DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN - Kompetenzrechtliche Vorgaben für ein Demokratiefördergesetz des Bundes

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OKTOBER 2020

 GUTACHTEN

DEMOKRATIE
DAUERHAFT
FÖRDERN
Kompetenzrechtliche Vorgaben für ein
Demokratiefördergesetz des Bundes
Prof. Dr. Christoph Möllers

                               Wir denken weiter.
GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

     Inhalt
     WARUM DIESES GUTACHTEN (UND WARUM JETZT)?                                          4

     ZUSAMMENFASSUNG DER ERGEBNISSE                                                     6

     A. SACHVERHALT UND GUTACHTENFRAGE                                                  8

     B. VERFASSUNGSRECHTLICHE WÜRDIGUNG                                                 9

         I. GESETZGEBUNGSKOMPETENZ DES BUNDES                                           9

         1. Kompetenz des Bundes qua Staatsleitung?                                     9

         2. Kompetenz des Bundes kraft Natur der Sache?                                10
     		 A. RECHTSPRECHUNG DES BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS                                10
     		 B. ANWENDUNG AUF EIN DEMOKR ATIEFÖRDERGESETZ DES BUNDES                        12

         3. Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG                                      13
     		 A. BEGRIFF DER ÖFFENTLICHEN FÜRSORGE                                           13
     		 B. ANWENDUNG AUF EIN DEMOKR ATIEFÖRDERGESETZ DES BUNDES                        16
     			 aa. Demokratieförderung als öffentliche Fürsorge                              16
     			 bb. Demokratieförderung als strukturell verwandt mit klassischer Fürsorge     17
     			 cc. Gegenprobe: Systematik der bundesstaatlichen Gesetzgebungskompetenzen     19

         4. Zwischenergebnis                                                           20

         5. Erforderlichkeit der bundesgesetzlichen Regelung gem. Art. 72 Abs. 2 GG    21
     		 A. UNBERÜHRTHEIT L ANDESPOLITISCHER GESTALTUNGSSPIELR ÄUME                     21
     		 B. HERSTELLUNG GLEICHWERTIGER LEBENSVERHÄLTNISSE                               22
     		 C. WAHRUNG DER RECHTSEINHEIT                                                   23

         6. Demokratieförderung als sozialstaatliches Projekt?                         24

         7. Zwischenergebnis                                                           25

         II. VERWALTUNGSKOMPETENZ DES BUNDES                                           25

         1. Vorbemerkung: Zur Abgrenzung von Gesetzgebungs- und Verwaltungskompetenz   25

         2. Verwaltungskompetenz gem. Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG                         25
     		 A. SELBSTÄNDIGE BUNDESOBERBEHÖRDEN                                             25
     		 B. ART. 72 ABS. 2 GG IM R AHMEN DES ART. 87 ABS. 3 SATZ 1 GG                   26
     		 C. ZENTR ALITÄT DER VERWALTUNGSAUFGABE                                         26

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

     			 aa. Indiz: Bewahrung der Länderzuständigkeiten                      27

     			 bb. Finanzielle Förderung zivilgesellschaftlichen Engagements       27

     			 cc. Koordination zivilgesellschaftlichen Engagements                28

     			 dd. Informations- und Bildungsangebote zur Extremismusprävention    28

         3. Zwischenergebnis                                                 28

         III. FINANZKOMPETENZ DES BUNDES                                     28

         1. Maßstab: Aufgabe nach Art. 104a Abs. 1 GG                        28

         2. Anwendung auf den vorliegenden Fall                              29

         3. Insbesondere: keine weiteren Begrenzungen der Ausgabenstruktur   29

     DER AUTOR / DANKSAGUNG                                                  30

     DAS PROGRESSIVE ZENTRUM / IMPRESSUM                                     31

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

     Warum dieses Gutachten
     (und warum jetzt)?
     „Vorbeugen ist besser als Heilen, das sollte nicht nur in der
     Medizin Leitmotiv sein, sondern auch in dem Bestreben,
     unsere Demokratie und unsere freiheitlich-demokratische                                           Dominic Schwickert
     Grundordnung zu bewahren.“                                                                        Das Progressive Zentrum

     Mit diesen Worten reagierte Bundesfamilienministerin            NACH DEM WECKRUF VON HALLE UND HANAU:
     Franziska Giffey im Oktober 2019 in einem Gastbeitrag           FAHRPLAN IM KAMPF GEGEN RECHTSEXTREMISMUS
     für den Tagesspiegel auf die Anschläge von Halle (Saale).       Konkret reagierte die Bundesregierung auf Hanau, indem
     Ihre politische Botschaft: Um nicht nur „die Symptome,          sie nur vier Wochen nach den Anschlägen den „Kabinetts-
     sondern die Ursache (zu) bekämpfen, müssen wir dau-             ausschuss Rechtsextremismus“ ins Leben rief. Der Kampf
     erhaft noch mehr dagegen tun“. Es brauche nun endlich           gegen Rassismus, Antisemitismus und Hasskriminalität
     eine verlässliche Absicherung „nachweislich wirksamer,          wurde dabei zur Chefsache erklärt, was sich nicht zuletzt
     praxiserprobter Projekte“ auf gesetzlicher Grundlage.           in der Zusammensetzung widerspiegelt: Bundeskanzle-
     Halle sei in diesem Zusammenhang „der letzte Weckruf“.          rin Merkel hat den Vorsitz inne, ihre Stellvertreter sind
                                                                     Bundesfinanzminister und Vizekanzler Olaf Scholz sowie
     Weitere Bewegung kam in die Debatte, als auch Bun-              Bundesinnenminister Horst Seehofer, der zugleich soge-
     desinnenminister Horst Seehofer im Januar 2020 im               nannter Beauftragter Vorsitzender des Gremiums ist.
     Spiegel und bei Zeit Online damit zitiert wurde, dass ein
     Demokratiefördergesetz „in diesen Zeiten notwendig"             Das selbstgesteckte Ziel: einen konkreten und weitrei-
     sei – gerade nachdem sich seit dem NSU „eine rechtsext-         chenden Maßnahmenkatalog in der Bekämpfung des
     remistische Blutspur durch Deutschland gezogen" habe.           Rechtsextremismus zu erarbeiten und zu beschließen.
                                                                     Weitreichend sind zugleich auch die damit geweckten
     Tatsächlich wird bereits seit einigen Jahren immer wieder       Hoffnungen in der organisierten Zivilgesellschaft auf
     eine bundesgesetzliche Ausgestaltung von Demokratie-            eine große gesetzgeberische Strukturreform.
     förderung, Extremismusprävention und weiteren Maß-
     nahmen gegen gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit              Nach zahlreichen Voranhörungen mit VertreterInnen
     gefordert. So hat der NSU-Untersuchungsausschuss                aus der organisierten Zivilgesellschaft - besonders Mig-
     des Deutschen Bundestages schon im Sommer 2013                  rantInnenorganisationen - und Wissenschaft steht im
     fraktionsübergreifend eine entsprechende Empfehlung             Herbst 2020 der Beschluss eines Maßnahmenpakets auf
     ausgesprochen.                                                  der politischen Agenda. Es soll auch Eckpunkte für ein
                                                                     Demokratiefördergesetz enthalten, das die derzeitigen
     Doch erst die erschütternden Ereignisse von Halle im            Aktivitäten der Bundesregierung auf dem Gebiet der
     Herbst 2019, denen der Mord an Regierungspräsident              Demokratieförderung auf eine neue rechtliche Grundlage
     Walter Lübcke im Sommer 2019 vorausging, und denen              stellen soll.
     die rassistisch motivierten, mörderischen Anschläge in
     Hanau vom Februar 2020 folgten, haben den politischen           DEMOKRATIEFÖRDERUNG IM BUND:
     Handlungsdruck erhöht. Damit wurde eine neue Dynamik            KEINE VERLÄSSLICHEN RAHMENBEDINGUNGEN
     in die großkoalitionären Verhandlungen um ein „Demo-            Im aktuellen Bundeshaushalt 2020 unterstützt der Bund
     kratiefördergesetz“ gebracht, nachdem ein eher zaghafter        zivilgesellschaftliches Engagement für Demokratie, Viel-
     Versuch auf Ebene eines ersten Referentenentwurfs einige        falt und Extremismusprävention vor allem durch die
     Jahre zuvor gescheitert war.                                    Bundesprogramme „Zusammenhalt durch Teilhabe“ des

