Musikhören im MP3-Zeitalter - Substitutions-, Komplementaritätsoder "more and more"-Effekte?

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Autor: Schramm, Holger/ Hägler, Thomas.
Titel: Musikhören im MP3-Zeitalter. Substitutions-, Komplementaritäts- oder „more and
more“-Effekte?
Quelle: Hans-Bredow-Institut (Hg.): Medien und Kommunikationswissenschaft.
Sonderband 1 „Musik und Medien“. Baden-Baden 2007, S. 120-137.
Verlag: Nomos Verlagsgesellschaft.
Die Veröffentlichung erfolgt mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

                         Holger Schramm / Thomas Hägler

                 Musikhören im MP3-Zeitalter
  Substitutions-, Komplementaritäts- oder „more and more“-Effekte?

Die zunehmende Digitalisierung von Musik hat den Zugang zu Musik, aber vermutlich
auch den Umgang mit Musik, stark beeinflusst. Umsatz-/Absatzeinbrüche der
Musikindustrie auf dem Markt der traditionellen Tonträger und Reichweitenrückgänge des
Radios einerseits sowie die gegenläufige Explosion der Nachfrage von Musik im
Online/Download-Sektor liefern erste Indikatoren, aber keine zufrieden stellenden
Antworten auf die Frage nach vermeintlichen Substitutions- und Komplementäreffekten
innerhalb der Musikmedien. Mittels einer länderübergreifenden Onlinebefragung von 1160
Personen (etwa zur Hälfte aus der Schweiz und aus Deutschland) wurde dieser Frage
nachgegangen. Gefragt wurde nach Beschaffungs- und Nutzungspräferenzen, nach
Einstellungen zu Musik/zum Musikdownload, nach Vor- und Nachteilen der MP3-Nutzung
vs. der CD-Nutzung sowie nach wahrgenommenen Veränderungen im Umgang mit Musik
(Musik entdecken, kaufen, hören, aneignen). Dabei lassen sich neben Indikatoren für
substitutive Wirkungen des MP3-Formats auf den Erwerb und die Nutzung traditioneller
Musikmedien u. a. auch Komplementär- und „more and more“-Effekte im Umgang mit
Musik entdecken: Das MP3-Zeitalter ist bei den meisten Personen durch bewussteres,
anspruchsvolleres und ausgiebigeres Musikhören gekennzeichnet. Außerdem geben viele
Personen an, durch die MP3-Nutzung ihr Wissen über Musik verbessert zu haben.

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Schlagwörter: Musiknutzung, Musikrezeption, Musikkonsum, digitale Musik, MP3,
Musikdownload, Tonträger, Komplementarität, Substitution

1. Ausgangslage: Veränderungen im Medien- und Musiknutzungsverhalten
Musikhören gehört zumindest in westlichen Gesellschaften zu den beliebtesten
Freizeitbeschäftigungen (Schramm, 2006). Dabei war in den 1950er und 1960er Jahren
durch den Aufschwung der amerikanischen und englischen Rockmusik auch ein
Umschwung in den Musikpräferenzen und dem Nutzungsverhalten der Menschen zu
erkennen (Hansen & Hansen, 2000). Ein weiterer gravierender Einschnitt in das
Musiknutzungsverhalten - insbesondere Jugendlicher - war durch den Start von MTV
(1981 in den USA, 1987 in Europa) markiert (Schmid, 1999). Damit verschob sich der
Umgang mit Musik von einer rein auditiven hin zu einer audio-visuellen Wahrnehmung
und Verarbeitung.

Circa 20 Jahre später erleben wir nun ähnlich gravierende Einschnitte im
Musiknutzungsverhalten durch die digitale Musikrevolution, die durch den Musikdownload
im Internet, Internetradios, Podcasting und die zunehmende Verfügbarkeit von Musik auf
mobilen Medien (z. B. MP3-Player, Handy) gekennzeichnet ist (Schramm, 2006).
Mittlerweile sind bereits 79 Prozent der Jugendlichen im persönlichen Besitz eines MP3-
Players/iPods. 70 Prozent der deutschen Jugendlichen nutzen einen MP3-Player/iPod
täglich oder zumindest mehrmals pro Woche. Das Musikrepertoire auf dem
MP3Player/iPod umfasst dabei im Durchschnitt ca. 900 Titel, wobei das Repertoire der
Jungen durchschnittlich ca. dreimal so umfangreich ist wie das der Mädchen
(Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2006). Es kann also von einer
hohen alltäglichen Durchschnittsnutzung von MP3-Playern/iPods - insbesondere bei
Jugendlichen und jungen Erwachsenen - ausgegangen werden (verlässliche,
repräsentative Zahlen zum Umfang der Nutzung pro Tag in Minuten liegen leider nicht
vor).

Die Radionutzung ist bei den Deutschen dagegen rückläufig und sank von durchschnittlich
209 Minuten Radionutzung pro Tag im Jahr 2000 auf 186 Minuten im Jahr 2006.
Insbesondere Jugendliche haben zu diesem Effekt beigetragen: Bei den 14- bis 19-
Jährigen sank die durchschnittliche tägliche Radionutzung von 144 Minuten im Jahr 2000
um mehr als eine halbe Stunde auf 108 Minuten im Jahr 2006. Die Radionutzung der 20-

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bis 29-Jährigen brach von 218 auf 155 Minuten sogar um eine ganze Zeitstunde weg
(Arbeitsgemeinschaft der ARD-Werbegesellschaften, 2006, S. 70).

Das veränderte Musiknutzungsverhalten spiegelt sich auch in den Absatz- und
Umsatzzahlen der traditionellen Tonträger wider: So sanken z. B. in Dänemark die CD-
Verkäufe zwischen 1998 und 2003 um 43 Prozent, in Kanada, Japan, Tschechien um
rund 30 Prozent (OECD, 2005, S. 106). In Deutschland wurden 1998 noch knapp 250
Millionen CDs verkauft (Longplayer und Singles zusammen), während der Absatz im
Jahre 2005 nur noch knapp 140 Millionen betrug. Damit handelt es sich alleine in
Deutschland um Einbußen von über 40 Prozent. Besonders starke Verluste sind bei den
Verkäufen von Singles zu beobachten, die in der selben Zeitspanne um über 70 Prozent
zurückgingen (Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft, 2006, S. 24). Zwar
haben sich mittlerweile kostenpflichtige Downloadportale mit immerhin 20 Millionen
bezahlten Downloads im letzten Jahr etabliert und einen Teil der Umsatzeinbußen wieder
kompensiert. Illegale Tauschbörsen dominieren dieses Segment jedoch mit rund 415
Millionen Downloads pro Jahr nach wie vor. Obwohl diese Zahlen nicht mehr so hoch
ausfallen wie in den Jahren zuvor - im Jahr 2002 waren es noch 622 Millionen - stellt der
illegale Musikdownload nach wie vor eine attraktive Alternative zum Erwerb einer CD dar
(Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft, 2006, S. 21). Die Frage, ob dies ernst
zu nehmende Anzeichen für das „Ende“ der CD sein könnten, scheint berechtigt zu sein.
Muss sie doch nicht nur mit einem neuen Speichermedium, sondern auch mit schnelleren
und kostengünstigeren Vertriebssystemen konkurrieren. Jedoch wies schon Wolfgang
Riepl (1913, S. 5) darauf hin,

„dass die einfachsten Mittel, Formen und Methoden, wenn sie nur einmal eingebürgert
und für brauchbar befunden worden sind, auch von den vollkommensten und höchst
entwickelten niemals wieder gänzlich und dauernd verdrängt und außer Gebrauch gesetzt
werden können, sondern sich neben diesen erhalten, nur dass sie genötigt werden,
andere Aufgaben und Verwertungsgebiete aufzusuchen.“

Diese Aussage scheint bis heute nicht an Gültigkeit verloren zu haben und würde auf eine
funktionale Neuausrichtung der CD hindeuten. Was die Verbreitung der CD vor rund 20
Jahren bezüglich der Existenz der Langspielplatte und Kassette bewirkte, droht ihr
demnach heute selbst zu widerfahren: Analoge Tonträger wie die Langspielplatte oder die
Kassette machen heute zusammen nur noch ungefähr fünf Prozent des Musikabsatzes in

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Deutschland aus (Bundesverband der Phonographischen Wirtschaft, 2006, S. 24). Auch
die CD könnte sich zu einem Nischenprodukt entwickeln, das nur noch für eine spezielle
Nutzerschaft und im Hinblick auf spezielle Funktionen von Interesse ist.

