Mehr als Eisbären: Elektronische Musik in der Schweiz

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Mehr als Eisbären: Elektronische Musik in der Schweiz | norient.com   10 Feb 2022 10:45:37

    Mehr als Eisbären:
    Elektronische Musik in der
    Schweiz
    by Marcus Maeder

    Von einer landesspezifischen Ausprägung oder Entwicklung
    der elektronischen Musik kann man in der Schweiz
    keineswegs reden: Wer Erfolg hat, bewegt sich in
    internationalen Gefilden und internationale Künstler treten in
    den Schweizer Städten auf. Wegbereiter, Einflüsse und
    Vordenker sind greifbarer: Dieser Beitrag beschäftigt sich
    daher in einem ersten Teil mit dem von der Kunst
    angestossenen Bewusstsein für den elektronischen Klang
    und beschreibt Momente, in denen elektronische Musik in
    Berührung mit der Popkultur kam und Teil von ihr wurde. Der
    zweite Teil schildert die Geschichte der Elektronischen Musik
    in der Schweiz, ausgehend von der Zürcher Kunst- und
    Partyszene Ende der 1980er Jahre. Ein Auszug aus der

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    Publikation des Chronos-Verlages von Bruno Spoerri (Hg.)
    Musik aus dem Nichts. Die Geschichte der
    elektroakustischen Musik in der Schweiz.

    1 Popkultur, international

    1968

    Die Jugendbewegungen und -Revolten um 1968 in Europa und Amerika als
    Folge des nach dem zweiten Weltkrieg einsetzenden Wirtschaftswunders und
    als Reaktion auf das mit ihm erblühte Bürgertum und seiner Bedürfnisse an
    eine produktive «Disziplinargesellschaft» (Foucault 1994) verkörperten einen
    Bruch der Jugend mit den sozialen, kulturellen und politischen Anforderungen
    der kapitalistischen Gesellschaft. Die Kulturindustrie, besonders Kunst und
    Popkultur, wurde damals «zum Medium dieser Forderungen» (Holert 1996,
    12). Nach 1968 über- und verlagerten sich im Spiegel technologischer
    (Massen-) Medien Begriffe und Definitionen sehr vieler Bereiche der
    kulturellen Produktion nachhaltig; es fand eine intensive, gegenseitige
    Durchdringung der verschiedenen künstlerischen Disziplinen statt, der
    Kunstbegriff und die Rolle des Künstlers wurde von Joseph Beuys (Jeder
    Mensch ein Künstler, 1967) zur Disposition gestellt, der Musikbegriff von
    John Cage (You don't have to call it music, if the term shocks you!, 1982)
    radikal erweitert, beides wurde in der Popkultur aufgenommen: Jeder kann
    Musik/Kunst machen.

    Die elektronische Musik situierte sich bis in die späten 60er Jahre fast
    ausschliesslich im akademischen, hochkulturellen Kontext – zu diesem
    Zeitpunkt hielt gerade deren Technologie mit der Serienproduktion des
    Synthesizers (Moog, 1964) Einzug in Bereiche der Popmusik. Gleichzeitig
    wurde die Popkultur von Konzepten der bildenden Künste durchdrungen.
    Dieses spezifische Verhältnis lässt sich gut am Beispiel Deutschlands zeigen,
    etwa mit Bands wie Amon Düül, Can und Tangerine Dream: Man begann,
    elektronische oder elektronisch erweiterte Popmusik zu produzieren. Thomas
    Groetz beschreibt in seinem Buch Kunst-Musik die damalige Situation so:
    «eine Reihe von Bands, die nicht das herkömmliche Instrumentarium Gitarre,
    Bass und Schlagzeug, sondern vorrangig elektronische Instrumente
    verwendeten, waren ursprünglich in der bildenden Kunst beheimatet.
    Mehrere Mitglieder der Gruppen Tangerine Dream (Edgar Froese und Conrad
    Schnitzler) und Cluster (Conrad Schnitzler und Dieter Moebius) studierten an
    Kunstschulen und fanden als nicht ausgebildete Musiker im
    unkonventionellen Umgang mit der Elektronik zu einer eigenständigen
    Klangsprache» (Groetz 2002, 15).

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    Pop und Gegenkultur
    Der Wissenschaftszweig der Cultural Studies betrachtet Pop- und
    Jugendkultur als ein Feld, in dem sich gesellschaftliche Konflikte und
    Veränderungen kulturell manifestieren. In Deutschland beschäftigt sich vor
    allem seit den 90er Jahren ein Kreis von Theoretiker/innen und Autor/innen,
    entstanden im Umfeld der linken Popszene,1 kultur- und
    sozialwissenschaftlich mit der Popkultur und sieht diese als Summe von
    Manifestationen gesamtgesellschaftlicher Entwicklungen westlicher Moral-
    und Wertvorstellungen, die in der Massenkultur nahezu alle kulturellen
    Sparten umfassen. Es werden Repräsentationen im Pop kritisch beleuchtet,
    insbesondere Mythen der Popkultur. Gerade auf repräsentativer Ebene wird
    gesellschaftliche Opposition über die Popkultur ausgetragen, fassen Tom
    Holert und Mark Terkessidis in ihrem Buch Mainstream der Minderheiten
    zusammen: «Die Kämpfe der Jugend mit Hilfe von Pop gehörten ebenso wie
    antirassistische, feministische, friedensbewegte oder ökologische Kämpfe zu
    den neuen sozialen Bewegungen der Nachkriegszeit» (Holert 1996, 13). Die
    Repräsentation von Differenz, von Opposition gegenüber gesellschaftlichen
    Werten allgemein ist längst nicht mehr den angestammten Bereichen der
    Hochkultur wie Kunst oder Literatur vorenthalten, sie manifestiert sich seit
    geraumer Zeit auch in den «Fransen und Wucherungen» der Popkultur.

    Ein Ausflug nach England: Industrial Music for Industrial
    People

    Einige dieser «Wucherungen» traten wie erwähnt in der Folge von 1968 in der
    Durchdringung von Kunst und Musik auf, sehr exemplarisch in England, wo
    sich 1969 in Hull die Performance-Gruppe COUM Transmissions um Genesis
    P-Orridge und Cosey Fanny Tutti bildete. COUM war ein Kunstwort nach der
    Vorlage von Dada, man initiierte Happenings und Performances. Von Beginn

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    weg waren musikalische Elemente Teil der Aktionen. COUM Transmissions
    sahen sich eher als Musikgruppe, welche den damaligen Kunstkontext
    unterminieren wollte und mit kaputten Violinen, präparierten Klavieren und
    Spielzeuginstrumenten improvisierte – man wollte mit den Aktionen
    intermediäre Gesamtkunstwerke veranstalten, oder wie Cosey Fanny Tutti
    beschrieb, «entire environments for enjoyment» (Ford 1999, 1.20) schaffen.
    Unter dem Einfluss der Wiener Aktionisten kam der eigene Körper zum
    Einsatz, wie etwa bei der Gruppensex-Aktion Studio of Lust in der Nuffield
    Gallery in Southampton 1975 oder Selbstverletzungen P-Orridges und Tuttis
    in den Performances Cease to Exist.

