programme erfolgt in der Folge auf der Grundlage ent- A. Sachverhalt und sprechender Verwaltungsvorschriften und Förderricht- linien der zuständigen Bundesministerien. Gutachtenfrage Das Zusammenfallen einer zunehmenden politischen Dass die Bekämpfung extremistischer politischer Ansich- Aktivität des Bundes auf dem Gebiet der politischen ten und Absichten sowie die Förderung gesellschaftlicher Extremismusbekämpfung und Extremismusprävention Akzeptanz für den demokratischen Rechtsstaat nicht einerseits mit dem Fehlen einer einschlägigen bundesge- allein Gegenstände gesellschaftlicher Selbstorganisation setzlichen Grundlage andererseits wird sowohl von den sind, sondern auch zu den Aufgaben des Staates gehören, politischen und administrativen Beteiligten als auch von ist in den letzten Jahren nicht zuletzt angesichts einer den privaten Adressaten von Förderprogrammen schon verstärkten rechtsextremistischen Aktivität zum Konsens seit längerer Zeit als ein Problem wahrgenommen, das unter den demokratischen Parteien geworden. allein durch den Erlass eines Gesetzes behoben werden könnte. Dieser Konsens findet auch in einem verstärkten finan- ziellen Engagement des Bundes bei der Unterstützung demokratiefördernder Programme, namentlich bei der Was sowohl von den politischen und Extremismusprävention, seinen Ausdruck. administrativen Beteiligten als auch von den privaten Adressaten von Förderpro- Dieses Engagement verwirklicht sich neben der Arbeit grammen schon seit längerer Zeit als der zum Ressort des Bundesinnenministeriums (BMI) ein Problem wahrgenommen wird: Das gehörenden Bundeszentrale für politische Bildung (BpB) Zusammenfallen einer zunehmenden namentlich in zwei Bundesprogrammen: Zum einen ist politischen Aktivität des Bundes auf dem das gleichfalls im BMI angesiedelte Programm „Zusam- Gebiet der politischen Extremismusbe- menhalt durch Teilhabe“ zu nennen, zum anderen das im kämpfung und Extremismusprävention Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie, einerseits mit dem Fehlen einer einschlä- Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) operierende Pro- gigen bundesgesetzlichen Grundlage gramm „Demokratie leben!“. andererseits. Dies kann allein durch den Erlass eines Gesetzes behoben werden. Das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ för- dert gesellschaftliche Organisationen wie Verbände und Vereine dabei, eigene Instrumente der Extremismusprä- Denn zum Ersten gibt es ohne gesetzliche Grundlage vention sowie Formen demokratischer Teilhabe zu ent- keine hinreichende Planungssicherheit für alle Betei- wickeln. Im Jahre 2020 standen dafür im Bundeshaushalt ligten. Das Schicksal der Programme hängt, auch wenn 12 Millionen Euro zur Verfügung. Das Bundesprogramm sie in die mittelfristige Finanzplanung des Bundes auf- „Demokratie leben!“ fördert maßgeblich Projekte der genommen werden, letztlich an der jährlichen Entschei- Jugendarbeit, die eine Sensibilisierung für Rassismus und dung des Haushaltsgesetzgebers. Zunächst geht es hier für andere Ideologien der Ungleichheit schaffen sollen. aber nicht um die Verstetigung einzeln zu fördernder Das Programm ist in den letzten Jahren stark gewachsen zivilgesellschaftlicher Projekte oder um die Schaffung und hat im Haushaltsjahr 2020 mehr als 100 Millionen unbefristeter Stellen. Vielmehr geht es zunächst darum, Euro zur Verfügung. die Aufgabenwahrnehmung des Bundes zu verstetigen. Beide Programme werden bislang ohne materiell-gesetz- Zum Zweiten verbindet sich mit der Vergesetzlichung der liche Grundlage, die die Förderbedingungen spezifiziert, Aufgabe auch ihre in Recht formalisierte politische Aner- vollzogen. Sie fußen zunächst auf haushaltsgesetzlichen kennung. Diese spielt nicht allein bei der Zuweisung von Ermächtigungen des Deutschen Bundestages. Die Ver- Mitteln in den Haushaltsberatungen eine Rolle, sondern teilung von Mitteln an bestimmte zivilgesellschaftliche auch in der alltäglichen politischen Auseinandersetzung www.progressives-zentrum.org 8