Dem gegenüber steht jedoch die Entwicklung der Nutzungszahlen der traditionellen
Tonträger in den letzten Jahren: Denn die Tonträgernutzung (CD, Schallplatte, Kassette,
Tonband) stieg von durchschnittlich 22 Minuten im Jahr 2000 auf immerhin 30 Minuten im
Jahr 2006, wobei auch für diesen Effekt wiederum die Jugendlichen verantwortlich waren
(14- bis 19-Jährige: Anstieg von 50 auf 78 Minuten; 20- bis 29-Jährige: Anstieg von 49 auf
61 Minuten). Haben sich MP3- und CD-Nutzung mitunter sogar gegenseitig befruchtet? Es
stellt sich daher die Frage, in welchen Funktionsbereichen das MP3-Format die CD
tatsächlich substituiert hat und inwieweit sogar von einer komplementären und sich
gegenseitig fördernden Koexistenz der beiden Musikmedien auszugehen ist.

Nun wurden durch das Aufkommen des MP3-Formats bzw. durch den individuellen
mobilen Umgang mit digitaler Musik sicher nicht nur traditionelle Musikmedien in ihrer
Funktionalität in Frage gestellt und die Musikmedien-Menüs der Nutzer umgeschichtet.
Eine weiter gehende Frage wäre, inwieweit die Nutzungsmöglichkeiten des MP3-Formats
den generellen Umgang mit Musik sowie die Einstellungen zu Musik bei den Nutzern
beeinflusst haben. Hören sie aufgrund der neuen digitalen Musikwelt nun vielleicht öfter
oder gar bewusster Musik? Haben sie vielleicht höhere Ansprüche an Musik entwickelt,
weil sie aufgrund des mannigfaltigen Onlineangebots die Musik nun besser vergleichen
können? Hat sich dadurch vielleicht sogar ihr Wissen über Musik verbessert?

Insgesamt lag der hier vorgestellten Studie daher folgende Forschungsfrage zugrunde:
Wie hat sich die Nutzung des MP3-Formats auf die Nutzung anderer Musikmedien sowie
den generellen Umgang mit Musik, d. h. die Qualität und Quantität des Musikhörens,
ausgewirkt?

2. Theoretischer Rahmen: Die mikroökonomische Nachfragetheorie
Mit Hilfe der mikroökonomischen Nachfragetheorie (vgl. z. B. Neumann, 1995) lassen sich
die Folgen des Markteintritts neuer Güter sowie - übertragen auf die Medien - des
Hinzutretens neuer Medien oder Medienangebote zum bisherigen Angebot erklären. Sie

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stellt deshalb einen passenden theoretischen Rahmen dar, den Effekt der zunehmenden
Verbreitung von MP3 auf traditionelle Musikmedien zu hinterfragen. Allgemein betrachtet
bestehen nach der Nachfragetheorie drei mögliche Auswirkungen eines neuen Mediums
auf bestehende Medien:

Entweder ersetzt die Nutzung des neuen Mediums die Nutzung eines oder mehrerer alter
Medien („Substitution“), die Nutzung des neuen Mediums führt zu einer erhöhten Nutzung
eines oder mehrerer alter Medien („Komplementarität“), oder die Nutzung des neuen
Mediums ist zusätzliche Medien-Zeit, die dann zu einer geringeren Nutzung anderer nicht-
medialer Tätigkeiten führen muss („Supplementarität“). (Schmitt-Walter, 2003, S. 175)

Die Prinzipien der Substitution und der Komplementarität folgen der Annahme, dass die
Wahl des Medienangebotes als eine weitestgehend rationale Entscheidung erfolgt. Es
wird von einer bewusst motivierten Nutzenmaximierung und gleichzeitigen
Kostenminimierung ausgegangen. Der Rezipient versucht, seine Bedürfnisse durch die
Wahl eines Mediums bzw. durch die Kombination verschiedener Angebote optimal zu
befriedigen und dabei möglichst wenig Geld und Zeit zu investieren (Trepte, Baumann &
Borges, 2000, S. 552).

2.1 Substitution: Güter sind austauschbar
Unter Substitution wird eine „ökonomisch motivierte Ersetzung eines Gutes durch ein
anderes im Konsum eines Individuums beziehungsweise eines Haushaltes“ verstanden
(Hagen, 1998, S. 107). Wenn zwei Güter den gleichen Nutzen haben, entscheiden
Preisänderungen bzw. unterschiedliche Preisniveaus der Güter über die
Substitutionsrichtung. Auf die Medien übertragen bedeutet dies, dass sich der Rezipient
bei identisch wahrgenommenem Nutzen zweier Medien für das Medium entscheidet, das
mit dem geringsten Kostenaufwand verbunden ist (vgl. Neumann, 1995; Trepte et al.,
2000, S. 552). So könnte zum Beispiel unter der vereinfachten Annahme, dass der
Hauptnutzen von CD und MP3 „Musik hören“ sei, eine Substitution der CD durch MP3
erwartet werden, da der Kostenaufwand für den Erwerb von MP3-Dateien in der Regel
geringer ist. Wie bisherige Studien gezeigt haben, ist hier die Nutzenabwägung jedoch
wesentlich facettenreicher (vgl. Abschnitt 3 zum Forschungsstand). In der
Nachfragetheorie finden sich zudem zwei Effekte, bei denen auch Güter mit
unterschiedlichem Nutzen substitutive Auswirkungen aufeinander haben können: der
Einkommenseffekt und der Zeiteffekt.

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2.1.1 Einkommenseffekt
Wenn Güter keinen ähnlichen Nutzen haben, kann die Mehrnutzung eines Gutes trotzdem
zur Wenigernutzung anderer Güter führen. Dieser Effekt wird als Einkommenseffekt
bezeichnet (Hagen, 1999, S. 129). Voraussetzung ist, dass ein fixes Budget
(beispielsweise für den Erwerb von Musik) vorhanden ist und die Preise gleich bleiben.
Kauft man nun mehr MP3-Dateien, hat man weniger Geld zur Verfügung, um CDs zu
kaufen. Einkommenseffekte könnten durch das kostenlose Herunterladen von MP3-
Dateien jedoch auch in genau umgekehrter Weise auftreten, da für die Beschaffung von
Musik durch MP3 gegenüber der CD Geld eingespart wird. So könnte das gesparte Geld
für andere Musikmedien investiert werden und so zu einer Mehrnutzung dieser Medien
führen.

