Die ewige Baustelle - Deutscher Musikrat

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Die ewige Baustelle - Deutscher Musikrat
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                                                                                             Musikleben im Diskurs

                                     Die ewige Baustelle
                                     Kulturkonstrukt Europa
                                     | Interview mit Wolfgang Rihm: „Das Neue und
                                       Ungewohnte zulassen“
                                     | Nur noch kurz die Welt retten. Die große Sehnsucht nach
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                                       Entschleunigung in der aktuellen deutschen Popmusik
Die ewige Baustelle - Deutscher Musikrat
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editorial 1

Baustelle Europa

     Wissen Sie, wo Europa liegt? Real, nicht als Traumgebilde eines Garten Eden, nicht als
   Projektionsfläche unerfüllter Erwartungen, nicht als Marktplatz der Eitelkeiten, nicht als
   Grabstätte verschleuderter Steuermillionen.

   Sollte jemand eine Antwort wagen – ein Verweis auf die Landkarte reicht jedenfalls nicht.       Christian Höppner
   Europa ist mehr als wir bisher zu hoff en gewagt haben. Europa ist mehr als der Eur o.              Chefredakteur
   Europa ist mehr als wohlfeile Sonntagsreden: Europa ist Vision und praktisches Handeln
   zugleich. Und: Europa entwickelt sich im Hier und Jetzt – oder nie.

   Die Idee eines Europas der Einheit in der Vielfalt weist auf die zentrale Rolle kultur eller
   Identitäten hin. Der Zustand des kulturellen Lebens ist der erste Gradmesser für die Frage,
   wie viel Europa tatsächlich vor Ort „ankommt“ – beim einzelnen wie bei Gruppen. Die
   Neugierde auf das Andere zu wecken, ist und bleibt eine zentrale gesellschaftspolitische
   Aufgabe, weil sie die Voraussetzungen für Wahrnehmung, zivilisierte Auseinandersetzung
   und Wertschätzung bilden kann. Das gilt im Dialog von zwei Menschen, wie für den Dia-
   log in Gruppen, Gesellschaften und Nationen. Mit dem immer noch beispiellosen Reich-
   tum an Kultureller Vielfalt verfügen die europäischen Länder über ein immenses Kreativ-
   potenzial, das allzu oft brac h liegt. Europa ist kein Top-Down-Projekt für Sonntagsreden
   oder Freihandelszonen, sondern ein kultureller Lebensraum für den einzelnen Bürger wie
   für seine Gesellschaften. Kulturelle Vielfalt kann dabei helfen, Unterschiede wie Gemein-
   samkeiten bewusst zu machen. Ohne kulturelle Teilhabe, ohne das Be wusstsein für den
   Wert kreativen Schaffens und ohne die (soziale) Wertschätzung kreativer Leistung kann es
   keine Kulturelle Vielfalt geben. Kulturelle Vielfalt bildet das Fundament für eine Werte-
   gemeinschaft, die sich bislang vornehmlich über wirtschaftliche und geopolitische Fragen
   zu verständigen sucht. Dass das nicht mehr ausreicht, zeigt sich einmal mehr in der soge-
   nannten „Eurokrise“.

   Das Fundament für die Baustelle, die Europa noch immer ist, ist die Kultur. Sie muss vor
   Ort erlebbar sein. Sie muss den Raum bieten, Impulse zu setzen, Fragen zu stellen und
   Antworten zu wagen. Nur in der Auseinandersetzung über Gemeinsames und Trennendes
   kann ein Bewusstsein für die eur opäischen Werte wachsen. Dazu gehört nicht nur eine
   Stärkung des Europäischen Parlaments im Kraftfeldgefüge mit der Europäischen Kommis-
   sion, sondern auch die Erkenntnis, dass die europäischen Grenzen im Sinne des transkul-
   turellen Dialoges fließend sind. Deshalb – und nicht nur deshalb – ist es höchste Zeit, die
   Aufnahme der Türkei in die Europäische Union voranzutreiben.

   Für die Europawahlen am 25. Mai 2014 heißt es nic ht nur wählen zu gehen, sondern
   zum Beispiel v orab mit den je weiligen Wahlkreisabgeordneten die Umsetzung der
   UNESCO Konvention „Kulturelle Vielfalt“ zu diskutieren – ganz konkret und vor Ort.

                    Christian Höppner

                                                                                                                4/13
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inhalt
im fokus: Die ewige Baustelle
                                             Kulturkonstrukt Europa
                     Das Wir-Gefühl zählt: Instrumentalisten des EUYO                                         Innehalten – die Sehnsucht nach
                          – European Union Youth Orchestra, Seite 14                                                Entschleunigung, Seite 32

im fokus                                                                     pro & contra
| Europa ist Musik                                                           | Brauchen wir ein Bundeskulturministerium?
  Wolfgang Rathert:Europas Vielfalt spiegelt sich                              Olaf Zimmermann und Thomas Goppel                                24
  in der Musik wider                                                    6

| Einheitsstifterin Kultur                                                   neue töne
  Doris Pack/Walter Hirche/Jörg-Peter Weigle: Welche
                                                                             | Stockhausens „Hymnen“
  Rolle spielt die Kultur für ein Europa der Einheit in
                                                                               Eint Karlheinz Stockhausens Werk die Menschen Europas?
  der Vielfalt?                                                         9      (Stefan Fricke)                                                  29
| Kultur als Identitätsstifterin
                                                                             | Das Neue und Ungewohnte zulassen
  Wolfgang Schmale: Europas Identität definiert sich
                                                                               Christian Höppner und Ulrike Liedtke im Gespräch
  über die europäische Kultur                                           12     mit Wolfgang Rihm                                                26
| Europa – das sind wir!
  Andreas Bock: Wie der europäische Einigungsprozess
  durch Kultur vorangetrieben werden kann                               14   akzente
                                                                             | Nur noch kurz die Welt retten
| Vielfalt ist Trumpf und Segen                                                Die große Sehnsucht nach Entschleunigung in der
  Willi Steul: Musikalische Nachwuchsförderung in                              aktuellen deutschen Popmusik (Ole Löding)                        32
  Europa am Beispiel von Young Euro Classic                             16
| Ein bisschen Wahnsinn                                                      musik und politik
  Clemens Dreyer und Claas Triebel: Der Eurovision                           | Tua res agitur
  Song Contest: zwischen Einheit und Vielfalt                           19     Kulturförderung – Zum Verhältnis von Staat und
                                                                               Zuwendung empfangendem Bürger (Stephan Opitz)                    35
| Aufbrechen, um zu erhalten!
  Lydia Grün und Susanne Wienemann: Europa sucht
  neue Wege zur Musik                                                   22

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                                                                                                                        2013

                                      Lampenfieber! Doch der Puls                           Das EU-Förderprogramm für 2014 bis 2020
                                     geht ganz normal? – Seite 40                                  setzt auf Europas Kreativität, Seite 48

| Jeder kennt den Preis der Dinge, ihren Wert                            | Unzumutbar
  hingegen kennen die wenigsten!                                           Die Ausgestaltung des Zuwendungsrechts lässt
  Ein Plädoyer zur Verteidigung des Musiklandes                            Hauptamtlichkeit sowie Ehrenamt zum Lebensrisiko
  Deutschland und seiner künstlerisch-kulturellen Werte                    werden (Rüdiger Grambow)                                          51
  (Hartmut Karmeier)                                                38

| Disziplin, Doping und Dystonie                                         report
  Christian Höppner im Gespräch mit
                                                                         | Verfemte Musik als Botschafter
  Marie-Luise Neunecker                                             40     Kultureller Vielfalt
                                                                           Christian Höppner im Gespräch mit Volker Ahmels                   54
| Ein Leben voller Musik
  Christian Höppner im Gespräch mit
                                                                         | Bach als „Wohlfühlprogramm“?
  Ernst-Ullrich Richard Neumann                                     44     Christian Höppner im Gespräch mit
                                                                           Christoph Krummacher                                              57
bildung | forschung                                                      | Wo Können reine Freude macht
| Die Welt des Hörens                                                      40 Jahre Deutsche Streicherphilharmonie
  Die Initiative Hören feiert ihr 10-jähriges Bestehen                     (Matthias Pannes)                                                 60
  (Babette Kaiserkern)                                              46
                                                                         | editorial                                                          1
wirtschaft | recht                                                       | nachrichten
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| Kreatives Europa                                                       | finale/impressum                                                  64
  Europas Förderprogramm für den Kultur- und
  Kreativsektor 2014 bis 2020. Was bleibt und was wird
  sich verändern? (Cornelia Bruell)                                 48