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ um den politischen Stellenwert der Demokratieförderung. Seite (B.). Verfügt der Bund über die Kompetenz, ein sol- Sichtbarkeit und demokratische Legitimation erhalten ches Gesetz zu erlassen (B. I.), es zu vollziehen (B. II.) und Staatsaufgaben nicht zuletzt durch ihre Vergesetzlichung. eigene Ausgaben für diesen Vollzug vorzusehen (B. III.)? Zum Dritten könnte eine gesetzliche Grundlage auch die herrschende Unsicherheit bei der Wahl angemessener Instrumente zur Erreichung gesetzlicher Ziele ausräumen. Namentlich die Förderprogramme aus dem Bereich des BMFSFJ operieren im Moment zu wesentlichen Teilen B. Verfassungsrechtliche noch mit Blick auf die Klausel des § 83 SGB VIII, in dessen Würdigung Folge nur Programme mit Modellcharakter und nur mit Beteiligten eines Lebensalters unter 27 Jahren gefördert werden können. Immer wenn sich ein solches Projekt als I. GESETZGEBUNGSKOMPETENZ erfolgreich erwiesen hat, kann es nicht mehr gefördert DES BUNDES werden, weil damit der Modellcharakter endet. Nach Art. 70 GG bedarf der Bund zum Erlass eines Geset- Eine gesetzliche Grundlage sollte damit dreierlei vorsehen: zes zunächst einer eigenen Kompetenz. 1. Die Bestimmung eines gesetzlichen Auftrags an 1. Kompetenz des Bundes qua Staatsleitung? den Bund, welche die genannten und vergleichbare Projekte zum Schutz der freiheitlichen demokrati- Fraglich ist zunächst, ob sich eine solche Kompetenz schen Grundordnung vorsieht, und die Durchfüh- aus dem Begriff der „Staatsleitung“ ergibt, der in der rung bundeseigener Maßnahmen ermöglicht. Gutachtenliteratur für vergleichbare Rechtsfragen bereits Eingang gefunden hat, weil er in einem ähnlichen Zusam- 2. Eine mit der Aufgabenbestimmung einherge- menhang vom Bundesverfassungsgericht verwendet hende materielle Grundlage zur Sicherung einer wurde: stetigen Finanzierung. Battis/Grigoleit/Drohsel, Rechtliche Möglichkeiten zur Verstetigung der finanziellen Mittel zur Demokratieförderung und Bekämpfung des 3. Die Festschreibung von Verfahren der Förderung, Neonazismus, Gutachten im Auftrag u.a. von der Amadeus Antonio insbesondere durch die Bestimmung materieller Stiftung (2013), S. 24 f.; Battis, Rechtliche Fragen zur Schaffung eines Voraussetzungen einer Förderung.Diese müssen Bundesgesetzes „Demokratieförderung“, Gutachten im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2016), die Anforderungen an zu fördernde private und S. 19, jeweils mit Verweis auf BVerfG, Stattgebender Kammerbe- öffentliche natürliche oder juristische Personen und schluss vom 17.08.2020, 1 BvR 2585/06, juris – Löw/Bundeszentrale die wissenschaftliche Begleitung der Auswahl und für politische Bildung. Durchführung von Projekten beinhalten. Im Ausgangspunkt stellt die Doktrin der Staatsleitung Dabei soll sich die Aufgabe der so ermächtigten Behörden keine normative Grundlage für eine Gesetzgebungs- des Bundes auf die Förderung von Projekten von überre- kompetenz des Bundes dar. Es handelt sich um eine gionaler Bedeutung und die bundesweite Koordination Rechtsfigur, die in der Rechtsprechung zur Anpassung der und Vernetzung einzelner Projekte beschränken. grundrechtlichen Gesetzesvorbehaltslehre an den insti- tutionellen Rahmen öffentlicher Informationstätigkeit Besteht grundsätzlich politische Einigkeit über den Sinn entwickelt wurde, insbesondere im Verhältnis zwischen eines Demokratiefördergesetzes auf Ebene des Bundes, Parlament und Regierung. Dass diese Figur außerhalb der so stellt sich die Frage nach den grundgesetzlichen Vor- Ordnung der bundesstaatlichen Gesetzgebungs- und gaben für eine solche Regelung. Verfassungsrechtliche Verwaltungskompetenzbestimmungen des Grundge- Nachfragen, die im folgenden Gutachten zu behandeln setzes liegt, spricht das Bundesverfassungsgericht im sind, betreffen vornehmlich die kompetenzrechtliche Osho-Beschluss deutlich aus: www.progressives-zentrum.org 9
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ Für die Regierungskompetenz zur Staatsleitung gibt es, anders als staatlichen Handelns kommt, zumal damit der Begriff für die Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten, keine jede Kontur verliert, weil das gesamte Informationsan- ausdrücklichen Bestimmungen im Grundgesetz. […] Maßgebend für die Kompetenz der Bundesregierung im Bereich des Informati- gebot der Bundeszentrale kaum als staatsleitend oder onshandelns sind nicht die Art. 83 ff. GG. Die Regierungstätigkeit ist staatstragend betrachtet werden kann, nicht Verwaltung im Verständnis dieser Normen. Zur Ausführung von Gesetzen durch administrative Maßnahmen ist die Bundesregierung so zutreffend Schoch, Die Schwierigkeiten des BVerfG mit der Bewäl- im Zuge ihrer Staatsleitung nicht befugt. (BVerfG, Beschluss vom tigung staatlichen Informationshandelns, NVwZ 2011, 193 (196 f.). 