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

     Bundesinnenministeriums sowie „Demokratie leben!“ des         Mio. im Jahr 2020 auf 150,50 Mio. Euro im Jahr 2021, 165
     Bundesfamilienministeriums mit einem Jahresbudget             Mio. Euro in 2022 sowie 200 Millionen Euro für das Jahr
     von addiert 127,5 Millionen Euro. Trotz zahlreicher Erfolge   2023.
     haben diese Bundesprogramme mit Blick auf Förderstruk-
     tur, Befristung von Förderperioden und bürokratischen         Auch hat sich innerhalb der Großen Koalition (wie auch
     Auflagen ihre Tücken und Schwächen.                           im demokratischen Spektrum der deutschen Partei-
                                                                   enlandschaft insgesamt) mehrheitlich die Erkenntnis
     Kritische Stimmen bemängeln, dass für (Förder-)Aktivi-        durchgesetzt, dass demokratiegefährdendem Extremis-
     täten des Bundes im Bereich „Demokratieförderung und          mus mit Hilfe einer neuen gesetzlichen Grundlage viel
     Extremismusprävention“ bislang keinerlei nachhaltige          entschiedener und vor allem strukturell entgegengewirkt
     und rechtlich verlässliche Rahmenbedingungen bestehen.        werden könnte, als dies mit dem derzeitigen rechtlichen
     So ist dem Bund laut der aktuellen Förderrichtlinien eine     Rahmen möglich ist. Die Chancen für eine Einigung auf
     dauerhafte Förderung erfolgreicher zivilgesellschaftli-       ein Demokratiefördergesetz des Bundes waren also wohl
     cher Initiativen untersagt. Stattdessen darf er beispiels-    nie größer: Die Bundesregierung prüft derzeit im Rahmen
     weise lediglich Gelder für explizit innovative Projekte       der Ressortabstimmung mögliche Eckpunkte für eine
     („Leuchtturm-Charakter“) und dies auch nur befristet          Einigung noch in der laufenden Legislaturperiode.
     bereitstellen. Dies wiederum führt dazu, dass unzählige
     zivilgesellschaftliche Organisationen, die sich für Demo-     Unklarheit besteht derzeit noch in einigen verfassungs-
     kratiepolitik engagieren, nicht langfristig planen können.    rechtlichen Grundsatzfragen, insbesondere mit Blick auf
                                                                   die Bundeskompetenz. Hier setzt das vorliegende Gut-
     Nicht selten halten sich diese Organisationen nur unter       achten von einem der profiliertesten Verfassungsrechtler
     prekären Bedingungen über Wasser und ihre Mitarbei-           des Landes, Prof. Dr. Christoph Möllers, an. Es soll einen
     tenden müssen sich von einem kurzfristigen Vertrag zum        Beitrag dazu leisten, die rechtliche Ausgangslage besser
     nächsten hangeln. Statt in der konkreten Projektarbeit        zu verstehen.
     und mit den relevanten Menschen vor Ort müssen die
     Mitarbeitenden einen guten Teil ihrer knappen Zeit im         Bislang beziehen sich die Befürworter eines Demokratie-
     Bürokratiedickicht von formalen Vorgaben und Regularien       gesetzes vor allem auf ein vor einigen Jahren erstelltes
     verbringen. Zudem müssen sie sich dabei regelmäßig            Rechtsgutachten von Prof. Dr. Ulrich Battis im Auftrag
     dem „Zwangswettbewerb” stellen, immer wieder neue             des Bundesfamilienministeriums. Das hier vorgelegte
     innovative Modellprojekte aufzusetzen, die formaljuris-       Gutachten schließt daran an und teilt die Einschätzung
     tisch abbildbar sind.                                         der dringenden Notwendigkeit eines solchen Gesetzes.
                                                                   Prof. Dr. Christoph Möllers kommt jedoch bei der ver-
     Hinzu kommt: Damit die Bundesmittel fließen kön-              fassungsrechtlichen Herleitung der Bundeskompetenz
     nen, müssen die von Bundesprogrammen geförderten              zu dem Ergebnis, dass sich die Kompetenz des Bundes
     Organisationen in der Regel beträchtliche Eigenmittel         weniger aus der „Staatsleitungsfunktion“ des Bundes
     beziehungsweise zusätzliche Mittel aus Förderungen            oder der „Natur der Sache“ ergibt, als vielmehr aus der
     von Landes- und kommunaler Ebene beisteuern. Vor              Gesetzgebungskompetenz für die „öffentliche Fürsorge“
     allem für kleine Vereine in der Fläche bedeutet dies große    (Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Grundgesetz). Dies scheint eine gang-
     Herausforderungen.                                            bare, wenn nicht die verfassungsrechtliche Lösungsant-
                                                                   wort auf die zu klärende Kompetenzfrage zu sein.
     DIE NÄCHSTEN SCHRITTE. UND NOCH OFFENE FRAGEN
     In finanzieller Hinsicht hat die Bundesregierung bereits      Möllers zeigt zudem, warum eine bundeseinheitliche
     Fakten geschaffen. Das Bundeskabinett hat am 23. Sep-         Regelung erforderlich ist, und schlussfolgert unter
     tember 2020 den Regierungsentwurf für den Bundes-             anderem, dass dem Bund mit dem Erlass eines Demo-
     haushalt 2021 und den Finanzplan bis 2024 beschlossen.        kratiefördergesetzes auch eine entsprechende Aufga-
     Eingeplant ist eine substanzielle Mittelaufstockung des       benkompetenz zusteht, die nicht auf die Förderung von
     Bundesprogramms „Demokratie leben!“ von derzeit 115,5         Modellprojekten beschränkt sein muss.

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

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          Die rechtsextremen Anschläge von                       extremismus. Es würde auch im europäischen Kontext
          Halle und Hanau haben den poli-                        Maßstäbe setzen.

          tischen Handlungsdruck der Bun-                        Bundesministerin Franziska Giffey hat völlig recht, wenn
          desregierung erhöht. Die Chancen                       sie im oben zitierten Gastbeitrag feststellt, dass „Demo-
          für eine Einigung auf ein Demokra-                     kratieförderung nichts ist, was man mal macht und dann
                                                                 wieder lässt“. Damit unsere Demokratie auch wirklich
          tiefördergesetz des Bundes waren                       dauerhaft gefördert wird, geht es in den nun anstehenden
          wohl nie größer.                                       politischen Entscheidungen nicht nur um das „Ob“ eines
                                                                 neuen Gesetzes, sondern vor allem auch um das „Wie“.
                                                                 Denn ein Gesetz auf verfassungsrechtlich „wackeligen
     Welchen rechtlichen Weg die Bundesregierung letztlich       Beinen“ könnte die so dringend erforderlichen stabilen
     auch einschlagen wird: Strukturelle Verbesserungen in       Rahmenbedingungen einer Zivilgesellschaft gefährden,
     der Demokratiearbeit sind überfällig, ein entsprechendes    die doch für eine robuste und vitale Demokratie in unse-
     Demokratiefördergesetz wäre nicht nur aus symbolischen      rem Land tagtäglich so unverzichtbare Arbeit leistet.

     Zusammenfassung
     der Ergebnisse
     1. Die Bekämpfung extremistischer politischer Ansichten     3. Seit langem wird gefordert, entsprechende Programme
        und Absichten sowie die Förderung gesellschaftlicher        durch ein „Demokratiefördergesetz“ auch auf eine
        Akzeptanz für den demokratischen Rechtsstaat sind           materiell-rechtliche Grundlage zu stellen. Damit
        nicht allein Gegenstände gesellschaftlicher Selbstor-       könnte die Aufgabenerfüllung des Bundes in diesem
        ganisation, sondern gehören auch zu den Aufgaben            Gebiet verstetigt werden und die Wahrnehmung dieser
        des Staates. Dies zeigt sich nicht zuletzt in einem         Aufgabe durch ein demokratisch besonders legitimier-
        verstärkten finanziellen Engagement des Bundes bei          tes parlamentarisches Verfahren sowohl politische
        der Unterstützung demokratiefördernder Programme,           Anerkennung als auch eine angemessene rechtliche
        namentlich bei der Extremismusprävention.                   Form bekommen.

