Die Behandlung nach Standard - a Einleitung - Claudia Holzner

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ÜBERSICHT

Claudia Holzner

Die Behandlung nach Standard

a) Einleitung                                      bedürfnisse definiert?4 Wie objektiviert             ärztlichen Handlung vorausgesetzt und
                                                   man einen Sorgfaltsmaßstab?5 Grund-                  erwartet werden können.8
Der Arzt schuldet dem Patienten sorg-              lage der Erarbeitung von Standards und               Die Standardfestlegung in der konkreten
fältiges (Be-)Handeln nach dem medi-               Leitlinien sind in der Regel wissen-                 Behandlungssituation ist die Frage:
zinischen Standard des jeweiligen Fach-            schaftliche Studien, die eine sehr unter-            Nach welchen Grundsätzen ist der Pati-
gebietes zum Zeitpunkt der Behandlung.             schiedliche Qualität haben können.6                  ent zu behandeln oder wäre er zu behan-
Die Berufshaftpflicht verlangt vom Frei-           Als Qualitätssicherungsmaßnahme wur-                 deln gewesen?9 Hierbei handelt es sich
berufler oder einer Person in vergleich-           den daher die Kriterien der Good Clini-              um eine medizinische Entscheidung, die
barer Position das Einstehenmüssen für             cal Practice und der evidenzbasierten                aber durch eine Vielzahl von rechtlichen
den Standard seines Berufskreises. „Hin-           Medizin entwickelt, allerdings überwie-              Spielregeln unterschiedlichsten Umfangs
ter dieser Haftungsform steht die Erwä-            gend für therapeutische, nicht für dia-              mitgeprägt wird.10
gung, dass jedermann, der einer Ausbil-            gnostische Fragestellungen.7 Noch in                 Bestimmt man den Standard in erster
dung und staatlichen Anerkennung zur               den 90er Jahren gab es heftige Wider-                Linie auf Grundlage der wissenschaft-
Ausübung seines Berufs bedarf, besonde-            stände dagegen, und zumindest verein-                lichen Erkenntnis, stellt sich die Folge­
ren Anforderungen zu genügen hat. Diese            zelt wurde der Meinung von Autoritäten               frage, wie diese wissenschaftliche
Anforderungen werden nicht nur vom                 der Vorzug gegeben (sog. „Eminenz-                   Erkenntnis im Einzelnen zu bestimmen
Staat oder der anerkennenden Behörde               basierte“ Medizin). Ebenso wenig wie                 sein kann.11 Für das, was wissenschaft-
an ihn gestellt, sondern sie spiegeln sich         diese ist die bloße Üblichkeit eines Han-            liche Erkenntnis sein soll, kommen ver-
auch im Vertrauen seiner Patienten, Kli-           delns ein Kriterium des ärztlichen Stan-             schiedenste    „Erkenntnisquellen“     in
enten oder sonstiger Rat- oder Hilfesu-            dards. Vor Erlass des Patientenrechtege-             Betracht: Lehrbücher, Fallberichte, Kon-
chender wider.”1                                   setzes hatte der BGH dargelegt, dass der             gressmitteilungen, Anwendungsbeobach-
Der Standard ist anhand eines „auf die             Arzt dem Patienten eine Behandlung nach              tungen, Outcome-Studien, administrative
allgemeinen Verkehrsbedürfnisse ausge-             dem jeweils zu fordernden medizinischen              Daten und natürlich Studien diversester
richteten objektiven Sorgfaltsmaßstabs“2           Standard schuldet. Dies verlangt, dass               Art und Qualität.12 Würde man alle
zu bestimmen, also anhand des „Verhal-             der Arzt grundsätzlich diejenigen Maß-               anführen, könnte die Standardfestlegung
tens eines gewissenhaften Arztes in dem            nahmen ergreifen muss, die von einem                 in eine gewisse Beliebigkeit ausarten, da
jeweiligen Fachgebiet.“3 Diese Formulie-           gewissenhaften und aufmerksamen Arzt                 jeder, der den Standard prägen möchte,
rung lässt viel Spielraum für Interpreta-          zu dem Zeitpunkt der Vornahme der
tionen: Wie sind allgemeine Verkehrs-

1 Deutsch, in: Heberer/Opderbecke/Spann (Hrsg.),   4 Schneider, Standardveränderung in den letzten
Ärztliches Handeln – Verrechtlichung eines         10 Jahren – aus Sicht des Mediziners am Beispiel
                                                   der Neurologie, in: Jorzig/Uphoff (Schriftleitung)   8 BGH, Urt v 16.5.2000 – VI ZR 321/98=BGHZ
Berufsstandes Festschrift für Walther Weißauer,                                                         144, 296, NJW 2000, 2737.
12–22 (12); Zu dem Topos ärztliche „Berufshaf-     Standard-Chaos? Der Sachverständige im Dickicht
tung” vgl. die Ausführungen von Katzenmeier,       zwischen Jurisprudenz und Medizin, S. 11 f. (12).    9 Ebenda.
§ 2.I.4, S. 89.                                    5 Ebenda.                                            10 Ebenda.
2 BGH, Urt v 10.3.1992 – VI ZR 64/91 = ArztR       6 Ebenda. Zur Zeitbezogenheit des Standards vgl.     11 Ebenda S. 1 f. (6).
1992, 368 ff.; BGH, NJW 1992, 1560 (1561); vgl.    Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 360.            12 Vgl. Raspe, GesR 2011, 449 (450); zitiert
BGH, Urt v 8.1.1991 – VI ZR 102/90 = NJW 1991,     7 Schneider, Standardveränderung in den letzten      nach Buchner, Die Darstellung des Standards aus
1541, MDR 1991, 730, VersR 1991, 467 (469).        10 Jahren – aus Sicht des Mediziners am Beispiel     rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Jorzig/Uphoff
3 Zitiert nach Gaidzik, 2011, Rechtsgrundlagen     der Neurologie, in: Jorzig/Uphoff (Schriftleitung)   (Schriftleitung) Standard-Chaos? Der Sachver-
der Begutachtung in: Widder/Gaidzik, Begutach-     Standard-Chaos? Der Sachverständige im Dickicht      ständige im Dickicht zwischen Jurisprudenz und
tung in der Neurologie, 13 f. (30).                zwischen Jurisprudenz und Medizin, S. 11 f. (12).    Medizin, S. 1 f. (6).