                                                                                                                                             4/13
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4 nachrichten

Das Erbe des Visionärs und Förderers
Carl Bechstein                                                             ausgezeichnet

Die neu gegründete Carl-              mit 2 500 Euro dotierten Son-
Bechstein-Stiftung hat ihre Ar-       derpreis. Auch im k ommenden
beit aufgenommen. Sie förder t        Jahr sollen mehrere Bundespreis-
vor allem Kinder und Jugend -         träger der Ka tegorie „Klavier
liche, die das Kla vierspiel erler-   solo“ mit Stipendien bedac ht
nen möchten. Zahlreiche Schu-         werden.
len in Deutsc hland haben von         Fachkundig beraten wird die
der Stiftung kostenlos ein Klavier    Stiftung durch die Mitglieder des
zur Verfügung gestellt bek om-        Kuratoriums, dessen Vorsitz
men, das bei musikalischen Auf-       Christian Höppner, Generalse-
führungen sowie beim Kla vier-        kretär des Deutsc hen Musikrats
unterricht eingesetzt wird. Es        sowie Vizepräsident des Europäi-

                                                                                                                                                      © Sébastien Grébille/Philharmonie Luxembourg
gehe darum, möglichst vielen          schen Musikrats, übernommen
Kindern – auc h aus sozialen          hat. Stellvertretender Vorsitzen-
Brennpunkten – die Möglichkeit        der ist Wolfram Nieradzik, Mit-
zu eröffnen, das Klavierspiel zu      glied der Gesc häftsleitung der
erlernen, so Karl Sc hulze, Stifter   Funk Gruppe. Mit Theo Geißler
und Vorsitzender des Vorstands        engagiert sich der Herausge ber
der Carl-Bechstein-Stiftung.          und Chefredakteur der nmz im
Im Programm der Stiftung er-          Kuratorium, in das auch der Pia-
gänzen sich Breiten- und Spit-        nist und Kla vierprofessor Lars
zenförderung. Beim Bundeswett-        Vogt seine vielfältigen Erfahrun-
bewerb „Jugend musiziert“ ver-        gen einbringt.                      Das YEAH!-Festival ging am            denkern Europas“ gekürt. Das
gab die Stiftung unlängst einen                                           Samstag, 14. September 2013,          Preisgeld von insgesamt 40 000
                                                                          in Osnabrück mit einer Gala zur       Euro und die YEAH!-Trophäe
                                                                          Verleihung des Young EARopean         wurde ihnen im Sc hloss Osna-
                                                                          Award zu Ende . Begegnungen           brück überreicht. Prämiert sind
                                                                          durch Musik über Länder gren-         die Bühnenshow „Drumblebee“
                                                                          zen hinweg zogen sich als roter       von Quatuor Beat und der Phil-
Förderung der Kulturellen Vielfalt                                        Faden durch das gesamte F es-         harmonie Luxemburg in Zusam-
                                                                          tival. „Osnabrück wurde in den        menarbeit mit der Kölner Phil-
                                                                          vergangenen Tagen zum Zen-            harmonie (im Bild), dem Luzern
Die Stiftung Niedersachsen            diverser interkultureller Musik-    trum der Völkerverständigung          Festival sowie den Grazer Spiel-
veranstaltet am Donnerstag, 14.       projekte. Im Anschluss werden       und konnte mit dem YEAH!-Fes-         stätten, das Pr ojekt „Come in!“
November 2013, in Kooperation         der Präsident der Deutsc hen        tival die kr eative Energie ganz      von den Göteborger Sinfonikern,
mit dem Deutsc hen Musikrat           UNESCO-Kommission, Walter           Europas bündeln“, so Hans-Jür-        das innovative Projekt „Concerts
und mit Unterstützung der             Hirche und der Veranstalter Joa-    gen Fip, Oberbürgermeister der        for Babies“ von Musicalmente
Deutschen UNESCO-Kommis-              chim Werren von der Stiftung        Stadt Osnabrück a. D.                 aus Portugal, das Projekt „Listen
sion den Fachtag „Musik.Viefalt.      Niedersachsen in das Thema ein-     Sechs Produktionen aus den Län-       to the Silence – a J ourney with
Integration – Zeit zu Handeln“        führen. Die Grünen P olitikerin     dern Luxemburg, Belgien, Portu-       John Cage” der Zonzo Compa-
in der Niedersäc hsischen Lan-        Claudia Roth ist angefra gt, mit    gal, Deutschland und Schweden         gnie, das Projekt „Notations“ des
desvertretung in Berlin.              Raimund Vogels, Direktor des        wurden mit dem eur opäischen          Klavierfestivals Ruhr sowie „Feel
Ziel der Veranstaltung ist es,        Center for World, Christian         Preis für inno vative Musikpro-       the Music“ des Mahler Chamber
Maßnahmen zur Umsetzung und           Höppner, Generalsekretär des        jekte ausgezeichnet und zu „Vor-      Orchestra.
Anwendbarkeit der UNESCO-             Deutschen Musikrats sowie Vize-
Konvention zur Kulturellen Viel-      präsident des Europäischen Mu-
falt in der unmittelbar en künst-     sikrats, und der Musik erin De-
lerischen und pädagogischen Ar-       nise M’Baye über die Möglic h-      Birgit Jank erhält den Förder-        Hoffbauer Berufsakademie Pots-
beit vor Ort zu ermitteln. Welche     keiten zur Förderung der Kultu-     preis „InTakt 2013“ der miriam-       dam mit dem inklusiv ausge-
Rahmenbedingungen sind dazu           rellen Vielfalt in Deutschland zu   Stiftung für ihre langjährige und     richteten Studiengang „Musik-
nötig? Wie sieht eine optimale        diskutieren.                        kontinuierliche Einbeziehung          pädagogik und Musikv ermitt-
Zusammenarbeit zwischen Bil-          Die Anmeldungen zum k osten-        des Themenfeldes Musik und In-        lung in Sozialer Arbeit“ gewür-
dungs-, Kulturinstitutionen und       freien Besuch bis zum 1. No-        klusion in die akademisc he           digt. Seit 2003 ist Birgit Jank als
der Politik aus?                      vember unter www .musikviel-        Lehramtsausbildung. Mit dem           Professorin für Musikdidaktik an
Ab 13 Uhr beginnt die öff entli-      faltintegration.de.                 Preis wird auc h ihre ehrenamt-       der Universität Potsdam tätig.
che Tagung mit der Vorstellung                                            liche Tätigkeit als Präsidentin der

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Die ewige Baustelle - Deutscher Musikrat
nachrichten 5

                  Würdigung des Deutschen Musikrats                                          DOV bedauert
                  im Bundeskanzleramt                                                        negatives Urteil