     2. Dieses Engagement verwirklicht sich neben der Arbeit     4. Ein solches Gesetz würde zunächst mit der Aufga-
        der zum Ressort des Bundesinnenministeriums (BMI)           benbestimmung eine materielle Grundlage für die
        gehörenden Bundeszentrale für politische Bildung            Sicherung einer stetigen Finanzierung liefern. Es würde
        (BpB) namentlich in zwei Bundesprogrammen: zum              durch die Festschreibung von Verfahren der Förderung,
        einen im gleichfalls beim BMI angesiedelten Programm        insbesondere durch die Bestimmung von Eigenschaf-
        „Zusammenhalt durch Teilhabe“, zum anderen in dem           ten der Geförderten, Anforderungen an private und
        im Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Fami-        öffentliche natürliche oder juristische Personen definie-
        lie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) operierenden      ren und schließlich die wissenschaftliche Begleitung
        Programm „Demokratie leben!“. Beide Programme               der Auswahl und Durchführung von Projekten regeln.
        haben in den letzten Jahren einen starken Aufwuchs
        erlebt und werden mit deutlich mehr als 100 Millionen    5. Für den Erlass eines solchen Gesetzes bedarf der Bund
        Euro aus dem Bundeshaushalt gefördert.                      einer Verbandskompetenz. Diese ergibt sich in der
                                                                    hier vertretenen Rechtsauffassung entgegen einer

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

        in der Gutachtenliteratur entwickelten und verbrei-              es diese zunächst verhindern möchte, bei erfolgter
        teten Ansicht aber nicht aus dem Gesichtspunkt der               Realisierung aber Nachsorge in Form von Beratung
        „Staatsleitungsfunktion“ des Bundes. Dieses Argu-                vorsieht. Wie es für den Fall der öffentlichen Fürsorge
        ment hatte eine Kammer des Ersten Senats des Bun-                typisch ist, sieht das Gesetz ein Zusammenspiel von
        desverfassungsgerichts in einem Beschluss zu einer               Fürsorge durch öffentliche und private Träger vor. Dabei
        Verfassungsbeschwerde gegen die Bundeszentrale                   verbleibt es im engen Bereich der Extremismuspräven-
        für politische Bildung verwendet. Freilich dient die             tion und okkupiert nicht die der Landesgesetzgebung
        Figur dort wie auch sonst in der Rechtsprechung des              zugewiesenen Bereiche der Gefahrenabwehr und der
        Gerichts nicht zur Begründung einer Verbandskompe-               Bildung.
        tenz, sondern zur Begrenzung des Gesetzesvorbehalts
        bei Informationshandeln der Bundesregierung. Im                8. Die Erforderlichkeit einer bundeseinheitlichen
        konkreten Fall war der Umstand zu bewerten, dass die              Regelung nach Art. 72 Abs. 2 GG ergibt sich aus dem
        Bundeszentrale ohne gesetzliche Grundlage handelt                 Gesichtspunkt der Herstellung gleichwertiger Lebens-
        – und im Ergebnis auch handeln darf.                              verhältnisse. Dabei muss das Gesetz freilich klarstellen,
                                                                          dass es der bundesweiten Koordination und Vernet-
     6. Eine Bundeskompetenz ergibt sich in der hier ver-                 zung von Einzelprojekten dient, indem es einen bun-
        tretenen Rechtsauffassung nur begrenzt aus dem                    desweiten Grundbestand sowohl an öffentlicher als
        Gesichtspunkt der „Natur der Sache“, den das Bun-                 auch privater Extremismusprävention schafft.
        desverfassungsgericht namentlich in seiner älteren
        Rechtsprechung für besondere Fälle als kompetenzbe-            9. Die Kompetenz des Bundes zur Vollziehung des Geset-
        gründend anerkannt hat. Diese Kompetenz ist über-                 zes folgt aus Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG, wenn das Gesetz
        haupt nur für solche Aufgaben einschlägig, deren                  selbstständige Bundesoberbehörden ausdrücklich mit
        Wahrnehmung durch die Länder denknotwendig aus-                   der Wahrnehmung der Aufgabe betreut. Als solche
        geschlossen wären. Dagegen können die von einem                   kommen im Geschäftsbereich des BMI das Bundesamt
        Demokratiefördergesetz zu bestimmenden Aufgaben                   für Verwaltung und im Geschäftsbereich des BMSFSJ
        grundsätzlich auch von den Ländern verfolgt werden.               das Bundesamt für Familie und zivilgesellschaftliche
                                                                          Aufgaben in Frage. Die gesetzesakzessorische Verwal-
     7. Die Kompetenz des Bundes ergibt sich aus der kon-                 tungskompetenz des Bundes setzt eine bestimmte
        kurrierenden Gesetzgebungskompetenz für die                       Zentralität der Aufgabenwahrnehmung voraus, die
        „öffentliche Fürsorge“ in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG. Dieser         durch die Einhaltung der Maßstäbe einer bundes-
        Titel deckt bereits wesentliche Teile der Demokratie-             einheitlichen Regelung (oben, 8.) aber gesichert sein
        förderprogramme des Bundes, ist aber in der Sache                 dürfte. Dagegen ist es nicht erforderlich, dass die
        weder auf die Unterstützung Jugendlicher noch auf                 Bundesämter jenseits der Entscheidung über die Ver-
        die Erbringung finanzieller Leistungen beschränkt. Das            gabe von Fördermitteln eigene Verwaltungsaufgaben
        Demokratiefördergesetz teilt die wesentlichen Struk-              in diesem Bereich wahrnehmen.
        turmerkmale klassischer Programme der öffentlichen
        Fürsorge. Es reagiert auf eine hinreichend konkrete –          10.Die Finanzierungskompetenz des Bundes folgt nach
        teils potenzielle, teils realisierte – soziale Gefahrenlage,      Art. 104a GG der Aufgabenkompetenz. Die Aufgaben-
        die von verfassungsfeindlichen Bestrebungen ausgeht               kompetenz ergibt sich nach allgemeiner Ansicht aus
        oder aus der Struktur eines zivilgesellschaftlichen               der Verwaltungskompetenz. Danach steht dem Bund
        Engagements herrührt unter Rückgriff auf bewährte                 mit dem Erlass eines Demokratiefördergesetzes auch
        Regelungsstrukturen, die bereits Gegenstand bundes-               eine entsprechende Aufgabenkompetenz zur Seite.
        verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung zu Art. 74                Diese unterliegt selbstverständlich allgemeinen haus-
        Abs. 1 Nr. 7 GG waren. Es reagiert auch auf die vielfälti-        haltsrechtlichen Regeln. Sie ist auf die Regelungen
        gen Notlagen, die verfassungsfeindliche Bestrebungen,             im Gesetz beschränkt, aber nicht zwingend auf die
        Gruppierungen und Bewegungen auslösen, indem                      Förderung von Modellprojekten.

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

                                                                 Programme erfolgt in der Folge auf der Grundlage ent-
     A. Sachverhalt und                                          sprechender Verwaltungsvorschriften und Förderricht-
                                                                 linien der zuständigen Bundesministerien.
     Gutachtenfrage
                                                                 Das Zusammenfallen einer zunehmenden politischen
     Dass die Bekämpfung extremistischer politischer Ansich-     Aktivität des Bundes auf dem Gebiet der politischen
     ten und Absichten sowie die Förderung gesellschaftlicher    Extremismusbekämpfung und Extremismusprävention
     Akzeptanz für den demokratischen Rechtsstaat nicht          einerseits mit dem Fehlen einer einschlägigen bundesge-
     allein Gegenstände gesellschaftlicher Selbstorganisation    setzlichen Grundlage andererseits wird sowohl von den
     sind, sondern auch zu den Aufgaben des Staates gehören,     politischen und administrativen Beteiligten als auch von
     ist in den letzten Jahren nicht zuletzt angesichts einer    den privaten Adressaten von Förderprogrammen schon
     verstärkten rechtsextremistischen Aktivität zum Konsens     seit längerer Zeit als ein Problem wahrgenommen, das
     unter den demokratischen Parteien geworden.                 allein durch den Erlass eines Gesetzes behoben werden
                                                                 könnte.
     Dieser Konsens findet auch in einem verstärkten finan-
     ziellen Engagement des Bundes bei der Unterstützung
     demokratiefördernder Programme, namentlich bei der                Was sowohl von den politischen und
     Extremismusprävention, seinen Ausdruck.                           administrativen Beteiligten als auch von
                                                                       den privaten Adressaten von Förderpro-
     Dieses Engagement verwirklicht sich neben der Arbeit              grammen schon seit längerer Zeit als
     der zum Ressort des Bundesinnenministeriums (BMI)                 ein Problem wahrgenommen wird: Das
     gehörenden Bundeszentrale für politische Bildung (BpB)            Zusammenfallen einer zunehmenden
     namentlich in zwei Bundesprogrammen: Zum einen ist                politischen Aktivität des Bundes auf dem
     das gleichfalls im BMI angesiedelte Programm „Zusam-              Gebiet der politischen Extremismusbe-
     menhalt durch Teilhabe“ zu nennen, zum anderen das im             kämpfung und Extremismusprävention
     Geschäftsbereich des Bundesministeriums für Familie,              einerseits mit dem Fehlen einer einschlä-
     Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) operierende Pro-             gigen bundesgesetzlichen Grundlage
     gramm „Demokratie leben!“.                                        andererseits. Dies kann allein durch den
                                                                       Erlass eines Gesetzes behoben werden.
     Das Programm „Zusammenhalt durch Teilhabe“ för-
     dert gesellschaftliche Organisationen wie Verbände und
     Vereine dabei, eigene Instrumente der Extremismusprä-       Denn zum Ersten gibt es ohne gesetzliche Grundlage
     vention sowie Formen demokratischer Teilhabe zu ent-        keine hinreichende Planungssicherheit für alle Betei-
     wickeln. Im Jahre 2020 standen dafür im Bundeshaushalt      ligten. Das Schicksal der Programme hängt, auch wenn
     12 Millionen Euro zur Verfügung. Das Bundesprogramm         sie in die mittelfristige Finanzplanung des Bundes auf-
     „Demokratie leben!“ fördert maßgeblich Projekte der         genommen werden, letztlich an der jährlichen Entschei-
     Jugendarbeit, die eine Sensibilisierung für Rassismus und   dung des Haushaltsgesetzgebers. Zunächst geht es hier
     für andere Ideologien der Ungleichheit schaffen sollen.     aber nicht um die Verstetigung einzeln zu fördernder
     Das Programm ist in den letzten Jahren stark gewachsen      zivilgesellschaftlicher Projekte oder um die Schaffung
     und hat im Haushaltsjahr 2020 mehr als 100 Millionen        unbefristeter Stellen. Vielmehr geht es zunächst darum,
     Euro zur Verfügung.                                         die Aufgabenwahrnehmung des Bundes zu verstetigen.