    1974 stiessen Chris Carter und Peter Christopherson 2 dazu. Die beiden
    Musiker brachten neue Musiktechnologien in die Gruppe, selbstgebaute
    Synthesizer und einen MicroKorg, man nannte sich ab 1975 Throbbing
    Gristle, was im Yorkshire Slang soviel wie eine Erektion bedeutet
    («pochender/brummender Knorpel»). Zu diesem Namen liess P-Orridge
    verlauten: «throbbing is also often used to refer to machines and engines»
    (Ford 1999, 5.16). Und genau so klang die Musik Throbbing Gristles: Es war
    ein improvisiertes, elektronisches Klanggewitter, in dem von Zeit zu Zeit
    Strukturen und Klangmuster der Popmusik auftauchten. Im Studio wurde fast
    nichts eingespielt, die Aktionen und Konzerte wurden live aufgenommen,
    später dann Ausschnitte für Tonträger ausgewählt. Viele Vorführungen
    Throbbing Gristles und ihres Kreises fanden in ihrem Wohn- und Atelierhaus
    in Hackney in London statt, der Ort bekam bald einen Namen – in böser,
    ironischer Anlehnung an Andy Warhols Factory in New York wurde das
    Hauptquartier Death Factory3 genannt.

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    Die Gefilde der elektronischen Popmusik dominierten in den 70er Jahren
    inhaltlich vor allem technologische Fiktionen, Fantasy und andere
    Transzendentalien. Eine kleine Zahl Künstler fing damit an, eine
    gegenkulturelle Ästhetik der technischen wie industriellen Maschinen zu
    entwickeln. Sie setzten auf Rhythmus, auf endlose Wiederholung, auf
    Kreischen, Pfeifen, Hämmern, quasi als postmoderner Abgesang auf das
    industrielle Zeitalter, welches dem Technologie- und Medienzeitalter zu
    weichen begann. Man empfand die Kunstwelt als überkommen und sah im
    Projekt einer «Popband» die Fluchtroute aus der wachsenden, eigenen
    Reputation in der als belanglos empfundenen Kunst. Die eigene Arbeit sollte
    so an eine breitere und heterogenere Öffentlichkeit adressiert werden, es
    fand ein bewusster, sehr postmoderner Schritt aus der Kunst in die Popkultur
    statt. Das betraf aber nur die Form ihrer subversiven Verkleidung. Denn Pop
    war im Fall Throbbing Gristles Maskerade für eine Arbeit zu Themen, welche
    durchwegs verstörende, verdrängte Phänomene wie Tod, Gewalt,
    Pornographie und Faschismus beinhalteten. Die dunkle Seite der Menschen
    und der Gesellschaft wurde ans grelle Licht der extremen Inszenierung geholt
    und hatte wie alle Antikunst zum Ziel, die Illusion einer homogenen
    Wirklichkeit als auch allgemeingültiger Moral- und Wertvorstellungen
    gründlich zu dekonstruieren.

    In der Popmusiklandschaft der 70er Jahre fand sich kein Verlag, welcher
    dermassen extreme Musik veröffentlichen wollte. Also wurde kurzerhand
    einen eigenes Musiklabel gegründet, Industrial Records, mit dem Claim
    Industrial Music for Industrial People. Zum Label stiessen schnell weitere
    Gruppen und Künstler: Monte Cazzaza, Cabaret Voltaire u. a. Es entstand
    innerhalb weniger Jahre eine eigentliche Subkultur um das Label und die

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    Death Factory, wo regelmässig Gruppen, welche auf Industrial Records
    veröffentlichten, auftraten. Die sich schnell global ausbreitende, aber klein
    bleibende Szene entwickelte einen bohemistischen Lebensstil: es entstand
    analog zum Punk ein gegenkultureller Kleidungscode, welcher sich aus
    anderen Subkulturen und der Ästhetik verblichener Avantgarden bediente.
    Militarismus in Form von Uniformteilen und Springerstiefeln, selbst genähte
    und -entworfene Mode, Kleidungsstücke aus der S/M-Szene, Abbruchhäuser
    und Keller als Clubs, Motive aus dem dritten Reich, der Pornografie und der
    Psychiatrie auf Plattencovern – eine Ästhetik des Ausgegrenzten, des
    Desolaten und der Gewalt: Die Gegenwart sollte als Ruine modernistischer,
    totalitärer und kapitalistischer Konzepte und industrieller Produktion
    dargestellt werden.

    New Wave, Elektropop

    Industrial floss in den 80er Jahren nach der Auflösung von Throbbing Gristle 4
    quasi als unterirdischer Fluss unter der Popkultur in fast
    geheimgesellschaftlich anmutenden Zirkeln weiter. Ein Produkt auf der
    Oberfläche des Untergründigen war der in den 70er Jahren aufkommende
    Elektropop, welcher aber bis Ende dieser Dekade eher eine Randerscheinung
    blieb. Auch darum, weil die dafür benötigte Technologie (Synthesizer) immer
    noch relativ teuer war und erst um 1980 herum billigere Geräte auf den Markt
    kamen. Es blieb bis dahin ein paar besser gestellten Einzelfiguren
    vorbehalten, eine Techno-/Technologie-Ästhetik mit neuer Musikapparatur
    zu entwickeln, allen voran die Düsseldorfer Gruppe Kraftwerk, welche sich
    stilistisch aus Krautrock-Gefilden heraus entwickelt hatte. Kraftwerk waren in
    den 70er-Jahren aber eine ziemlich randständige Erscheinung mit ihren naiv
    anmutenden Technik- und Computerwelt-Texten, sah sich gerade die
    damalige Gegenkultur in bewusster Opposition zur Technologisierung der
    Welt. Tauchten im damals legendären Punk-Lokal Ratinger Hof in
    Düsseldorf5 Bandmitglieder von Kraftwerk auf, wurden sie meist von den
    anwesenden Punkern verprügelt. Mit Elektropop bekam Pop in der zweiten
    Hälfte der 70er Jahre ein nächtlich-kühles Gesicht: New Wave hiess die Pop-
    Bewegung, deren Ästhetik dem Neonlicht der Grosskapital-Metropolen
    entsprang und des Öfteren auf dem Friedhof ihre Residenz fand. Als
    ästhetischer Gegenentwurf zum welken Hippietum war nun Synthetik, Plastik
    und Melancholie gefragt, der Synthesizer begann die Popmusik der 80er
    Jahre zu prägen.

    Pop als Mainstreamkultur hat sich immer wieder beim Inventar der Hoch- und
    Subkultur bedient, im Fall von New Wave bestanden die Lieferanten des
    Öfteren aus Exponenten der Industrial-Kultur, zum Beispiel begannen
    Depeche Mode in ihren ersten kommerziellen Grosserfolgen wie Master and
    Servant oder Blasphemous Rumours mit Samples von Metall-Perkussion zu
    arbeiten, beeindruckt und beeinflusst von der apokalyptischen
    Baumaschinen-Musik der Berliner Band Einstürzende Neubauten. Stilprägend
    für die elektronischen Formen des New Wave und seiner deutschen Spielart

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    Neue Deutsche Welle waren Gruppen wie Cabaret Voltaire, Joy Division (aus
    der später New Order wurden), Fad Gadget und der Plan sowie DAF; in der
    Schweiz waren es Grauzone, die Band von Stephan Eicher und seinem Bruder
    und ihr Riesenhit Eisbär sowie – grosse Ausnahmeerscheinung mit
    internationalem Erfolg – das Elektropop-Trio, später -Duo Yello, welches
    schon international die Charts stürmte, als man hierzulande bei seiner
    Nennung noch mit den Achseln zuckte.

    Sound und die Musik der Unbefugten
    Einige Autoren der jüngeren Pop-Theorie sehen in den Strömungen der Pop-
    und Subkultur seit den 60er Jahren ein Aufgehen der künstlerischen
    Avantgarden in der Popkultur. Kontexte wie die experimentelle Musik, von
    Freejazz über Industrial bis zu neuesten Tendenzen in der digitalen Musik,
    werden zuweilen als «Wurmfortsatz eines alten, überkommenen Avantgarde-
    Gedankens» (Büsser 2002) bezeichnet. Auch wenn man dieser etwas arg
    fokussierten Sichtweise wenig abgewinnen kann, zeigt sich hier die
    eigentliche Problematik, die dem Begriff «Postmoderne» inhärent ist. Wenn
    man von elektronisch erzeugter Musik ohne Text im Popkontext spricht, so
    ist damit eine ganzer, künstlerischer Kontext bezeichnet, eine «Sound
    Culture», die sich zwischen den 80er- und 90er Jahren entwickelt hat, vorerst
    als kleine Gemeinde von Spezialisten, welche dann später in der «Soundflut»
    von Techno aufging.