                  Anlässlich des 60-jährigen           schen Herausforderungen ge-           Das Bundesarbeitsgericht hat
                  Jubiläums des Deutschen Musik-       setzt. Themen wie der Wert der        am 25. September entsc hieden,
                  rats e.V. fand am 4. Juli 2013 ein   Kreativität und die Förder ung        dass es k einen Rechtsanspruch
                  Empfang im Bundeskanzleramt          der Kulturellen Vielfalt sind lang-   darauf gibt, die Vergütungen von
                  statt. Neben dem Präsidium, den      fristige Handlungsfelder, die nur     Orchestermusikern analog zum
                  Leitungsebenen und Mitarbei-         im Schulterschluss von Politik        öffentlichen Dienst anzupassen.
                  tern des Deutsc hen Musikrates       und Zivilgesellschaft gelöst wer-     Dies könne allein tarifvertraglich
                  waren Kooperationspartner, poli-     den können.“                          geregelt werden. Obwohl der
                  tische Vertreter und Teilnehmer      Auch Martin Maria Krüger, Präsi-      Orchestertarifvertrag ausdrück-      Schüler- und Nach-
                  der Projekte des Deutschen Mu-       dent des Deutsc hen Musikrates,       lich eine „sinngemäße“ Übertra-      wuchsbands gesucht
                  sikrats anwesend. In seiner An-      äußerte sich zum Gründungsju-         gung der Lohna bschlüsse von
                  sprache betonte K ulturstaatsmi-     biläum und erklärte: „Die ausge-      Ländern und Kommunen auf die         Deutschlands größter Band-
                  nister Bernd Neumann die nach-       zeichnete Bilanz des Beauftra g-      Staats- und Kommunalorchester        wettbewerb „SchoolJam“ sucht
                  haltige Bedeutung der musikpo-       ten der Bundesr egierung für          festlegt, hat das BAG darin keinen   die besten Schülerbands des Lan-
                  litischen Arbeit der Or ganisa-      Kultur und Medien ha t für die        durchsetzbaren Rechtsanspruch        des. Ziel ist es, die Roc k- und
                  tion: „Der Deutsche Musikrat ist     Kulturpolitik in Deutsc hland ei-     gesehen. DOV-Geschäftsführer         Popmusik an Schulen nachhaltig
                  wichtiger Ratgeber in m usik-        ne bedeutende Signal wirkung.         Gerald Mertens sagt: „Ich bedau-     zu fördern, Spaß am Musizieren
                  politischen Fragen für Regierung     Ich hoffe, dass die Musik auch in     ere die Entsc heidung des BA G       zu vermitteln und Musikprojekte
                  und Parlament und ha t mit           der jetzigen Legislaturperiode ei-    und fordere den Deutschen Büh-       zu unterstützen. Die Siegerband
                  Handlungsempfehlungen wie            ne essentielle Rolle in der K ul-     nenverein nun auf, unverzüglich      des diesjährigen Wettbewerbs
                  den „Berliner Appellen“ weg-         turförderung des Bundes ein-          durch Tarifvertrag neue Lohnta-      spielt beim Hur ricane- und
                  weisende Impulse zur Be wälti-       nehmen wird.“                         bellen für die Staa ts- und Kom-     Southside-Festival sowie auf
                  gung der aktuellen kultur politi-                                          munalorchester abzuschließen.“       Bühnen in Shanghai und Lon-
                                                                                                                                  don. Zur Teilnahme am Wettbe-
                                                                                                                                  werb sind alle Sc hüler der Klas-
                                                                                                                                  sen 5 bis 13 an r und 17 000
                   Personalia                                                                                                     weiterführenden Schulen aufge-
                                                                                                                                  rufen. Bewerbungen gehen bis
                                                                                                                                  zum 30. November 2013 an
                                                                                                                                  www.SchoolJam.de.

                                                                                                                                  Spielstätten werden
                                                                                                                                  erstmals prämiert
© Andreas Knapp

                                                                                                                                  Der Staatsminister für Kul-
                                                                                                                                  tur und Medien Bernd Neumann
                                                                                                                                  vergibt erstmalig den „Spielstät-
                                                                                                                                  tenprogrammpreis“ an 55 Preis-
                  Marie-Luise Neunecker                Ulrike Liedtke, Direktorin der        Martin Ullrich hat am 1. Okto-       träger. Die Auszeichnung ist Teil
                  wurde am 15. Mai 2013 zur            Musikakademie Rheinsberg, ist         ber 2013 seine zw eite Amtszeit      der Förderungen der Initia tive
                  Prorektorin der Hoc hschule für      am 13. September 2013 als Vor-        als Präsident der Hochschule für     Musik. Die Gewinner erhalten in
                  Musik „Hanns Eisler“ in Berlin       sitzende der Konferenz der Lan-       Musik Nürnberg angetreten. Die       drei unterschiedlichen Preiskate-
                  gewählt und vom Senat für eine       desmusikräte im Deutschen Mu-         Ernennung erfolgte durch den         gorien eine Prämie v on bis zu
                  Amtszeit von zwei Jahren be-         sikrat wiedergewählt worden.          bayerischen Wissenschaftsminis-      30 000 Euro. Ber nd Neumann
                  stellt.                              Seit 2009 steht sie dem Gr emi-       ter Wolfgang Heubisch. Amts-         erklärte bei der Verleihung: „Mit
                  Seit 2004 ist sie als Pr ofessorin   um aller Länderpräsidenten und        chef Adalbert Weiß überreichte       dem Preis würdigt die Bundesre-
                  für Horn an der Hochschule für       Ländergeschäftsführer vor. Unter      Martin Ullrich am 27. Septem-        gierung das Enga gement von
                  Musik „Hanns Eisler“ tätig . Sie     ihrer Leitung trat die Konferenz      ber 2013 im Ba yrischen Staats-      Clubbetreibern, die ohne oder
                  arbeitete als Päda gogin an der      der Landesmusikräte mit mehre-        ministerium für Wissenschaft,        mit nur wenig öffentlicher För-
                  Hochschule für Musik und Dar-        ren Grundsatzpapieren an die          Forschung und Kunst die Ernen-       derung ein vielfältiges und qua-
                  stellende Kunst Frankfurt am         politische Öffentlichkeit. Die        nungskunde. Zudem wurde              litativ hochwertiges Musikpro-
                  Main und gastier te als Solistin,    Konferenz der Landesm usikräte        Martin Ullrich auf eine Professur    gramm jenseits des Eta blierten
                  Kammermusikerin und mit zahl-        wählt ihre Vorsitzende in einem       für Interdisziplinäre Musikwis-      anbieten und so zum Erhalt der
                  reichen Orchestern auf Bühnen        weiteren Wahlgang in das Präsi-       senschaft mit Sc hwerpunkt Hu-       Kulturellen Vielfalt in Deutsc h-
                  in der ganzen Welt.                  dium des Deutschen Musikrats.         man-Animal Studies berufen.          land beitragen.“

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Europa ist
Musik
Europas Vielfalt spiegelt sich in der Musik
wider Wolfgang Rathert

Europa ohne Musik und Musik ohne Europa – beides ist für
Wolfgang Rathert, Professor für Musikwissenschaft, unvor-
stellbar. Musik zieht sich wie ein roter Faden durch die euro-
                                                                        Die Entführung der Europa durch Zeus in
päische Geschichte, denn bereits als Zeus die Königstochter                      Straßburg vor dem Europäischen
Europa entführte, hatte diese Musik mit im Gepäck.                       Parlament: die Geburtsstunde der Kultur

   Auf die Frage, was Europa sei, gibt es viele Antworten. Eine    ist. Es würde also etw as Entscheidendes an der eur opäischen
lautet: Europa ist Musik – und die Musik zeigt Europas Vielfalt.   Identität fehlen, wenn es die Musik nicht gäbe! Und blickt man
Stellen wir uns als Gedankenexperiment vor, Europa wäre musi-      noch weiter zurück, so entdeckt man, dass die Musik sic h wie
kalisch stumm. Wäre die Vorstellung auszuhalten? Wohl kaum.        ein roter Faden durch die europäische Geschichte zieht.
Und falls doch, welche Musik würden wir besonders schmerz-         Bereits als Zeus die Königstochter Europa entführte, hatte diese
lich vermissen? Die Be wohner der einzelnen Na tionen, aber        Musik mit im Gepäck: nicht nur in klingender Form, sondern in
auch die jeweiligen Generationen würden wahrscheinlich sehr        Gestalt eines durchdachten Tonsystems. Dieses sogenannte „voll-
unterschiedliche Antworten geben – so unterschiedlich, wie es      ständige“ (teleion) System war ein für die weitere europäische
der kulturellen Vielfalt Europas entspricht. Die Jüngeren würden   Entwicklung entscheidender Schritt, durch eine Art verbindli-
aber möglicherweise gerade jene Musik v ermissen, die in der       ches Alphabet Ordnung in die Musik zu br ingen. Das Wort
Regel nicht aus Europa kommt, nämlich die sogenannte P op-         „Musik“, eigentlich die „K unst der Musen“, bezeichnet die
oder U-Musik. Sie gilt als Er rungenschaft der nordamer ikani-     Möglichkeit, aus Schallereignissen Gebilde hervorzubringen, die
schen Musik, doch hat sie bei genauerem Hinsehen auch einen        auf der einen Seite Kommunikation (als Sprache) ermöglichen,
ihrer Ursprünge in der eur opäischen Volksmusik. Die Älter en      auf der anderen Seite aber bestimmte emotionale Zustände (als
würden wohl an Bach, Beethoven, Chopin, Mozart oder Tschai-        Klang) auslösen. Durch ihre bis heute nic ht restlos erklärbare
kowsky denken, vielleicht auch an den gr oßen französischen        psychische Wirkung war die Musik zusammen mit dem Tanz
Barock-Komponisten Marc-Antoine Charpentier, dessen Te Deum        das ideale Gefäß der Darstellung religiöser oder magischer Prak-
als Melodie der Eur ovisions-Hymne ein Ohrwur m geworden           tiken bis hin zu eksta tischen Zuständen. Dahinter stand der