     Beide Programme werden bislang ohne materiell-gesetz-       Zum Zweiten verbindet sich mit der Vergesetzlichung der
     liche Grundlage, die die Förderbedingungen spezifiziert,    Aufgabe auch ihre in Recht formalisierte politische Aner-
     vollzogen. Sie fußen zunächst auf haushaltsgesetzlichen     kennung. Diese spielt nicht allein bei der Zuweisung von
     Ermächtigungen des Deutschen Bundestages. Die Ver-          Mitteln in den Haushaltsberatungen eine Rolle, sondern
     teilung von Mitteln an bestimmte zivilgesellschaftliche     auch in der alltäglichen politischen Auseinandersetzung

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

     um den politischen Stellenwert der Demokratieförderung.       Seite (B.). Verfügt der Bund über die Kompetenz, ein sol-
     Sichtbarkeit und demokratische Legitimation erhalten          ches Gesetz zu erlassen (B. I.), es zu vollziehen (B. II.) und
     Staatsaufgaben nicht zuletzt durch ihre Vergesetzlichung.     eigene Ausgaben für diesen Vollzug vorzusehen (B. III.)?

     Zum Dritten könnte eine gesetzliche Grundlage auch die
     herrschende Unsicherheit bei der Wahl angemessener
     Instrumente zur Erreichung gesetzlicher Ziele ausräumen.
     Namentlich die Förderprogramme aus dem Bereich des
     BMFSFJ operieren im Moment zu wesentlichen Teilen
                                                                   B. Verfassungsrechtliche
     noch mit Blick auf die Klausel des § 83 SGB VIII, in dessen   Würdigung
     Folge nur Programme mit Modellcharakter und nur mit
     Beteiligten eines Lebensalters unter 27 Jahren gefördert
     werden können. Immer wenn sich ein solches Projekt als        I. GESETZGEBUNGSKOMPETENZ
     erfolgreich erwiesen hat, kann es nicht mehr gefördert        DES BUNDES
     werden, weil damit der Modellcharakter endet.
                                                                   Nach Art. 70 GG bedarf der Bund zum Erlass eines Geset-
     Eine gesetzliche Grundlage sollte damit dreierlei vorsehen:   zes zunächst einer eigenen Kompetenz.

        1. Die Bestimmung eines gesetzlichen Auftrags an           1. Kompetenz des Bundes qua Staatsleitung?
           den Bund, welche die genannten und vergleichbare
           Projekte zum Schutz der freiheitlichen demokrati-       Fraglich ist zunächst, ob sich eine solche Kompetenz
           schen Grundordnung vorsieht, und die Durchfüh-          aus dem Begriff der „Staatsleitung“ ergibt, der in der
           rung bundeseigener Maßnahmen ermöglicht.                Gutachtenliteratur für vergleichbare Rechtsfragen bereits
                                                                   Eingang gefunden hat, weil er in einem ähnlichen Zusam-
        2. Eine mit der Aufgabenbestimmung einherge-               menhang vom Bundesverfassungsgericht verwendet
           hende materielle Grundlage zur Sicherung einer          wurde:
           stetigen Finanzierung.
                                                                         Battis/Grigoleit/Drohsel, Rechtliche Möglichkeiten zur Verstetigung
                                                                         der finanziellen Mittel zur Demokratieförderung und Bekämpfung des
        3. Die Festschreibung von Verfahren der Förderung,               Neonazismus, Gutachten im Auftrag u.a. von der Amadeus Antonio
           insbesondere durch die Bestimmung materieller                 Stiftung (2013), S. 24 f.; Battis, Rechtliche Fragen zur Schaffung eines
           Voraussetzungen einer Förderung.Diese müssen                  Bundesgesetzes „Demokratieförderung“, Gutachten im Auftrag des
                                                                         Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2016),
           die Anforderungen an zu fördernde private und
                                                                         S. 19, jeweils mit Verweis auf BVerfG, Stattgebender Kammerbe-
           öffentliche natürliche oder juristische Personen und          schluss vom 17.08.2020, 1 BvR 2585/06, juris – Löw/Bundeszentrale
           die wissenschaftliche Begleitung der Auswahl und              für politische Bildung.
           Durchführung von Projekten beinhalten.
                                                                   Im Ausgangspunkt stellt die Doktrin der Staatsleitung
     Dabei soll sich die Aufgabe der so ermächtigten Behörden      keine normative Grundlage für eine Gesetzgebungs-
     des Bundes auf die Förderung von Projekten von überre-        kompetenz des Bundes dar. Es handelt sich um eine
     gionaler Bedeutung und die bundesweite Koordination           Rechtsfigur, die in der Rechtsprechung zur Anpassung der
     und Vernetzung einzelner Projekte beschränken.                grundrechtlichen Gesetzesvorbehaltslehre an den insti-
                                                                   tutionellen Rahmen öffentlicher Informationstätigkeit
     Besteht grundsätzlich politische Einigkeit über den Sinn      entwickelt wurde, insbesondere im Verhältnis zwischen
     eines Demokratiefördergesetzes auf Ebene des Bundes,          Parlament und Regierung. Dass diese Figur außerhalb der
     so stellt sich die Frage nach den grundgesetzlichen Vor-      Ordnung der bundesstaatlichen Gesetzgebungs- und
     gaben für eine solche Regelung. Verfassungsrechtliche         Verwaltungskompetenzbestimmungen des Grundge-
     Nachfragen, die im folgenden Gutachten zu behandeln           setzes liegt, spricht das Bundesverfassungsgericht im
     sind, betreffen vornehmlich die kompetenzrechtliche           Osho-Beschluss deutlich aus:

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

          Für die Regierungskompetenz zur Staatsleitung gibt es, anders als        staatlichen Handelns kommt, zumal damit der Begriff
          für die Gesetzgebungs- und Verwaltungszuständigkeiten, keine
                                                                                   jede Kontur verliert, weil das gesamte Informationsan-
          ausdrücklichen Bestimmungen im Grundgesetz. […] Maßgebend
          für die Kompetenz der Bundesregierung im Bereich des Informati-          gebot der Bundeszentrale kaum als staatsleitend oder
          onshandelns sind nicht die Art. 83 ff. GG. Die Regierungstätigkeit ist   staatstragend betrachtet werden kann,
          nicht Verwaltung im Verständnis dieser Normen. Zur Ausführung von
          Gesetzen durch administrative Maßnahmen ist die Bundesregierung               so zutreffend Schoch, Die Schwierigkeiten des BVerfG mit der Bewäl-
          im Zuge ihrer Staatsleitung nicht befugt. (BVerfG, Beschluss vom              tigung staatlichen Informationshandelns, NVwZ 2011, 193 (196 f.).
          26.06.2002, 1 BvR 670/91, Rn. 84-85, juris – Osho)