2.1.2 Zeiteffekt
Ähnlich dem Preis, der für ein Gut bezahlt wird, kann man die Zeit betrachten, die für die
Nutzung eines Gutes oder eines Mediums aufgewendet werden muss. Besonders bei
Medien, für die meist kein nutzungsabhängiges Entgelt entrichtet wird, ist eine solche
Überlegung sinnvoll (vgl. Trepte et al., 2000, S. 552). Zeit zur Freizeitgestaltung oder
Mediennutzung steht nicht unbegrenzt zur Verfügung. Insofern kann analog zum
Einkommenseffekt ein Zeiteffekt eintreten: Auch wenn Medien in funktionalem Sinne nicht
substitutiv zueinander stehen, kann die Mehrnutzung eines Mediums zur Mindernutzung
anderer Medien führen, indem sie die verfügbare Zeit für Mediennutzung verringert
(Hagen, 1999, S. 130). So könnte im Bezug auf die Forschungsfrage die Mehrnutzung
von MP3 unabhängig vom Kostenargument eine Verminderung der Nutzung traditioneller
Musikmedien zur Folge haben. Mit Blick auf die verschiedenen Musikmedien sind auch
komplexe, differenzierte Effekte denkbar: Es könnte beispielsweise eine Mindernutzung
des Radios als Folge einer Mehrnutzung der CD eintreten, die wiederum eine Folge der
steigenden MP3-Nutzung sein könnte.

Folglich kann somit gesagt werden, dass bei Medien, die in einem substitutiven Verhältnis
zueinander stehen, diejenigen von den Konsumenten bevorzugt werden dürften, welche
den geringeren Zeit- oder Kostenaufwand mit sich bringen. Bei einer reinen
Kostenüberlegung müsste demnach die Entscheidung immer gegen die
kostenaufwändigere CD-Nutzung resultieren. Bezüglich des Zeitaufwandes kann keine

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derart eindeutige Aussage gemacht werden, da er u. a. auch vom technischen Know-how
jedes einzelnen Nutzers abhängig ist.

2.2 Komplementarität: Güter ergänzen sich
Wenn zwei Güter vom Konsumenten nur zusammen, „d. h. in einem mehr oder weniger
festen Verhältnis verbraucht werden können“, handelt es sich um komplementäre Güter
(Neumann, 1995, S. 133). Ein Gut kann also in engem Sinne nur einen Nutzen erzielen,
falls es mit einem anderen, komplementären Gut genutzt wird (vgl. Hagen, 1999, S. 132).
Oft genannte Beispiele hierfür wären Tabak und Pfeife oder Kaffee und Kaffeemaschine.
In einem weiteren Sinne sind zwei Güter auch dann komplementär, wenn die Nutzung
eines Gutes Bedürfnisse auslöst, die durch ein anderes Gut befriedigt werden, wie dies
zum Beispiel bei Fernsehprogrammen und Programmzeitschriften der Fall ist (vgl. Hagen,
1998, S. 107). Dieses Phänomen wird als „more and more“-Effekt bezeichnet (nach
Lazarsfeld, Berelson & Gaudet, 1944; vgl. Hagen, 1998, S. 106; Trepte et al., 2000, S.
552; Trepte & Baumann, 2004). Das Wissen, welches durch ein Medium vermittelt wird,
weckt das Interesse an anderen Medien und kann deren Verständlichkeit erhöhen
(Hagen, 1999, S. 132). So erreicht der Rezipient durch eine „optimale Kombination der
Medien ... eine Nutzenmaximierung im Sinne der Befriedigung verschiedener Bedürfnisse,
die er durch ein Medium allein nicht erzielen kann“ (Trepte et al., 2000, S. 552). Ein
Komplementäreffekt zweier Güter liegt bei gegebenen Ressourcen und Preisen dann vor,
wenn es mindestens ein drittes Gut gibt, das infolge der Nachfragesteigerung bei den
beiden anderen Gütern weniger nachgefragt wird. Ähnlich dem Zeiteffekt bei der
Substitution könnte z. B. die Mehrnutzung bestimmter traditioneller Tonträger, die durch
eine intensivere Nutzung von MP3-Dateien bedingt sein könnte, zur Folge haben, dass
entweder andere Musikmedien wie das Radio weniger intensiv genutzt werden oder die
Gesamtmediennutzung auf Kosten anderer Tätigkeiten wie Sport etc. erweitert wird (vgl.
Hagen, 1999, S. 132).

3. Forschungsstand
Jüngere Studien zur Komplementarität und Substitution von Medien sind vor allem mit
Blick auf den Vergleich zwischen Onlinezeitungen und Printzeitungen (z. B. Hagen 1998,
1999; Schmitt-Walter, 2003; Mögerle, 2006) oder zwischen Fernsehen und Internet (z. B.

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Trepte et al., 2000; Trepte & Baumann, 2004) durchgeführt worden. Die Beurteilung
dieser Beziehungen erwies sich in allen Fällen als komplex und ließ keine eindeutigen
Aussagen zu. So sind vor allem komplementäre Beziehungen aus ihren Ergebnissen
gedeutet worden. Substitutive Effekte wurden zwar auch gefunden, waren aber meist
nicht - wie es die Nachfragetheorie postulieren würde - vom Preis oder dem Inhalt der
Angebote abhängig, sondern primär von den individuellen Eigenschaften und Interessen
der Nutzer (vgl. Hagen, 1999).

Studien zur MP3-Nutzung und Online-Musikbeschaffung wurden und werden nicht selten
von Marktforschungsunternehmen durchgeführt, die primär die soziodemographische
Beschaffenheit der Musikdownloader und deren Nutzungsintensität von
Musiktauschbörsen erheben (GfK, 2006; Zukunftsmusik.net, 2004). Unterstützt von der
Musikindustrie geht es darum aufzuzeigen, wie viel Musik von welchen Personen herunter
geladen wird und wie die Musik an weitere Personen verteilt wird. Von großem Interesse
dabei ist der Einfluss von Musikdownloads auf das Kaufverhalten der Nutzer im
traditionellen Tonträgermarkt.

Auch verschiedene wissenschaftliche Studien versuchen zu erklären, ob illegale
Downloads für die Umsatzeinbußen des Tonträgermarkts verantwortlich gemacht werden
können (Wiedmann, Frenzel & Walsh, 2001a, 2001b; Tanaka, 2004; Liebowitz, 2004). Die
Studien können zumeist keinen direkten Zusammenhang zwischen den Musikdownloads
und den gesunkenen CD-Verkäufen beweisen, wobei nach Liebowitz (2004, S. 32) die Art
der Datenerhebung häufig eine deutlichere Aussage verunmöglicht. Ungeachtet dessen
gibt es dennoch guten Grund zur Annahme, dass zunehmende Musikdownloads und
sinkende Tonträgerverkäufe zusammenhängen müssen, also eine Substitution der CD
durch MP3 stattfindet bzw. schon stattgefunden hat. Die CD-Absatzrückgänge der letzten
Jahre ließen sich zwar auch anders begründen: Vor allem die durch die
Veröffentlichungsflut verursachte künstlerische Entwertung des Tonträgers und
marktinterne Konzentrationsvorgänge könnten als Erklärung herhalten (Friedrichsen,
Gerloff, Grusche & van Damm, 2004, S. 8). So schlug sich z. B. der Umstieg von der
Analog- auf die Digitaltechnik in den 1980er Jahren in einem Neuverkauf bereits
bestehender Veröffentlichungen nieder: Den Hörern wurden ihre alten Platten in einem

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neuen Format nochmals verkauft, was ein künstlich hohes Niveau der Absatzzahlen nach
sich zog (vgl. Lau, 2002), das sich nun allerdings wieder normalisiert hätte.