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Gedanke einer Einheit der Künste , aus der sic h in der italieni-   zeigte sich dies in der Entstehung und Ausbreitung des Grego-
schen Renaissance die Oper als eine zentrale kultur elle Aus-       rianischen Chorals, also des einstimmigen und unbegleiteten
drucksform der europäischen Gesellschaft entwickelte. In den        Gesangs der ka tholischen Kirche und der c hristlichen Orden.
Augen ihrer Schöpfer sollte die Oper die antik e Einheit v on       Das um 600 in Rom unter P apst Gregor IV. zusammengestellte
Sprache und Musik nac hahmen; zugleich war die Darstellung          Repertoire an Gesängen für Messe und Stundenge bete breitete
subjektiver Stimmungen eine Provokation, da sie sich gegen den      sich parallel zu den Gesängen der Ostkirche in Westeuropa aus:
strengen Stil der polyfonen katholischen Kirchenmusik richtete,     zunächst in Frankreich und Spanien (dort in Verschmelzung mit
bis dahin der Inbegr iff von Musik für geistlic he wie weltliche    arabischen und jüdischen Einflüssen), unter Karl dem Gr oßen
Herrscher in Europa. Und doc h wurde die Oper zum Symbol            dann auch in Mitteleuropa. Multiplikatoren waren die Klöster, in
der europäischen Musik, und keine andere Hochkultur hat bis         denen Bildung tradiert und transportiert wurde. Karl der Große
heute eine vergleichbar komplexe Form des Ineinandergreifens        erkannte und nutzte die Macht der Musik konsequent. Zwar galt
aller Künste auf Grundlage der Musik hervorgebracht.                die Musik im Altertum als Wissenschaft, als Teil des Quadr i-
Von der uns kaum noch vorstellbaren Einheit von Musik, Spra-        viums. Aber die durch die Spätantike geprägten Gelehrten der
che und Kult im antiken Griechenland bis zur Entstehung der         karolingischen Zeit betonten v or allem ihre rhetorische Kraft,
Oper war es nicht nur chronologisch ein weiter Weg. In faszi-       ihre repräsentative und funktionale Bedeutung.
nierender Weise nahm die Musik eine Schlüsselrolle bei der Ge-      Musik wurde dadurc h universell: Wissenschaft und Kunst zu-
staltung der politischen und kulturellen Einheit des c hristiani-   gleich, wanderte sie v on den Klöster n aus sehr sc hnell quer
sierten, abendländischen (West-)Europas ein. Exemplarisch           durch Europa und nahm einen ungeheur en Aufschwung, der

                                                                                                                                 4/13
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erstmals im „Er eignis Notre Dame“ kulminier te. Zwischen            nalen und stilistischen Idiome zu einer Einheit zu verschmelzen.
1170 und 1250 bildete sic h an der Pariser Hauptkirche in Zu-        Bach konnte sich über den Zeitgesc hmack in Versailles oder
sammenarbeit von Klerus und Gelehr ten, von Musikern und             London nur durch Notenabschriften informieren, Händel ver-
Dichtern ein m usikalisches Repertoire mehrstimmiger Musik           körperte dagegen diese Aufgabe in seiner Biografie: Von seinem
heraus, das die riesigen, von Licht durchfluteten Architekturen      Geburtstort Halle an der Saale ging er zum w eiteren Studium
der gotischen Kathedralen akustisch widerspiegelte. Wichtige         nach Rom, wo er großartige Oratorien für Kardinäle k ompo-
neue musikalische Formen und Gattungen wurden dadurch an-            nierte, um dann in London als Autor des Messias endgültig zu
gestoßen, so die kunstvolle mittelalterliche Motette, die zur ers-   Weltruhm zu gelangen. Bestattet in der Westminster Abbey, wird
ten „europäischen“, d. h. bilingualen Ga ttung in der Musik          Händel von den Briten zu Recht als größter englischer Kompo-
wurde, da ihr simultan gesungene französische und lateinische        nist verehrt. Doch er ist zugleich ein europäischer Musiker par
Texte zugrunde lagen.                                                excellence, wie nach ihm nur noch Franz Liszt. Durch die Grün-
Die glanzvolle Musik des mittelalterlichen Zentrums Paris strahl-    dung einer „Handel & Ha ydn Society“ 1809 in Boston v erlieh
te auf ganz Europa aus und führte dazu, dass Musik ein Prestige-     auch die junge amer ikanische Nation ihrer Bewunderung von
Objekt wurde. So kam es zur Gründung zahlr eicher musika-            Händels Werk Ausdruck und setzte damit einen Export europäi-
lischer Ensembles, als prächtige fürstliche Hofkapellen wie als      scher Musik in die USA in Gang , der a b 1933 durc h die er-
städtische Turmbläser. Entsprechend differenziert war der Sozial-    zwungene Emigration nahezu aller bedeutenden eur opäischen
status von Musikern: Der einzelne Sänger oder Instr umentalist       Komponisten in die USA eine ganz ander e Bedeutung bekam,
war in eine strenge Hierarchie eingebunden, der Komponist je-        bevor es dann im Kalten Kr ieg zu einem Re-Impor t populärer
doch konnte zum „Star“ w erden und sic h die Angebote der            Musik kam. Die Hoffnung aber, Musik könne als eine w eltum-
Herrscherhäuser aussuchen. Die eur opäische Musiklandschaft          spannende Sprache die tiefgreifenden politischen und ideologi-
des ausgehenden Mittelalters und der frühen Neuzeit ist daher        schen Konflikte unserer Zeit positiv beeinflussen, bleibt die
ungeheuer vielfältig, ja international „verflochten“ gewesen. So     wichtigste Botschaft der europäischen Musik. Dies mag der tie-
erlebte einer der größten und immer noch die Musikgeschichte         fere Grund dafür sein, dass der große amerikanische Avantgar-
beeinflussenden Komponisten aller Zeiten, der im heutigen Bel-       dist John Cage seiner einzigen, 1984 in Frankfurt uraufgeführ-
gien geborene Josquin Desprez (ca. 1450-1521), den Höhe-             ten Oper den Namen Europeras gab. Europa ohne Musik wie
punkt seiner Karriere am Hof des Herzogs von Ferrara, dem er         auch Musik ohne Europa – beides bleibt unvorstellbar.
auch musikalisch ein Denkmal setzte . Messen, Motetten und
Chansons der sogenannten frank o-flämischen Vokalpolyfonie,
die über fünf Generationen hinweg die europäische Kunstmusik
dominierte, trugen Beinamen wie „L ’homme armé“ („Der
Mann in Waffen“) und wiesen damit auf die gr enzüberschrei-
tende Fähigkeit der Musik hin – in diesem Fall auf ein französi-
sches Soldatenlied, dessen Hauptmelodie in Messen oder Motet-
ten „einwanderte“ und damit in ganz Europa präsent war.
Springen wir in das 18. Jahrhundert, an dessen Ende mit der
Französischen Revolution auch der Unter gang des „Heiligen
Römischen Reichs Deutscher Nation“ erfolgte, dem der Aufstieg
der modernen Nationalstaaten folgte. Parallel zur bis heute
wirksamen institutionellen Organisation des Musiklebens durch
Opernhäuser und Orchestergründungen und die finanzielle För-
derung der Musik durc h den Staa t wird im Bar ock mit dem
„gemischten Geschmack“ erneut eine übergreifende und identi-
tätsstiftende Idee von Musik greifbar. So spiegeln die Bezeic h-
nungen der einzelnen Sätze der barocken Instrumentalsuite ihre
Herkunft oder soziale Funktion aus bzw . im höf ischen oder          Wolfgang Rathert studierte Historische Musikwissenschaft an der Freien Univer-
volkstümlichen Tanz: Allemande (Deutschland), Courante (Ita-         sität Berlin. Von 1991 bis 2002 war er Leiter der Abteilung Musik und Darstellende
lien/Frankreich), Sarabande (Spanien) und Gigue (England).           Kunst der Bibliothek der UdK Berlin. 2002 folgte seine Berufung zum Professor für
Zur Aufgabe der Komponisten wird es, die verschiedenen natio-        Musikwissenschaft an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

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fokus 9

Einheitsstifterin KULTUR
Welche Rolle spielt die Kultur für ein Europa
der Einheit in der Vielfalt?