26.06.2002, 1 BvR 670/91, Rn. 84-85, juris – Osho) Aber auch wenn man dies anders sieht, kann der Beschluss Auch aus dem Kammerbeschluss des Bundesverfassungs- jedenfalls nicht als Erweiterung der Staatsleitungsdoktrin gerichts, auf dem die gesamte in diesem Zusammenhang zu einer Norm gelesen werden, die die Verbandskompe- einschlägige Argumentation beruht, ergibt sich nichts tenz des Bundes in Sachen Gesetzgebung und Verwaltung anderes. Dieser Beschluss zu einem Eingriff der Bundes- regelt. In Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht zentrale für politische Bildung (BpB) in die Meinungs- von der Staatsleitung durch Gesetz spricht, bezieht sich freiheit betrifft thematisch in der Tat eine verwandte dies auf Gesetze, deren Kompetenzgrundlage an anderer Materie, doch ergibt sich daraus keine Aussage über die Stelle im Grundgesetz zu finden ist, Staatsleitung als Bundeskompetenztitel. vgl. BVerfG, Urteil vom 14.01.1986, 2 BvE 14/83, Rn. 125, juris – Haus- Im Mittelpunkt des Beschlusses stand die Frage nach einer haltskontrolle der Geheimdienste: „Er [der Bundestag] trifft mit der Rechtsgrundlage für einen mittelbaren Grundrechtsein- Entscheidung über den Haushaltsplan, der ein Wirtschaftsplan und zugleich ein staatsleitender Hoheitsakt in Gesetzesform ist, eine griff durch die Bundeszentrale. Das Bundesverfassungs- wirtschaftliche Grundentscheidung für zentrale Bereiche der Politik gericht resümiert: während des Planungszeitraums.“ Das Haushaltsgesetz fußt auf Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG. Vielmehr kommt allein die kompetenzielle Rechtsgrundlage in Betracht, auf der die Tätigkeit der Bundeszentrale überhaupt fußt. In diesem Sinne ist Staatsleitung also die Beschreibung Hierbei handelt es sich um die der Bundesregierung zukommende Aufgabe der Staatsleitung, die, ohne dass es darüber hinaus einer der Aktivitäten von Staatsorganen, die in unterschied- besonderen gesetzlichen Eingriffsermächtigung bedürfte, staatliches licher Weise tätig werden. Sobald ihr Handeln die Form Informationshandeln legitimieren kann. Namentlich gestattet sie eines Gesetzes oder der Einrichtung von Verwaltungs- es der Bundesregierung, die Bürger mit solchen Informationen zu versorgen, deren diese zur Mitwirkung an der demokratischen Wil- einheiten annimmt, richtet sich die Verbandskompetenz lensbildung bedürfen. Angesichts dessen ist es verfassungsrechtlich aber nach Art. 70 ff. GG respektive Art. 83 ff. GG und folgt nicht zu beanstanden, dass die Bundesregierung eine Bundeszentrale nicht aus der Aufgabe der Staatsleitung (Art. 65 GG). für politische Bildung unterhält, die ihrerseits publizistische Foren für politische Debatten betreibt. (BVerfG, Stattgebender Kammer- beschluss vom 17.08.2020, 1 BvR 2585/06, Rn. 23, juris – Löw/Bundes- zentrale für politische Bildung, Verweise ausgelassen) 2. Kompetenz des Bundes kraft Natur der Sache? Zur Begründung verweist das Gericht in eben diesem Zitat auf den Osho-Beschluss. Dies kann nicht so verstanden A. RECHTSPRECHUNG DES werden, dass hiermit die für die Einrichtung der Bun- BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS deszentrale entscheidende Frage der bundesstaatlichen Verwaltungskompetenz beantwortet wird, weil die Dok- Fraglich ist, ob dem Bund hinsichtlich des Demokratie- trin der Staatsleitung diese Kompetenzfragen nach der fördergesetzes eine Gesetzgebungskompetenz aus der Osho-Entscheidung gar nicht betrifft. Das Problem, das Natur der Sache zukommt. Ungeschriebene – besser: die Kammer mit dem Hinweis auf die Figur der Staatslei- implizit vorausgesetzte – Gesetzgebungskompetenzen tung löst, ist ganz gleich wie in Osho das einer fehlenden stellen eine besonders begründungsbedürftige Ausnahme gesetzlichen Grundlage eines Eingriffs in ein Grundrecht unter dem Grundgesetz dar, durch staatliche Informationstätigkeit. Auch diesen Schluss mag man für zweifelhaft halten, wenn er schlicht für viele: BVerfG, Beschluss vom 11.07.2013, 2 BvR 2302/11 und 2 BvR vom Begriff der Staatsleitung auf die Rechtmäßigkeit des 1279/12, Rn. 161, juris – Therapieunterbringungsgesetz. www.progressives-zentrum.org 10