RPG | Band 26 | Heft 4 | 2020              www.grpg.de                                                                                                 95
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die für ihn genehme wissenschaftliche                 Daraus folgt, dass die Ärzteschaft den               durch die „Bewegung“21 der EbM, die
Erkenntnis heranziehen könnte.13                      medizinischen Standard durch ihr beruf-              aus dem anglo-amerikanischen Bereich
                                                      liches Tun selbst festlegt, nicht der                stammt, neu thematisiert und wesentlich
b) Begriffsbestimmung                                 Gesetzgeber durch Gesetzgebungsakte                  beeinflusst. 22 Auch nach der Rechtspre-
                                                      und ebenso nicht die Gerichte durch haf-             chung des BVerwG23 war und ist zur wis-
Pflicht des Arztes ist es, „den Patienten             tungsrechtliche Anforderungen. Letztere              senschaftlichen Anerkennung des Stan-
nach den Regeln der Medizin gewissen-                 haben vielmehr mit medizinsachverstän-               dards bei jeder Therapie allerdings ein
haft zu behandeln und zu versorgen”.14                diger Hilfe darauf abzustellen, wie sich             nachprüfbarer Beleg bezüglich deren
Ähnlich formuliert es auch das Patienten-             ein gewissenhafter Arzt in der gegebenen             Wirksamkeit zu verlangen.
rechtegesetz in § 630a Abs. 2 BGB: „Die               Lage verhalten hätte, was einhellig kon-             „Standard“ bedeutet allerdings – auch
Behandlung hat nach den zum Zeitpunkt                 form geht mit den Anforderungen der                  nach dem Maßstab der EbM – keines-
der Behandlung bestehenden anerkannten                deutschen Rechtsprechung, die bereits                wegs, dass eine erfolgversprechende
fachlichen Standards zu erfolgen.“ Wäh-               in 1987 höchstrichterlich befand, dass               Behandlungsmethode stets zur Verfügung
rend früher regelmäßig der „Stand der                 Gerichte einen medizinischen Schulen-                steht, ebenso kann eine fehlende Behand-
Wissenschaft und Technik” als sorgfalts-              streit nicht zu entscheiden hätten.18                lungsoption standardgemäß sein.24 Dem-
begründendes Merkmal im Vordergrund                   Erst das Zusammenspiel von wissen-                   zufolge gibt es immer noch vielzählige
stand, hat sich der Terminus „Standard”               schaftlicher Erkenntnis, ärztlicher Erfah-           Behandlungsbereiche, wie wir auch in der
im heutigen Sprachgebrauch durchge-                   rung und der professionellen Akzeptanz               derzeitigen Lage in Anbetracht der Pan-
setzt.15 Andere Gesetze – bspw. § 5 Abs.              führt zum Standard,19 der dem einzelnen              demie ausgelöst durch einen Coronavirus
1 GenDG16 – verwenden allerdings den                  Berufsangehörigen eine Orientierungs-                erfahren, in denen sich noch kein Stan-
Begriff „Stand der Wissenschaft und                   hilfe geben soll. Bisher ist das Rangver-            dard, entwickelt hat.25 In diesen Fällen hat
Technik” noch (oder wieder).                          hältnis der drei verschiedenen Elemente              der Patient nach der Rechtsprechung des
Laut der Literatur und des BGH reprä-                 des Standardbegriffs zueinander unklar.              BGH zum zu beachtenden Standard bei
sentiert der „Standard in der Medizin den             Klar ist hingegen, dass eine Nichteinhal-            Außenseitermethoden, die analog heran-
jeweiligen Stand der naturwissenschaft-               tung im Schadensfall Verantwortlichkeit              gezogen werden können, einen Anspruch
lichen Erkenntnisse und der ärztlichen                begründet. Heutzutage richtet sich die               auf eine Behandlung nach dem Maßstab
Erfahrung, der zur Erreichung des ärzt-               medizinische Standardbildung in erster               eines vorsichtigen Arztes.26 Dem Arzt
lichen Behandlungsziels erforderlich ist              Linie nach den methodischen Grundsätzen              wird dann ein besonders sorgfältiger Ver-
und sich in der Erprobung bewährt hat.“17             der Evidenzbasierten Medizin (Evidence-              gleich zwischen den zu erwartenden Vor-
Prinzipiell sind medizinische Standards               Based-Medicine, EbM),20 denn die Bezie-
die selbstgesetzten Normen guter ärzt-                hung von wissenschaftlicher Erkenntnis,              21 Weltweit: The Cochrane Collaboration mit
licher Behandlung des Berufsstandes.                  ärztlicher Erfahrung und der professio-              ihren nationalen Cochrane Centers. In Deutschland
                                                                                                           existiert das Cochrane Zentrum in Freiburg i. Br.
13 Siehe – für das Beispiel der Hormontherapie –
                                                      nellen Akzeptanz wurde in der Medizin                seit 1997; Vgl. insg. www.cochrane.de/de/ebm, Zu-
Buchner/Schmacke, GesR 2010, 169; zitiert nach                                                             griff am 7.4. 2020; grundlegend Sackett et al., BMJ
Buchner, Die Darstellung des Standards aus            18 BGH, Urt v 22.12.1987 – VI ZR 32/87=MedR          1996, 71; Kunz/Ollenschläger/Raspe, Lehrbuch
rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Jorzig/Uphoff     1988, 147–149; NJW 1988, 1514–1516; VersR 1988,      Evidenzbasierte Medizin in Klinik und Praxis.
(Schriftleitung) Standard-Chaos? Der Sachver-         493–495: Gelenkversteifungsoperation am rechten      22 Antes, Evidence-Based Medicine, Internist
ständige im Dickicht zwischen Jurisprudenz und        Fuß mit Implantation eines Kieler Knochenspans.      1998, 39: 899–908 mit umfangreichen Literatur-
Medizin, Schriftenreihe Medizinrecht, S. 1 f. (6).    Kompressionsgebende Zugschrauben wurden nicht        hinweisen; grundlegend Sackett/Richardson/Ro-
                                                      verwendet. Folge: Schmerzen und Funktionsstö-        senberg/Haynes, Evidenzbasierte Medizin, 1999;
14 OLG Düsseldorf, AHRS 6325/5.                       rungen im Fuß. Aufhebung des klageabweisenden        Perleth/Antes, Evidenz-basierte Medizin, 1998;
15 Deutsch, NJW 1987, 1480 f.; zu BGH,                zweitinstanzlichen Urteils und Zurückverweisen       siehe auch das Schwerpunktheft Evidenz-basierte
NJW 1987, 1479.                                       der Sache. Nichtverwenden der Zugschrauben ist       Medizin der ZaeFQ 1999; 93: Heft 6 (August).
16 Zur Problematik dieses Begriffs vgl. Reuter, in:   vermutlich kein Behandlungsfehler, jedenfalls kein
                                                      schwerer. Über diese Frage gibt es einen medizi-     23 BVerwG, Urt v 30.4.2009 – 3 C 4/08=NJW
Kern (Hrsg.), GenDG, 2012, § 5 Rn. 20.                                                                     2009, 3593–3596; SGb 2009, 727–731; DÖV 2009,
                                                      nischen Schulenstreit.
17 BGH, Beschl v 22.12.2015 – VI ZR 67/15=                                                                 725; DVBl 2009, 987
NJW 2016, 713, MedR 2016, 794 m Anm Prütting;         19 Hart, MedR 1998, 8,9 f.; Kunz-Schmidt, NJ
                                                      2010, 177, 178.                                      24 Kern, in: Ratzel/Lissel, Handbuch des Medi-
Carstensen, DÄBl 1989, A 2431, 2432; Buchborn,                                                             zinschadensrechts, S. 32 Rn. 5.
MedR 1993, 328 ff.; Deutsch, JZ 1997, 1030, 1033;     20 vgl. zu allem Kunz/Ollenschläger/Raspe,
Kern, in: Jorzig, Arzthaftungsrecht, Rn. 22; Zur      Lehrbuch Evidenzbasierte Medizin in Klinik           25 Ebenda; Beispiel: Seuchenbekämpfung der
Zeitbezogenheit des Standards Deutsch/Spickhoff,      und Praxis; Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/        Pandemeie aufgrund der derzeitigen Corona-Viren.
Medizinrecht, Rn. 360 ff.; vgl. weitergehend Buch-    Kingreen/Lungstras/Saeger/Schmitz-Luhn/Woo-          26 KG Berlin, Urt v 24.10.2011 – 20 U 67/09;
ner, in: Lilie/Bernat/Rosenau (Hrsg), Standardisie-   pen, Medizin und Standard – Verwerfungen und         BGH, Urt v 22.5.2007 – VI ZR 35/06, NJW 2007,
rung in der Medizin als Rechtsproblem, 63, 73.        Perspektiven, MedR 2018, 447–457 (447).              2774, 2775.