Walter Hirche, Doris Pack und Jörg-Peter Weigle äußern sich
von verschiedenen Standpunkten aus über die Bedeutung der
Kultur für Europa. Hat die Kultur eine einigende Kraft? Ist
Europa kulturell zusammengewachsen? Das Musikforum hat
nachgefragt.
                                                                   Mit der Schließung des griechischen Staatssenders ERT
                                                                   bricht ein weiterer Stein aus dem kulturellen Gebäude
                                                              Europa: Tausende Griechen protestieren gegen das Spardiktat

                                                                                                                            © imago/Xinhua

                                                                                                                     4/13
10 fokus

Zwischen Regionalität und Bologna-Prozess
   Ich erlebe Europa aus zwei Perspektiven: als Hochschullehrer                             sich schnell verbreiten und leicht kopiert werden können. „Kunst
und als Interpret. Der Lehrer befasst sich zwangsweise mit dem                              muss sich verkaufen und das natürlich europaweit“, so hören es
Bologna-Prozess und stößt da bei auf die Chancen und Risik en                               meist die Musiker. Kunst, die das kann, ist hochwertig und rich-
der europäischen Hochschulreform, die eine Vergleichbarkeit                                 tungsweisend. Aber ist sie das ta tsächlich? Hochpreisig ist sie
von Studiengängen und Abschlüssen zum Ziel hatte. Eine Chan-                                zumeist, aber hochwertig?
ce war die Sc haffung eines einheitlic hen europäischen Hoch-                               Was genau ist es, was dieses Europa für wertvoll erachtet, Indi-
schulraums, in dem sich der Studierende frei bewegen können                                 vidualität oder Mainstream? Einerseits muss die kulturelle Viel-
soll. Damit will Europa eine unvergleichbare Freizügigkeit her-                             falt als konstitutionelle Bindung Europas gestärkt werden und
stellen, wie sie nicht einmal in Deutschland selbst möglich ist.                            ein Ansporn zur Individualität sein. Auf der anderen Seite tragen
Hierzulande kann eine Familie mit Kindern nicht unproblema-                                 wir aber auch Verantwortung für das geeinte Europa. Es darf uns
tisch von einem Bundesland ins andere umziehen bzw. ein Leh-                                deshalb nicht egal sein, wenn in Griechenland ein Rundfunk-
rer Schultyp oder Bundesland wechseln. Das alles soll in Europa                             chor und ein Rundfunksinfonieorchester per Dekret geschlossen
möglich sein? Es sc heint, als wäre Europa weiter als die deut-                             werden. Solche Beschlüsse treffen nicht nur die griechische (in-
sche Kleinstaaterei und der Bologna-Prozess eine Blaupause für                              dividuelle), sondern auch die europäische Identität. Es spielt ei-
eine längst fällige deutsche Föderalismusreform.                                            ne Rolle, wenn aus dem „kulturellen Gebäude Europa“ ein Stein
Der Bologna-Prozess stellt einen Paradigmenwechsel in der Aus-                              herausgebrochen wird.
bildung dar. Deutsche Musikhochschulen verlangen bestimmte                                  Dennoch, auch wenn man vom Ziel noch weit entfernt ist, muss
Standards. Wir müssen konstatieren, dass diese Standards nic ht                             das Ziel selbst nicht falsch gesteckt sein.
überall in Europa so vertreten werden, sondern oft anderes für
wichtig erachtet wird. Darauf müssen wir uns einstellen.
Der Interpret hingegen beschäftigt sich vor allem mit der Indi-
vidualität und möchte nicht einer von vielen in diesem großen
Europa sein. Für ihn ist das Besonder e, das Eigene das Ziel. Im
Sinne eines kultur ell vielfältigen Eur opas könnte man das als
„das Regionale“ bezeichnen. Der Interpret befindet sich in ei-
nem weitaus größeren Lebensraum als noch vor zehn oder gar
zwanzig Jahren. Die Chance hierbei liegt in der Neugierde der                                                      Jörg-Peter Weigle ist ehemaliger Rektor der Hoch-
                                                                                                                   schule für Musik „Hanns Eisler“ in Berlin. Seit 2001
vielen künstlerischen Individualitäten aufeinander und in den
                                                                                                                   ist er dort als Professor für Chordirigieren tätig. Er
daraus erwachsenden Erkenntnisprozessen, die uns alle ber ei-
                                                                     © Monika Rittershaus

                                                                                                                   war fast 17 Jahre als Chefdirigent verschiedener Or-
chern können. Die Vielfalt wird am sc hnellsten durch soziale
                                                                                                                   chester bzw. des Rundfunkchors Leipzig tätig und ist
Medien transportiert. Sie entsc heiden häufig über Erf olg und                                                     seit 2003 künstlerischer Leiter des Philharmonischen
Misserfolg eines Künstlers. Sie transportieren Erfolgsrezepte, die                                                 Chors Berlin.

Europa als Weltprovinz
   Die Sperrung des europäischen Luftraums wegen der Asche-                                 zur Kulturellen Vielfalt (2001) der UNESCO „Mensc hen und
wolke eines isländischen Vulkans 2010 war ein Novum. Inne-                                  Gruppen mit zugleic h mehrfachen, vielfältigen und d ynami-
halten durchbricht Routinen. Die Krisenphänomene der letzten                                schen kulturellen Identitäten“ als Nor malfall des 21. Jahrhun-
Jahre erschüttern Selbstverständnisse und Zukunftsv orstellun-                              derts. Europa ist aus dieser Perspektive eine – wenn auch wich-
gen. Kultur als Motor Europas wurde jedoch bereits in der Früh-                             tige – Weltprovinz.
phase der Industrialisierung diskutiert. So erkannte der Ökonom                             Jürgen Habermas plädierte kürzlich dafür, die europäische Krise
Friedrich List 1841 geistige Ressourcen und K ompetenzen als                                endlich einmal nicht entlang nationaler Grenzen zu diskutieren,
entscheidend für wirtschaftliche Entwicklung an. 2013 disku-                                sondern „Verlierer und Gewinner der Krisenbewältigung nach
tiert die inter nationale Gemeinschaft Entwicklungsziele ab                                 sozialen Gruppen zu unterscheiden“ (2013). Dies ist sicherlich
2015, die Kultur als Basis von Anpassungsfähigkeit, Stehvermö-                              wichtig, jedoch nicht hinreichend. Die kulturellen Grundlagen
gen und Widerstandskraft von Gesellschaften begreift.                                       des Wirtschaftens müssen einbezogen werden.
Angesichts weltweiter Migration und eines schier unbegrenzten                               Vor gut 20 J ahren bildeten Mahbub Ul Haq und Amartya Sen
Austauschs von Informationen definierte die Allgemeine Erklärung                            mit dem Index menschlicher Entwicklung erstmals Lebenslagen in