Eine Betrachtung außereuropäischer Musikmärkte wie den USA (Jones & Lenhart, 2004;
Oberholzer & Strumpf, 2004; Latonero, 2000) oder Japan (Tanaka, 2004), in denen die
Diskussion um illegale Musiktauschbörsen schon früher entfachte, zeigt, dass Studien
meist zu denselben Ergebnissen kommen: Ein Zusammenhang von steigenden
Musikdownloads und sinkenden Tonträgerverkäufen liegt auf der Hand, kann aber nicht
direkt bewiesen werden. Auch eine Studie von Liebowitz (2004), welche die negativen
Musikverkaufstrends mit Hilfe von makroökonomischen und demographischen Faktoren
(veränderte Verkaufspreise, veränderte Tonträgerformate, veränderte
Distributionsmöglichkeiten, Nutzung alternativer Unterhaltungsformate) zu erklären
versuchte, kam zu keinem überzeugenden Schluss. Da diese Studien mehrheitlich einen
ökonomischen Hintergrund haben, ist eine Bewertung aus
kommunikationswissenschaftlicher Sicht zudem nicht immer einfach.

Generell lässt sich bisweilen eine mangelhafte Differenzierung von Motiven zur MP3-
Beschaffung feststellen. Sozialwissenschaftlich geprägte Studien liefern hier bereits
detailliertere Erkenntnisse. Eine Studie von Haug und Weber (2002) kommt zu dem
Ergebnis, dass sich eine typische Nutzergruppe mit negativem Zusammenhang zwischen
MP3-Downloads und CD-Käufen und eine extreme Nutzergruppe mit positivem
Zusammenhang ausmachen lassen, die sich in ihrem Einfluss auf die Tonträgerabsätze
und -umsätze gegenseitig aufheben könnten. Wiedmann et al. (2001a, 2001b) bestätigen
solche „Extremnutzer“, die sehr viel Musik herunterladen, aber gleichzeitig auch sehr viel
kaufen. Ähnliche Verhaltensweisen und Nutzergruppen konnten bereits zu Beginn der
1980er Jahre beobachtet werden, als das Kopieren von Vinyl auf Kassette (Hometaping)
als großes Problem erachtet wurde (Fishbein, Middlestadt & Kapp, 1980, zit. nach Jones
& Lenhart, 2004, S. 191). Zusätzlich zu diesen unterschiedlichen Nutzergruppen konnten
mehrere Studien (Haug & Weber, 2002; Trepte, Reinecke, Richter-Matthies, Adelberger &
Fittkau, 2004; Piltz, 2004; Friedrichsen et al., 2004) weitere Beweggründe für das
Herunterladen von Musik ausfindig machen. Vor allem auf die Möglichkeit des
Probehörens (Wiedmann et al., 2001a, 2001b; Friedrichsen et al., 2004; Haug & Weber,
2002), Entdeckens von neuer Musik (Trepte et al., 2004; Friedrichsen et al., 2004) oder

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des Auffindens von seltenen Songs (Trepte et al., 2004) wird häufig verwiesen.
Idealistische Motive, wie zum Beispiel das absichtliche Schädigen der Musikindustrie
durch Nutzung illegal herunter geladener Musik, werden zwar auch oft genannt
(Wiedmann et al., 2001b; Haug & Weber, 2002; Trepte et al., 2004), werden aber nicht als
unabhängig von anderen zentralen Motiven (wie z. B. dem Kostensparen) erachtet.

Für eine Beurteilung der Auswirkungen von MP3 auf die CD müsste ein direkter Vergleich
derselben Motive im Hinblick auf beide Musiknutzungsformen stattfinden, denn fragt man
für die beiden Nutzungsformen unterschiedliche Motive ab, so kann das Gesamtergebnis
einer solchen Gegenüberstellung streng genommen nur auf sich ergänzende,
komplementäre Nutzungsaspekte hinweisen. Solche Vergleiche sind bis jetzt nur wenige
durchgeführt worden. Eine Studie von Trepte et al. (2004) machte als erste eine
Gegenüberstellung der Nutzungsmotive von MP3 und CD und kommt zum Schluss, dass
es sich dabei um komplementäre Formen des Musikkonsums handelt, wobei die CD für
eine ästhetisch motivierte Sammelleidenschaft steht, bei der Gestaltung und Klang eine
hohe Rolle spielt. Heruntergeladene Musik diene dagegen eher dazu, seltene und
spezielle Musikstücke zu finden. Eine weitere Studie von Piltz (2004) hat versucht, eine
klarere Abgrenzung zwischen den verschiedenen Musikbeschaffungsmöglichkeiten
vorzunehmen und primär die Motive des CD-Kaufs aufzuzeigen. Dabei seien vor allem
Ästhetik, Unterhaltung, guter Klang sowie mangelnde technische Kenntnisse im Umgang
mit MP3 ausschlaggebend für die Entscheidung zum CD-Kauf. Die Motive sind somit den
von Trepte et al. (2004) gefundenen Faktoren recht ähnlich.

Beide Studien zeigen, dass für Musikdownload und CD-Kauf durchaus unterschiedliche
Beweggründe vorhanden sind. Sie liefern relevante Erkenntnisse für diese Untersuchung,
lassen aber noch Raum offen, das Verhältnis von MP3 und CD detaillierter zu explorieren.
Da es in diesen Studien primär darum ging zu beweisen, welche Nutzungsaspekte für
welches Musikformat relevant sind, wurde z. B. keine genauere Betrachtung des
Überschneidungsbereichs, in dem keine der beiden Formen eindeutig besser ist,
vorgenommen. Außerdem wurden zumindest in der Studie von Trepte et al. (2004) den
Befragten unterschiedliche Motiv-Kataloge für die CD-Nutzung und die MP3-Nutzung
vorgelegt. Dass bei einem solchen Vorgehen zwangsläufig auch unterschiedliche Motive
für beide Nutzungsformen als Ergebnis herauskommen müssen, liegt - wie bereits oben

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erwähnt - auf der Hand. Wenig Aufmerksamkeit wurde bisher auch dem Einfluss von
neuen Musiknutzungsmöglichkeiten durch MP3-Hard- und -Software-Player geschenkt.
Trepte et al. (2004) und Piltz (2004) gingen primär von dem Beschaffungsvorgang des
MP3-Downloads aus und finden deshalb „Entdecken neuer Musik“ und „Auffinden
spezieller Musikstücke“ als Hauptvorteile der MP3-Nutzung: Faktoren, die sich nicht direkt
mit MP3-Abspielgeräten selbst assoziieren lassen. Diese Sichtweise kann man in den
meisten der bisherigen Studien erkennen und dürfte teilweise auch historisch bedingt
sein: Zum Zeitpunkt des Aufkommens von Musiktauschbörsen gab es noch keine MP3-
Hardware-Player, und die Möglichkeiten der Software waren eher begrenzt. So musste
der Fokus auf die Motive zur Beschaffung von MP3-Dateien gerichtet werden.