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ Trotz gleichbleibender Umschreibungen der Gesetzge- die Zuständigkeit des Bundes auf die Förderung regionaler oder örtlicher Bestrebungen erstrecken. (BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2 bungskompetenz kraft Natur der Sache ist die Rechtspre- BvF 3/62 u.a., Rn. 119, juris – Jugendhilfe). chung in der Formulierung der Kompetenz uneinheitlich, siehe Bullinger, Ungeschriebene Kompetenzen im Bundesstaat: Die Es scheint, als würde das Gericht allein aus dem überre- Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Zuständigkeit gionalen Charakter auf eine Bundeskompetenz schlie- von Bund und Ländern kraft Sachzusammenhangs und kraft Natur ßen. Ganz anders liest sich hingegen der Beschluss zum der Sache, AöR 96 (1971), 237 (268 ff.); Harms, Kompetenzen des Bundes Ingenieurgesetz: aus der Natur der Sache, Der Staat 33 (1994), 409 (418 f.); aktueller Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat (2014), § 16. Auch eine Bundeskompetenz aus der Natur der Sache scheidet aus. Die Erwägung, eine bundesrechtliche und daher einheitliche Regelung In ausdrücklicher Anlehnung an Anschütz verlangt die für das Führen der Berufsbezeichnung „Ingenieur“ sei zweckmäßig, Rechtsprechung für das Vorliegen eines solchen Titels, reicht für die Annahme einer solchen Kompetenz nicht aus. Das Bundesverfassungsgericht hat im Anschluß an Anschütz, Handbuch dass sich eine Bundeskompetenz begriffsnotwendig des Deutschen Staatsrechts, Band I, S. 367, eine Kompetenz aus der daraus ergeben muss, dass eine gesetzliche Regelung Natur der Sache nur dann angenommen, wenn gewisse Sachgebiete, durch die Länder schlicht nicht vorstellbar ist. Können weil sie ihrer Natur nach eine eigenste, der partikularen Gesetzge- andere Lösungen mit beachtlichen Gründen gerechtfer- bungszuständigkeit a priori entrückte Angelegenheit des Bundes darstellen, vom Bund und nur von ihm geregelt werden können. Eine tigt werden, scheidet eine Bundeskompetenz kraft Natur solche Angelegenheit liegt hier nicht vor. Der Schutz der Berufsbe- der Sache aus, zeichnung "Ingenieur" muß, soweit er notwendig ist, keineswegs durch Bundesgesetz erfolgen. Eine einheitliche Regelung durch grundlegend: BVerfG, Beschluss vom 10.05.1960, 2 BvO 6/56, inhaltlich übereinstimmende Ländergesetze ist durchaus denkbar und Rn. 44-46, juris – Bremisches Urlaubsgesetz; BVerfG, Beschluss praktikabel. (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26.06.1969, vom 26.06.1969, 2 BvR 128/66, Rn. 46, juris – Ingenieurgesetz. 2 BvR 128/66, Rn. 46-49, juris – Ingenieurgesetz). Bloße Zweckmäßigkeitserwägungen genügen dagegen Im Jugendhilfe-Urteil finden sich keine Überlegungen ausdrücklich nicht, dazu, dass die Länder etwaige überregionale Jugend- hilfeeinrichtungen durch gegenseitige Kooperationen BVerfG, Urteil vom 27.10.1998, 1 BvR 2306/96 u.a., Rn. 158, juris – fördern können, ambulanter Schwangerschaftsabbruch. kritisch: Bullinger, a.a.O., S. 276, 279. Im Einzelnen werden diese beiden Kriterien jedoch höchst uneinheitlich angewandt. Im – für den hiesigen Zweck Doch herrscht in der Literatur Einigkeit darüber, dass besonders relevanten – Jugendhilfe-Urteil stützt das allein der überregionale Charakter einer Aufgabenwahr- Bundesverfassungsgericht § 25 Abs. 1 JWG, dessen Nach- nehmung die Gesetzgebungskompetenz des Bundes kraft folgevorschrift § 83 SGB VIII die derzeitige Kompetenz- Natur der Sache nicht zu begründen vermag, grundlage für den Vollzug des Programms „Demokratie leben!“ ist, auf die Bundeskompetenz kraft Natur der Heintzen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 193. Aktualisie- rung (Stand: Oktober 2018), Art. 70 Rn. 183; Uhle, in: Maunz/Dürig, Sache. Dabei wird die gesetzliche Norm verfassungskon- Grundgesetz, 53. EGL (Stand: Oktober 2008), Art. 70 Rn. 76; Kment, in: form dahingehend ausgelegt, dass der Bund nur solche Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 70 Rn. 13; Rozek, in: v. Bestrebungen fördern dürfte, die eindeutig überregio- Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 70 Rn. 41. nalen Charakter besitzen: Im Falle des § 25 Abs. 1 JWG sind diese strengen Voraussetzungen Die Überregionalität der Aufgaben- aber nur dann erfüllt, wenn die Bundesregierung solche Bestre- bungen auf dem Gebiete der Jugendhilfe fördert, die der Aufgabe wahrnehmung mag in bestimmten nach eindeutig überregionalen Charakter haben. Es muß sich um Bestrebungen handeln, die ihrer Art nach nicht durch ein Land allein Konstellationen als Grenze der Kom- wirksam gefördert werden können. Die Förderung von Bestrebungen auf dem Gebiet der Jugendpflege durch den Bund wäre demnach petenzausübung zu verstehen sein, zulässig z. B. bei zentralen Einrichtungen, deren Wirkungsbereich jedoch keinesfalls als ihr Grund. sich auf das Bundesgebiet als Ganzes erstreckt, bei gesamtdeutschen Aufgaben und bei internationalen Aufgaben. Keinesfalls kann sich www.progressives-zentrum.org 11