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fokus 11

Orientierung und Geborgenheit
    „In Vielfalt geeint“: Dieser Leitspr uch der Eur opäischen                                   Das European Union Baroque Orchestra, das von der EU den Ti-
Union ist ohne den Bezug zur Kultur nicht denkbar. Je mehr die                                   tel „Kulturbotschafter“ zuerkannt bekam, vereint begabte junge
nationale Souveränität (notwendigerweise) schwindet, umso                                        Musiker aus ganz Europa und begeistert auf seinen Konzertrei-
wichtiger ist es, die identitätsstiftende Bedeutung unser er Kul-                                sen die Zuhörer. Und in jedem Jahr verleiht die EU-Kommission
turlandschaft und damit auch ihre Vielfalt zu erhalten und den                                   den Preis der Eur opäischen Union für zeitgenössisc he Musik:
Menschen auf diese Art Orientierung und Geborgenheit zu ge-                                      Im Rahmen der „Eur opean Border Br eaker Awards“ werden
ben. In wirtschaftlichen Krisenzeiten gilt dies allemal. Die Kul-                                Nachwuchstalente ausgezeichnet und gefördert, denen es trotz
tur- und Kreativindustrien bieten Millionen Menschen einen Ar-                                   Schwierigkeiten gelungen ist, mit ihrer Musik auch außerhalb
beitsplatz, doch kulturelle Vielfalt ist vor allem auch ein Wert an                              ihres Heimatlandes Musikliebhaber zu erreichen.
sich, der nicht in Euro und Cent auszudrücken ist.                                               Unsere Kulturpolitik hat einiges vorzuweisen und ist für die Zu-
Die EU und ihre Mitgliedstaaten haben sich der UNESCO-Kon-                                       kunft gut aufgestellt. Sie ist geeignet, das Motto „In Vielfalt ge-
vention zur kulturellen Vielfalt verpflichtet, was uns EU-Kultur-                                eint“ mit Leben zu füllen – gerade auch mithilfe von Musik.
politikern Rückendeckung bei Diskussionen wie der zum ge-                                        Dazu bedarf es a ber nicht nur der P olitik, sondern vor allem
planten Freihandelsabkommen mit den USA gibt. Auch das nun                                       auch der Neugierde und Begeisterung der Bürger Europas. Nur,
auslaufende EU-Förderprogramm „Kultur“ trägt dieser Einsicht                                     wenn die Mensc hen sich im Alltag auch tatsächlich für Kunst
Rechnung. Es fördert die Mobilität von Kulturschaffenden, un-                                    und Musik, für Film und historisches Erbe aus anderen Ländern
terstützt die grenzüberschreitende Verbreitung ihrer Werke und                                   Europas begeistern, werden Grenzen auch tatsächlich über-
trägt zur Förderung des interkulturellen Dialogs bei.                                            schritten und der unglaub liche Wert des Fr iedensprojekts
Insbesondere das Europäische Parlament hat bei den jüngst er-                                    Europa unmittelbar offenbar.
folgreich abgeschlossenen Verhandlungen Wert darauf gelegt,                                      Man muss dazu gelegentlich etwas genauer hinsehen, anstatt re-
dass auch das Nachfolgeprogramm „Kreatives Europa“ nicht in                                      flexhaft den Verlockungen der allgegenwär tigen US-Unterhal-
erster Linie ein Konjunkturprogramm sein wird.                                                   tungsindustrie nachzugeben. Die Bewahrung unserer kulturellen
EU-Kulturförderung speist sich auch aus anderen Quellen wie den                                  Vielfalt, sie ist also eine Herausf orderung an jeden Einzelnen
Strukturfonds, mit deren Hilfe auch einiges für den Musiksektor                                  von uns. Aber es lohnt sich, sie anzunehmen.
getan werden kann. So wurde der Aufbau des Musikparks Mann-
heim, der Existenzgründer n und Jungunter nehmern aus der                                                           Doris Pack ist seit 1989 Mitglied des Europäischen Parla-

Musikbranche eine Basis bietet, über den Eur opäischen Fonds                                                        ments und Vorstandsmitglied der Fraktion der Europäi-
                                                                                                                    schen Volkspartei (EVP). Seit 2009 ist sie Vorsitzende des
für regionale Entwicklung mitfinanziert. Gleiches gilt für „La
                                                                                                                    Ausschusses für Kultur und Bildung. Zudem hat sie zahl-
Quartier de la création“ in Nantes, wo „La Fabrique“ Musikschaf-
                                                                                                                    reiche Ehrenämter im Kultur- und Bildungsbereich inne,
fenden ein ideales Arbeitsumfeld bietet. Auch der Aufbau von                                                        etwa als Vorsitzende der Stiftung für die deutsch-französi-
Konzertstätten wird immer wieder finanziell gefördert, etwa im
                                                                      © Danube

                                                                                                                    sche kulturelle Zusammenarbeit und Präsidentin der Euro-
Rahmen der Initiative Europäische Kulturhauptstadt.                                                                 päischen Kinder- und Jugendbuchmesse in Saarbrücken.

Ländern mit geringen und mittleren Einkommen nuanciert ab.                                       und kleinteilig dazulernen und mit den in ihren Möglichkeiten
Heute sind Wirtschaftsnobelpreise an Forscher wie Elinor Ost-                                    liegenden Entscheidungen in Richtung Nachhaltigkeit umsteu-
rom und Daniel Kahneman Indiz für v erändertes Denken. Wie                                       ern.
kann z. B. die Qualität öffentlicher Dienstleistungen angemessen
in Wert gesetzt werden (Kinder- und Senior enbetreuung, Bil-
dungswesen, Gesundheitsversorgung, kulturelle Infrastruktur
u. a.)? Die über tausend F allstudien der Ostr om’schen Daten-                                                         Walter Hirche a. D. ist seit 2002 Präsident der Deut-
                                                                      © Deutsche UNESCO-Kommission

bank zur erfolgreichen kollektiven Nutzung knapper Gemeingü-                                                           schen UNESCO-Kommission. Von 2003 bis Februar
                                                                                                                       2009 war er Minister für Wirtschaft, Arbeit und Verkehr
ter geben entscheidende Hinweise auf konkrete, kulturell spezi-
                                                                                                                       sowie stellvertretender Ministerpräsident des Landes
fische Regelwerke, die diese Kooperationen gewährleisten. Sol-
                                                                                                                       Niedersachsen. Zuvor war er unter anderem als Mit-
che Beispiele gehören auf den europäischen Lehrplan.                                                                   glied des Deutschen Bundestages sowie als Parla-
Die kulturellen Herausforderungen Europas liegen in der Zu-                                                            mentarischer Staatssekretär bei der Bundesministerin
kunft. Wesentlich ist, dass Verbraucher aller Lebensalter konkret                                                      für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit tätig.

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Kultur als
IDEN TITÄTSSTIFTERIN
Europas Identität definiert sich über die
europäische Kultur Wolfgang Schmale
                                            Bulgarisch-türkische Grenze am Ende Europas
                                                     (Schengen): Die Schranke ist offen –
                                                        die europäische Kultur macht vor
                                                              Landesgrenzen keinen Halt!