Was bisherige Studien bislang noch nicht aufgegriffen haben, ist der Einfluss des
Musikdownloads und der Verwendung digitaler Musik auf den generellen Umgang mit
Musik. Insbesondere durch die Interessen der Musikindustrie getrieben, stand meist die
Frage nach den Umsatzeinbußen auf dem CD-Markt und damit der negative Einfluss auf
die CD-Nutzung im Vordergrund. Inwieweit sich die Nutzung anderer Musikmedien sowie
der generelle Umgang mit und die Einstellungen zu Musik verändert haben, ist empirisch
bisher unseres Wissens nicht untersucht worden. Auch in diesem Punkt betritt die
folgende Studie gewissermaßen „Neuland“.

4. Methode und Stichprobe

4.1 Durchführung und Aufbau des Fragebogens
Der Forschungsfrage wurde mittels einer Onlinebefragung zwischen dem 20. Juli und dem
12. August 2005 nachgegangen, die mit Hilfe von Flugblättern, zentralen E-Mail-
Verteilerlisten von Fakultäten verschiedener Universitäten und Einträgen in
unterschiedlichen Online-Foren beworben wurde. Durch den Einsatz von Cookies wurde
es den Teilnehmern ermöglicht, eine bereits begonnene Umfrage zu einem späteren
Zeitpunkt zu beenden. Zudem wurden auf diese Weise Mehrfachteilnahmen verhindert.
53 Prozent derjenigen, die auf die Startseite des Fragebogens klickten, füllten den
Fragebogen komplett aus, was auf eine überdurchschnittliche Motivation sowie auf die
Attraktivität des Themas hindeutet. Die mittlere Bearbeitungszeit lag bei 17 Minuten.

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Begonnen wurde mit Fragen zum allgemeinen Interesse an Musik (Involvement), zur
allgemeinen Musiknutzung, zur Häufigkeit der MP3- und CD-Nutzung sowie zur
Musikgeräte-Ausstattung im Haushalt. Im mittleren Teil wurden dann u. a. die Nutzung der
verschiedenen Bezugsquellen von MP3-Dateien sowie Motive und Einstellungen zur
Beschaffung und Nutzung von MP3-Dateien und CDs mit Hilfe umfangreicher Uses-and-
Gratifications-Itembatterien abgefragt (vgl. Tab. 1).1

Tabelle 1: Bewertungskriterien des direkten Vergleichs zwischen MP3 und CD

Dimension                       Kriterien
Musik entdecken                 • Entdecken von neuer Musik
                                • Entdecken des Musikgeschmacks anderer
                                • Probehören von Musik
Musikangebot                    • Exklusivität der Musik
                                • Vielfalt des Musikangebots
                                • Informationen über Künstler / Produzenten
Kontakt und Austausch           • Kontakt mit anderen Musikliebhabern
                                • Möglichkeiten zur Weitergabe von Musik an Freunde
                                • Unterstützen von Künstlern und Bands
Nutzung                         • Möglichkeiten zur Stimmungsanpassung
                                • Breite der Nutzungsmöglichkeiten
                                • Hörkomfort zu Hause
                                • Klangqualität
Archivierung und Zugriff        • Beständigkeit / Dauerhaftigkeit
                                • Ansehen / Wert der Musiksammlung
                                • Übersichtlichkeit der eigenen Musiksammlung
                                • Kontrolle (schneller Zugriff auf Musik)
                                • Dauer, bis man im Besitz der Musik ist
                                • Anschaffungskosten
Ästhetik und Trend              • ... sind angesagt
                                • ... sind stilvoll

1 Im Fragebogen mussten wir uns aus Platzgründen auf die Gegenüberstellung der Funktionalitäten von
  MP3 und CD konzentrieren, obwohl auch andere Gegenüberstellungen (z. B. MP3 vs. Radio) möglich
  gewesen wären.

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Tabelle 2: Kriterien der Veränderungen im Umgang mit Musik

Dimension                                             Kategorien
Nutzung                                               • Häufigkeit Musikhören allgemein
                                                      • Häufigkeit Radiohören
                                                      • Häufigkeit Hören ganzer Alben
                                                      • Häufigkeit Hören einzelner Songs
                                                      • bewussteres Hören
Erwerb                                                • Anzahl CDs
                                                      • Anzahl Maxis
                                                      • bewussteres Kaufen
                                                      • Entdecken von neuer Musik im CD-Geschäft
Einstellung und Wissen                                • Ansprüche an Musik
                                                      • Empfinden von Musik als schnelllebig
                                                      • Wissensverbesserung über Musik

Um Substitutions- oder Komplementäreffekte unzweifelhaft nachweisen zu können, hätte
man Messungen an denselben Personen im Zeitverlauf, d. h. zu verschiedenen
Zeitpunkten der Musiknutzung, vornehmen müssen (vgl. z. B. Mögerle, 2006). Da der
Aufwand einer Panelbefragung im Rahmen dieser Studie2 jedoch nicht geleistet werden
konnte, wurden die Teilnehmer/innen stattdessen im Anschluss an die Uses-and-
Gratifications-Itembatterien rückblickend um Einschätzungen gebeten, inwieweit sich
bestimmte Umgangsweisen mit Musik bei ihnen verändert haben, seitdem sie MP3-
Dateien herunterladen und nutzen (vgl. Tab. 2). Somit konnten zumindest Daten zu
subjektiv vermuteten individuellen Veränderungen gewonnen werden. Der Fragebogen
schloss mit Angaben zu soziodemographischen Merkmalen.

2 Es handelte sich um eine Studie im Rahmen einer Lizentiatsarbeit an der Universität Zürich, die im
  Zeitraum von wenigen Monaten umgesetzt, ausgewertet und dokumentiert werden musste.

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Abbildung 1: MP3-Beschaffungsarten

4.2 Stichprobe
Die aufgrund der Onlinerekrutierung sich selbst selektierende Stichprobe umfasste nach
der Datenbereinigung 1160 Personen und setzte sich in Bezug auf Geschlecht und Alter
ähnlich zusammen wie die Stichproben der in Deutschland durchgeführten Brenner-
Studien (vgl. GfK, 2006): Das Geschlechterverhältnis betrug 1:2 mit 33 Prozent Frauen (n
= 380) und 67 Prozent Männern (n = 780). Der weibliche Anteil war für Umfragen dieser
Thematik eher hoch (vgl. Haug & Weber, 2002: 6%; Trepte et al., 2004: 15%). Mit einem
durchschnittlichen Alter von 24,7 Jahren war die Teilnehmerschaft erwartungsgemäß jung.
Der jüngste Teilnehmer war 10 und der älteste 59 Jahre alt, wobei die Gruppe der 20- bis
29-Jährigen mit 59,7 Prozent den größten Anteil ausmachte. Die Studierenden stellten mit
53,5 Prozent den größten Teil der Stichprobe. 42,5 Prozent der Befragten waren aus der
Schweiz, 49,8 Prozent aus Deutschland und 7,7 Prozent aus anderen Ländern.

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Die technische Infrastruktur der Teilnehmer war erwartungsgemäß sehr hoch: 98,3
Prozent verfügten über einen Computer/Laptop, 85,5 Prozent über einen Breitband-
Internetanschluss, 83,8 Prozent über einen MP3-Software-Player und 61,5 Prozent über
einen MP3-Hardware-Player. Die durchschnittliche Internetnutzung kann mit
durchschnittlich gut drei Stunden am Tag als ebenfalls sehr hoch angesehen werden (die
Nutzungsdauer der DSL-Nutzer in Deutschland beträgt beispielsweise „nur“ 116 Minuten
pro Tag; vgl. SevenOneMedia, 2005). Pro Woche wurde durchschnittlich 23,8 Stunden
(SD = 21,0) Musik gehört, wobei die Befragten nicht zwischen aktiver oder passiver
Rezeption unterscheiden mussten. 78,8 Prozent (n = 914) kauften zumindest hin und
wieder noch CDs. 89,7 Prozent nutzten bereits MP3 in irgendeiner Form, die Mehrzahl der
Männer (69,9%) sogar bereits seit mindestens drei Jahren.