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ Die Überregionalität der Aufgabenwahrnehmung mag erreicht werden kann, könnte man annehmen, daß das Grundgesetz stillschweigend eine andere Regelung zuläßt, nämlich die, daß die in bestimmten Konstellationen als Grenze der Kompe- Ausführung dem Bund übertragen ist. Der Umstand, daß im Einzelfall tenzausübung zu verstehen sein, jedoch keinesfalls als eine Ausführung durch den Bund zweckmäßiger wäre, kann nicht als ihr Grund. Argument dafür dienen, daß das Grundgesetz stillschweigend etwas anderes zuläßt. (BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 117, juris – Jugendhilfe, Verweise ausgelassen). In diese Richtung lassen sich auch weitere Urteile des Bundesverfassungsgerichts lesen, in denen eine Gesetz- Bevor das Gericht dann zu den Anforderungen einer gebungskompetenz des Bundes kraft Natur der Sache Kompetenz aus der Natur der Sache Stellung bezieht, abgelehnt wurde. So darf der Bund keine Gesetze im ruft es nochmals Art. 30 GG in Erinnerung: Bereich des Rundfunks erlassen, obwohl Rundfunkwel- len die Landesgrenzen notwendig überschreiten. Auch Art. 30 GG gilt sowohl für die gesetzesakzessorische wie für die die Reinhaltung der Bundeswasserstraßen erfolgt nicht „gesetzesfreie“ Erfüllung staatlicher Aufgaben. (BVerfG, Urteil vom auf Grundlage eines Bundesgesetzes trotz dessen, dass 18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 118, juris – Jugendhilfe, Verweise aus- gelassen) diese über die Ländergrenzen hinausreichen. Die deut- sche Rechtschreibung darf durch die Länder im Wege der gegenseitigen Koordinierung geregelt werden, Die anschließenden Ausführungen zur Kompetenz kraft Natur der Sache sprechen, obwohl ein Bundesgesetz Prü- BVerfG, Urteil vom 28.02.1961, 2 BvG 1/60, Rn. 167 f., juris – Erstes fungsgegenstand ist, auch nie von der Gesetzgebungs- Rundfunkurteil (dort auch der Hinweis, dass allein die Überforderung kompetenz, sondern bleiben unspezifisch: Es wird schlicht regionaler Finanzkraft keine Bundeskompetenz kraft Natur der Sache von der „Kompetenz“ oder der „Förderungskompetenz begründet); BVerfG, Urteil vom 30.10.1963, 2 BvF 2/60 u.a., Rn. 86 f., juris – Bundeswasserstraßen; BVerfG, Urteil vom 14.07.1998, 1 BvR des Bundes“ gesprochen. 1640/97, Rn. 126, juris – Rechtschreibreform. BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 118 f., juris – Jugendhilfe. Aus dieser Perspektive stellt das Jugendhilfe-Urteil eher eine Abweichung von der vorangegangenen und nach- Die umfassende Einbindung dieser Ausführungen in die folgenden Rechtsprechung dar, Systematik der Verwaltungskompetenzen legt nahe, dass das Gericht § 25 Abs. 1 JWG eher als die Begründung der Uhle, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 53. EGL (Stand: Oktober 2008), Bundesverwaltungskompetenz ansah und nicht an den Art. 70 Rn. 76 Anm. 2. Umfassende und kritische Einordnung des Art. 70 ff. GG messen wollte. Nur so erklärt sich auch, Urteils bereits bei Bullinger, a.a.O., S. 276-279. warum für den Fall der Förderung der Jugendhilfe keine Bundeskompetenz gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG bestehen Die hier einschlägige Passage stiftet aber auch des- sollte. Denn dieses Ergebnis wäre angesichts der Tatsache, wegen Verwirrung, weil das Gericht dort zwischen der dass das Gericht zuvor ausdrücklich die Einbeziehung Begründung einer Gesetzgebungs- und einer Verwal- privater Träger in den Bereich der öffentlichen Fürsorge tungskompetenz zu schwanken scheint. Der bereits bejaht hat, durchaus konsequent. zitierten Textstelle gehen Ausführungen zur finanziellen Förderung als staatliche Aufgabe im Sinne von Art. 30 BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 71 ff., juris – Jugendhilfe. GG voran. Diese werden vom Bundesverfassungsgericht So auch Struck, in: Wiesner (Hrsg.), SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe, wie folgt ergänzt: 5. Aufl. 2015, § 83 Rn. 1, die in der Nachfolgevorschrift § 83 SGB VIII eine Verwaltungskompetenz erblickt, die vorausgesetzte Gesetzgebungs- Für den Fall der gesetzesakzessorischen Verwaltung nach Art. 83 kompetenz aber in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG verortet. ff. GG hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, es könne nur im Ausnahmefall angenommen werden, daß das Grundgesetz den Bund stillschweigend ermächtige, Verwaltungsakte auf Gebieten zu erlassen, die nicht zur bundeseigenen Verwaltung nach Art. 86 B. ANWENDUNG AUF EIN DEMOKRATIEFÖRDERGESETZ ff. GG gehörten. Es sind Gesetze denkbar, deren Zweck durch das DES BUNDES Verwaltungshandeln eines Landes überhaupt nicht erreicht werden kann. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß das Grundgesetz bei der in Art. 30 und 83 ff. getroffenen Regelung eine reibungslose und Ein Demokratiefördergesetz auf eine Bundeskompetenz vollständige „Ausführung“ der Bundesgesetze unterstellt. Nur dann, kraft Natur der Sache zu stützen, erscheint vor diesem wenn diese vollständige Ausführung durch Landesverwaltung nicht Hintergrund aus zwei Gründen herausfordernd: www.progressives-zentrum.org 12