    Doch was ist mit «Sound» gemeint? Im englischen Wort «Sound» ist gerade
    durch seine Verwendung im Deutschen und seiner Verortung im
    popkulturellen Zusammenhang mehr impliziert als im deutschen Wort
    «Klang/Geräusch». Man spricht bisweilen von einer «Sound-Wende» (Büsser
    2002) in den 90er Jahren, von einer Abkehr in der Popmusikkultur vom Song
    hin zum reinen Klang, zum Sound. Wie erwähnt haben grössere Bereiche der
    Popkultur spätestens mit 68 eine Politisierung durch die Linke erfahren6 und
    somit dem Songtext eine zentrale Rolle zukam, wenn man Pop als
    Agitationsfeld einer linken Gesellschaftskritik verstand. Die Mitte/Ende der
    80er Jahre eintretende Krise der Linken fand ihre Entsprechung in
    zunehmenden, ästhetisch-ideologischen Grabenkämpfen (etwa Rock vs.
    Techno) in der Popkultur. Sound war da die frische Brise, die jegliche
    ideologische Besetzung von Popkultur und Musik wegblies. Erste Exponenten
    dieser sich formierenden Klang- und Soundkultur (etwa Organum,
    :Zoviet*France:, Hafler Trio, das Label Selektion, in der Schweiz vor allem
    Voice Crack, Christian Marclay, G*Park, und weitere) arbeiteten an einem
    popkulturgeschichtlich sehr spezifischen Projekt, nämlich an der
    postmodernen/popkulturellen Ästhetisierung des Klangs, des Geräuschs und
    des ihn erzeugenden, technischen Instruments.

    Die «Epochalität des Technischen» (Kleiner und Szepanski 2003, 9) hielt als
    ästhetischer Faktor Einzug in grössere Bereiche der Popkultur. Dass der
    Fokus der Popmusik auf den reinen Sound gerichtet wurde, liegt einerseits in

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    der Korrelation von technologischen und ästhetischen Entwicklungen: Ohne
    Synthesizer, Sampler und Personal Computer wäre die Geschichte wohl
    anders verlaufen. Auch fanden zu dieser Zeit Kontextüberschreitungen von
    Musikern/Künstlern statt, welche Kompositionspraktiken aus der Neuen
    Musik und der historischen Avantgarde der elektronischen Musik (etwa der
    Musique Concrète Pierre Schaeffers und Luc Ferraris, der Computermusik
    von Iannis Xenakis, der elektronischen Musik Stockhausens) für sich
    adaptierten und im digitalen Medium (Sampler, Computer) neu anwandten.
    Technologische Praktiken der akademischen Bereiche der Musik hielten
    Einzug in den lebensweltlichen Kontext einer Klang-Subkultur (zum Beispiel
    der Cut-Up/Schnitt von Tonmaterial zu einer Komposition, Klangbearbeitung
    am Computer, Klangsynthese usw.) – der Sound, seine sozialen und medialen
    Implikationen standen im Vordergrund, weniger seine technologische oder
    kanonische «Bauweise». Man brauchte nicht mehr ein jahrelanges
    Kompositionsstudium, um eine zeitbezogene, «Neue Musik» zu schaffen,
    man eignete sich Hintergründe, Handwerk und Gerätschaften über
    subkulturelle Kontexte selber an, es entstand eine Szene und Musik mit
    künstlerischem und intellektuellem Anspruch, eine «Musik der Unbefugten»,7
    welche jenseits der Hochkultur, aber teilweise mit deren künstlerischen
    Mitteln arbeitete.

    Digital Music for postmodern People
    Industrial entwickelte sich während der 80er-Jahre vom Labelname zur
    Bezeichnung eines ganzen Musikgenres – nicht ganz unschuldig waren hier
    die Plattenläden: Man musste das Fach im Laden irgendwie anschreiben, und
    da lag für alles Extreme, künstlerisch Angehauchte, Elektronische die
    Bezeichnung Industrial nahe. Zuweilen waren in derselben Abteilung auch
    György Ligeti, Philipp Glass oder Arvo Pärt zu finden. Die Stilbezeichnung
    kam gegen die 90er hin in die Jahre, es begannen sich Subgenres zu bilden, es
    entstand ein eigentliches Bestiarium an Bezeichnungen abseitiger Musik. Das
    Ladengestell dafür hiess, ganz ernst gemeint, Post-Industrial – eine Blüte der
    sich postmodernen Theorien affirmierenden Musikrezension in Fanzines und
    Popzines Ende der 80er/zu Beginn der Neunziger Jahre: In der Post-
    Industrial-Abteilung fanden sich Musikstile wie Ritual, Noise, Power-
    Electronics, Dark Ambient, Electronic Body Music, kurz: EBM, Neofolk und
    viele weitere.

    Da viele Vertriebe und Plattenläden neben «Underground»-Musik auch Werke
    der klassischen und vor allem elektronischen Avantgarden führten (Zum
    Beispiel Karbon Musik in Zürich, A-Musik in Köln), entstand so etwas wie ein
    subkultureller Kanon des Experimentellen, der Sound Culture, denn auch
    hartgesottene Japan Noise-Fans hörten sich im Laden aufliegende CDs von
    Luigi Nono oder Iannis Xenakis an und lasen die Schriften Pierre Schaeffers.
    Ihnen gemeinsam war eine Neugier auf den noch ungehörten, neuen Sound, in
    vielen Städten überall in der Welt waren derart spezialisierte Läden
    Anlaufstelle für Forschungs- und Entdeckungsreisen von Jägern des Neuen

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    genauso wie orientierungsbedürftiger Kunststudenten, und sie verfügten
    über Netzwerke, welche weit über ihre Ladentheke hinaus reichten. So
    gesehen sind die in den Plattenläden verbrachten Nachmittage der
    Brillenträger und Bleichgesichter der sich Anfang der 90er Jahre
    formierenden Klang- und Medienkunstszene eigentlich als unmittelbarer
    Kunst- und Musikunterricht zu werten, denn die wenigsten der
    Kunstakademien und noch weniger die Konservatorien vermittelten einen
    Zugang zu popkulturellen Kunst- und Musikpraktiken.8

    Die Neue Improvisationsmusik findet ihre Fortsetzung seit den 60er Jahren
    über Generationen von Musikern bis heute – vor allem in den 70er/80er
    Jahren entstanden Spielformen mit elektronischen, oft selbstgebauten
    Gerätschaften und Instrumenten, (zu nennen sind hier P16.D4 aus
    Deutschland, Ralf Wehowsky, Bernhard Günter, in der Schweiz das
    Künstlerduo Voice Crack/Norbert Möslang und Andy Guhl, Nachtluft von
    Andres Bosshard, Günter Müller und Jaques Widmer) sowie Elementen aus
    der Rockmusik (Steamboat Switzerland, später Alboth!) und dem Jazz
    (Stephan Wittwer, Christian Wolfarth u. a.). Dieser Kontext gehörte mit zum
    Setting, aus dem heraus die experimentelle, elektronische und digitale Musik,
    die Sound Culture, entstand.