59,3 Prozent (n = 687) hatten sich bis zum Zeitpunkt der Befragung bereits Musik durch
Tauschbörsen beschafft, luden pro Monat durchschnittlich 35 Songs (SD = 86) herunter
und stellten 18,3 Prozent ihrer MP3-Sammlung anderen Nutzern zur Verfügung.
Insgesamt erwarben die Teilnehmer im Durchschnitt noch 26 Songs pro Monat über den
CD-Kauf, jedoch fast doppelt so viele Songs über die illegalen Tauschbörsen sowie durch
das Enkodieren von CDs von Freunden. Bei den MP3-Beschaffungsarten wurde am
häufigsten das Enkodieren eigener CDs genannt, gefolgt vom Enkodieren von fremden
CDs. Nur 27 Prozent nutzten bereits die kostenpflichtigen Online-Music-Stores (vgl. Abb.
1).

Auffallend war dennoch ein Anteil an ausschließlichen CD-Nutzern (10,3%), der aufgrund
der Methodenwahl und Rekrutierung nicht erwartet werden konnte. Insgesamt handelte es
sich um eine internetaffine und überdurchschnittlich musikinteressierte Gruppe von
Personen, was sich auch in den teilweise ausgiebigen Kommentaren zeigte, die von rund
einem Viertel der Teilnehmer am Ende der Befragung abgegeben wurden.

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5. Ergebnisse
Um zunächst ersten Hinweisen für eine vermeintliche funktionale Substitution der CD
durch das MP3-Format nachzuspüren, werden die Bewertungen der Kriterien für beide
Musikformate im Mittel gegenübergestellt. Der Vergleich mit einem t-Test für gepaarte
Stichproben ergibt hochsignifikante Unterschiede auf allen Kriterien (vgl. Tab. 3).

Um besser zu erkennen, auf welchen Kriterien MP3 und auf welchen Kriterien die CD
vorteilhafter abschneidet, werden nun die Differenzen der Mittelwerte der beiden
Musiknutzungsformen in eine Rangfolge gebracht (vgl. Abb. 2). Auf sieben der 21
Kriterien schneidet die CD besser als MP3 ab, die übrigen Kriterien zeigen jedoch Vorteile
für MP3 an. MP3 schneidet vor allem in den Bereichen der Musikbeschaffung (Kosten,
Entdecken neuer Musik, Probehören) und Kontrolle (schneller Zugriff auf Musik,
Stimmungsanpassung) besser ab. Die CD dominiert bezüglich ästhetischer (Ansehen und
Wert der Sammlung, Klangqualität, „stilvoll“) oder auf den Künstler bezogener Kriterien
(Informationen über Künstler, Unterstützen von Künstlern). „Konkurrenz“ existiert
momentan vor allem in den Bereichen der Beständigkeit und Übersichtlichkeit der
Sammlung, der Exklusivität der Musik sowie der Weitergabemöglichkeiten an Freunde.
Aufgrund der eher geringen funktionalen Überschneidungen könnte man darin nun -
ähnlich wie es vergangene Studien getan haben - einen Komplementaritätseffekt
ausmachen. CD und MP3 scheinen sich insofern funktional zu ergänzen, dass
Schwächen des einen Mediums durch Stärken des anderen Mediums kompensiert
werden. Insofern könnte die Nutzung des einen Mediums die Nutzung des anderen
Mediums sogar fördern. Die eingangs zitierten steigenden Nutzungszahlen von
CD/Schallplatte/Kassette in den letzten fünf Jahren dürften u. a. auf diesen
Komplementaritätseffekt - trotz der zeitgleich sinkenden Umsatz- und Absatzrückgänge -
zurückzuführen sein.

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Tabelle 3: Vergleich der Bewertungskriterien zwischen MP3 und CD

Kriterien                                      MMP3     MCD Differenz      Sddiff.            t
Kontrolle (schneller Zugriff auf               4.39     2.84      1.54        1.70    -30.95**
gewünschte Musik)
Vielfalt des Musikangebots                     4.32     3.82      0.50        1.38    -12.43**
Entdecken von neuer Musik                      4.29     2.76      1.53        1.71    -30.34**
Probehören von Musik                           4.25     2.99      1.26        1.81    -23.78**
Anschaffungskosten                             4.21     1.73      2.48        1.46    -57.60**
Möglichkeiten zur Weitergabe von Musik         4.21     3.87      0.34        1.44     -7.98**
an Freunde
Möglichkeiten, die Musik an die                4.18     3.38      0.80        1.48    -18.47**
Stimmung anzupassen
Nutzungsmöglichkeiten                          4.11     3.51      0.60        1.42    -14.33**
... sind angesagt                              3.88     3.08      0.79        1.46    -18.44**
Übersichtlichkeit der eigenen                  3.83     3.66      0.16        1.96     -2.85**
Musiksammlung
Hörkomfort zu Hause                            3.64     4.07     -0.43        1.77      8.29**
Entdecken des Musikgeschmacks                  3.57     2.88      0.69        1.54    -15.19**
anderer
Exklusivität der Musik                         3.56     3.30      0.25        1.86     -4.63**
Beständigkeit/Dauerhaftigkeit                  3.51     3.89     -0.38        1.73      7.50**
Klangqualität                                  3.37     4.52     -1.16        1.19     33.09**
Kontakt mit anderen Musikliebhabern            3.29     2.71      0.58        1.73    -11.40**
Dauer, bis man im Besitz der Musik ist         3.22     2.85      0.37        1.86     -6.71**
... sind stilvoll                              2.57     3.89     -1.33        1.81     25.06**
Informationen über                             2.41     4.00     -1.59        1.72     31.46**
Künstler/Band/Produzenten
Ansehen/Wert der Musiksammlung                 2.35     4.31     -1.95        1.58     42.02**
Unterstützen von Künstlern/Bands               2.08     4.34     -2.27        1.66     46.60**
Anmerkungen: Basis: N = 1160; ** = p
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Daten aus einer entsprechenden Längsschnittstudie nicht vorliegen haben. Wir wissen
also nicht, inwieweit sich die Bewertung und Nutzung der CD in den letzten Jahren
aufgrund der Konkurrenz durch das MP3-Format hinsichtlich bestimmter Kriterien
verändert hat.

Abbildung 2: Differenzen der Bewertungskriterien von MP3 und CD, sortiert nach Größe3

3 Mit einem „+“ sind solche Kriterien gekennzeichnet, die beim jeweiligen „überlegenen“ Musikformat im
  Mittel mit mindestens „4“ auf der 5er-Skala bewertet wurden (vgl. Tab. 3) und somit eine besonders große
  Bedeutung in der Nutzung des jeweiligen Musikformats aufweisen. Dieser Hinweis ist vor dem
  Hintergrund wichtig, da eine signifikante Differenz zwischen beiden Musikformaten nicht gleichbedeutend
  damit sein muss, dass das entsprechende Kriterium überhaupt relevant ist für die Nutzung eines der
  beiden Formate (signifikante Differenzen könnten sich auch ergeben, wenn beide Formate auf dem
  Kriterium unter dem Skalenmittelpunkt 3 bewertet wurden).