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ÜBERSICHT

und Nachteilen im jeweiligen Einzelfall         bestehenden medizinischen Standard                     2002 das OLG Karlsruhe entschied,
und unter Berücksichtigung des Wohles           zuwiderläuft.31                                        eine kontraindizierte Behandlung dürfe
seines Patienten abverlangt.27                  § 630 a BGB konkretisiert die Verant-                  auch nicht auf nachhaltigen Wunsch des
                                                wortlichkeit des Arztes nach § 276 Abs.                Patienten durchgeführt werden.38 Des-
a. Facharztstandard                             2 BGB und die haftungsrelevanten Stan-                 halb träfe den Patienten bei einer solchen
Der Begriff „Facharztstandard“ ent-             dards stellen daher die erforderliche                  Vorgehensweise für den eingetretenen
stammt zivilrechtlichem Kontext, durch          Sorgfalt im Rahmen des § 276 Abs. 1                    Gesundheitsschaden noch nicht einmal
das Patientenrechtegesetz konkret dem           BGB dar.32 Dort wird normiert, dass fahr-              ein Mitverschulden.39 In 2016 bekräftigte
Recht des Behandlungsvertrages. Auch            lässig handelt, wer die im Verkehr erfor-              das OLG Hamm diese Rechtsauffassung40
vor dessen Inkrafttreten musste nach stän-      derliche Sorgfalt außer Acht lässt33 Der               und wiederholte: Auch auf ausdrücklich
diger, höchstrichterlicher Rechtsprechung       Arzt, der den geforderten Standard objek-              geäußerten Patientenwunsch hin dürfe
jede ärztliche Behandlungsmaßnahme              tiv unterschreitet, indiziert damit regel-             der medizinische Standard unter keinen
bereits dem Facharztstandard entspre-           mäßig die Verletzung der geforderten                   Umständen unterschritten werden.
chen: „Immer muss nämlich der Standard          Sorgfalt.34 Denn im Streitfall würde nicht             Das OLG Hamm urteilte in 2004 zur
eines erfahrenen [Facharztes] gewährleis­       der berufsrechtliche Status „Facharzt“                 Einhaltung des Facharztstandards, dass
tet sein.“28 Der BGH traf hierzu – wie-         überprüft, sondern begutachtet werden,                 ein Eingriff, dessen Erfolgschance im
derholt – die Kernaussage: „Der Stan-           ob vorliegend der medizinische Sorgfalts-              unteren einstelligen Prozentbereich lie-
dard repräsentiert den jeweiligen Stand         maßstab eingehalten wurde, bei dessen                  gen würde, dann nicht indiziert sei, wenn
der naturwissenschaftlichen Erkennt-            Unterschreitung liegt ein Behandlungs-                 die diagnostischen Möglichkeiten und
nisse und der ärztlichen Erfahrung, der         fehler vor.35 „Maßgebend ist der Standard              die konservativen Behandlungsmöglich-
zur Erreichung des ärztlichen Behand-           eines erfahrenen Facharztes, also das zum              keiten nicht ausgeschöpft sind.41 Eben-
lungsziels erforderlich ist und sich in der     Behandlungszeitpunkt in der ärztlichen                 falls in 2004 entschied das OLG Hamm,
Erprobung bewährt hat (…).“29 Mit dem           Praxis und Erfahrung bewährte, nach                    falls eine Therapie mit gefährlichen
Patientenrechtegesetz und dessen gesetz-        naturwissenschaftlichen Erkenntnissen                  Nebenwirkungen42 verbunden sei, es im
licher Normierung des bereits gängigen          gesicherte, von einem durchschnittlichen               Einzelfall erforderlich sei, diese zu unter-
Richterrechtes wurde der § 630a Abs. 2          Facharzt verlangte Maß an Kenntnis                     lassen, wenn deren Einsatz nicht zwin-
BGB (vertragstypische Pflichten beim            und Können.“36 Beim Sorgfaltsmaßstab                   gend fachärztlich geboten erscheint.43
Behandlungsvertrag) aufgenommen.                des Arztes sind nicht nur die im jewei-                Zugrunde gelegt wird zur Beurteilung der
Der fachliche Standard ist zunächst ein-        ligen Fachgebiet geltenden Maßstäbe zu                 ärztlichen Sorgfalt demnach eine objek-
mal relevant für die Vertragserfüllung,         berücksichtigen, sondern auch allgemeine               tive Betrachtung des Einzelfalls und
sekundär für die Frage einer möglichen          medizinische Grundkenntnisse.37 Zu dif-                diese ex ante: Es kommt darauf an, was
Arzthaftung. Nach der Rechtsprechung            ferenzieren ist je nach Fachrichtung und               von einem gewissenhaften und sorgfäl-
des BGH30 ist das Absehen von einer             Versorgungsstufe.                                      tigen Arzt der betroffenen Fachrichtung
ärztlichen Maßnahme nicht erst dann             Im Hinblick auf das Arzt-Patienten-Ver-                nach den von ihm objektiv zu erwartenden
behandlungsfehlerhaft, wenn die Maß-            hältnis ist festzuhalten, dass bereits in              medizinischen Kenntnissen und Fähig-
nahme „zwingend“ geboten gewesen ist,                                                                  keiten zu verlangen war. Individuelle
sondern bereits dann, wenn ihr Unterblei-       31 Ebenda.
                                                32 Groß, VersR 1996, 657, 663; fast wortgleich:        38 OLG Karlsruhe, Urt v 11.9.2002 – 7 U
ben dem im Zeitpunkt der Behandlung             Hart, MedR 1998, 8, 9; Deutsch, VersR 1997,            102/01=MedR 2003, 104–107; VersR 2004,
                                                1030, 1033; ausführlich Velten, Der medizinische       244–245; ArztR 2003, 253.
                                                Standard im Arzthaftungsprozess, 2001.                 39 OLG Düsseldorf, Urt v 16.11.2000 – 8 U
                                                33 BGH, Urt v 16.3.1999 – VI ZR 34/98= NJW             101/99=VersR 2002, 611–613.
27 Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/   1999, 1778, MedR 1999, 418.                            40 OLG Hamm, Urt v 26.4.2016 – 26 U
Lungstras/Saeger/Schmitz–Luhn/Woopen, Medizin   34 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 339.           116/14=MedR 2017, 310.
und Standard – Verwerfungen und Perspektiven,   35 Kern, in: Ratzel/Lissel, Handbuch des Medi-         41 OLG Hamm, Urt v 7.7.2004 – 3 U 264/03=
MedR 2018, 447–457 (447).                       zinschadensrechts, S. 32 Rn. 5.                        VersR 2005, 942.
28 BGH, Urt v 10.3.1992 – VI ZR 64/91=ArztR     36 BGH, Urt v 19.4.2000 – 3 StR 442/99=NJW             42 Beispielsweise wie hier die Säuberung von
1992, 368 ff.; BGH, NJW 1992, 1560 (1561).      2000, 2754, 2758.                                      Wunden mit Wasserstoffperoxid.
29 BGH, Beschl v 22.12.2015 – VI ZR 67/15=      37 Vgl. BGHZ 140, 309, 317: auch betreffend            43 OLG Hamm, Urt v 28.10.2002 – 3 U
NJW 2016, 713, MedR 2016, 794 m Anm Prütting.   physikalischer Grundkenntnisse eines Behandlers;       200/01=VersR 2004, 200–202; ArztR 2003,
30 Ebenda.                                      Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, B. I. 1., Rn. 2.   307–308.

RPG | Band 26 | Heft 4 | 2020            www.grpg.de                                                                                                  97
ÜBERSICHT

Minderkenntnisse bleiben unberück-               Der Arzt kann seine Pflichten nur erfül-         lich.52 Dies gilt ebenso für Methoden
sichtigt, Spezialkenntnisse des Arztes           len, wenn er die in seinem Fach jeweils          der Früherkennung, die früher entweder
wirken standarderhöhend. Der Arzt hat            maßgebenden Standards kennt und                  unbekannt waren oder wesentlich seltener
ungewöhnliche, den Standard überschrei-          beherrscht. Daraus folgt eine fortwäh-           durchgeführt wurden.53 Grundsätzlich
tende Fähigkeiten, über die er nachweis-         rende Rechtspflicht zur beruflichen Fort-        schuldet der Arzt keine neuen diagnos-
lich verfügt, gleichwohl zur Behandlung          bildung, deren Gewicht im Zeichen der            tischen oder therapeutischen Methoden,
einsetzen.44                                     raschen medizinischen und technischen            die den noch geltenden Standard übertref-
Für ein dem Standard zuwiderlaufendes            Fortschritte weiter wächst.48 Vom Arzt           fen. 54 Allerdings führt die ständig fort-
Vorgehen ist der Arzt insofern haftungs-         kann nur das Wissen und die Fähigkeit            schreitende Entwicklung von Standards
rechtlich auch dann verantwortlich, wenn         verlangt werden, welche zum Zeitpunkt            auch dazu, dass die ärztliche Therapiefrei-
dieses aus seiner persönlichen Lage              der Behandlung vom Erkenntnisstand               heit immer weiter in den Hintergrund
heraus subjektiv als entschuldbar erschei-       der medizinischen Wissenschaft umfasst           gedrängt wird, obgleich der Arzt sel-
nen mag.45 Auf sein subjektives Empfin-          sind. Fehlerhaft ist somit nur eine Ver-         ber diesbezüglich nicht von seiner Sorg-
den kommt es bei der objektiven Beurtei-         haltensweise, die zum Zeitpunkt der              faltspflicht in der sachgerechten The-
lung nicht an.                                   Behandlung in erkennbarer Weise nicht            rapiewahl entbunden wird.55 Darüber
                                                 dem medizinischen Standard entsprach.49          hinaus ist eine Medizin ohne Fortschritt
b. Dynamischer Standard                          Obwohl die Gerichte im Streitfall das            als Rückschritt zu betrachten, insbeson-
Der Standard enthält ein starkes dyna-           Geschehen ex post betrachten, kommt              dere allein vor dem Hintergrund, dass
misches Moment. Bezeichnet der Stand             es für die Beurteilung der Fehlerhaftig-         sich bspw. auch Bakterien an Antibiotika
von Wissenschaft etwas Gegebenes und             keit allein auf die Sicht ex ante an. Die        ständig anpassen, bis die Mittel ihre Wir-
Erreichtes, so deutet Standard auf das,          Frage an den Gutachter lautet daher, ob          kung verlieren.56 Somit hat der BGH bei
was der Gesetzgeber mit der erforder-            ein bestimmtes Geschehen zum Zeit-               der Wahl neuer Behandlungen hier auch
lichen Sorgfalt gebieten wollte, näm-            punkt des schädigenden Ereignisses ein           einen neuen Sorgfaltsmaßstab eingeführt,
lich auf eine normativ auferlegte fort-          Behandlungsfehler war. Nachträgliche             den des „vorsichtigen Arztes“. Für neue
währende Anpassung an Umstände und               Erkenntnisse können sich allein zum Vor-         Methoden gilt: Besonders umfassend auf-
Gefahren.46 Demzufolge ist der Standard          teil des Arztes auswirken, wenn sie den          klären, besonders vorsichtig behandeln,
nicht statisch festgelegt, sondern verän-        von ihm eingeschlagenen Weg rechtfer-            besonders detailliert dokumentieren.
dert sich mit den Fortschritten der Medi-        tigen.50„Die Frage, ob das Vorgehen der          Diese neuen Methoden hat der Arzt
zin, so dass die Außenseitermethode von          im Jahr 1958 behandelnden Ärzte als              durchaus in die Behandlung einzufüh-
gestern der Standard von heute ist und           schuldhafter Behandlungsfehler zu quali-         ren oder dem Patienten zugänglich zu
dabei eventuell der Behandlungsfehler            fizieren ist, kann nur nach dem damaligen        machen, sollte nach der Art der Erkran-
von morgen.47                                    Erkenntnisstand der ärztlichen Heilkunst         kung möglich und notwendig erscheinen.
Der Begriff ist grundsätzlich verallgemei-       und den damals zur Verfügung stehen-             Exemplarisch für diese Rechtsauffassung
nernden Aussagen nur schwer zugänglich.          den Untersuchungsmethoden beurteilt              ist auch ein Urteil des OLG Hamm aus
Weder im Vertrags- noch im Deliktsrecht          werden”, entschied 1987 das OLG Karls­           2016, welches sich mit dem Standard bei
ist die Fülle der professionellen Anforde-       ruhe.51 Der Umstand, dass eine bestimmte         einer psychotherapeutischen Behandlung,
rungen im Einzelnen festgelegt.                  Operationstechnik in späteren Jahren             dem Gebot der Aufklärung über alterna-
                                                 Facharztstandard wurde, ist für die Beur-        tive Therapien und mit der (alleinigen)
                                                 teilung von früheren Fällen unbeacht-
44 BGH, Urt v 10.2.1987 – VI ZR 68/86=NJW
1987, 1479.
45 Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/                                                     52 OLG München, Urt v 2.2.2012 – 1 U 5333/10.
Lungstras/Saeger/Schmitz–Luhn/Woopen Medizin     48 BGH, Urt v 29.1.1991 – VI ZR 206/90=BGHZ
und Standard – Verwerfungen und Perspektiven,    113, 297 = NJW 1991, 1535 = MedR 1991, 195       53 OLG Hamm, MedR 2006, 112.
MedR 2018, 447–457 (450).                        (Heilpraktiker); auch OLG München, VersR 2000,   54 Kern, in: Ratzel/Lissel, Handbuch des Medizin-
                                                 890.                                             schadensrechts, S. 32 Rn. 5.
46 Kern, in: Ratzel/Lissel, Handbuch des Medi-
zinschadensrechts, S. 32 Rn. 5.                  49 OLG Hamm, MedR 2006, 112.                     55 Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, HdB.
47 Schroeder-Printzen, Anm z Urt d BSG v         50 Geiß/Greiner, Arzthaftpflichtrecht, B 9;      Arzt, § 96 Rn. 47
5.7.1995 (Az.: 1 RK 6/95, MedR 1996, 373),       Wagner, in: MüKoGB, § 630a, Rn 143.              56 Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, HdB.
MedR 1996, 379.                                  51 OLG Karlsruhe, VersR 1989, 808.               Arzt, § 96 Rn. 51