                                                                                   Aber auch wenn man dies anders sieht, kann der Beschluss
     Auch aus dem Kammerbeschluss des Bundesverfassungs-
                                                                                   jedenfalls nicht als Erweiterung der Staatsleitungsdoktrin
     gerichts, auf dem die gesamte in diesem Zusammenhang
                                                                                   zu einer Norm gelesen werden, die die Verbandskompe-
     einschlägige Argumentation beruht, ergibt sich nichts
                                                                                   tenz des Bundes in Sachen Gesetzgebung und Verwaltung
     anderes. Dieser Beschluss zu einem Eingriff der Bundes-
                                                                                   regelt. In Fällen, in denen das Bundesverfassungsgericht
     zentrale für politische Bildung (BpB) in die Meinungs-
                                                                                   von der Staatsleitung durch Gesetz spricht, bezieht sich
     freiheit betrifft thematisch in der Tat eine verwandte
                                                                                   dies auf Gesetze, deren Kompetenzgrundlage an anderer
     Materie, doch ergibt sich daraus keine Aussage über die
                                                                                   Stelle im Grundgesetz zu finden ist,
     Staatsleitung als Bundeskompetenztitel.
                                                                                        vgl. BVerfG, Urteil vom 14.01.1986, 2 BvE 14/83, Rn. 125, juris – Haus-
     Im Mittelpunkt des Beschlusses stand die Frage nach einer                          haltskontrolle der Geheimdienste: „Er [der Bundestag] trifft mit der
     Rechtsgrundlage für einen mittelbaren Grundrechtsein-                              Entscheidung über den Haushaltsplan, der ein Wirtschaftsplan und
                                                                                        zugleich ein staatsleitender Hoheitsakt in Gesetzesform ist, eine
     griff durch die Bundeszentrale. Das Bundesverfassungs-                             wirtschaftliche Grundentscheidung für zentrale Bereiche der Politik
     gericht resümiert:                                                                 während des Planungszeitraums.“ Das Haushaltsgesetz fußt auf Art.
                                                                                        110 Abs. 2 Satz 1 GG.
          Vielmehr kommt allein die kompetenzielle Rechtsgrundlage in
          Betracht, auf der die Tätigkeit der Bundeszentrale überhaupt fußt.
                                                                                   In diesem Sinne ist Staatsleitung also die Beschreibung
          Hierbei handelt es sich um die der Bundesregierung zukommende
          Aufgabe der Staatsleitung, die, ohne dass es darüber hinaus einer        der Aktivitäten von Staatsorganen, die in unterschied-
          besonderen gesetzlichen Eingriffsermächtigung bedürfte, staatliches      licher Weise tätig werden. Sobald ihr Handeln die Form
          Informationshandeln legitimieren kann. Namentlich gestattet sie          eines Gesetzes oder der Einrichtung von Verwaltungs-
          es der Bundesregierung, die Bürger mit solchen Informationen zu
          versorgen, deren diese zur Mitwirkung an der demokratischen Wil-
                                                                                   einheiten annimmt, richtet sich die Verbandskompetenz
          lensbildung bedürfen. Angesichts dessen ist es verfassungsrechtlich      aber nach Art. 70 ff. GG respektive Art. 83 ff. GG und folgt
          nicht zu beanstanden, dass die Bundesregierung eine Bundeszentrale       nicht aus der Aufgabe der Staatsleitung (Art. 65 GG).
          für politische Bildung unterhält, die ihrerseits publizistische Foren
          für politische Debatten betreibt. (BVerfG, Stattgebender Kammer-
          beschluss vom 17.08.2020, 1 BvR 2585/06, Rn. 23, juris – Löw/Bundes-
          zentrale für politische Bildung, Verweise ausgelassen)                   2. Kompetenz des Bundes kraft Natur der
                                                                                   Sache?
     Zur Begründung verweist das Gericht in eben diesem Zitat
     auf den Osho-Beschluss. Dies kann nicht so verstanden                         A. RECHTSPRECHUNG DES
     werden, dass hiermit die für die Einrichtung der Bun-                         BUNDESVERFASSUNGSGERICHTS
     deszentrale entscheidende Frage der bundesstaatlichen
     Verwaltungskompetenz beantwortet wird, weil die Dok-                          Fraglich ist, ob dem Bund hinsichtlich des Demokratie-
     trin der Staatsleitung diese Kompetenzfragen nach der                         fördergesetzes eine Gesetzgebungskompetenz aus der
     Osho-Entscheidung gar nicht betrifft. Das Problem, das                        Natur der Sache zukommt. Ungeschriebene – besser:
     die Kammer mit dem Hinweis auf die Figur der Staatslei-                       implizit vorausgesetzte – Gesetzgebungskompetenzen
     tung löst, ist ganz gleich wie in Osho das einer fehlenden                    stellen eine besonders begründungsbedürftige Ausnahme
     gesetzlichen Grundlage eines Eingriffs in ein Grundrecht                      unter dem Grundgesetz dar,
     durch staatliche Informationstätigkeit. Auch diesen
     Schluss mag man für zweifelhaft halten, wenn er schlicht                           für viele: BVerfG, Beschluss vom 11.07.2013, 2 BvR 2302/11 und 2 BvR
     vom Begriff der Staatsleitung auf die Rechtmäßigkeit des                           1279/12, Rn. 161, juris – Therapieunterbringungsgesetz.

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

     Trotz gleichbleibender Umschreibungen der Gesetzge-                                die Zuständigkeit des Bundes auf die Förderung regionaler oder
                                                                                        örtlicher Bestrebungen erstrecken. (BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2
     bungskompetenz kraft Natur der Sache ist die Rechtspre-
                                                                                        BvF 3/62 u.a., Rn. 119, juris – Jugendhilfe).
     chung in der Formulierung der Kompetenz uneinheitlich,

          siehe Bullinger, Ungeschriebene Kompetenzen im Bundesstaat: Die
                                                                                   Es scheint, als würde das Gericht allein aus dem überre-
          Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur Zuständigkeit           gionalen Charakter auf eine Bundeskompetenz schlie-
          von Bund und Ländern kraft Sachzusammenhangs und kraft Natur             ßen. Ganz anders liest sich hingegen der Beschluss zum
          der Sache, AöR 96 (1971), 237 (268 ff.); Harms, Kompetenzen des Bundes   Ingenieurgesetz:
          aus der Natur der Sache, Der Staat 33 (1994), 409 (418 f.); aktueller
          Herbst, Gesetzgebungskompetenzen im Bundesstaat (2014), § 16.
                                                                                        Auch eine Bundeskompetenz aus der Natur der Sache scheidet aus.
                                                                                        Die Erwägung, eine bundesrechtliche und daher einheitliche Regelung
     In ausdrücklicher Anlehnung an Anschütz verlangt die                               für das Führen der Berufsbezeichnung „Ingenieur“ sei zweckmäßig,
     Rechtsprechung für das Vorliegen eines solchen Titels,                             reicht für die Annahme einer solchen Kompetenz nicht aus. Das
                                                                                        Bundesverfassungsgericht hat im Anschluß an Anschütz, Handbuch
     dass sich eine Bundeskompetenz begriffsnotwendig
                                                                                        des Deutschen Staatsrechts, Band I, S. 367, eine Kompetenz aus der
     daraus ergeben muss, dass eine gesetzliche Regelung                                Natur der Sache nur dann angenommen, wenn gewisse Sachgebiete,
     durch die Länder schlicht nicht vorstellbar ist. Können                            weil sie ihrer Natur nach eine eigenste, der partikularen Gesetzge-
     andere Lösungen mit beachtlichen Gründen gerechtfer-                               bungszuständigkeit a priori entrückte Angelegenheit des Bundes
                                                                                        darstellen, vom Bund und nur von ihm geregelt werden können. Eine
     tigt werden, scheidet eine Bundeskompetenz kraft Natur                             solche Angelegenheit liegt hier nicht vor. Der Schutz der Berufsbe-
     der Sache aus,                                                                     zeichnung "Ingenieur" muß, soweit er notwendig ist, keineswegs
                                                                                        durch Bundesgesetz erfolgen. Eine einheitliche Regelung durch
          grundlegend: BVerfG, Beschluss vom 10.05.1960, 2 BvO 6/56,                    inhaltlich übereinstimmende Ländergesetze ist durchaus denkbar und
          Rn. 44-46, juris – Bremisches Urlaubsgesetz; BVerfG, Beschluss                praktikabel. (Bundesverfassungsgericht, Beschluss vom 26.06.1969,
          vom 26.06.1969, 2 BvR 128/66, Rn. 46, juris – Ingenieurgesetz.                2 BvR 128/66, Rn. 46-49, juris – Ingenieurgesetz).