    Charakteristisch aber für die 80er- und die frühen 90er Jahre und vor allem
    den Stil und Klang der Werke und Künstler des Post-Industrial war der
    Sampler. Anfangs der 80er-Jahre für Bands ausserhalb der Liga von Depeche
    Mode und Yello völlig unerschwinglich, wurde aus dem schweren und
    wahnsinnig teuren Fairlight-Möbel ein kleineres, handlicheres und
    erschwinglicheres, japanisches Gerät. Es fand eine grosse Verbreitung,
    vorerst als Zitiermaschine von orchestralen Streicherklängen oder
    Paukenschlägen – schnell aber merkte man, dass sich jede beliebige
    Aufnahme damit wiedergeben und verändern liess: Die erste, digitale
    Medienmusik war geboren. Der grosse Unterschied zu der bis dahin
    bekannten und praktizierten elektronischen Musik war der, dass der Klang
    nicht über elektrische Klangerzeuger generiert wurde, sondern bereits
    existierende, aufgezeichnete Klänge über Prozesse der Transformation
    (Filter, Geschwindigkeit, Hüllkurve) neue Klänge generierten. Man kennt
    solche Arbeitsweisen in ihrem Ansatz aus der Musique Concrète, wo auf diese
    Weise mit Bandmaschinen gearbeitet wurde – der Aufwand für ein Stück war
    aber ungleich höher und die Gestaltungsmittel beschränkter. Der Sampler
    verfügte also über einige interessante technische Details, viel
    beeindruckender ist die Flut an medien- und kunsttheoretischen
    Überlegungen, die diese Technologie zur Folge hatte, Diskurse über
    Eklektizismus und Originalität finden ihre Fortsetzung innerhalb der digitalen
    Massenmedien bis heute. Zu erwähnen ist hier die Musik des Schweizer Trios
    Young Gods – den charakteristischen Sound dieser Band machten Sample-
    Loops von verzerrten Rockgitarren aus.

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    Es gab schon vorher ein paar Sampler-Popformationen in der Schweiz, die es
    sogar in die Charts schafften, ich erinnere mich da an Touch el Arab mit
    Muhammar – das war ein echter, elektronischer Hit – und Projekt Matterhorn
    mit Muh, dessen klangliche Ausgangslage hier nicht weiter erläutert werden
    muss – Requiescat in pace. Wenn aber von Sampler- und elektronischer
    Musik in den 80er Jahren gesprochen wird, darf Unknownmix auf keinen Fall
    fehlen. Die Sängerin Magda Vogel, der Klangtüftler Ernst Thoma, Krautrock-
    Drummer Mani Neumeier und der Typograf Hans-Rudolf Lutz haben für ihre
    über 250 Konzerte in ganz Europa audiovisuelle Auftritte kreiert, welche der
    Visuals-Kultur des Techno einiges vorweggenommen haben; der Sampler als
    Zitiermaschine feierte bei Unknownmix kreative Urständ.

    Techno
    Der Moment, in dem sich der Pop-Mainstream und seine Fransen wiederum
    neu formierte, war mit Techno gekommen. Stilistisch hatte sich Techno aus
    der Disco-Musik der 70er Jahre entwickelt (schon damals auch partiell
    elektronisch mit Giorgio Moroder und Donna Summer), er nahm über Acid-
    House und Electronic Body Music während der 80er Jahre vollends
    elektronische Gestalt an. Techno war eine Art Funktionalmusik für kollektive
    Rituale der Entgrenzung innerhalb der Party-Kultur der 90er Jahre mit ihren
    unzähligen Clubs und Raves. Techno trug auf seine Art der Zeit Rechnung,
    weniger über seine Message – denn Techno hatte ausser zweisilbigen Slogans
    keine Message – nein, Techno war irgendwie die grosse Party zum Schluss
    der popkulturellen Subkulturen und deren Utopien. Ein Schlussbouquet, das
    in einem bunten, elektronisch-digitalen Aufguss nochmals sämtliche
    Kategorien avantgardistischer Strategien und -Befreiungen eine Revue im
    Legoland passieren liess und urknallmässig eine Unzahl von Stilen und Genres
    in kurzer Zeitfolge hervorbrachte. Man initiierte Partylokale, Musiklabels,
    Massenraves ohne politische oder gesellschaftliche Ambitionen, Techno war
    die hedonistische Selbstbefreiung im Konsum, der Konsument erklärte sich
    zum Künstler (Phänomen DJ). Der Sound war im popkulturellen Hauptstrom
    angekommen, eine gute Zeit für Klangkünstler jeglicher Prägung und
    Vergangenheit, denn man hatte plötzlich Publikum, welches neugierig auf
    elektronische Klänge war, der kleine Kreis von Sound-Spezialisten bewegte
    sich für ein paar Jahre im Einzugsgebiet des Mehrheitsfähigen, des
    Mainstreams. Die Szenen waren flink und schnell, sich einen eigenen Markt
    nach alternativen Vorbildern zu schaffen, so schnell, dass die grossen
    Plattenfirmen nicht mitkamen und konsterniert mitanschauen mussten, wie
    das der CD gewichene Vinyl als Tonträgermedium über die DJs seine
    Renaissance in den Clubs und bei den Käufern erlebte. Überhaupt war
    Recycling das Stichwort der Stunde, denn die meiste Technomusik wurde mit
    alten, analogen Synthesizern produziert – der Science-Fiction-Look der
    Technokultur hatte von Beginn weg etwas Retrospektives, war ein
    Wiederaufnehmen von Motiven der Science-Fiction-Utopien des 20.
    Jahrhunderts.

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Mehr als Eisbären: Elektronische Musik in der Schweiz | norient.com     10 Feb 2022 10:45:38

    Techno-Kultur verbreitete sich über Szenemagazine9 und das entstehende
    Internet und eine junge, global äusserst mobile Generation. Doch ihre
    eigentliche Verbreitung fand die Technomusik vor allem in der in den 90er
    Jahren schnell wachsenden Clubkultur. Die aktuellste Musik hörte man im
    Club, nicht am Radio, die neuen Platten, der neue Sound traf anfangs oft auch
    mit einiger Verzögerung in den schweizer Plattenläden ein, es waren die DJs,
    die die neueste Musik aus den Metropolen Europas (Frankfurt, Köln) und
    Amerikas (Detroit, Chicago) mitbrachten und auflegten und nicht selten auch
    gerade selber einen Plattenladen eröffneten.

    Durch den Niedergang der klassischen Industrie, der Fabriken in den 80er
    Jahren in Europa und Amerika als Effekt der Globalisierung und der
    Digitalisierung der Industrie wurde viel Raum in den Städten und
    Agglomerationen frei: Unzählige Techno-Clubs und Partylokale entstanden in
    ehemaligen Industriearealen. Oft war es so, dass grosse Flächen von Clubs,
    freien Theatern oder Kunsthallen gemietet wurden und der Rest der
    Räumlichkeiten dann als Ateliers an Künstler, Grafiker, Webdesigner und
    Musiker vermietet wurde, es entstanden so richtige Konglomerate einer neu
    entstehenden Kreativ- und Kunstindustrie, jeder verdiente sein Geld
    irgendwie mi Medienproduktionen und vor allem viele innerhalb des und über
    das entstehende Internet. Eine ganze Generation von Freelancern entstand
    so parallel zu Techno: Die Musik wurde zum Soundtrack der New Economy.