                                                                                            © imago/Xinhua

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Wenn es um die Zukunft der Europäischen Union geht, steht              abrupten Brüchen. Bei aller kulturellen Vielfalt gibt es doch ei-
die Debatte um die Rolle der Kultur im Mittelpunkt: Der                nen breiten Konsens über das, was europäische Kultur ist. Sie
Historiker Wolfgang Schmale vertritt die Ansicht, dass einzig          umfasst in der Antike gelegte Grundlagen (Judentum, Christen-
die Kultur die Kraft besitze, eine europäische Identität zu            tum, Athen, Rom), die Verchristlichung Europas im Mittelalter,
konstituieren. Er entwirft einen offenen Kulturbegriff, der            der mal schwächere, mal stärkere Einfluss des Islam, die großen
nicht auf Vereinheitlichung, sondern auf die Kulturelle Viel-          kulturell tragenden Epochen wie Renaissance, Barock, Klassizis-
falt Europas setzt.                                                    mus, Romantik, Historismus, Moderne und P ostmoderne. Sie
                                                                       umfasst Kunst, Architektur und Literatur, Musik, Theater, Wissen-
                                                                       schaft, Technik, Philosophie, Demokratie und Menschenrechte.
   Europa gibt es nur als Kultur. Das bedeutet, dass Europa mehr       All dies ha t in den hin und her w ogenden Zeitläuften selbst
umfasst als die Eur opäische Union, die oftmals einf ach mit           tiefste Brüche und Tragödien wie den Kolonialismus, die beiden
Europa gleichgesetzt wird. Am wenigsten stellt Eur opa einen           Weltkriege und Genozide überdauer t und erb lühte nach den
Kontinent dar. Und keine Kultur hält sich an geografische und          Verschüttungen in Kriegen und Verbrechen wieder neu.
staatliche Grenzen. Kultur und Europa sind daher gleic herma-          Der Grund, warum das so funktionier t, obwohl jeder doc h
ßen als offene Bezeichnungen zu verstehen, die nicht an irgend-        ohne lange nachdenken zu müssen, viele Streitigkeiten, Diffe-
einer Grenze haltmachen und hinter der irgendeine andere Kul-          renzen, Gegensätze und Brüche in der europäischen Kultur auf-
tur plötzlich ihren Anfang nehmen würde.                               listen könnte, sind wir alle selber als individuelle Mensc hen.
Dass sich europäische Identität über die europäische Kultur de-        Kultur entsteht erst durch das Zusammenwirken der Menschen,
finiert, versteht sich weder von selbst noch wird das in dieser        durch die Vernetzungen, die sie ausbilden, sie entsteht in und
Form von allen so akzeptiert werden. Sagt man „Europas Identi-         durch Mobilität. Europas Menschen waren schon immer äußerst
tät“, meint man eine gemeinschaftliche, eine kollektive Identi-        mobil, auch über Europa hinaus, und sorgten für einen anhal-
tät. Kollektive Identitäten entstehen im Rahmen der Zugehörig-         tenden, nie abreißenden vielfachen kulturellen Austausch unter-
keit von Menschen zu verschiedenen Gemeinschaften, die von             einander. Der an den „Enden“ off ene Kulturraum Europa ent-
der Familie bis zur Nation oder vom Sportverein bis zur politi-        stand genauso durch diese kulturelle Praxis, er war also nie nur
schen Partei reichen können, um nur ein paar Stichworte zu ge-         ein gedachter oder vorgestellter, sondern ein konkret gelebter
ben. Bei noc h größeren Gemeinschaften wird die Identif izie-          Raum. Künstler, Architekten, Musiker, Schauspieler, Erasmus-
rung mit diesen sc hwierig, weil sie zu gr oß, zu weit weg, zu         Studenten, Austauschschüler und -auszubildende, Praktikanten
abstrakt sind, oder weil es sich höchstens um gedachte Gemein-         aus dem europäischen Ausland, viele Berufstätige, Reisende aller
schaften handelt, denen k eine unmittelbar erf ahrbare Realität        Art, ganz allgemein Touristen, die Mitglieder transnationaler eu-
entspricht. Diese Schwierigkeiten zeigen sich bereits im Fall ei-      ropäischer Familien, Menschen, die bei europäischen Institutio-
ner der wichtigsten Gemeinschaften der Moderne, der Nation             nen arbeiten, halten diese Kultur im großen wie die vielen kul-
und dem Na tionalstaat. Umso mehr gilt dies in Bezug auf               turellen Varianten im kleiner en nationalen oder r egionalen,
Europa.                                                                wenn nicht örtlichen Maßstab im Fluss und er möglichen eine
Ist Europa überhaupt eine Gemeinschaft? Kann es eine Gemein-           Identifizierung mit Europas Kultur, die zur Identität des Einzel-
schaft sein? Es gibt viele Gemeinsc haften, die das „Europa“ im        nen wird.
Namen führen: Die Europäische Union, die aber „nur“ 28 Staa-           Gerade in der aktuellen Kr isensituation sollten wir uns daher
ten repräsentiert. Der Europarat, der 47 Mitgliedsstaaten hat, al-     mehr denn je in Eur opa auf den Weg machen, unterwegs sein
so den Großteil der europäischen Staaten betrifft, aber anders als     und dadurch Kultur schaffen und Kultur stabilisieren.
die EU sehr viel w eniger Einwirkungsmöglichkeiten auf die
Menschen besitzt. Andere „europäische“ Gemeinschaften zeigen
sich in Form der UEFA, zu der auc h Israel gehör t, oder beim
Eurovisionscontest, zu dem beispiels weise auch Aserbaidschan
dazugehört. Weitere Gemeinschaften könnten genannt werden,
im Ergebnis ist aber klar, dass diese sehr untersc hiedlich sind
und daher eine als „eur opäisch“ charakterisierbare Identifizie-
rung geradezu unmöglich ist.
Bietet „Europas Kultur“ eine Alternative? Diese verändert sich
seit der Antike ständig, aber sie tut es langsam. Identität benötigt   Wolfgang Schmale ist Professor für Geschichte der Neuzeit an der Universität
eine gewisse Stabilität und v erträgt sich mit langsam v oran-         Wien. Zuletzt erschien von ihm im Böhlau Verlag Mein Europa. Reisetagebücher
schreitenden Veränderungen besser als mit sehr sc hnellen oder         eines Historikers.

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© European Union Youth Orchestra

Europa – das                                                            sind wir!
Wie der europäische Einigungsprozess
durch Kultur vorangetrieben werden kann
Andreas Bock

Europa steht in Folge der Krise seiner Währungsunion nicht      gen vieler Kommentatoren und Karikaturisten faule Menschen,
nur vor einem Strukturproblem, sondern auch vor einem           die sich ihr Schicksal selbst eingebrockt haben. Vor allem im Zu-
Kulturproblem. Andreas Bock, Mitglied der Initiative „A Soul    ge der Euro-Krise keimten in den vergangenen drei Jahren der-
for Europe“, ist überzeugt davon, dass nur ein „Europa von      artige Vorurteile auf, und neben der Währungsunion verlor auch
unten“ helfen könne, denn die wirtschaftlichen Vorteile und     die EU in den Augen der Bürger rasch an Legitimität.
die Politik hätten die Menschen noch nicht von der europäi-     So wandelte sich die eur opäische Wirtschaftskrise zur politi-
schen Idee überzeugt. Man müsse die Bürger aus allen Berei-     schen Vertrauenskrise der Eur opäischen Union: Einer im Mai
chen der Gesellschaft einbeziehen und das Verständnis für die   veröffentlichten Studie des US-Forschungsinstituts Pew zufolge
gemeinsame Aufgabe Europa festigen. Man müsse Europa            sank die Zustimmung zur EU in acht untersuchten Staaten bin-
eine Seele geben.                                               nen einen Jahres im Schnitt von 60 Prozent auf 45 Prozent. Be-
                                                                sonders in den Länder n Südeuropas, dem Epizentr um der
  Die Schuldenkrise gefährdet den europäischen Zusammen-        Schuldenkrise, ist die Zustimm ung zur Union ger ing wie nie.
halt. Bezeichnend dafür sind eine ster eotype Bildsprache und   Eine vertiefte Integration will kaum jemand mehr, in Großbri-
grobe Verallgemeinerungen: Deutsche Spitzenpolitiker werden     tannien denken Spitzenpolitiker zunehmend über einen EU-
in Karikaturen und auf Demo-Plaka ten gerne mit Hitlerbar t     Austritt nach, in mehr eren Ländern erhielten na tionalistische
oder in SS-Uniformen dargestellt. Südeuropäer sind in den Au-   Bewegungen Zulauf.

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Was zurzeit allerorts bröckelt, entsteht scheinbar mit der Musik
wie von selbst: ein europäisches Wir-Gefühl (Instrumentalisten
des EUYO – European Union Youth Orchestra)