     Bloße Zweckmäßigkeitserwägungen genügen dagegen                               Im Jugendhilfe-Urteil finden sich keine Überlegungen
     ausdrücklich nicht,                                                           dazu, dass die Länder etwaige überregionale Jugend-
                                                                                   hilfeeinrichtungen durch gegenseitige Kooperationen
          BVerfG, Urteil vom 27.10.1998, 1 BvR 2306/96 u.a., Rn. 158, juris –      fördern können,
          ambulanter Schwangerschaftsabbruch.
                                                                                        kritisch: Bullinger, a.a.O., S. 276, 279.
     Im Einzelnen werden diese beiden Kriterien jedoch höchst
     uneinheitlich angewandt. Im – für den hiesigen Zweck                          Doch herrscht in der Literatur Einigkeit darüber, dass
     besonders relevanten – Jugendhilfe-Urteil stützt das                          allein der überregionale Charakter einer Aufgabenwahr-
     Bundesverfassungsgericht § 25 Abs. 1 JWG, dessen Nach-                        nehmung die Gesetzgebungskompetenz des Bundes kraft
     folgevorschrift § 83 SGB VIII die derzeitige Kompetenz-                       Natur der Sache nicht zu begründen vermag,
     grundlage für den Vollzug des Programms „Demokratie
     leben!“ ist, auf die Bundeskompetenz kraft Natur der                               Heintzen, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, 193. Aktualisie-
                                                                                        rung (Stand: Oktober 2018), Art. 70 Rn. 183; Uhle, in: Maunz/Dürig,
     Sache. Dabei wird die gesetzliche Norm verfassungskon-
                                                                                        Grundgesetz, 53. EGL (Stand: Oktober 2008), Art. 70 Rn. 76; Kment, in:
     form dahingehend ausgelegt, dass der Bund nur solche                               Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl. 2020, Art. 70 Rn. 13; Rozek, in: v.
     Bestrebungen fördern dürfte, die eindeutig überregio-                              Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 70 Rn. 41.
     nalen Charakter besitzen:

          Im Falle des § 25 Abs. 1 JWG sind diese strengen Voraussetzungen
                                                                                        Die Überregionalität der Aufgaben-
          aber nur dann erfüllt, wenn die Bundesregierung solche Bestre-
          bungen auf dem Gebiete der Jugendhilfe fördert, die der Aufgabe               wahrnehmung mag in bestimmten
          nach eindeutig überregionalen Charakter haben. Es muß sich um
          Bestrebungen handeln, die ihrer Art nach nicht durch ein Land allein          Konstellationen als Grenze der Kom-
          wirksam gefördert werden können. Die Förderung von Bestrebungen
          auf dem Gebiet der Jugendpflege durch den Bund wäre demnach
                                                                                        petenzausübung zu verstehen sein,
          zulässig z. B. bei zentralen Einrichtungen, deren Wirkungsbereich             jedoch keinesfalls als ihr Grund.
          sich auf das Bundesgebiet als Ganzes erstreckt, bei gesamtdeutschen
          Aufgaben und bei internationalen Aufgaben. Keinesfalls kann sich

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

     Die Überregionalität der Aufgabenwahrnehmung mag                                   erreicht werden kann, könnte man annehmen, daß das Grundgesetz
                                                                                        stillschweigend eine andere Regelung zuläßt, nämlich die, daß die
     in bestimmten Konstellationen als Grenze der Kompe-
                                                                                        Ausführung dem Bund übertragen ist. Der Umstand, daß im Einzelfall
     tenzausübung zu verstehen sein, jedoch keinesfalls als                             eine Ausführung durch den Bund zweckmäßiger wäre, kann nicht als
     ihr Grund.                                                                         Argument dafür dienen, daß das Grundgesetz stillschweigend etwas
                                                                                        anderes zuläßt. (BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 117,
                                                                                        juris – Jugendhilfe, Verweise ausgelassen).
     In diese Richtung lassen sich auch weitere Urteile des
     Bundesverfassungsgerichts lesen, in denen eine Gesetz-
                                                                                   Bevor das Gericht dann zu den Anforderungen einer
     gebungskompetenz des Bundes kraft Natur der Sache
                                                                                   Kompetenz aus der Natur der Sache Stellung bezieht,
     abgelehnt wurde. So darf der Bund keine Gesetze im
                                                                                   ruft es nochmals Art. 30 GG in Erinnerung:
     Bereich des Rundfunks erlassen, obwohl Rundfunkwel-
     len die Landesgrenzen notwendig überschreiten. Auch                                Art. 30 GG gilt sowohl für die gesetzesakzessorische wie für die
     die Reinhaltung der Bundeswasserstraßen erfolgt nicht                              „gesetzesfreie“ Erfüllung staatlicher Aufgaben. (BVerfG, Urteil vom
     auf Grundlage eines Bundesgesetzes trotz dessen, dass                              18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 118, juris – Jugendhilfe, Verweise aus-
                                                                                        gelassen)
     diese über die Ländergrenzen hinausreichen. Die deut-
     sche Rechtschreibung darf durch die Länder im Wege der
     gegenseitigen Koordinierung geregelt werden,                                  Die anschließenden Ausführungen zur Kompetenz kraft
                                                                                   Natur der Sache sprechen, obwohl ein Bundesgesetz Prü-
          BVerfG, Urteil vom 28.02.1961, 2 BvG 1/60, Rn. 167 f., juris – Erstes    fungsgegenstand ist, auch nie von der Gesetzgebungs-
          Rundfunkurteil (dort auch der Hinweis, dass allein die Überforderung     kompetenz, sondern bleiben unspezifisch: Es wird schlicht
          regionaler Finanzkraft keine Bundeskompetenz kraft Natur der Sache
                                                                                   von der „Kompetenz“ oder der „Förderungskompetenz
          begründet); BVerfG, Urteil vom 30.10.1963, 2 BvF 2/60 u.a., Rn. 86 f.,
          juris – Bundeswasserstraßen; BVerfG, Urteil vom 14.07.1998, 1 BvR        des Bundes“ gesprochen.
          1640/97, Rn. 126, juris – Rechtschreibreform.
                                                                                        BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 118 f., juris – Jugendhilfe.

     Aus dieser Perspektive stellt das Jugendhilfe-Urteil eher
     eine Abweichung von der vorangegangenen und nach-                             Die umfassende Einbindung dieser Ausführungen in die
     folgenden Rechtsprechung dar,                                                 Systematik der Verwaltungskompetenzen legt nahe, dass
                                                                                   das Gericht § 25 Abs. 1 JWG eher als die Begründung der
          Uhle, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, 53. EGL (Stand: Oktober 2008),       Bundesverwaltungskompetenz ansah und nicht an den
          Art. 70 Rn. 76 Anm. 2. Umfassende und kritische Einordnung des           Art. 70 ff. GG messen wollte. Nur so erklärt sich auch,
          Urteils bereits bei Bullinger, a.a.O., S. 276-279.
                                                                                   warum für den Fall der Förderung der Jugendhilfe keine
                                                                                   Bundeskompetenz gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG bestehen
     Die hier einschlägige Passage stiftet aber auch des-
                                                                                   sollte. Denn dieses Ergebnis wäre angesichts der Tatsache,
     wegen Verwirrung, weil das Gericht dort zwischen der
                                                                                   dass das Gericht zuvor ausdrücklich die Einbeziehung
     Begründung einer Gesetzgebungs- und einer Verwal-
                                                                                   privater Träger in den Bereich der öffentlichen Fürsorge
     tungskompetenz zu schwanken scheint. Der bereits
                                                                                   bejaht hat, durchaus konsequent.
     zitierten Textstelle gehen Ausführungen zur finanziellen
     Förderung als staatliche Aufgabe im Sinne von Art. 30                              BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 71 ff., juris – Jugendhilfe.
     GG voran. Diese werden vom Bundesverfassungsgericht                                So auch Struck, in: Wiesner (Hrsg.), SGB VIII. Kinder- und Jugendhilfe,
     wie folgt ergänzt:                                                                 5. Aufl. 2015, § 83 Rn. 1, die in der Nachfolgevorschrift § 83 SGB VIII eine
                                                                                        Verwaltungskompetenz erblickt, die vorausgesetzte Gesetzgebungs-
          Für den Fall der gesetzesakzessorischen Verwaltung nach Art. 83               kompetenz aber in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG verortet.
          ff. GG hat das Bundesverfassungsgericht ausgeführt, es könne nur
          im Ausnahmefall angenommen werden, daß das Grundgesetz den
          Bund stillschweigend ermächtige, Verwaltungsakte auf Gebieten
          zu erlassen, die nicht zur bundeseigenen Verwaltung nach Art. 86         B. ANWENDUNG AUF EIN DEMOKRATIEFÖRDERGESETZ
          ff. GG gehörten. Es sind Gesetze denkbar, deren Zweck durch das
                                                                                   DES BUNDES
          Verwaltungshandeln eines Landes überhaupt nicht erreicht werden
          kann. Grundsätzlich ist davon auszugehen, daß das Grundgesetz bei
          der in Art. 30 und 83 ff. getroffenen Regelung eine reibungslose und     Ein Demokratiefördergesetz auf eine Bundeskompetenz
          vollständige „Ausführung“ der Bundesgesetze unterstellt. Nur dann,       kraft Natur der Sache zu stützen, erscheint vor diesem
          wenn diese vollständige Ausführung durch Landesverwaltung nicht
                                                                                   Hintergrund aus zwei Gründen herausfordernd:

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

     Erstens fällt das Jugendhilfe-Urteil, das eine solche Auf-                  3. Kompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG
     fassung maßgeblich stützt, außerhalb der sonstigen
     Rechtsprechung zur Bundeskompetenz kraft Natur der                          Eine Gesetzgebungskompetenz des Bundes könnte sich
     Sache und lässt sich mit dieser kaum harmonisieren.                         dagegen aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG ergeben.