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ Erstens fällt das Jugendhilfe-Urteil, das eine solche Auf- 3. Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG fassung maßgeblich stützt, außerhalb der sonstigen Rechtsprechung zur Bundeskompetenz kraft Natur der Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes könnte sich Sache und lässt sich mit dieser kaum harmonisieren. dagegen aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ergeben. Zweitens ist das Jugendhilfe-Urteil selbst zu unspezifisch A. BEGRIFF DER ÖFFENTLICHEN FÜRSORGE hinsichtlich der Abgrenzung von Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeit. Gem. Art. 72 Abs. 1 i.V.m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG umfasst die Gesetzgebungskompetenz des Bundes – unter den Legt man die strengen Maßstäbe der Literatur und der Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG – die öffentliche übrigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Fürsorge ohne das Heimrecht. Das geplante Demokra- zugrunde, wird man keine Gesetzgebungskompetenz tiefördergesetz zielt auf Extremismusprävention durch kraft Natur der Sache begründen können. eigene Maßnahmen von Bundesbehörden, insbesondere solche koordinierender Natur, sowie durch die Versteti- Es wäre den Ländern ohne weiteres möglich, in gegen- gung der finanziellen Förderung zivilgesellschaftlichen seitiger Absprache gemeinsame Richtlinien zur Extremis- Engagements. musprävention und Demokratieförderung zu entwickeln. Auch einzelne Landesgesetze erscheinen denkbar, nicht Der Begriff der öffentlichen Fürsorge im Sinne des Art. 74 zuletzt weil die vom Demokratiefördergesetz vorge- Abs. 1 Nr. 7 GG wird traditionell weit verstanden. Schon sehenen Maßnahmen wie Förderungs-, Bildungs- und 1967 entschied das Bundesverfassungsgericht: Veranstaltungsangebote von den Ländern gesetzlich geregelt werden könnten, ohne dass deswegen die bun- Der Begriff der „öffentlichen Fürsorge“ in Art. 74 Nr. 7 GG umfaßt auf dem Gebiet der Jugendwohlfahrt nicht nur die Jugendfürsorge im desstaatliche Perspektive ausgeblendet müsste. engeren Sinne, sondern auch die Jugendpflege. (BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 107, juris – Jugendhilfe). Auch in den Ländern und durch die Länder gilt es, die grundgesetzliche freiheitliche demokratische Ordnung Auf eine konkrete Notlage, Gefährdung oder Hilfebedürf- zu verteidigen, sodass eine bundesweite Perspektive tigkeit kommt es folglich nicht an: auch von den Ländern – und sei es nur in Kooperation miteinander – eingenommen werden könnte. Eine solche BVerfG, Urteil vom 28.05.1993, 2 BvF 2/90 u.a., Rn. 359, juris – Schwan- Kooperation erscheint auch nicht vollkommen aussichts- gerschaftsabbruch II; BVerfG, Beschluss vom 10.03.1998, 1 BvR 178/97, Rn. 55, juris – gestaffelte Kindergartenfreibeträge. los oder abwegig, immerhin arbeiten Landesdemokra- tiezentren bereits zusammen. Dass die Länder diese Zusammenarbeit auf eine stärkere gesetzliche Grundlage Vielmehr umfasst öffentliche Fürsorge auch stellen können, z.B. indem sie die jeweilige Landeszentrale Veranstaltungen zur politischen Bildung, die der Jugend im besonde- per Gesetz errichten, ren klarmachen sollen, daß der Einzelne sich in der Demokratie nicht von der Gesellschaft absondern kann, sondern sie und ihre politische beispielhaft so in Bayern: Gesetz über die Bayerische Landeszentrale Form aktiv mitgestalten muss. (BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF für politische Bildungsarbeit (LzPolBiG) vom 9. Oktober 2018, GVBl. 3/62 u.a., Rn. 107, juris – Jugendhilfe). S. 742 (BayRS 200-28-K), Keineswegs darf aus dieser Entscheidung auf eine Ver- oder indem sie sich über gemeinsame Formen wie im engung des Bereichs der öffentlichen Fürsorge auf die Rundfunkrecht per Staatsvertrag einigten, ist denkbar Erziehung von Jugendlichen geschlossen werden. Schon und auch praktisch hinterlegt. das erste Zitat schränkt die Aussage des Bundesverfas- sungsgerichts auf das „Gebiet der Jugendwohlfahrt“ ein, ohne aber damit die gesamte öffentliche Fürsorge darauf zu begrenzen. Gleichsam enthält zweites Zitat die Klarstellung, dass die politische Jugendbildung „im www.progressives-zentrum.org 13