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ÜBERSICHT

diesbezüglichen Entscheidungshoheit des             Klinikum besitzt. Dies gelte selbst für          In 2015 urteilte das OLG Hamm,66 dass
Behandlers befasst.57                               Universitätsklinika.63 Ebenfalls aus dieser      es keinen medizinischen Standard geben
Auf den Zeitpunkt der Behandlung ist                Zeit stammt die Entscheidung des ArbG            würde, der jegliche Art von Infektionen
bei der Standardbestimmung somit dann               Gelsenkirchen, dass die ärztliche Therapie­      ausschließe. Ein solcher Standard sei
ausnahmsweise nicht abzustellen, wenn               wahl zwar nicht von haushaltsrechtlichen         allenfalls theoretisch vorstellbar, im Kli-
die ärztliche Maßnahme im Nachhinein                Erwägungen abhängig gemacht werden               nikalltag aber praktisch nicht zu errei-
(etwa aufgrund neuerer Forschungser-                dürfe, 64 solange aber dem Patienten im          chen. Haftungsrechtlich ist der Arzt nicht
gebnisse) eben doch als vertretbar ein-             Krankenhaus eine Behandlung geboten              auf sein Fachgebiet festgelegt. Er muss
zustufen ist,58 dies ist ein Einzelfall, bei        würde, die dem jeweils zu fordernden             aber, sollte er sich auf ein anderes als sein
dem es dann auf den späteren Standard               medizinischen Standard genügt, sei er            eigenes Fachgebiet begeben, dessen Stan-
ankommt.59                                          ärztlicherseits nicht darüber aufzuklä-          dard ebenfalls garantieren können.67
                                                    ren, dass dieselbe Behandlung andern-
c. Gruppenstandard                                  orts mit besseren personellen und appa-          c) Entscheidungshilfen
Zwar muss die Therapie dem medi-                    rativen Mitteln und deshalb mit einem            für Arzt und Patient
zinischen Standard entsprechen, aber                etwas geringeren Komplikationsrisiko
geschuldet wird nicht stets das jeweils             möglich ist.                                     Sozialrechtliche Richtlinien müssen wei-
neueste Therapiekonzept mittels einer auf           Generell ist daher nicht auf den optima-         testgehend, medizinische Leitlinien sol-
den jeweils neuesten Stand gebrachten               len, sondern auf den unter den konkreten         len, Empfehlungen und begründete Stel-
apparativen Ausstattung.60 1987 wurde               Gegebenheiten zu erwartenden Standard            lungnahmen können befolgt werden.68
seitens des BGH entschieden, dass nicht             abzustellen. In Grenzen ist der zu for-
in jeder Klinik das neueste Therapiekon-            dernde medizinische Standard je nach             a. Richtlinien
zept verfolgt und auch nicht stets eine auf         den personellen und sachlichen Mög-              Richtlinien der Bundesausschüsse für
den neuesten Stand gebrachte apparative             lichkeiten verschieden. Er kann bspw. in         Ärzte bzw. Zahnärzte und Krankenkas-
Ausstattung vorgehalten werden muss.61              einem mittleren oder kleineren Kranken-          sen, vgl. §§ 91 ff SGB V, insbesondere
Für eine Übergangszeit darf nach älteren,           haus der Allgemeinversorgung gewahrt             solche des GKV-Rechts, sind Regelungen
bewährten Methoden behandelt werden.62              sein, wenn jedenfalls die Grundausstat-          des Handelns oder Unterlassens, die von
Diese Ansicht geht konform mit der Ent-             tung modernen medizinischen Anfor-               einer gesetzlich, berufsrechtlich, stan-
scheidung des OLG Köln aus dem darauf-              derungen entspricht, auch wenn in einer          desrechtlich oder satzungsrechtlich legi-
folgenden Jahr 1988, die besagt, dass ein           Universitätsklinik oder einer personell          timierten Institution konsensiert, schrift-
Patient keinen Anspruch auf die denkbar             und apparativ besonders gut ausgestat-           lich fixiert und veröffentlicht werden, für
beste apparative Ausstattung in einem               teten Spezialklinik überlegenere Mög-            den Rechtsraum dieser Institution ver-
                                                    lichkeiten bestehen. 65                          bindlich sind und deren Nichtbeachtung
57 OLG Hamm, Urt v 11.11.2016 – I–26 U              Diagnose- und Behandlungsmöglich-                definierte Sanktionen nach sich ziehen
16/16=MedR 2017, 814.                               keiten, die erst in wenigen Spezialkli-
58 Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, HdB.
Arzt, § 96 Rn. 51; Deutsch/Spickhoff, Medizin-      niken erprobt und durchgeführt werden,
recht, Rn. 372 f.                                   sind für den allgemeinen Qualitätsstan-
59 Frahm/Walter, Arzthaftungsrecht, Rn. 80.         dard nur insoweit zu berücksichtigen,
60 Kern, in: Ratzel/Lissel, Handbuch des Medizin-
schadensrechts, S. 32 Rn. 5.                        als es um die Frage geht, ob der Patient
61 BGH, Urt v 22.9.1987 – VI ZR 238/86= BGHZ        wegen eines speziellen Leidens in die
102, 17–27; MedR 1988, 91–94; NJW 1988, 763–765;                                                     66 OLG Hamm, Urt v 14.4.2015 – 26 U
                                                    Spezialklinik hätte überwiesen werden            125/13=RDG 2015, 184; BeckRS 2015, 8958.
VersR 1988, 179–181; vgl. auch BGH, MedR 1984,
230; In einer Landesfrauenklinik wurde 1980 eine    müssen.                                          67 Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/
Sterilisation mit monopolarem Hochfrequenzstrom                                                      Lungstras/Saeger/Schmitz–Luhn/Woopen Medizin
durchgeführt. Die Patientin wurde nicht auf die                                                     und Standard – Verwerfungen und Perspektiven,
Möglichkeit der Verwendung bipolaren Hoch-                                                           MedR 2018, 447–457 (447).
frequenzstromes hingewiesen. Resultat war hier                                                       68 Ollenschläger/Thomeczek, Ärztliche Leitlinien
allerdings die Klageabweisung.                      63 OLG Köln, Urt v 19.8.1998 – 5 U
                                                    103/97=ArztR 2001, 24–25; VersR 1999, 847–848.   – Definitionen, Ziele, Implementierung, in: BÄK,
62 BGH, Urt v 22.9.1987 – VI ZR 238/86=BGHZ                                                          KBV, AWMF (Hrsg.), Curriculum Qualitätssiche-
102, 17–27; MedR 1988, 91–94; NJW 1988,             64 ArbG Gelsenkirchen, Beschl v 20.12.1996 –     rung, Teil 1: Ärztliches Qualitätsmanagement,
763–765; VersR 1988, 179–181; vgl. auch BGH,        1 GA 45/96=MedR 1997, 224.                       Texte und Materialien der BÄK zur Fortbildung
MedR 1984, 230.                                     65 BGH, MDR 1994, 891.                           und Weiterbildung, Bd. 10, 1996, Seite 177ff.