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Es fällt jedoch auf, dass die CD bezüglich diverser Kriterien wie der Breite der
Nutzungsmöglichkeiten, der Vielfalt des Musikangebots sowie der Kontrolle bzw. des
schnellen Zugriffs auf die Songs - alles Kriterien, die in den 80er und 90er Jahren die

Tabelle 4: Veränderungen in der Musiknutzung (in % der Befragten)

Seitdem ich MP3s herunterlade               viel                       gleich                           viel
oder nutze ...                           weniger        weniger            viel          mehr           mehr
kaufe ich ... CDs.                          19,6           27,2          40,3             9,5           3,4
kaufe ich ... Maxis.                        42,2           16,0          40,1             1,3           0,4
höre ich ... Musik.                          0,9           1,5           33,6            36,2           27,8
höre ich ... Radio.                         12,7           18,3          59,1             7,4           2,6
höre ich mir ... ganze Alben an.             6,8           25,8          46,8            13,4           7,2
entdecke ich ... neue Musik im              11,3           20,9          40,2            20,5           7,2
CD-Geschäft.
habe ich... Ansprüche an Musik.              0,7           2,0           54,5            30,7           12,1
                                           Trifft                                         Trifft voll
Seitdem ich MP3s herunterlade           überhaupt                                         und ganz
oder nutze ...                           nicht zu                                               zu
                                             1             2         3             4            5         M
kaufe ich bewusster CDs.                    14,5          7,4       16,1          27,7       34,4         3,6
höre ich mehr einzelne Songs als            17,4          13,0      19,4          28,4       21,8        3,24
ganze Alben.
höre ich bewusster Musik.                   15,0          12,4      32,9          23,6       16,2        3,14
hat sich mein Wissen über Musik             13,4          12,1      26,2          24,7       23,6        3,33
verbessert.
ist Musik für mich schnelllebiger           17,5          15,7      26,1          26,0       14,6        3,04
geworden.
wende ich generell mehr Zeit für            11,7          12,0      23,8          31,0       21,5        3,38
Musik auf.
Anmerkungen: n = 1056
Drei Punkte stehen je nach Bewertung für die Begriffe viel weniger, weniger, gleich viel, mehr oder viel
mehr; M = Mittelwert

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großen Vorteile der CD gegenüber der Schallplatte und der Kassette darstellten - nicht
mehr besonders nutzbringend bewertet wird. Wenn das MP3-Format mit Blick auf diese
Kriterien mittlerweile hoch signifikant besser bewertet wird, dann deutet dies darauf hin,
dass MP3 diesbezüglich der CD die Marktführerschaft abgenommen und sie funktional
substituiert hat. Insbesondere die Anschaffungskosten - ein Kriterium, auf dem die CD
gegenüber Schallplatte und Kassette zumindest keinen Marktnachteil verzeichnete -
werden von den Befragten mit Blick auf die Nutzung von MP3 wesentlich günstiger
bewertet. Nach Tabelle 4 kaufen 46,8 Prozent der Befragten weniger/viel weniger CDs
und sogar 58,2 Prozent weniger/viel weniger Maxis, seitdem sie MP3 herunterladen oder
nutzen. Diese Zahlen verweisen auf die weiter oben zitierten Umsatz- und
Absatzrückgänge der Musikindustrie und damit auf Substitutionseffekte, denn eine reine
komplementäre Nutzung von MP3 und CD müsste sich ja gemäß der Nachfragetheorie
nicht nur in steigenden Nutzungszahlen, sondern idealerweise auch in steigenden
Absatzzahlen der CD niederschlagen. Die oben genannten komplementären Effekte in der
Funktionalität von MP3 und CD scheinen also durch das Kostenargument bzw. den
Einkommenseffekt komplett „überschattet“ zu werden.

Auch das Radio scheint unter dem Konkurrenzdruck von MP3 zu leiden: 31 Prozent der
Befragten geben an, weniger/viel weniger Radio zu hören, seitdem sie MP3 herunterladen
oder nutzen, während nur zehn Prozent meinen, seitdem das Radio mehr/viel mehr zu
nutzen (vgl. Tab. 4). Diese Zahlen verweisen ebenfalls auf substitutive Effekte, wobei die
spezifischen Substitutionsgründe aus diesen Daten nicht zu interpretieren sind.

Aber auch „positive“ Auswirkungen der MP3-Nutzung lassen sich identifizieren: Zwischen
ca. 40 und 60 Prozent der Befragten (je nach betreffendem Kriterium) geben an, durch die
MP3-Nutzung nun bewusster CDs zu kaufen, bewusster Musik zu hören, generell mehr
Zeit für Musik aufzuwenden und sogar ihr Wissen über Musik verbessert zu haben (vgl.
Tab. 4). Korreliert man das Ausmaß der MP3-Beschaffung bzw. die Anzahl der monatlich
heruntergeladenen Songs mit diesen wahrgenommenen Veränderungen in der
Musiknutzung, zeigen sich - bis auf eine Ausnahme - ausschließlich signifikante
Zusammenhänge (vgl. Tab. 5). Das heißt z. B., dass nicht nur ca. 50 Prozent der
Befragten meinen, ihr Wissen über Musik verbessert zu haben, seitdem sie MP3
herunterladen oder nutzen, sondern dass dieser Wissenszuwachs umso größer war,

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desto mehr MP3-Dateien sie sich beschafften. Auch beispielsweise das bewusste
Musikhören sowie die Ansprüche an Musik stiegen nach ihrer Aussage mit steigendem
Umfang der MP3-Nutzung. Diese Ergebnisse lassen sich im Sinne eines „more-and-
more“-Effektes interpretieren.

Tabelle 5: Zusammenhang zwischen Ausmaß der MP3-Beschaffung und Veränderungen
in der Musiknutzung (Spearmans rho, sortiert nach Größe)

Seitdem ich MP3s herunterlade oder nutze...                              rho
hat sich mein Wissen über Musik verbessert.                              0,370**
wende ich generell mehr Zeit für Musik auf.                              0,285**
habe ich ... Ansprüche an Musik.                                         0,237**
höre ich bewusster Musik.                                                0,219**
höre ich... Musik.                                                       0,211**
kaufe ich bewusster CDs.                                                 0,191**
höre ich mir ... ganze Alben an.                                         0,112**
ist Musik für mich schnelllebiger geworden.                              0,111**
höre ich mehr einzelne Songs als ganze Alben.                            -0,012
entdecke ich ... neue Musik im CD-Geschäft.                              -0,079*
höre ich ... Radio.                                                      -0,091**
kaufe ich ... Maxis.                                                     -0,125**
kaufe ich ... CDs.                                                       -0,145**
Anmerkungen: n = 999;:**=p
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wirkt die MP3-Nutzung im Sinne eines „more-and-more“-Effektes auch belebend auf den
traditionellen Umgang mit Musik, indem sie nicht nur zu einer verstärkten Musiknutzung
insgesamt, sondern zu einer bewussteren Zuwendung zu Musik sowie zu vermehrtem
Musikwissen und höheren Ansprüchen an Musik beiträgt.