    2 Die Schweiz: Ich, wir.
    Zürich, 1980

    Als in Zürich die bewegte Jugend mit dem Autonomen Jugendzentrum AJZ
    und mit der Roten Fabrik Anspruch auf ein eigenes, alternatives
    Kulturzentrum erhob, war ich neun Jahre alt und verstand nicht, was die
    Parolen auf den Transparenten bedeuten sollten, welche einige
    Demonstrationszüge, an die ich mich als grosse, laute und bunte Menge
    erinnern kann, an unserer Siedlung vorbei zur Roten Fabrik am Zürichsee
    trugen. Wenn ich am Samstag an irgendeiner Tramendstation in der Nähe des
    Waldes zum Pfadinachmittag anzutreten hatte, kam ich des Öfteren mit vm
    Tränengas geröteten Augen zu spät: Die Jugendunruhen 1980 waren
    ausgebrochen. Ich fuhr jede Woche mit meiner Mutter am AJZ vorbei, zum
    Turnen in die Turnhalle hinter dem Limmatplatz, und die vom Stacheldraht
    der Polizei umzäunten Gebäude, der dunkle Raum hinter den blinden Fenstern
    hatte etwas abenteuerliches, verruchtes: Genauso abenteuerlich schienen mir
    die überall auf Hauswände gesprayten Slogans der Bewegung, ihr Dada-Stil
    hatte auch für uns Kinder immer mal wieder einen ganz eigenen Sinn und
    Humor. Und besonders abenteuerlich war natürlich, dass die «Grossen», die
    Jugendlichen, dafür, dass sie dort drin Musik hörten, allerlei Drogen
    konsumierten und auf der Strasse demonstrierten, von der Polizei verfolgt
    und verprügelt wurden. Das spielten wir dann in den Innenhöfen unserer
    wohlbehüteten Kindheit nach.

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    Fakt ist – ich war zu diesem Zeitpunkt noch zu klein und ahnte nichts davon –
    dass mit der Jugendbewegung der 80er Jahre genauso wie 12 Jahre davor mit
    den Globus-Krawallen der 68er-Bewegung Produkte und Gedankengut
    internationaler Jugend-, Gegen- und Subkulturen in die Stadt, ins Land und
    vor allem in die öffentliche Aufmerksamkeit kamen, die vorher eher als
    Souvenirs einiger weniger Vorreiter von ihren Ausflügen zu den
    Kulturmetropolen Europas in die alpine Provinz mitgebracht wurden.

    Es waren die Bands, die in den neuen, alternativen Kulturorten auftraten, die
    Konzertlokale und Clubs, in die wir uns ein paar Jahre später mit
    vorverschobenem Geburtsdatum reinschmuggelten, die Plattenläden, die
    entstanden und abenteuerlich angeschriebene Plattenfächer hatten. Dort
    entdeckte ich als 15, 16-Jähriger, dass es noch andere Musik als die auf
    meinen ersten, im ABM gekauften Platten oder den von Radio 24
    ausgestrahlten Hits gab. Musik, die perfekt meinem adoleszenten Zaudern
    mit der Welt entsprach. Genau genommen hatte das aber auch wieder mit
    den Pfadfindern zu tun. Mein Freund Richie spielte mir auf seinem
    Kassettengerät beim Rauchen abseits unserer Zelte im Waldlager irgendwo in
    den wolkenverhangenen Voralpen Musik vor, die ich in dieser Intensität noch
    nie gehört hatte: New Wave, Industrial, elektronische Popmusik. Der
    elektronische Klang, die Synthesizer und Sampler schufen Klangstimmungen
    – ganz andere, als die, die ich als schwülstige Synthesizerkaskaden von den
    Kassetten von Jean-Michel Jarre, Kitaro oder Vangelis aus der
    Jugendbibliothek kannte. Sein Repertoire an Kassetten mit Musik von Coil,
    Die Form, Fad Gadget u. a. wurde mittels Raubkopie schnell zu meinem, wir
    begannen, uns in Abbruchhäusern herumzutreiben, Super-8 Filme in
    Industrial-Klamotten zu drehen und auf seinem Amiga und meinem Keyboard

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    Musik zu produzieren, die so klang wie auf den Platten mit den finsteren
    Covern; wir fingen an uns zu entdeckten und aus unserem geteilten
    subkulturellen Schatz eine eigene, ästhetische Praxis zu entwickeln.

    Techno gab es in etwas anderer, früher Form schon Mitte der 80er Jahre,
    nämlich als «Acid», welches in Zürich vor allem in den Gayclubs und im
    Zeughaus gespielt wurde und weiter als unter der etwas kampfsportlich
    klingenden Bezeichnung «Electronic Body Music» operierende elektronische
    Tanzmusik, kurz EBM. Unter diesem Oberbegriff konnte ich mir bis zu
    meinem ersten Konzerterlebnis nichts vorstellen – bis mich Richie ins StuZ
    ans Konzert des britischen Trios Nitzer Ebb mitschleppte. Im lokalen
    Veranstaltungsblatt wurde im Interview dem Publikum beschieden, dass
    «intensive körperliche Mitarbeit im Saal» gefragt sei, denn auf der Bühne
    gäbe man alles. Im proppenvollen Saal staunte ich erstmal. Da war nichts auf
    der Bühne, kein Schlagzeug, keine Synthesizer. Nur ein Gerät, ein Sequenzer,
    auf einem Sockel. Die Band sprang auf die Bühne und drückte auf die Play-
    Taste. Der Rest des Abends bestand aus sofortigem, elektrisiertem
    Mitzucken und Schweiss, der die Wände herunterlief. Das war vom Gestus her
    irgendwie Punk, die drei Gitarrenriffs mit einem Bass-Synthesizer gespielt,
    dazu ein treibendes Kickdrum und Samples von Hammerschlägen auf Metall,
    dazu die manisch-spastische Bewegung und der repetitive Text im brüllenden
    Gesang des Frontmanns Douglas McCarthy. Diese Musik war extrem
    aggressiv, schnell und physisch, die Stücke hatten Titel wie Violent
    Playground, Let Your Body Learn usw. Ich erinnerte mich ein paar Jahre
    später an den Sound von Nitzer Ebb, als ich zum ersten Mal Techno hörte.

    Kunst, Techno, Kunst

    Aus den 80er Jahren wurden schnell die Neunziger, wir gründeten eine Band
    und lösten sie wieder auf, ich begann Kunst in Luzern zu studieren und hörte
    in der Unterrichtsstunde «Klang- und Geräuschkultur» bei Franziska Lingg
    zum ersten Mal ein rein akustisches Kunstwerk: I am sitting in a room von
    Alvin Lucier. Franziska hatte auch ein kleines Studio eingerichtet, welches
    fast niemand benutzte, denn die meisten Studenten zogen es vor, in ihrem
    Abteil in der grossen Atelierhalle Bilder zu malen: In Luzern wurde damals
    recht klassisch Kunst produziert. Ich war meistens nicht in der Schule, weil
    mich die Atmosphäre dieser geschützten Werkstatt langweilte, ich wollte
    raus, sehen, wo und wie Kunst im Jetzt produziert wird. Die kontrovers
    diskutierten Ausstellungen und der Anspruch an eine kritische Kunstpraxis in
    der Shedhalle in Zürich zogen mich magisch an. Zu Beginn der Neunziger
    Jahre arbeiteten dort Renate Lorenz und Sylvia Kafehsy als Kuratorinnen, und
    in ihrer Ausstellung When Tekkno turns to sound of poetry hörte ich das erste
    Mal Techno, auf einem zu einer Installation gehörenden, kleinen
    Kassettengerät.