RPG | Band 26 | Heft 4 | 2020               www.grpg.de                                                                                          99
ÜBERSICHT

kann.69 Sie werden öffentlich-rechtlich               aber mehr verlangen als die Richtlinien            b. Empfehlungen
begründet und angeordnet,70 vermö-                    festlegen.75                                       Empfehlungen lenken die Aufmerksam-
gen den Arzt aber nicht von sonstigen                 Im Einzelfall können Richtlinien wie die           keit der Ärzteschaft und der Öffentlich-
zwingenden Rechtsvorschriften zu ent-                 Mutterschaftsrichtlinien auch den ärzt-            keit auf bestimmte Themen oder Sachver-
binden.71 Richtlinien finden sich ganz                lichen Standard wiedergeben und dürfen             halte, indem umfassende Informationen
wesentlich im Sozialrecht, insbeson-                  nicht unterschritten, müssen aber ohne             und Anregungen, Ratschläge oder Hin-
dere im Vertragsarzt- und Vertragszahn-               Anlass auch nicht überschritten werden.76          weise sowie konsentierte Lösungsstra-
arztrecht dort erlangen sie sozialrecht-              So ist ein niedergelassener Gynäkologe             tegien zu ausgewählten Fragestellungen
liche Verbindlichkeit,72 ebenso finden                im Rahmen der Schwangerschaftsbetreu-              vermittelt werden. Hierzu zählen trotz
sie sich aber auch im Berufsrecht.73 Die              ung nur zur Vornahme der in den Schwan-            der anderslautenden Betitelung auch die
sozialrechtlichen Richtlinien beinhal-                gerschaftsrichtlinien vorgesehenen Maß-            Richtlinien der Bundesärztekammer und
ten regelmäßig auch Wirtschaftlichkeits-              nahmen verpflichtet, wenn er nicht über            der Deutschen Krankenhausgesellschaft,
überlegungen. Im Sozialrecht legen die                höherwertige Qualifikationen wie z. B.             diese sind ebenfalls lediglich als Empfeh-
Richtlinien des GBA einen medizinisch                 DEGUM II verfügt.77                                lung zu bewerten.
einzuhaltenden Mindeststandard fest, die              Verstößt der Arzt im Einzelfall gegen
haftungsrechtliche Geltung dieser Richt-              diese oder eine andere Richtlinie der              c. Stellungnahmen
linien ist umstritten.74 Richt­linien legen           Bundesausschüsse der Ärzte bzw. der               Stellungnahmen sind Ausführungen, in
den Standard insoweit fest, als eine Unter-           Zahnärzte und liegt hierfür keine beson-          denen ein Standpunkt zu einem ausge-
schreitung jedenfalls im sozialrechtlichen            dere vom Arzt darzulegende medizi-                 wählten Thema oder zu einer Frage ver-
Sinn unzulässig ist; der Standard kann                nische Rechtfertigung vor, wird von der            mittelt wird. Dieser wird insbesondere
                                                      überwiegenden Ansicht ein haftungs-                mit Blick auf die Ärzteschaft sowie die
                                                      rechtlich relevanter Verstoß gegen den             Öffentlichkeit nachvollziehbar, überzeu-
                                                      medizinischen Standard bejaht,78 denn              gend und plausibel begründet.
69 Bloch/Lauterbach/Oesingmann/Rienhoff/              die Einhaltung des Standes der Erkennt-
Schirmer/Schwartz, Beurteilungskriterien für Leit-    nisse der medizinischen Wissenschaft               d. Leitlinien
linien in der medizinischen Versorgung, Beschlüsse
der Vorstände von Bundesärztekammer und Kassen­       wird (widerlegbar) vermutet, wenn die              Medizinische Leitlinien, die lange Zeit
ärztlicher Bundesvereinigung v. Juni 1997, DÄBl.
                                                      jeweilige Richtlinie beachtet worden ist.          in keinem Gesetz oder einer Verordnung
1997; 94: A-2154-5, abrufbar unter https://www.
aerzteblatt.de/archiv/7397/Bekanntmachungen-          Ausnahme hiervon sind die Richtlinien              enthalten waren, haben durch die GKV-
Beurteilungskriterien-fuer-Leitlinien-in-der-
medizinischen-Versorgung-Beschluesse-der-
                                                      der Bundesärztekammer und der Deut-                Gesundheitsreform, die zum 1.1.2000 in
Vorstaende-von-Bundesaerztekammer-und-                schen Krankenhausgesellschaft, diese               Kraft trat gem. § 137e SGB V eine Legal-
Kassenaerztlicher-Bundesvereinigung-Juni-1997,
zuletzt abgerufen am 7.4.2020; Bergmann, GesR         sind nur als Empfehlungen – siehe nach-            funktion und eine Verankerung im Sozial-
2006, 337.                                            folgend – zu bewerten.                             gesetzbuch erhalten. Gem. § 137e SGB V
70 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 215.
                                                                                                         muss ein Koordinierungsausschuss gebil-
71 Vgl. Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn,         75 Müller, VPräsBGH, GesR 2004, 257, 260;
HdB.Arzt., § 5 Die Rechtsquellen, Rn. 24.             Geiß/Greiner, Rn. B 9 a.                           det werden, dem neben Vertretern der
72 Bergmann, GesR 2006, 337, 338; Frahm, GesR         76 KG, Urt v 2.10.2003 – 20 U 402/01=NJW           Krankenkassen, der Deutschen Kran-
2005, 529, 531; Müller, VPräsBGH, GesR 2004,        2004, 691; Butzer/Kaltenborn, MedR 2001, 335;
257, 260; Jorzig/Feifel, GesR 2004, 310, 311; Geiß/   a.A. Schmidt-Recla, GesR 2003, 138, 139: hätten
                                                                                                         kenhausgesellschaft auch Repräsentanten
Greiner, Rn. B 9 a.                                   nur sozialversicherungsrechtliche Wirkung.         der Bundesärztekammer, der Kassenärzt-
73 Bloch/Lauterbach/Oesingmann/Rienhoff/              77 OLG Hamm, Urt v 28.4.2010 – 1-3 U               lichen und Kassenzahnärztlichen Bun-
Schirmer/Schwartz, Beurteilungskriterien für          84/09=MedR 2010, 714; DEGUM II Zertifizierung:
Leitlinien in der medizinischen Versorgung,           Die weiterführende sonographische Diagnostik       desvereinigung angehören. Diesem ist
Beschlüsse der Vorstände von Bundesärztekammer        gemäß der DEGUM-Stufe II dient schwerpunkt­
                                                                                                         aufgetragen worden, zusammen mit den
und Kassenärztlicher Bundesvereinigung v. Juni        mäßig der Erkennung fetaler Entwicklungs­
1997, DÄBl. 1997; 94: A-2154-5, abrufbar unter        störungen in speziellen Risikokollektiven.         Bundesausschüssen und im Zusammen-
https://www.aerzteblatt.de/archiv/7397/Bekannt­       78 Müller, VPräsBGH, GesR 2004, 257, 260; auch
machungen-Beurteilungskriterien-fuer-
                                                                                                         spiel mit den Fachgesellschaften Kriterien
                                                      BGH, Beschl v 28.3.2008 – VI ZR 57/07=GesR
Leitlinien-in-der-medizinischen-Versorgung-           2008, 361: Maßstab für den Standard; KG, Urt v    für mindestens zehn evidenzbasierte medi-
Beschluesse-der-Vorstaende-von-Bundesaerzte-          2.10.2003 – 20 U 402/01=NJW 2004, 691; Francke/
kammer-und-Kassenaerztlicher-Bundesvereini-                                                              zinische Leitlinien pro Jahr zu entwerfen.
                                                      Regenbogen, MedR 2002, 174, 175; Pauge/Offen-
gung-Juni-1997, zuletzt abgerufen am 7.4.2020.        loch, Rn 150a, 543 a: Abweichung bedarf            Diese werden als Handlungsempfehlungen
74 Vgl. Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn,         besonderer Rechtfertigung; Ziegler, VersR 2003,
                                                                                                         nach einer bestimmten Methodik (S1-,
HdB.Arzt., § 5 Die Rechtsquellen, Rn. 25; Martis      545, 546: haftungsrechtliche Relevanz beim Ver-
MDR 2009, 1082 f.                                     stoß gegen Leitlinien und Richtlinien.             S2- oder S3-Leitlinien) entwickelt und