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ besonderen“ als Teil der öffentlichen Fürsorge zu verste- Zweitens muss die Auslegung sich am klassischen Bild hen ist. Zwar liegt es nahe, dass sich öffentliche Fürsorge der öffentlichen Fürsorge orientieren. Der Begriff ist also typisierend nach speziellen Problemlagen richtet, die entwicklungsoffen, muss aber die wesentlichen Struk- regelmäßig in einer bestimmten Lebensphase auftreten: turmerkmale dessen, was allgemein unter öffentlicher Fürsorge – unter Berücksichtigung des der Rechtspre- Siehe zur Altenpflege: BVerfG, Urteil vom 24.10.2002, 2 BvF 1/01, Rn. chung des Gerichts zugrundeliegenden weiten Begriffs 284, juris – Altenpflegegesetz. – verstanden wird, beachten. Diese Entwicklungsoffen- heit formuliert das Bundesverfassungsgericht wie folgt: Allein deswegen gebietet Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG jedoch keine Begrenzung auf die Fürsorge bestimmter Alters- Der Begriff der öffentlichen Fürsorge umgreift auch neue Sachverhalte, gruppen. Die potenzielle Bedürftigkeit kann auch anhand wenn sie nur in ihren wesentlichen Strukturelementen dem Bild ent- anderer Kriterien bestimmt werden, etwa der drohenden sprechen, das durch die „klassische Fürsorge“ geprägt ist. (BVerfG, Urteil vom 24.10.2002, 2 BvF 1/01, Rn. 284, juris – Altenpflegegesetz; Arbeitslosigkeit, der Schwangerschaft und der Familien- bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 17.07.2003, 2 BvL 1/99 u.a., gründung: Rn. 111, juris – Altenpflegeausbildungsumlage). BVerfG, Urteil vom 23.01.1990, 1 BvL 44/86 und 1 BvL 48/87, Rn. 119, juris Dem folgend ergeben sich die Strukturmerkmale der – Erstattungspflicht des Arbeitgebers; BVerfG, Urteil vom 28.05.1993, 2 BvF 2/90 u.a., Rn. 359, juris – Schwangerschaftsabbruch II; BVerfG, öffentlichen Fürsorge in der Rechtsprechung des Bun- Urteil vom 21.07.2015, 1 BvF 2/13, Rn. 29 f., juris – Betreuungsgeld. desverfassungsgerichts wie folgt: Damit umfasst die öffentliche Fürsorge jede Altersgruppe Ausgangspunkt ist – entsprechend dem Wortlaut –, dass vom Kindergartenkind bis zur Seniorin. der Begriff der öffentlichen Fürsorge nicht von jeglicher, auch nur potenzieller Hilfebedürftigkeit zu lösen ist: Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich bei der Auslegung des Begriffs der öffentlichen Fürsorge also Der Begriff der öffentlichen Fürsorge in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG […] setzt voraus, dass eine besondere Situation zumindest potentiel- an einem weiten Begriffsverständnis, verhindert aber ler Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert. Dabei die dadurch drohende Entgrenzung auf zweierlei Art genügt es, wenn eine – sei es auch nur typisierend bezeichnete und und Weise: nicht notwendig akute – Bedarfslage im Sinne einer mit besonderen Belastungen einhergehenden Lebenssituation besteht, auf deren Beseitigung oder Minderung das Gesetz zielt. (BVerfG, Urteil vom Erstens darf die Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG nicht 21.07.2015, 1 BvF 2/13, Rn. 29, juris – Betreuungsgeld). dazu führen, dass andere Kompetenztitel übergangen werden: Hilfebedürftigkeit ist dabei aber nicht eng zu verstehen. Nicht bloß wirtschaftliche, körperliche oder seelische BVerfG, Urteil vom 28.05.1993, 2 BvF 2/90 u.a., Rn. 359, juris – Schwan- gerschaftsabbruch II. Notlagen machen einen Menschen hilfsbedürftig: Vgl. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 2, 7. Aufl. Angesichts der Tatsache, dass der Bereich der öffentli- 2018, Art. 74 Rn. 60; Kment, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. chen Fürsorge mittlerweile Art. 72 Abs. 2 GG unterstellt 2020, Art. 74 Rn. 17. ist, bedeutet dies vor allem, dass auch traditionell den Ländern vorbehaltene Kompetenzen, insbesondere im Die Einbeziehung der Jugendbildung in den Bereich der Bereich der Gefahrenabwehr und der Bildung, nicht auf öffentlichen Fürsorge begründet das Bundesverfassungs- Grundlage der öffentlichen Fürsorge dem Bund zuge- gericht mit der Gefahr einer Abkehr von der Gesellschaft schlagen werden dürfen: im Erwachsenenalter und der damit einhergehenden Schwächung der Demokratie: Axer, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 168. EGL (Juli 2014), Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 13; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Vergegenwärtigt man sich aber die mannigfachen Anpassungs- Grundgesetz, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 74 Rn. 63. Siehe auch Bundes- schwierigkeiten, die manche Jugendliche bei der Einordnung in die verfassungsgericht, Beschluss vom 10.03.1998, 1 BvR 178/97, Rn. 56 f., Gesellschaft haben, ohne daß man sie deshalb bereits als gefährdet juris – gestaffelte Kindergartenfreibeträge. bezeichnen kann, so erkennt man, daß unter Umständen eine Zusam- www.progressives-zentrum.org 14