     Zweitens ist das Jugendhilfe-Urteil selbst zu unspezifisch                  A. BEGRIFF DER ÖFFENTLICHEN FÜRSORGE
     hinsichtlich der Abgrenzung von Gesetzgebungs- und
     Verwaltungszuständigkeit.                                                   Gem. Art. 72 Abs. 1 i.V.m. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG umfasst
                                                                                 die Gesetzgebungskompetenz des Bundes – unter den
     Legt man die strengen Maßstäbe der Literatur und der                        Voraussetzungen des Art. 72 Abs. 2 GG – die öffentliche
     übrigen Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts                        Fürsorge ohne das Heimrecht. Das geplante Demokra-
     zugrunde, wird man keine Gesetzgebungskompetenz                             tiefördergesetz zielt auf Extremismusprävention durch
     kraft Natur der Sache begründen können.                                     eigene Maßnahmen von Bundesbehörden, insbesondere
                                                                                 solche koordinierender Natur, sowie durch die Versteti-
     Es wäre den Ländern ohne weiteres möglich, in gegen-                        gung der finanziellen Förderung zivilgesellschaftlichen
     seitiger Absprache gemeinsame Richtlinien zur Extremis-                     Engagements.
     musprävention und Demokratieförderung zu entwickeln.
     Auch einzelne Landesgesetze erscheinen denkbar, nicht                       Der Begriff der öffentlichen Fürsorge im Sinne des Art. 74
     zuletzt weil die vom Demokratiefördergesetz vorge-                          Abs. 1 Nr. 7 GG wird traditionell weit verstanden. Schon
     sehenen Maßnahmen wie Förderungs-, Bildungs- und                            1967 entschied das Bundesverfassungsgericht:
     Veranstaltungsangebote von den Ländern gesetzlich
     geregelt werden könnten, ohne dass deswegen die bun-                             Der Begriff der „öffentlichen Fürsorge“ in Art. 74 Nr. 7 GG umfaßt auf
                                                                                      dem Gebiet der Jugendwohlfahrt nicht nur die Jugendfürsorge im
     desstaatliche Perspektive ausgeblendet müsste.
                                                                                      engeren Sinne, sondern auch die Jugendpflege. (BVerfG, Urteil vom
                                                                                      18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 107, juris – Jugendhilfe).
     Auch in den Ländern und durch die Länder gilt es, die
     grundgesetzliche freiheitliche demokratische Ordnung                        Auf eine konkrete Notlage, Gefährdung oder Hilfebedürf-
     zu verteidigen, sodass eine bundesweite Perspektive                         tigkeit kommt es folglich nicht an:
     auch von den Ländern – und sei es nur in Kooperation
     miteinander – eingenommen werden könnte. Eine solche                             BVerfG, Urteil vom 28.05.1993, 2 BvF 2/90 u.a., Rn. 359, juris – Schwan-
     Kooperation erscheint auch nicht vollkommen aussichts-                           gerschaftsabbruch II; BVerfG, Beschluss vom 10.03.1998, 1 BvR 178/97,
                                                                                      Rn. 55, juris – gestaffelte Kindergartenfreibeträge.
     los oder abwegig, immerhin arbeiten Landesdemokra-
     tiezentren bereits zusammen. Dass die Länder diese
     Zusammenarbeit auf eine stärkere gesetzliche Grundlage                      Vielmehr umfasst öffentliche Fürsorge auch
     stellen können, z.B. indem sie die jeweilige Landeszentrale
                                                                                      Veranstaltungen zur politischen Bildung, die der Jugend im besonde-
     per Gesetz errichten,                                                            ren klarmachen sollen, daß der Einzelne sich in der Demokratie nicht
                                                                                      von der Gesellschaft absondern kann, sondern sie und ihre politische
          beispielhaft so in Bayern: Gesetz über die Bayerische Landeszentrale        Form aktiv mitgestalten muss. (BVerfG, Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF
          für politische Bildungsarbeit (LzPolBiG) vom 9. Oktober 2018, GVBl.         3/62 u.a., Rn. 107, juris – Jugendhilfe).
          S. 742 (BayRS 200-28-K),

                                                                                 Keineswegs darf aus dieser Entscheidung auf eine Ver-
     oder indem sie sich über gemeinsame Formen wie im                           engung des Bereichs der öffentlichen Fürsorge auf die
     Rundfunkrecht per Staatsvertrag einigten, ist denkbar                       Erziehung von Jugendlichen geschlossen werden. Schon
     und auch praktisch hinterlegt.                                              das erste Zitat schränkt die Aussage des Bundesverfas-
                                                                                 sungsgerichts auf das „Gebiet der Jugendwohlfahrt“
                                                                                 ein, ohne aber damit die gesamte öffentliche Fürsorge
                                                                                 darauf zu begrenzen. Gleichsam enthält zweites Zitat
                                                                                 die Klarstellung, dass die politische Jugendbildung „im

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

     besonderen“ als Teil der öffentlichen Fürsorge zu verste-                         Zweitens muss die Auslegung sich am klassischen Bild
     hen ist. Zwar liegt es nahe, dass sich öffentliche Fürsorge                       der öffentlichen Fürsorge orientieren. Der Begriff ist also
     typisierend nach speziellen Problemlagen richtet, die                             entwicklungsoffen, muss aber die wesentlichen Struk-
     regelmäßig in einer bestimmten Lebensphase auftreten:                             turmerkmale dessen, was allgemein unter öffentlicher
                                                                                       Fürsorge – unter Berücksichtigung des der Rechtspre-
          Siehe zur Altenpflege: BVerfG, Urteil vom 24.10.2002, 2 BvF 1/01, Rn.        chung des Gerichts zugrundeliegenden weiten Begriffs
          284, juris – Altenpflegegesetz.
                                                                                       – verstanden wird, beachten. Diese Entwicklungsoffen-
                                                                                       heit formuliert das Bundesverfassungsgericht wie folgt:
     Allein deswegen gebietet Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG jedoch
     keine Begrenzung auf die Fürsorge bestimmter Alters-                                   Der Begriff der öffentlichen Fürsorge umgreift auch neue Sachverhalte,
     gruppen. Die potenzielle Bedürftigkeit kann auch anhand                                wenn sie nur in ihren wesentlichen Strukturelementen dem Bild ent-
     anderer Kriterien bestimmt werden, etwa der drohenden                                  sprechen, das durch die „klassische Fürsorge“ geprägt ist. (BVerfG,
                                                                                            Urteil vom 24.10.2002, 2 BvF 1/01, Rn. 284, juris – Altenpflegegesetz;
     Arbeitslosigkeit, der Schwangerschaft und der Familien-                                bestätigt durch BVerfG, Beschluss vom 17.07.2003, 2 BvL 1/99 u.a.,
     gründung:                                                                              Rn. 111, juris – Altenpflegeausbildungsumlage).