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ÜBERSICHT

geben den Erkenntnisstand der Medizin                  (Evidence-Based-Medicine) gestellt wer-               •• S2e: Eine systematische Evidenz-
zu einem bestimmten Zeitpunkt wieder.                  den.85 Das Vorgehen in der EbM besteht                   Recherche hat stattgefunden.
Sie gelten als Entscheidungshilfen über                in fünf Schritten: Formulierung einer                 •• S3: Die Leitlinie hat alle Elemente einer
die angemessene ärztliche Vorgehens-                   wissenschaftlich untersuchbaren Frage­                   systematischen Entwicklung durch-
weise bei speziellen gesundheitlichen                  stellung, systematische Literaturrecherche               laufen (Logik-, Entscheidungs- und
Problemen.79 Man spricht insoweit von                  nach geeigneten Studien, kritische Evi-                  Outcome-Analyse, Bewertung der kli-
wissenschaftlich begründeten und praxis­               denzbewertung, Anwendung der gewon-                      nischen Relevanz wissenschaftlicher
orientierten Handlungsempfehlungen.80                  nenen Einsichten in Abwägung der                         Studien und regelmäßige Überprüfung).
oder Orientierungshilfen im Sinne von                  konkreten klinischen Situation und                    Die methodische Qualität einer S3-Leit­
„Handlungs- und Entscheidungskorri-                    selbstkritische Evaluation.86                         linie ist dementsprechend höher als die
doren“, von denen in begründeten Fäl-                  Aufgestellt werden sie von internationalen            einer S2- oder S1-Leitlinie. Die überwie-
len abgewichen werden kann oder sogar                  und nationalen Ärzteorganisationen, ins-              gende Mehrheit (knapp 70 %) aller Leit-
muss.“81 Immer Bestandteil ist die Beur-               besondere von medizinischen Fachgesell-               linien der wissenschaftlichen medizi-
teilung der konkret erforderlichen Sorg-               schaften, aber auch von regionalen (z.B.              nischen Fachgesellschaften sind allerdings
falt.82 Ärztliche Leitlinien sind eine Form            Ärztekammern, Fachorganisationen in den               S1-Leitlinien. Grundsätzlich beinhalten
der Festsetzung von Regeln guter ärzt-                 Ländern) und lokalen Institutionen (bis               ärztliche Leitlinien keine Wirtschaftlich-
licher Behandlung durch professionelle                 hin zu Krankenhausabteilungen und Pra-                keitsüberlegungen und sollten von die-
Institutionen.83 Sie sind auf Basis von § 137          xisnetzen). Sie dienen als Erkenntnisquel-            sen auch strikt getrennt werden. Hierbei
SGB V zu entwickeln, stellen aber selbst               len für wissenschaftliche Evidenz, die in             handelt es sich um die bislang gültige
kein unmittelbar wirkendes rechtsnor-                  der Hierarchie weit oben stehen und deren             Einhaltung des Trennungs- und Trans-
mierendes Normengefüge dar und besit-                 standardsetzender Charakter seit langem               parenzgebotes. Leitlinien haben somit
zen im Regelfall daher keine unmittel-                 diskutiert wird.87 Nach dem System der                eher eine Rationalisierungsfunktion für
bare rechtliche Wirksamkeit. Rechtlich                 AWMF werden Leitlinien in vier Entwick-               (haftungs-)rechtliche       Entscheidungen,
verbindlich sind Leitlinien erst dann,                 lungsstufen von S1 bis S3 entwickelt und              denn sie machen die Basis medizinischer
wenn sie rechtlich umgesetzt werden,                   klassifiziert, wobei S3 die höchste Quali-            Bewertungen transparent und tragen
was in unterschiedlicher Weise bspw. im                tätsstufe der Entwicklungsmethodik ist.               damit auch zur Qualitätsverbesserung
zivilrechtlichen Haftungsrecht über § 276              •• S1: Die Leitlinie wurde von einer                  rechtlicher Entscheidungen über Behand-
BGB und § 630a Abs. 2 BGB 84 erfolgt.                     Expertengruppe im informellen                      lungsfehler bei.88 Die Rede ist insoweit
Grundsätzlich existieren Leit­linien in der               Konsens erarbeitet.                                von Leitlinien als „sichtbar gemachtem
Form internationaler, nationaler, regi-                •• S2k: Eine formale Konsensfindung                   Standard“89 oder auch von der Leitlinie
onaler und lokaler Leitlinien oder als                    hat stattgefunden.                                 als „antizipiertem Sachverständigengut-
krankenhausinterne,         abteilungsgebun-                                                                 achten“,90 wobei ausschlaggebend für die
dene und praxisnetzinterne Handlungs-                  85 Antes, Evidence-Based Medicine, Internist          konkrete Geltungskraft einer Leitlinie
                                                       1998; 39: 899-908; Sackett/Richardson/Rosenberg/
anweisungen. Leitlinien müssen in einen                Haynes, Evidenzbasierte Medizin, 1999.                deren jeweiliges Ranking innerhalb der
schlüssigen Zusammenhang mit der EbM                   86 Vgl. insg. www.cochrane.de/de/ebm, letzter         Leitlinien-Ordnung ist.91
                                                       Zugriff am 10.4.2020; grundlegend Sackett et al.,
                                                       BMJ 1996, 71.
79 Definition der AWMF bei Bergmann,
                                                       87 Für einen standardsetzenden Charakter: Hart,      i. Die Leitlinie im Verhältnis
BADK-Information 2003, S. 125 und Bergmann,
GesR 2006, 337.
                                                       in: ders. (Hrsg.), Ärztliche Leitlinien im Medizin    zum Standard
                                                       und Gesundheitsrecht, Recht und Empirie professi-
80 Ebenda.                                             oneller Normbildung, 2005, S. 115 ff., ders., MedR    Standard und Leitlinie sind keine sich
81 Ebenda.                                             1998, 8 (10 ff.); dagegen Stöhr, Leitlinien, Richt-   widersprechenden Gegensätze, sondern
82 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 362.           linien und ärztliche Haftung, in: Müller/Osterloh/
                                                       Stein (Hrsg.), FS für G. Hirsch zum 65. Geburts-     bedeuten für die Rechtsprechung inhalt-
83 Hart, MedR 1998, 8ff; ders. (Hrsg.), Ärztliche      tag, S. 431 f. (437); ders.; MedR 2010, 214 (215);
Leitlinien – Empirie und Recht professioneller         BGH, GesR 2008, 361: „Leitlinien (…) können im        88 Vgl. Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn,
Normsetzung, 2000 (Tagungsband mit medizi-             Gegensatz zu den Richtlinien (…) nicht unbesehen      HdB.Arzt., § 5 Die Rechtsquellen, Rn. 23.
nischen und rechtlichen Beiträgen); ders., Ärztliche   mit dem zur Beurteilung eines Behandlungsfehlers
Leitlinien – rechtliche Aspekte, Ärztl. Fortbildg.                                                           89 Taupitz, AcP 2011, 352 (367 f.).
                                                       gebotenen medizinischen Standard gleichgesetzt
Qualitätssicherung. 2000; 94: 65 (69); vgl. Kern/      werden. Sie können kein Sachverständigengut-          90 Taupitz, AcP 2011, 352 (378), ders., Die Standes-
Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, HdB.Arzt., § 5,       achten ersetzen und ebenso nicht unbesehen als        ordnungen der freien Berufe, 1991, S. 1172 ff.
Die Rechtsquellen, Rn. 23.                             Maßstab für den Standard übernommen werden“;          91 Stöhr, Leitlinien, Richtlinien und ärztliche
84 Vgl. Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn,          daran anschließend: BGH, VersR 2011, 1202; auch       Haftung, in: Müller/Osterloh/Stein (Hrsg.), FS für
HdB.Arzt., § 5 Die Rechtsquellen, Rn. 23.              Ihle, GesR 2011, 394; Kopp GesR 2011, 385 (386).      Hirsch zum 65. Geburtstag, S. 431 f. (432).