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    Das war die Musik, die ich hören wollte, ohne Gesang und Songstruktur, das
    Überflüssige war sozusagen weg. Das Gehörte übte sofort einen
    hypnotischen Sog auf mich aus, ich blieb lange dort sitzen und war fasziniert
    von den sich öffnenden und schliessenden Filtern und den minimalsten
    Mitteln und Strukturen, die diese Musik benötigte, um ihre Wirkung zu
    entfalten. Mir fiel auf, dass das uralte Synthesizer sein mussten, keine
    digitalen, Neuen, denn sie knarzten, wie das nur Rolands und Korgs der
    70/80er Jahre tun konnten, die Second Hand-Geräte, die es damals für drei,
    vierhundert Franken bei Up Beat oder in der Audioklinik gab und auf denen
    wir herumschraubten, wenn wir dort Kollegen trafen und einen Schwatz mit
    dem Ladenbesitzer, Ralph Aerne, hielten.

    Im Schaufenster eines anderen Musikladens, des Musicstore 2000, war seit
    vielen Jahren derselbe, alte und wunderschöne Synthesizer ausgestellt: Ein
    Jupiter 8 von Roland, mit vielen, farbigen Reglern und einem Gehäuse aus
    massivem, silbernem Aluminium. Ich war Kunststudent und hatte kein Geld
    und ich überlegte mir, wie ich an dieses Gerät kommen könnte. Ich besass bis
    dahin kein eigenes Musikinstrument bis auf meine Trompete aus der
    Harmonie Zürich Wollishofen; die Keyboards, die ich in unserer Band spielte,
    hatte ich von Freunden ausgeliehen. Ich betrat den Laden und schlug dem
    Besitzer vor, ein Jahr lang umsonst die grafische Gestaltung seiner
    Werbemittel zu übernehmen, wenn ich dafür den Synthesizer im
    Schaufenster so lange wie möglich ausleihen könnte – er ging darauf ein.
    Kurze Zeit später fand ich auf der Strasse einen alten Mac II und mein erstes,
    kleines Technostudio war begründet.

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    Ich nahm die Geräte ins Studio nach Luzern mit und nervte die anderen
    Atelierinsassen eine längere Zeit mit hämmernden Beats. Es verkehrte noch
    ein anderer Student in diesem Studio, ein Jahrgang unter mir, er malte Bilder
    mit Asche, machte aber offensichtlich auch und mit grossem Geschick
    Musik: Wenn aus dem Studio lang anhaltende Industrial-Drones drangen,
    wusste ich, dass es länger besetzt sein würde. Er hiess Bernd Schurer, und in
    den Gesprächen während unserer Zugsfahrten von Luzern nach Zürich stellte
    sich heraus, dass er ein Musiklabel betrieb und Konzerte in Baden
    organisierte. Label und Vertrieb hiessen Sparagmos, zu den von Bernd im
    Kuba21 organisierten Konzerten, meistens Noise- und Industrial-Musik, reiste
    das Publikum von Zürich und aus dem nahen Deutschland an. Es waren sehr
    spezielle Abende in der nächtlichen Provinz dieses Kurortes; Bernds
    Veranstaltungen fungierten unter dem Kürzel H.A.A.G., was unter einer
    Vielzahl weiterer Bezeichnungen auch Heim zur Archivierung Aussterbender
    Geräusche bedeutete.

    Zur selben Zeit initiierte ich mit ein paar Mitstudenten an der Schule in
    Luzern einen eigenen Projektraum in der ehemaligen Kantine, den
    Erfrischungsraum. Von der Schule selber kam wenig Unterstützung für dieses
    Projekt, dafür halfen uns Bruno Müller-Meyer und Stefan Banz von der
    gerade geschlossenen Kunsthalle Luzern mit Erfahrung und ihren Kontakten,
    einen kleinen, aber feinen Projektraum aufzubauen, der lokal wie international
    über eine für Studenten beachtliche Vernetzung verfügte und als
    Künstlergruppe auch mit Aktionen und Installationen ausserhalb der Schule in
    Erscheinung trat. Der Erfrischungsraum reihte sich in eine damals grössere
    Zahl von unabhängigen Projekträumen ein, etwa dem Projektraum
    Hohlstrasse in Zürich, Attitudes in Genf, der Filiale in Basel. Neben diesen
    «Off Spaces» erfreute sich Zürich seit Ende der 80er Jahre einer lebhaften
    Szene illegaler Bars und Clubs: Die Stadt hatte sehr lange ein äusserst
    restriktives Gastgewerbegesetz, welches Patente zum Ausschank von
    Alkohol nur an ausgebildete Wirte vergab und – noch prekärer – die Anzahl
    der Lokale mit Alkoholausschank und Öffnungszeit bis zwei Uhr nachts strikt
    kontingentierte. Nachtlokal-Bewilligungen für Öffnungszeiten nach 24 Uhr
    hatten nur Striplokale und ein paar Diskotheken, Dancings.

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    Man kennt den Effekt aus der Prohibitionszeit in Amerika – der illegale
    Ausschank von Alkohol unter der Zürcher Studentenschaft wie der
    Kunstszene liess eine Art nächtliche Parallelgesellschaft entstehen: Wenn
    Ende der 80er Jahre in Zürich eine Studenten-WG etwas auf sich hielt, betrieb
    sie im Keller ihres Hauses eine Schwarzbar. An den Wochenenden, immer
    mehr auch an Wochentagen, zog die Zürcher Jugend auf ihren Fahrrädern
    durch die nächtliche Stadt: Eine grosse Ansammlung von parkierten
    Fahrrädern vor einem älteren Haus war Gewähr dafür, dass sich dort eine
    illegale Bar befand. Ganze Studienzeiten und Wohnungsmieten wurden auf
    diese Weise finanziert. Die Schwarzbar-Szene Zürichs, darum findet sie hier
    Erwähnung, war ein ganz wichtiger Faktor, der zur Entstehung der Techno-
    Szene der Stadt beitrug. Sie war der eigentliche Nährboden, auf den Techno
    in der Schweiz Mitte der 90er Jahre fiel: Man hatte Erfahrung im Betrieb von
    Bar und Musikanlage, und man war bereit für einen neuen Sound.

    Wenn man Mitte der Neunziger Jahre von Techno und elektronischer Musik
    abseits der Street Parade redete, dann sprach man vor allem von Orten, wo
    eine gewisse Szene verkehrte. In Zürich war es das Field, betrieben von
    Patrick Huber an der Zypressenstrasse, derselben Strasse, an der auch
    Pipilotti Rist und Andres Lutz ihre Ateliers hatten, das All, wo heute die
    Genossenschaft Karthago beheimatet ist, das Atelier Stern/Blau in Altstetten
    und weitere. Etwas später folgte das Rohstofflager im Steinfels-Areal, im
    Clubraum der Roten Fabrik organisierte Mischa Suter unter dem Label
    Elektrip Events mit elektronischer Musik und als Alternative zum dominanten
    Trance der Streetparade das Lethargy-Festival.

    Der Name ist eine ironische Anlehnung an den traditionellen Massenrave am
    Abend der Streetparade, der im Hallenstadion stattfindet und sich Energy
    nennt. Ich kann mich gut an eine der ersten Streetparades erinnern, ich war in

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    der Innenstadt unterwegs und hörte plötzlich wummernde Bässe: Bei der
    Sihlporte erschienen dann zwischen den Häuserzeilen zwei-drei Traktoren
    oder ähnliches, die Plattformen zogen, auf der sich eine Handvoll bunt und
    leicht gekleidete Partyleute tanzend den erstaunt stehen bleibenden
    Passanten darboten. Man war sich ja einiges von den wiederkehrenden
    Demonstrationen in der Innenstadt Zürichs gewöhnt – aber dass hier reine
    Freude und purer Hedonismus auf einer fahrenden Tanzfläche ausserhalb der
    Fasnacht um Aufmerksamkeit heischte, war dem zwinglianischen
    Bewusstsein dann doch ein etwas irritierender Moment.