          BVerfG, Urteil vom 23.01.1990, 1 BvL 44/86 und 1 BvL 48/87, Rn. 119, juris
                                                                                       Dem folgend ergeben sich die Strukturmerkmale der
          – Erstattungspflicht des Arbeitgebers; BVerfG, Urteil vom 28.05.1993,
          2 BvF 2/90 u.a., Rn. 359, juris – Schwangerschaftsabbruch II; BVerfG,        öffentlichen Fürsorge in der Rechtsprechung des Bun-
          Urteil vom 21.07.2015, 1 BvF 2/13, Rn. 29 f., juris – Betreuungsgeld.        desverfassungsgerichts wie folgt:

     Damit umfasst die öffentliche Fürsorge jede Altersgruppe                          Ausgangspunkt ist – entsprechend dem Wortlaut –, dass
     vom Kindergartenkind bis zur Seniorin.                                            der Begriff der öffentlichen Fürsorge nicht von jeglicher,
                                                                                       auch nur potenzieller Hilfebedürftigkeit zu lösen ist:
     Das Bundesverfassungsgericht orientiert sich bei der
     Auslegung des Begriffs der öffentlichen Fürsorge also                                  Der Begriff der öffentlichen Fürsorge in Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG […]
                                                                                            setzt voraus, dass eine besondere Situation zumindest potentiel-
     an einem weiten Begriffsverständnis, verhindert aber                                   ler Bedürftigkeit besteht, auf die der Gesetzgeber reagiert. Dabei
     die dadurch drohende Entgrenzung auf zweierlei Art                                     genügt es, wenn eine – sei es auch nur typisierend bezeichnete und
     und Weise:                                                                             nicht notwendig akute – Bedarfslage im Sinne einer mit besonderen
                                                                                            Belastungen einhergehenden Lebenssituation besteht, auf deren
                                                                                            Beseitigung oder Minderung das Gesetz zielt. (BVerfG, Urteil vom
     Erstens darf die Auslegung des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG nicht                           21.07.2015, 1 BvF 2/13, Rn. 29, juris – Betreuungsgeld).
     dazu führen, dass andere Kompetenztitel übergangen
     werden:                                                                           Hilfebedürftigkeit ist dabei aber nicht eng zu verstehen.
                                                                                       Nicht bloß wirtschaftliche, körperliche oder seelische
          BVerfG, Urteil vom 28.05.1993, 2 BvF 2/90 u.a., Rn. 359, juris – Schwan-
          gerschaftsabbruch II.                                                        Notlagen machen einen Menschen hilfsbedürftig:

                                                                                            Vgl. Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Grundgesetz, Bd. 2, 7. Aufl.
     Angesichts der Tatsache, dass der Bereich der öffentli-                                2018, Art. 74 Rn. 60; Kment, in: Jarass/Pieroth, Grundgesetz, 16. Aufl.
     chen Fürsorge mittlerweile Art. 72 Abs. 2 GG unterstellt                               2020, Art. 74 Rn. 17.
     ist, bedeutet dies vor allem, dass auch traditionell den
     Ländern vorbehaltene Kompetenzen, insbesondere im                                 Die Einbeziehung der Jugendbildung in den Bereich der
     Bereich der Gefahrenabwehr und der Bildung, nicht auf                             öffentlichen Fürsorge begründet das Bundesverfassungs-
     Grundlage der öffentlichen Fürsorge dem Bund zuge-                                gericht mit der Gefahr einer Abkehr von der Gesellschaft
     schlagen werden dürfen:                                                           im Erwachsenenalter und der damit einhergehenden
                                                                                       Schwächung der Demokratie:
          Axer, in: Bonner Kommentar zum Grundgesetz, Stand: 168. EGL (Juli
          2014), Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 Rn. 13; Oeter, in: v. Mangoldt/Klein/Starck,
                                                                                            Vergegenwärtigt man sich aber die mannigfachen Anpassungs-
          Grundgesetz, Bd. 2, 7. Aufl. 2018, Art. 74 Rn. 63. Siehe auch Bundes-
                                                                                            schwierigkeiten, die manche Jugendliche bei der Einordnung in die
          verfassungsgericht, Beschluss vom 10.03.1998, 1 BvR 178/97, Rn. 56 f.,
                                                                                            Gesellschaft haben, ohne daß man sie deshalb bereits als gefährdet
          juris – gestaffelte Kindergartenfreibeträge.
                                                                                            bezeichnen kann, so erkennt man, daß unter Umständen eine Zusam-

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GUTACHTEN „DEMOKRATIE DAUERHAFT FÖRDERN“

          menführung mit anderen jungen Menschen im lokalen Bereich eines               BVerfG, Stattgebender Kammerbeschluss vom 17.08.2010, 1 BvR
          Hauses der Jugend oder auf regionaler oder internationaler Ebene in           2585/06, Rn. 23, juris – Löw/Bundeszentrale für politische Bildung.
          einem Jugendlager oder auf Jugendreisen diese Anpassungsschwie-
          rigkeiten überwinden hilft, dadurch eine spätere Gefährdung des
          Jugendlichen ausschließt und künftige Fürsorgemaßnahmen überflüs-
          sig macht. Dasselbe gilt für Veranstaltungen zur politischen Bildung,
          die der Jugend im besonderen klarmachen sollen, daß der Einzelne              Es kann kein wesentliches Struktur-
          sich in der Demokratie nicht von der Gesellschaft absondern kann,
          sondern sie und ihre politische Form aktiv mitgestalten muß. (BVerfG,
                                                                                        merkmal der öffentlichen Fürsorge
          Urteil vom 18.07.1967, 2 BvF 3/62 u.a., Rn. 107, juris – Jugendhilfe).        darstellen, politische Bildung aus-
                                                                                        schließlich Jugendlichen zu ermög-
                                                                                        lichen.
          Nach dem Jugendhilfe-Urteil können
          auch antidemokratische Tendenzen
                                                                                   Wie gezeigt, ergibt sich aber aus der Rechtsprechung
          die Regelungskompetenz des Bundes
                                                                                   des Bundesverfassungsgerichts keine Begrenzung auf
          gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG auslösen.                                   eine bestimmte Altersklasse. Es kann daher auch kein
                                                                                   wesentliches Strukturmerkmal der öffentlichen Fürsorge
                                                                                   darstellen, politische Bildung ausschließlich Jugendli-
                                                                                   chen zu ermöglichen. Im Gegenteil zeigt die Begründung
     Öffentliche Fürsorge umfasst auch die Bildung und                             des Gerichts gleich doppelt auf, dass sich eine solche
     Erziehung jedenfalls der Jugendlichen im demokrati-                           Beschränkung verbietet:
     schen Sinne, wobei freilich die grundsätzliche Gesetz-
     gebungskompetenz der Länder im Bereich der Bildung                            Erstens nämlich muss sich die öffentliche Fürsorge erst
     nicht berührt werden darf. Dies wird – zumindest im                           recht auf diejenigen Erwachsenen beziehen, deren politi-
     Fall der Jugendhilfe – erreicht, indem die politische Bil-                    sche Bildung als Prävention nicht gefruchtet hat. Es wäre
     dung sich nicht nur thematisch eng begrenzt, sondern                          widersinnig, die öffentliche Fürsorge auf den Bereich der
     auch außerhalb der herkömmlichen Bildungswege zur                             Prävention zu erstrecken, aber die Fälle fehlgeschlagener
     Verfügung gestellt wird. Nach dem Jugendhilfe-Urteil                          Prävention, also tatsächlicher Hilfebedürftigkeit, die sich
     können also auch antidemokratische Tendenzen die Rege-                        in der Abkehr von der demokratischen Gesellschaft zeigt,
     lungskompetenz des Bundes gem. Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG                        nicht zu umfassen.
     auslösen. Diese Auslegung steht auch im Einklang mit
     der viel zitierten Rechtsprechung, dass das Grundgesetz                       Zweitens hat das Gericht zwar angenommen, dass typi-
     seine Bürgerinnen und Bürger nicht zwinge, die Werte                          sierend gerade Jugendliche der Gefahr einer späteren
     des Grundgesetzes zu teilen:                                                  gesellschaftlichen Isolation unterliegen. Das Gericht
                                                                                   folgert daraus aber keineswegs, dass deshalb eine solche
          BVerfG, Beschluss vom 04.11.2009, 1 BvR 2150/08, Rn. 49, juris –         Gefahr bei anderen Altersgruppen nicht mehr bestehen
          Wunsiedel.                                                               kann. Gerade die Berücksichtigung neuester politischer
                                                                                   Einschätzungen zu antidemokratischen Tendenzen ist
     Denn von der öffentlichen Fürsorge in Form von poli-                          der Entwicklungsoffenheit des Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG, der
     tischen Bildungsangeboten geht kein Zwang aus, die                            auch neue Sachlagen umfassen muss, eingeschrieben.
     Werte des Grundgesetzes als eigene anzuerkennen. Dass
     der Bund aber grundsätzlich befugt ist, verfassungs-                          Mithin ergibt sich für Art. 74 Abs. 1 Nr. 7 GG eine drei-
     feindlichen Strömungen durch Aufklärungsarbeit zu                             stufige Prüfung:
     begegnen, bestätigte das Bundesverfassungsgericht
     schon an anderer Stelle, wenn auch, wie gesehen, ohne                         Zunächst einmal ist festzustellen, ob der fragliche
     anschlussfähige Ausführungen zur Bundeskompetenz:                             Regelungsgegenstand einem sehr weiten Begriff der

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