RPG | Band 26 | Heft 4 | 2020                 www.grpg.de                                                                                                    101
ÜBERSICHT

lich und funktionell dasselbe, nämlich               Diese „Vermutung“ gilt für andere Leitli-           sogar erforderlich macht.105 Inhaltlich sind
keinen absoluten, sondern lediglich einen            nien grundsätzlich nicht und so ist beispiels-      Leitlinien als Ratschläge zu verstehen.106
relativen Maßstab zur Bestimmung der                 weise das OLG Naumburg97 der Ansicht,               Der Arzt muss von der Leitlinie abwei-
Generalklausel der „berufsspezifischen               S 1- und S 2-Leitlinien hätten lediglich            chen, wenn das Krankheitsgeschehen dies
ärztlichen Sorgfalt“.                                informatorischen, deklaratorischen Cha-             erfordert. Allerdings muss der Arzt sich
Die Leitlinie dient als Ausgangspunkt der            rakter. Dass die Auswirkung stark sein              auf die Dokumentation und Begründung
Behandlungsentscheidung für den indivi-              kann,98 im Einzelfall sogar den Haftungs-           seiner ärztlichen Entscheidung einstel-
duellen Patienten.92 Der Sachverständige             maßstab bestimmt,99 ist unbestritten. Ein-          len.107 Jede Behandlung kann durch Beson-
hat im Gutachten die vorhandenen Leit-               zelfallbezogen können Leitlinien sich zum           derheiten geprägt sein, die in spezifischen
linien zu nennen, ihre Beachtung im Ein-             medizinischen Standard entwickeln.100               Merkmalen der Erkrankung oder des Pati-
zelfall festzustellen und gegebenenfalls             Der Standardbegriff in der Medizin setzt            enten begründet sind, woraus resultiert,
das ärztliche Abweichen davon zu beur-               sich zusammen aus den Elementen wis-                dass nicht jeder Verstoß gegen Leitlinien
teilen.93 Da die Leitlinie nicht identisch           senschaftliche Erkenntnis, praktische               gleichbedeutend ist mit einem Sorgfalts-
mit dem Standard ist,94 sondern allenfalls           Erfahrung und Akzeptanz in der Profes-              oder gar einem Behandlungsfehler, schon
im Einzelfall den Standard darstellen                sion.101 Alle Erkenntnisse des Standards            gar nicht einem groben.108
kann, ist das Verhältnis von Standard zur            sind dabei dynamisch, sie stellen auf den           Im Einzelfall wird der Verstoß gegen
Leitlinie strittig: „Die Leitlinie ist medi-         momentanen Stand der Erkenntnisse ab.               Leitlinien mehr eine Indizwirkung für das
zinisch verbindlich, wenn sie dem Stan-              Zwar sollen vertrauenswürdige Leitlinie-            Vorliegen eines Sorgfaltsverstoßes besit-
dard entspricht und rechtlich verbindlich,           nempfehlungen den gegenwärtigen, gesi-              zen.109 Das OLG Jena befand in 2010,
weil sie dem Standard entspricht.”95                 cherten und anerkannten Erkenntnisstand             dass es sich bei einer S3-Leitlinie um
Auch die Leitlinien ärztlicher Fachgre-              der medizinischen Wissenschaft beschrei-            eine bereits evidenzbasierte Konsensus-
mien oder Verbände können nicht unbe-                ben,102 ob sie dies im Einzelfall tun und           leitlinie mit Erfassung der systematischen
sehen mit dem zur Beurteilung eines                  dann auch auf die individuelle Behand-              Entwicklung (sog. Clearingverfahren)
Behandlungsfehlers gebotenen medizi-                 lungssituation passen, muss jeweils geklärt         handele, die einen Behandlungskorridor
nischen Standard gleichgesetzt werden.96             werden.103 Zu prüfen ist demnach, ob die            eröffnet, innerhalb dessen der Arzt sich in
Der evidenzbasierten Konsensus-Leitlinie             Leitlinie den medizinischen Standard                seinem therapeutischen Ermessen bewe-
(der sog. S 3-Leitlinie) wird dabei zwar die         tatsächlich wiedergibt,104 eine Abwei-
                                                                                                         105 Vgl. Deutsch RPG 1999, 3ff; Kern/Rehborn,
höchste wissenschaftliche Legitimation               chung legitimiert oder diese gegenteilig            in: Laufs/Kern/Rehborn, Hdb.Arzt, § 5 Die Rechts-
                                                                                                         quellen, Rn. 22 f.
zugesprochen, da sie nach dem zwischen
                                                     97 Urt v 25.3.2002 – 1 U 111/01=MedR 2002, 471,     106 Ollenschläger, Standardbestimmung durch
AWMF, BÄK und ÄZQ verabredeten                       472; Urt v 19.12.2001 – 1 U 46/01=MedR 2002,        Leitlinien?, in: Jorzig/Uphoff (Schriftleitung)
                                                     1373, 1374; Urt v 11.7.2006 – 1 U 1/06=BeckRS       Standard-Chaos? Der Sachverständige im Dickicht
Clearingverfahren zustande kommt und                 2007, 03103, Seite 11 und Urt v 1.11.2007 – 1 U     zwischen Jurisprudenz und Medizin, S. 17 f. (24).
als medizinisch verbindlich gilt.                    13/07=OLGR 2008, 284, 285
                                                                                                         107 Ebenda.
                                                     98 OLG Köln, VersR 2012, 1305.
                                                                                                         108 OLG Brandenburg, Beschl v 28.7.2008 – 4 U
                                                     99 BGH, Urt v 15.2.2000 – VI ZR 48/99=NJW           115/07, OLGR 2008, 784 = GesR 2008, 594, 596:
92 Kern/Rehborn, in: Laufs/Kern/Rehborn, Hdb.        2000, 1784; VersR 2000, 725, 726; Geiß/Greiner,     Verstoß nicht per se fehlerhaft; OLG Hamm, Urt v
Arzt, § 5 Die Rechtsquellen, Rn. 23 f.               Rn. B 9a; Pauge/Offenloch, Rn. 150a, 543 a:         9.5.2001 – 3 U 250/99, OLGR 2002, 176, 177; OLG
                                                     Abweichung bedarf besonderer Rechtfertigung;        Naumburg, Urt v 1.11.2007 – 1 U 13/07, OLGR
93 Kern, in: Ratzel/Lissel, Handbuch des             OLG Düsseldorf, VersR 2000, 1019.
Medizinschadensrechts, S. 32 Rn. 25.                                                                     2008, 284, 286 = NJW-RR 2008, 408, 410: Verstoß
                                                     100 Ebenda.                                         gegen S 1-Leitlinie indiziert keinen Behandlungs-
94 BGH, Beschl v 28.3.2008 – VI ZR                                                                       fehler; OLG Naumburg, Urt v 11.07.2006 – 1 U
57/07=GesR 2008, 361; OLG Düsseldorf, Urt v         101 Zum Zusammenhang von rechtlichem und
                                                     medizinischem Standardbegriff die Beiträge in       1/06, BeckRS 2007, 03103, Seite 11: Abweichung
25.1.2007 – I 8 U 116705=GesR 2007, 110, 111;                                                            von S 2-Leitinie kann geboten, zumindest aber
OLG Bamberg, Beschl v 28.7.2008 – 4 U                Deutsch/Kleinsorge/Scheler (Hrsg.), Verbind-
                                                     lichkeit der medizinisch-diagnostischen und         vertretbar sein; Geiß/Greiner, Rn. B 9a; Jorzig/
115/07=OLGR 2008, 784 = GesR 2008, 594, 595.                                                             Feifel, GesR 2004, 310, 315; Frahm, GesR 2005,
                                                     therapeutischen Aussage, 1983; Deutsch/Spickhoff,
95 Hart, in: ders. (Hrsg), Ärztliche Leitlinien im   Medizinrecht, Rn. 212; Hart MedR 1998, 8ff          529 f; Müller, VPräsBGH, GesR 2004, 257, 260;
Medizin- und Gesundheitsrecht. Recht und Empirie     m. w. N. und insgesamt Hart (Hrsg.), Ärztliche      Rehborn, MDR 2002, 1281, 1283; Spickhoff, NJW
professioneller Normbildung, 2005, S. 115; vgl.      Leitlinien.                                         2007, 1628, 1631; a.A. Ziegler, VersR 2003, 545,
ferner Laufs, in: Berg/Ulsenheimer, Patienten­                                                           546-549 und GesR 2006, 109, 110; differenzierend
sicherheit, Arzthaftung, Praxis- und Krankenhaus­    102 Ollenschläger, Standardbestimmung durch         Bergmann, GesR 2006, 337, 342 m. w. N.: „S
organisation, 2006, S. 253 ff.                       Leitlinien?, in: Jorzig/Uphoff (Schriftleitung)     3-Leitlinien (evidenzbasierte Konsensus-Leitlinie)
                                                     Standard-Chaos? Der Sachverständige im Dickicht     können den Haftungsmaßstab bestimmen.“
96 BGH, Beschl v 28.3.2008 – VI ZR                   zwischen Jurisprudenz und Medizin, S. 17 f. (24).
57/07=GesR 2008, 361; OLG Düsseldorf, Urt                                                               109 OLG Jena, Urt v 1.6.2010 – 4 U
v 25.1.2007 – I 8 U 116705=GesR 2007, 110,           103 Ebenda.                                         498/07=BeckRS 2010, 33199, GuP 2011, 36;
111; OLG Bamberg, Beschl v 28.7.2008 – 4 U           104 Kern, in: Ratzel/Lissel, Handbuch des           Bergmann, GesR 2006, 337, 342/345; Deutsch/
115/07=OLGR 2008, 784 = GesR 2008, 594, (595).       Medizinschadensrechts, S. 32 Rn. 25.                Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 372.