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“ menführung mit anderen jungen Menschen im lokalen Bereich eines BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.08.2010, 1 BvR Hauses der Jugend oder auf regionaler oder internationaler Ebene in 2585/06, Rn. 23, juris – Löw/Bundeszentrale für politische Bildung. einem Jugendlager oder auf Jugendreisen diese Anpassungsschwie- rigkeiten überwinden hilft, dadurch eine spätere Gefährdung des Jugendlichen ausschließt und künftige Fürsorgemaßnahmen überflüs- sig macht. Dasselbe gilt für Veranstaltungen zur politischen Bildung, die der Jugend im besonderen klarmachen sollen, daß der Einzelne Es kann kein wesentliches Struktur- sich in der Demokratie nicht von der Gesellschaft absondern kann, sondern sie und ihre politische Form aktiv mitgestalten muß. (BVerfG, merkmal der öffentlichen Fürsorge Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 107, juris – Jugendhilfe). darstellen, politische Bildung aus- schließlich Jugendlichen zu ermög- lichen. Nach dem Jugendhilfe-Urteil können auch antidemokratische Tendenzen Wie gezeigt, ergibt sich aber aus der Rechtsprechung die Regelungskompetenz des Bundes des Bundesverfassungsgerichts keine Begrenzung auf gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG auslösen. eine bestimmte Altersklasse. Es kann daher auch kein wesentliches Strukturmerkmal der öffentlichen Fürsorge darstellen, politische Bildung ausschließlich Jugendli- chen zu ermöglichen. Im Gegenteil zeigt die Begründung Öffentliche Fürsorge umfasst auch die Bildung und des Gerichts gleich doppelt auf, dass sich eine solche Erziehung jedenfalls der Jugendlichen im demokrati- Beschränkung verbietet: schen Sinne, wobei freilich die grundsätzliche Gesetz- gebungskompetenz der Länder im Bereich der Bildung Erstens nämlich muss sich die öffentliche Fürsorge erst nicht berührt werden darf. Dies wird – zumindest im recht auf diejenigen Erwachsenen beziehen, deren politi- Fall der Jugendhilfe – erreicht, indem die politische Bil- sche Bildung als Prävention nicht gefruchtet hat. Es wäre dung sich nicht nur thematisch eng begrenzt, sondern widersinnig, die öffentliche Fürsorge auf den Bereich der auch außerhalb der herkömmlichen Bildungswege zur Prävention zu erstrecken, aber die Fälle fehlgeschlagener Verfügung gestellt wird. Nach dem Jugendhilfe-Urteil Prävention, also tatsächlicher Hilfebedürftigkeit, die sich können also auch antidemokratische Tendenzen die Rege- in der Abkehr von der demokratischen Gesellschaft zeigt, lungskompetenz des Bundes gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG nicht zu umfassen. auslösen. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit der viel zitierten Rechtsprechung, dass das Grundgesetz Zweitens hat das Gericht zwar angenommen, dass typi- seine Bürgerinnen und Bürger nicht zwinge, die Werte sierend gerade Jugendliche der Gefahr einer späteren des Grundgesetzes zu teilen: gesellschaftlichen Isolation unterliegen. Das Gericht folgert daraus aber keineswegs, dass deshalb eine solche BVerfG, Beschluss vom 04.11.2009, 1 BvR 2150/08, Rn. 49, juris – Gefahr bei anderen Altersgruppen nicht mehr bestehen Wunsiedel. kann. Gerade die Berücksichtigung neuester politischer Einschätzungen zu antidemokratischen Tendenzen ist Denn von der öffentlichen Fürsorge in Form von poli- der Entwicklungsoffenheit des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG, der tischen Bildungsangeboten geht kein Zwang aus, die auch neue Sachlagen umfassen muss, eingeschrieben. Werte des Grundgesetzes als eigene anzuerkennen. Dass der Bund aber grundsätzlich befugt ist, verfassungs- Mithin ergibt sich für Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG eine drei- feindlichen Strömungen durch Aufklärungsarbeit zu stufige Prüfung: begegnen, bestätigte das Bundesverfassungsgericht schon an anderer Stelle, wenn auch, wie gesehen, ohne Zunächst einmal ist festzustellen, ob der fragliche anschlussfähige Ausführungen zur Bundeskompetenz: Regelungsgegenstand einem sehr weiten Begriff der www.progressives-zentrum.org 15
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