    Techno war natürlich nicht nur Musik – wie bei jeder Popkultur gehörte eine
    gewisse Mode dazu, und vor allem neue Stile in der grafischen Gestaltung. Es
    gab und gibt in Zürich eine ganze Gilde junger und international bekannter
    Grafikdesigner, von Cornell Windlin über François Chalet zu Martin Woodtli,
    zu erwähnen ist hier auch das Berner Büro Destruct, vielen war das Grafiker-
    Kollektiv Designers Republic in London ein Vorbild, ihre bunten und
    technoiden Designs fanden sich auf allen Flyern und Plakaten der Stadt. Die
    Grafik veränderte sich stark mit dem PC. Man konnte viel komplexere Designs
    schneller herstellen, und diese beliebig manipulieren, oft wurden die Schriften
    für ein Plakat gleich selber entworfen. In der Techno-Grafik kursierte das
    ironische Zitat, auch in Form von Transformationen bestehender Marken-
    Brands wie Snickers (Fuckers), Nivea (Niveau) usw.

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    Die Mode war sehr körperbetont, ich muss schmunzeln, wenn ich mich auf
    Fotos aus dieser Zeit sehe, die Männer rasierten sich in der Technoszene
    zudem des Öfteren den Kopf. Die Technomode war eine freizügige Mode,
    welche viel Fleisch zeigte, seltsamerweise war die Stimmung auf den
    Tanzflächen aber immer völlig entsexualisiert, und es gibt dafür, scheint mir,
    andere Gründe, als dass man halt zu unterkühlter Musik tanzte. Es war diese
    Kindlichkeit, ein naives und verklärtes Love, Peace and Unity – womit weniger
    eine gesellschaftliche Haltung ausgedrückt war als Wirkungen und
    Nebenwirkungen der Technodroge Ecstasy beschrieben sind. Obwohl bei
    vielen Techno-Anlässen des Erlebnis der Masse und der Verbrüderung
    zelebriert wurde, fand die Ekstase radikal innerhalb der Grenzen des eigenen
    Subjekts statt; der kühle Wind einer durchindividualisierten und vereinzelten
    Gesellschaft umwehte manche Tanzfläche.

    Was Zürich betrifft, kann man die Club- und Partyszene dennoch auch als
    eine Art der Fortsetzung und definitive Einlösung des Anspruchs der Jugend,
    sich Freiräume zu schaffen, sehen, auch wenn Techno das ganz anders
    angegangen hat als die Jugendbewegung der 80er Jahre.

    Dass elektronische Musik nach wie vor ein und auch andernorts grosses
    Publikum zu mobilisieren in der Lage ist, zeigt das Electron Festival in Genf.
    Jérôme Soudan und sein Team aus der Usine bauen dieses seit 6 Jahren mit
    Erfolg auf, ich wollte von ihm wissen, wie sich die Szene in der Romandie
    entwickelt hat:

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      [Jérôme Soudan]: Das Konzertlokal Cave 12 in Genf entstand in den 90er
      Jahren, in den 80er Jahren waren dagegen eher Rock-Experimente als
      elektronische Musik in der Stadt präsent, etwa mit der Band The Ex. Du
      solltest hier aber auch AMEG22 fragen, was die elektroakustische Szene
      betrifft. Als Fernando Sixto mit Cave 12 begann, kamen mehr Industrial-
      und Noise-Bands nach Genf. Viele Konzerte waren recht wild organisiert,
      oft fanden diese in nur kurz existierenden Konzertlokalen oder in besetzten
      Häusern statt wie etwa dem Ilôt 13, wo White Noise mal spielten.

    [Marcus Maeder]: Wie ist die Szene, der Kontext der elektronischen Musik in
    Genf entstanden? Wo waren die Orte, Clubs, Leute, Magazine? Gab es
    Schlüsselfiguren in der Technoszene und der experimentellen Musik? Gab es
    in weiteren Städten in der Romandie Schnittstellen elektronischer Musik,
    etwa in Lausanne (ich glaube, dort war auch eher Rock ein Thema)?

      [JS]: Es gab Elektrorock- oder Elektropop-Bands, die berühmt wurden, zum
      Beispiel die Young Gods. Viele änderten im Lauf der Zeit ihren Stil oder
      Namen, so zum Beispiel Plastique de Rève, die nun in Berlin leben, welche
      aber als Elektropop-Band in Genf begonnen haben. Schlüsselfiguren in Genf
      waren Damien Schmocker für die Usine, Fernando Sixto für Cave 12 in den
      90er Jahren, Franz Treichler (Der Sänger von Young Gods), einige Labels
      wie etwa BRUIT, welche Bands wie Alboth veröffentlichten, das Label
      Mental Groove war und ist sehr wichtig für die Genfer und Lausanner
      Szene. Ende der 90er Jahre kam Laurent Finck im Zoo an (ein Club in der
      ersten Etage der Usine), und verwandelte diesen in DEN Ort für
      elektronische Underground-Musik in Genf. Und ja, Lausanne war mehr im
      Rock engagiert, mit einem für die Schweiz wichtigen Gewicht auf Metal. Ein
      anderer, schon älterer aber immer noch aktiver Ort ist erwähnenswert,

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      nämlich der Cave du Manoir in Martigny, ein Keller einer Galerie für
      zeitgenössiche Kunst, wo Künstler aus aller Welt experimentelle und
      elektronische Musik spielten.

    [MM]: Wie ist das Electron Festival entstanden? Waren da noch andere
    grössere Events in der Vergangenheit?

      [JS]: Electron entstand in der Usine im Umfeld der Crew des Zoo, Schritt für
      Schritt wuchs das Festival aus der Usine heraus, als es grösser wurde. Wir
      arbeiten aber weiterhin auf vier verschiedenen Bühnen in der Usine selber.
      Es gab keine grösseren Festivals vorher, ein paar kleine Veranstaltungen
      während ein paar Jahren, aber keines, das sich auf elektronische Künste
      spezialisiert hätte. Das Festival La Bâtie hatte am Anfang den soée-Raum
      für Industrial und experimentelle Musik (in den 80er Jahren spielte dort zum
      Beispiel Blixa Bargeld, 1989 La Fura dels Baus), generell fokussierte das
      Festival aber auf Theater und andere Künste. Seit 2008 beinhaltet das
      Electron Festival auch zeitgenössischen Tanz und bringt elektronische
      Liveacts mit der Arbeit von Choreographen zusammen: Es sind so einmalige
      Choreographien exklusiv für das Festival entstanden, was für den Kontext
      der elektronischen Musik sicher einmalig ist.

    [MM]: Wie steht das Electron Festival heute da? Gibt es Dinge, die sich
    geändert haben?

      [JS]: Electron wächst, nicht nur im kommerziellen Sinn (damit meine ich
      grosse Bühnen und Namen), unser Festival entwickelt sich mit dem Team
      und wir erschliessen uns weitere Felder der elektronischen Künste. Wir
      erproben und erweitern die Möglichkeiten von exklusiven Konzerten mit
      und Kompositionen für den zeitgenössischen Tanz, wir bauen unsere
      Zusammenarbeit mit internationalen Festivals aus (dieses Jahr zum Beispiel
      das Norwegische Insomnia Festival) und lokalen Organisationen wie der
      ADC (Association pour la Danse Contemporaine) oder der AMEG
      (Association pour la Musique Electroacoustique de Genève) und wir
      versuchen einen dem Sonar Festival in Barcelona ähnlichen Event auf die
      Beine zu stellen, mit Präsentationen am Tag und Clubbing am Abend. Das
      gelänge, wenn wir ein Festival für Neue Musik wie das Archipel mit einem
      Techno-Event kombinieren könnten. Wir verfolgen die Arbeit von GRM23
      und dem Présences Electroniques Festival in Paris und behalten unseren
      Fokus auf den zeitgenössischen Tanz.