102                                                                                       RPG | Band 26 | Heft 4 | 2020             www.grpg.de
ÜBERSICHT

gen sollte. Mithin handelt es sich hier um               standes müssen Leitlinien fortwährend            zess eher bei der Bestimmung der medizi-
eine Leitlinie mit starkem Empfehlung-                   fachgerecht angepasst und aktualisiert           nischen Sorgfalt eine Rolle.
scharakter, der einen Verstoß gegen die                  werden. Gibt es widersprüchliche Leit­           Da Leitlinien einheitlich entwickelt
im Verkehr erforderliche Sorgfalt gem.                   linien, kann man von einer eine Pflicht-         und konsensual angewandt werden sol-
§ 276 BGB impliziere.110 Ebenso ist bei                  verletzung indizierenden Wirkung bei             len, wurde die Lösung des Problems der
Abweichungen von den Hygiene- oder                       einer Abweichung nicht sprechen, es sei          Divergenz zwischen Leitlinie und Stan-
Organisationsleitlinien111 ein Verstoß                   denn die ältere Richtlinie ist bereits veral-    dard zunehmend in der Orientierung
gegen die ärztliche Sorgfaltswidrigkeit                  tet.116 Leitlinien müssen mit einem relativ      von Leitlinien an dem Leitlinien-Manual
zumindest naheliegend.                                   kurzfristigen, den Anwendern bekanntzu-          gesehen,123 auf das sich die Selbstverwal-
Grundsätzlich soll es im Fall des Abwei-                 gebenden Verfalldatum versehen sein.117          tungskörperschaften124 und die Arbeits-
chens von Leitlinien notwendig sein,                     Experten veranschlagen die Dauer der             gemeinschaft der wissenschaftlichen
dass im Prozessfall mit Hilfe des Sach-                  Gültigkeit von Leitlinien auf nicht mehr         medizinischen Fachgesellschaften125 zur
verständigengutachten dargelegt wird,                    als zwei Jahre; schließlich würde im             Qualitätsförderung von medizinischen
warum die Befolgung der Leitlinie nicht                  Durchschnitt alle fünf Jahre das gesamte         Leitlinien geeinigt haben.126 Zielsetzung
angezeigt war.112 Ist der in den Leitlinien              medizinische Wissen durch die neueren            dieses Programmes war die Förderung
niedergelegte Standard unklar113 oder                    Entwicklungen überholt.118                       von Übereinstimmung des Standards
überholt114, ist er dabei unstreitig unmaß-                                                               mit Leitlinie und somit auch die Kon-
geblich. Beispielsweise soll nach den                    ii. Die Leitlinie im Verhältnis                  gruenzförderung mit dem haftungsrecht-
einschlägigen Leitlinien ein Schlagan-                   zur Arzthaftung                                  lichem Standard. Im Juni 2005 wurde
fall-Patient unter bestimmten Umständen                  Im Arzthaftungsrecht ist der fachliche           das deutsche Leitlinien-Bewertungsin-
eine sogenannte Lyse-Therapie erhalten,                  Standard als Maßstab für die Verlet-             strument127 zur methodischen Leitlini-
damit das Blutgerinnsel im Gehirn auf-                   zung der Berufspflicht zur sorgfältigen          enbewertung veröffentlicht, das auf den
gelöst werden kann. Vor 2019 galt dies                   Behandlung im Rahmen des Behand-                 Grundlagen eines vom Europarat ange-
aber gerade nicht bei einem Schlaganfall                 lungsvertrages gem. § 276 Abs. 2 BGB             stoßenen internationalen Statements128
im Schlaf oder einer erhöhten Blutungs-                  von zentraler Bedeutung.119 Unter der            entstand (in Zusammenarbeit der Arbeits-
gefahr. Diese Ausnahme wäre durch den                    Bezeichnung wird das deliktsrechtlich            gemeinschaft der Wissenschaftlichen
Behandler somit folgerichtig zu berück-                  erwartete wie vertragsrechtlich geschul-         Medizinischen Fachgesellschaften129 und
sichtigen gewesen.115                                    dete Verhalten zusammengefasst, dessen           dem ärztlichen Zentrum für Qualität in
Infolge des rasch voranschreitenden                      Nichteinhaltung eine Schadensersatz-             der Medizin).130 Viel diskutiert wurde in
medizinischen und technischen Fort-                      pflicht des Arztes gem. § 823 Abs. 1 BGB         diesem Zusammenhang die Gefahr, dass
schritts und der raschen Erneuerung                      und/oder § 280 Abs. 1 BGB auslöst.120            Ärzte und Patienten unter dem Diktat der
und Überholung des aktuellen Wissens-                    Leitlinien als allgemein-abstrakte Regeln        EbM-Wissenschaftlichkeit entmündigt
                                                         für standardisierte Normalfälle121können
                                                                                                          123 https://www.awmf.org/leitlinien/awmf-regelwerk/
110 Ebenda.                                              zwar Behandlungsstandards beschrei-              awmf-publikationen-zu-leitlinien/leitlinien-manual.
111 LG München I, Urt v 7.7.2004 – 9 O                                                                   html, zuletzt abgerufen am 20.3.2020.
18834/00=GesR 2004, 512, 513; Frahm, GesR                ben, diese auch fortentwickeln, allerdings
                                                                                                          124 BÄK, KBV, Deutsche Krankenhausgesell-
2005, 529, 533; Jorzig/Feifel, GesR 2004, 310,           ihrerseits veralten122 und spielen im Pro-       schaft (DKG), Spitzenverbände der GKV.
312/316; Ziegler, VersR 2003, 545 f., (546/548).
                                                                                                          125 Die Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaft-
112 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 373.                                                             lichen Medizinischen Fachgesellschaften= AWMF.
113 OLG Saarbrücken GesR 2004, 235; keine                116 Hart, MedR 1998, 8, 13; Deutsch/Spickhoff,
                                                         Medizinrecht, Rn. 372.                           126 Die AWMF und die Ärztliche Zentralstelle
klare Handlungsanweisung.                                                                                 für Qualitätssicherung „äzq“ (Gemeinschafts-
114 Deutsch/Spickhoff, Medizinrecht, Rn. 373.;           117 Clade, Medizinische Leitlinien: Entschei-    einrichtung von BÄK und KBV) hatten zunächst
OLG Düsseldorf, GesR 2007, 110.                          dungshilfen für Arzt und Patienten, DÄBl 2001;   gemeinsam „Das Leitlinien-Manual“ entwickelt.
                                                         98(6): A-288 / B-247 / C-231.
115 Für Patienten, die im Schlaf einen Schlagan-                                                          127 https://www.leitlinien.de/leitlinien-grundlagen/
fall erlitten haben, war eine Lysetherapie bislang       118 Ebenda.                                      leitlinienbewertung/delbi, zuletzt abgerufen am
nicht möglich, da sich der Zeitpunkt des Schlagan-       119 Frahm/Jansen/Katzenmeier/Kienzle/Kingreen/   20.4.2020.
falls nicht genau ermitteln ließ, vgl.: „Schlaganfall:   Lungstras/Saeger/Schmitz–Luhn/Woopen, Medizin    128 http://www.agreecollaboration.org, zuletzt
verlängertes Zeitfenster für Lysetherapie dank           und Standard – Verwerfungen und Perspektiven,    abgerufen am 20.3.2020.
moderner Bildgebung“ v. 7.10.2019, abrufbar unter:       MedR 2018, 447–457 (450).
https://www.medica.de/de/News/Archiv/                                                                     129 https://www.awmf.org/leitlinien/aktuelle-
                                                         120 Ebenda.                                      leitlinien.html, zuletzt abgerufen am 20.3.2020.
Schlaganfall_verlängertes_Zeitfenster_für_
Lysetherapie_dank_moderner_Bildgebung,                   121 Ebenda.                                      130 https://www.aezq.de, zuletzt abgerufen am
zuletzt abgerufen am 14.4.2020.                          122 Ebenda.                                      20.3.2020.

RPG | Band 26 | Heft 4 | 2020                   www.grpg.de                                                                                             103
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