Laut der Untersuchung schuf die Euro-Krise Zentrifugalkräfte,         ger bis auf ihre im Grunde zu vernachlässigende Beteiligung an
die die öffentliche Meinung in Europa zersplittert und die Be-        den Wahlen zum Europäischen Parlament kaum aktiver Teil des
völkerungen voneinander entfernt habe. Ein Str ukturproblem,          Integrationsprozesses. So entwickelte sich die EU in den Köpfen
das die Währungskrise eigentlich darstellt, gerät plötzlich zum       der Menschen zu einem eher abstrakten Gebilde. Zwar bietet die
Kulturproblem.                                                        EU mit der Europäischen Bürgerinitiative – eingeführt mit dem
Wie lässt sich dem begegnen? Zunächst müssen die Menschen             Vertrag von Lissabon – Bürgern und ihren Interessenvertretun-
wieder an ihre Gestaltungsmöglichkeit glauben. Spitzenpolitiker       gen die Möglic hkeit, ihre Anliegen in einem r echtlichen Rah-
dürfen nicht nur von Brüssel aus Direktiven herausgeben, deren        men vorzubringen. Doch der Bürger muss insgesamt mehr Mit-
Zustandekommen für die Mehrheit der Unions-Bür ger kaum               verantwortung einfordern, soll er im eur opäischen Einigungs-
nachvollziehbar ist. Auch ist es w enig vertrauenerweckend,           prozess als Akteur der europäischen Einigung wahrgenommen
wenn führende Politiker großer EU-Staaten in Hinterzimmern            werden. Er m uss künftig mehr Gestaltungsspielraum bek om-
vermeintlich die Eur o-Krise lösen. Angesichts der k omplexen         men, um gemeinsam mit den politischen Entscheidungsträgern
Entscheidungen des zwisc henstaatlichen Krisenmanagements             auf Augenhöhe am Haus Europa mit zu bauen. Das derzeit lau-
hinter verschlossenen Türen haben viele das Gefühl, nicht mehr        fende Europäische Jahr der Bürgerinnen und Bürger ist ein ers-
mitreden zu können.                                                   ter Schritt hin zu einem Europa, das seine aktiven Bürger aner-
Wirtschaft und Wohlstand sind zentral für die Nachhaltigkeit des      kennt. Und wir müssen weiter für Methoden kämpfen, die diese
europäischen Projekts, doch sie können nicht seine alleinige Ba-      Mitverantwortung zum Ziel hat.
sis sein. Um es zu festigen, benötigen wir Identifikationspunkte,     Als Träger dieser Idee ruft die zivilgesellschaftliche Initiative „A
die über die tägliche Politik und Wirtschaft hinausreichen. Denn      Soul for Europe“ dazu auf, eine „kulturelle Koalition“ zu schmie-
niemand ist von einem gemeinsamen Markt emotional berührt.            den. Die Koalition bringt Intellektuelle, Politiker und Bürger zu-
Nicht allein die Diskurse über Bank enunion, Schuldengemein-          sammen, die eine bürgernahe Integration Europas vorantreiben
schaft oder Sc huldenbremse dürfen die europäische Narrative          wollen. Eine neuartige Partnerschaft zwischen Vertretern der Zivil-
bestimmen. Jenseits eines Europas der Institutionen können wir        gesellschaft und Politikern in themenbezogenen Arbeitsgruppen
uns eher für ein Europa der Städte, Regionen, der Gesichter und       ist ein vielversprechender Ansatz, um gemeinschaftlich die Zu-
Geschichten begeistern. Den europäischen Integrationsprozess          kunft Europas zu verhandeln. Der Dialog sollte insbesondere mit
zu gestalten, heißt deshalb vor allem auch den Europa-Diskurs         den Volksvertretern auf europäischer als auch auf lokaler Ebene
von wirtschaftlichen Aspekten zu entlasten. Es können auc h           stattfinden, wo das europäische Projekt am ehesten zu verorten
Künstler und Intellektuelle sein, denen die Darstellung Europas       ist. Dazu sc huf die Initiative bereits eine Ser ie von Foren, die
anvertraut wird. Dazu können europäische Bilder in audiovisu-         Bürger und Entscheidungsträger an einen Tisch bringen.
ellen Medien oder Pr ojekte wie die Eur opäische Kulturhaupt-         Für die nächste Legislaturperiode des europäischen Parlaments
stadt beitragen.                                                      ab 2014 bereitet die Initiative „A Soul for Europe“ eine Resolu-
Doch entscheidend ist vor allem die Rolle des Bür gers als Kul-       tion vor, die sich an Politiker der europäischen Parteifraktionen,
turträger. Während EU-Institutionen gesic htslos sind, verkör-        die neu gewählten Parlamentarier sowie an zivilgesellschaftliche
pern Bürger historische Erfahrungen, Wertesysteme und Weltan-         Gruppierungen und Bür ger richtet. Sowohl Politiker als auc h
schauungen. Kultur ist ein unverzichtbares Element der sozialen       Akteure der Zivilgesellschaft sollen so die Bedeutung von Kultur
und demokratischen Strukturen in Europa. Sie ist die Vorausset-       für den eur opäischen Integrationsprozess stärker anerkennen
zung für jeden Dialog und der Kitt, der die eur opäische Ge-          und in ihrer Arbeit verankern.
meinschaft über r ein ökonomische Interessen hinaus zusam-            Für uns Bürger muss es künftig schlichtweg mehr Möglichkei-
menhält und den grenzüberschreitenden Blick fördert. Wir Eu-          ten geben, unsere Rolle als aktive Europäer ausüben zu können.
ropäer müssen uns deshalb als K ulturgemeinschaft begreifen,          Eine kulturelle Koalition für ein demokratisches Europa von un-
der Musik, Literatur, Künste genauso zu Grunde liegen wie Le-         ten kann dazu beitragen, die Entfremdung vom Projekt Europa
bensweisen und Traditionen.                                           zu verhindern. Dass es diesen Bedarf gibt, haben die vergange-
Wenn Europa ein kulturelles Projekt ist, dann erhält der Bürger als   nen Jahre gezeigt.
Kulturträger zugleich mehr Deutungshoheit über das europäische
Projekt, das auf Erfahrungen und dem kulturellen Gedächtnis be-
                                                                      Andreas Bock ist Journalist und Mitglied der Strategiegruppe von „A Soul for
ruht. Kultur kommt somit die Rolle eines Katalysators zu. Sie prägt
                                                                      Europe“. Von 2005 bis 2007 war er als Projektleiter für das Institut für Auslandsbe-
unser Wertesystem und er möglicht uns Or ientierung in einer          ziehungen in Budapest tätig. Derzeit arbeitet er beim Netzwerk für Osteuropa-Be-
zunehmend globalisierten und zugleich fragmentierten Welt.            richterstattung n-ost. Er leitet dort die Redaktion der Presseschau eurotopics, ei-
Echte europäische Integration kann deshalb nur funktionieren,         ner Online-Plattform, die sich aktuellen europäischen Themen widmet und von der
wenn ein „Europa von unten“ entsteht. Bislang waren die Bür-          Bundeszentrale für politische Bildung herausgegeben wird.

                                                                                                                                                      4/13
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                                                                             Teilnehmerin des Young Euro Classic-Festivals
                                                                                    2012: Aus ganz Europa kommen junge
                                                                             Orchestermusiker zusammen, um miteinander
                                                                                     zu musizieren und sich auszutauschen

 Vielfalt ist
 Trumpf und Segen
Musikalische Nachwuchsförderung in Europa am
Beispiel von Young Euro Classic Willi Steul

                                                                                                                             © Kai Bienert

  Die Förderung des spitzenmusikalischen Nachwuchses ist             Nimmt man die Orc hester dagegen in ihrer real-existierenden
  nicht nur für eine stabile Kultur im Inland, sondern auch für      Form und richtet dabei den Fokus ganz besonders auf die Ju-
  Europa von besonderer Wichtigkeit. Denn der Nachwuchs              gendorchester dieses K ontinents, dann wird sc hnell deutlich,
  von heute ist der Träger der Musikkultur von morgen! Willi         wie segensreich das vielstimmige Nebeneinander für die kultu-
  Steul verdeutlicht die Notwendigkeit der Nachwuchsförde-           relle Bereicherung unserer musikalischen Wahrnehmung ist.
  rung am Beispiel von Young Euro Classic und berichtet von          Young Euro Classic, das im Millenniumsjahr 2000 als pr ivates
  der interkulturellen Begegnung junger europäischer Orches-         bürgerschaftliches Engagement ins Le ben gerufene Jugendor-
  termusiker.                                                        chesterfestival in Berlin, kann im w ahrsten Sinne des Wortes
                                                                     „ein Lied davon singen“. Denn hier ist die Vielfalt Trumpf und
      Einheit in der Vielfalt: Gäbe es ein Mark enzeichen für        Segen. Das Festival hat über die Jahre seine Attraktivität ständig
  Europa, müsste es sich in diesem Bild widerspiegeln. Wir erle-     steigern können, da mit der je weils ganz eigenen F arbe jedes
  ben es in der P olitik bisweilen bis zum Überdr uss, wie in der    Konzerts, je nach nationaler Eigenheit und Temperament, nach
  europäischen Politik nationale Befindlichkeiten, aus jahrzehnte-   Können und Einsatz der jungen Mensc hen, Überraschendes in
  alten Traditionen oder noc h älteren historischen Wurzeln her-     den Festivalkosmos eingebracht wird. Nicht zuletzt deshalb, we-
  rührend, notwendige gemeinsame politisc he Beschlüsse er-          gen der faszinierenden Abbildung der Vielfalt in der Einheit der
  schweren oder gar tor pedieren. Oft gleic ht die Gemeinsc haft     uns allen gemeinsamen klassisc hen Musik, ist auc h Deutsch-
  der Völker und Länder Europas einem schlecht synchronisierten      landradio Kultur bereits seit dem Gründungsjahr Medienpartner
  Orchester, in dem jeder Instr umentalist seinen eigenen Part so    des Festivals und über trägt jedes Jahr eine repräsentative Aus-
  laut wie möglic h zu Gehör br ingen will – und überdies w eit      wahl der Konzerte.
  und breit kein Dirigent zu sehen ist, der die Musiker zu einem     In den zurückliegenden 14 Festivaljahren hat Young Euro Classic
  Ganzen zusammenzwingen könnte.                                     nahezu jeden Winkel Europas musikalisch ausgeleuchtet: Der

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