    Ambient
    Die meisten Orte und Parties während der 90er Jahre verfügten über so
    genannte Chillout-Räume, man erholte sich darin von den Strapazen der
    Tanzfläche, konsumierte die eine oder andere Droge und hörte Ambient-
    Musik. Wenn es nicht gerade an die Space-Tradition der 70er anschliessendes
    Geblubber mit Walgesängen war, lief dort manchmal ziemlich interessante

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    elektronische Musik ohne Beats. Ambient war ein Begriff von Brian Eno, er
    nannte seine in den 70er Jahren komponierte Funktionsmusik «Ambient
    Music». Damit war Musik als quasi architektonische Komponente gemeint,
    eine Musik also, die als diskrete Kulisse im Hintergrund funktionieren sollte –
    gewisse Formen davon werden Muzak oder Fahrstuhlmusik genannt. Die
    moderne Konzeption von Ambient ist aber um einiges älter, sie stammt vom
    Komponisten Erik Satie, der 1920 seine Musique d’Ameublement entwarf, die
    nur angenehm und eine Stütze für die Kommunikation sein sollte. Über
    funktionsmusikalische Absichten hinaus wurden Chillout-Räume schnell zu
    Plattformen für ungehörte Klänge, man nannte das Electronic Listening und
    uns gefiel die Musik von Aphex Twin, Oval, Autechre und Labels wie Mille
    Plateaux, Mego und Touch; wir begannen bald, selber live zu spielen.

    Mitte der 90er Jahre entstanden den Off-Spaces verwandte Kunst- und
    Projekträume, wo sich Techno und Kunst mischte – einer davon war das
    Kombirama an der Hardturmstrasse in Zürich, welches wir, etwa 10 Kunst-
    und Kulturschaffende 1996 in einem ehemaligen Showroom einer DDR-
    Porzellanfirma gründeten. Die Grundidee bestand darin, kollektiv
    Kunstprojekte zu realisieren und deren Entstehungsprozess öffentlich zu
    halten. Das Ohr des Kombirama war Audiorama, bestehend aus Stefan
    Altenburger (Golden Boy, Klettermax), Bernd Schurer und mir – wir
    organisierten Konzerte und Parties im Kombirama, traten als Gruppe auf und
    machten Radiosendungen im So21 Kunstradio auf Radio LoRa. Das
    Kombirama war während den zwei Jahren seiner Existenz soziale Drehscheibe
    der jungen Zürcher Künstler- und Musikerschaft, finale Aktion war der Beitrag
    zur Dekadenschau Freie Sicht aufs Mittelmeer, die einem nicht kleinen Teil
    der Schweizer Künstler, welche damals frei zwischen Disziplinen, Kontexten
    und Szenen flottierten, eine offizielle Karriere verschaffte und das Sterben
    der unabhängigen und kollektiv betriebenen Kunsträume einläutete. Das
    Kombirama nahm an der Ausstellung nicht teil, wir verprassten das uns
    zugedachte Budget in Form eines öffentlichen Picknicks mit Barockmusik im
    Rieterpark.

    1998 trat dann in einer dem Kombirama ähnlichen, musik-lastigeren Form das
    Substrat, eine Veranstaltungsreihe und Clublounge des „Klubkurators“ und
    heutigen Co-Leiters des Cabaret Voltaire, Philipp Meier, im Rohstofflager an
    diese Stelle: Es war der Zenit der elektronischen Musik im Zeichen des
    Techno, auch wir spielten dort oft und gern und organisierten ein- zwei
    Konzertbeiträge, etwa Voice Crack und People Like Us, mit einem Publikum
    von über 600 Leuten. Die Abende waren eine ideale Laborsituation, um ein
    ahnungsloses Publikum den neuesten Hervorbringungen auszusetzen. Man
    kann sagen, dass eigentlich nur im Substrat so etwas wie eine Klammer
    schweizerischer elektronischer Musik geschaffen wurde: Wer irgendwie
    damit zu tun hatte, war dort: Steinbrüchel, Softland, Roger Rotor, Golden
    Boy, Seelenfinder, das Label Spezialmaterial, damals noch in Luzern
    beheimatet, Styro2000, Bang Goes, Person usw. usf. Zu Beginn war die
    Neugier des Publikums gegenüber den neuen Klängen recht gross, sie nahm

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Mehr als Eisbären: Elektronische Musik in der Schweiz | norient.com        10 Feb 2022 10:45:38

    dann kontinuierlich ab, die Donnerstage des Substrats wurden zum Place to
    go, alles smalltalkte, niemand hörte mehr zu. Bernd und ich hatten dann
    jeweils gewisse Methoden, effektvoll auf uns aufmerksam zu machen; es
    waren wohl unsere Konzerte im Substrat, die uns lokal den Ruf von renitenten
    Krachmachern eintrugen. Philipp Meier liess sich von Beschwerden des
    Publikums nie beirren und setze seine Veranstaltungen einige Jahre an
    verschiedenen Orten fort, bis dann irgendwann niemand mehr kam. Ein
    anderer Meyer ist hier noch unbedingt zu erwähnen: Noldi Meyer, er hat das
    Rohstofflager initiiert und vieles anderes auch (die Streetparade zum
    Beispiel) – ein Mann der ersten Stunde.

    Orte
    Man kann bis heute nicht wirklich von einer Sound-Szene in der Schweiz
    reden, meist formierten und formieren sich Gruppen und Zusammenhänge in
    der elektronischen Musik relativ locker und lokal, – über Orte, an denen man
    sich begegnete. Zum Beispiel das Brisant in Basel, ein dem Kombirama nicht
    unähnlicher Ort, ich habe Marc Matter, Ruth Kunz und Karo Cerbaro um
    Auskunft gebeten:

      [Marc]: In Basel war ich involviert, aber Brisant gab’s ja schon vorher, ich
      bin da so dazu gestossen, Filipp Messner und Ruth Kunz waren damals
      noch vom alten Kern übrig geblieben, und natürlich der Neville –
      dazugekommen ist dann noch die Karo (Maika) plus gab es natürlich einen
      Dunstkreis von ein paar Leuten, die auch ab und zu ihren Input dazu
      gegeben haben.

      Das Institut für Feinmotorik (siehe Norient-Post Plattenspieler ohne
      Schallplatten) ist zu einem Gutteil in diesem Ursüppchen entstanden, die
      Geburtsstunde ist April 1997, da gab es den Feinmotorik-Abend im Brisant
      Keller (eigentlich war es ja der Kiosk in der Gärtnerstrasse 57, aber dazu
      gehörte eben auch der Keller, wo wir dann die Veranstaltungen gemacht
      haben) – da haben wir aber nicht etwa unseren Plattenspieler-Kram
      vorgeführt, sondern es war eine thematische Abendveranstaltung:
      Fragebogen, haptische Spielereien, visuelle Projektionen und ein
      ausgewähltes Musikprogramm, sowie so eine Art abstraktes
      Feinmotorisches Hörspiel, welches man mit 2 Walkmans an der Bar anhören
      konnte. Es erschien im Anschluss dann auch noch eine Auswertung des
      Fragebogens des Abends, mit Fotografien der Feinmotorischen
      Gegenstände, welche von den Gästen beim Einlass vorgewiesen werden
      mussten. In diesem Zeitraum haben wir (IFF) aber auch unsere ersten zwei
      selbst produzierten Platten dort eingespielt.

      [Ruth]: Der Brisant Kiosk wurde im September 1995 eröffnet. Im Sommer
      haben wir das vorbereitet und den Namen gewählt. Der Kiosk bestand bis
      1998, da zogen die meisten vom Haus weg.

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