6. Fazit
Das MP3-Format hat in den letzten Jahren eine immer bedeutendere Rolle bei der
Beschaffung und Nutzung von Musik gespielt. Erhebliche Fortschritte in der Entwicklung
von portablen MP3-Playern und die Verfügbarkeit ganzer Musikarchive über Peer-to-Peer-
Netzwerke haben zur enormen Popularität dieses Musikformats beigetragen und damit
auch Fragen nach den Auswirkungen auf traditionelle Musikmedien sowie den Umgang
mit Musik hervorgerufen. Aus den Ergebnissen dieser Studie kann abgeleitet werden,
dass es sich beim MP3-Format und der traditionellen CD in Teilen noch um einander
funktional ergänzende bzw. komplementäre Angebote handelt. Kombiniert befriedigen sie
verschiedene Bedürfnisse, die nicht durch die Nutzung eines Angebots allein erzielt
werden können. Damit hat diese Studie die Ergebnisse der neueren wissenschaftlichen
Studien zu diesem Themenkomplex (Trepte et al., 2004; Piltz, 2004) in großen Teilen
bestätigen können - und zwar mit einem Kriterienkatalog, der für beide Musikmedien
gleichermaßen angelegt wurde. Trotzdem sind im Gegensatz zu bisherigen Studien auch
bereits deutliche substitutive Auswirkungen des MP3-Konsums auf den Erwerb und die
Nutzung von CDs sichtbar. Die Situation alleine mit Ansätzen wie der Nachfragetheorie zu
erklären, stellt sich als zu einfach heraus, da sie z. B. persönliche Eigenschaften und
Einstellungen der Nutzer vernachlässigt. Ergänzende Auswertungen unserer Studie, die
aus Platzgründen hier nicht dargestellt werden konnten, zeigen beispielsweise, dass
Personen mit einem geringeren Interesse an Musik im Vergleich zu Personen mit hohem
Musikinteresse eher dazu tendieren, auf die exklusiven Eigenschaften einer CD zu
verzichten und den Kostenvorteil des MP3-Formats in den Vordergrund zu rücken.

Diese Studie konnte zudem einen funktionalen Überschneidungsbereich von CD und MP3
identifizieren, in dem beide Musikmedien noch auf nahezu gleicher „Augenhöhe“
wahrgenommen werden. Dieser Nutzenbereich, in dem MP3 zwar generell etwas besser
bewertet wird, die CD aber durchaus noch mithalten kann, dürfte für die Frage nach dem

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„Überleben“ der CD am interessantesten sein. In Bezug auf den Hörkomfort zu Hause, die
Beständigkeit, die Übersichtlichkeit der Musiksammlung, die Beschaffungsdauer und die
Weitergabe an Freunde hat das MP3-Format allenfalls erst angefangen, die CD zu
substituieren. Wenn man sich diese Kriterien aber genauer vor Augen führt, kommt man
schnell zu dem Schluss, dass es nur noch eine Frage der Zeit sein kann, wann sich MP3
auch hier im Bewusstsein der Musiknutzer durchsetzt - denn von der technischen Seite
betrachtet ist MP3 der CD schon heute in diesen Kriterien überlegen.

Dass insbesondere das Radio an Zuspruch der Nutzer verloren hat, verwundert insofern
nicht, als dass diejenigen Kriterien, auf denen sich wenigstens die CD gegenüber MP3
noch behaupten konnte (Ansehen und Wert der Sammlung, Klangqualität, „stilvoll“,
Informationen über Künstler, Unterstützen von Künstlern), für die Bewertung von Musik im
Radio kaum relevant sind. Da beim Radiohören die Musik im Gegensatz zur CD und MP3
darüber hinaus von den Nutzern nicht individuell selbst selektiert werden kann, dürfte das
Radio auf den betreffenden Kriterien noch stärker ins Hintertreffen geraten sein als die
CD. Kurzum: es lassen sich eigentlich keine Kriterien mehr finden, auf denen das Radio
gegenüber MP3 noch nennenswert „punkten“ dürfte. Es verwundert vor diesem
Hintergrund nicht, dass insbesondere die Jugendwellen in den letzten Jahren die größten
Reichweitenrückgänge zu verzeichnen haben.

Zusammengefasst lassen sich aus den Ergebnissen mit Blick auf das Radio vor allem
Substitutionseffekte interpretieren. Weitere Studien sollten sich differenzierter auch den
Nutzungsaspekten des Radios widmen und diese den MP3-Nutzungsaspekten
gegenüberstellen, um hinsichtlich der Substitutionseffekte Erklärungen zu liefern. Dies
konnte im Rahmen dieser Studie noch nicht geleistet werden.

Die Studie deutete zudem - und dies war nicht zu erwarten - eine Vielzahl von „more-and-
more“-Effekten der MP3-Nutzung auf den quantitativen und qualitativen Umgang mit
Musik an: Je mehr die Nutzer auf MP3-Dateien zurückgreifen, desto mehr Musik hören sie
insgesamt, desto höhere Ansprüche haben sie an Musik, desto bewusster hören sie
Musik und desto mehr Wissen generieren sie über Musik. Das MP3-Zeitalter sollte also
weniger kulturpessimistisch beäugt und dafür mehr im Hinblick auf die innovativen
Möglichkeiten der Musikaneignung bewertet werden. Da der Forschungsstand zu dieser
Teilfrage bisher keine Antworten liefern konnte und unsere Studie somit „unberührten“

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Boden betrat, sollten diese ersten Ergebnisse ebenfalls zu differenzierender,
anknüpfender Forschung ermutigen.

Dass Antworten auf die Forschungsfrage dieser Studie nicht einfach zu finden sein
werden, deuteten die Resultate aus ähnlichen Untersuchungen schon an. So können
auch die Ergebnisse dieser Arbeit nur einen weiteren Anteil zur Erklärung der
Nutzungsveränderungen im MP3-Zeitalter leisten. Die Stichprobe hat sich über den Weg
der Onlinebefragung selbst selektiert und kann daher keine repräsentative Stichprobe
darstellen. Die Befragten wiesen im Vergleich zu repräsentativen Internetumfragen unter
Jugendlichen/ jungen Erwachsenen darüber hinaus eine überproportional hohe
Internetnutzung und Musikaffinität auf, was bei dem Thema der Umfrage zu erwarten war.
Es ist deshalb anzunehmen, dass die Ergebnisse dieser Studie vor allem für Musiknutzer
bezeichnend sind, die mit der Beschaffung und Nutzung von MP3-Songs über das
Internet bestens vertraut sind. Aussagen reiner CD-Nutzer sind untervertreten. Zukünftige
Studien sollten Veränderungen im Musiknutzungsverhalten daher möglichst in einem
repräsentativen Längsschnittdesign abbilden, das Substitutions-, Komplementaritäts- und
„more-and-more“ -Effekte mittels Paneldaten belegen kann.

Welche zukünftigen Entwicklungen können wir erwarten? Da die CD ihren
Entwicklungshöhepunkt erreicht hat und in Bezug auf ihre Beschaffung und Nutzung keine
großen Veränderungen mehr stattfinden werden, wird ihre Zukunft dadurch bestimmt
werden, wie gut MP3 die ihr fehlenden CD-Gratifikationen ausgleichen kann und wie sich
die Bedeutsamkeit dieser Gratifikationen für die Nutzer entwickelt. Mit Blick auf die
mediale Berichterstattung hat bereits eine Verschiebung dieser Bedeutsamkeit
stattgefunden: Neue MP3-Hardware und die einhergehenden, negativen Auswirkungen
auf den CD-Verkauf dominieren den Inhalt sowohl der Fach- als auch der Tagespresse.
Es wird immer weniger von den vorteilhaften Eigenschaften der CD gesprochen. Auch
historisch betrachtet lässt sich ein relevanter Fortbestand der CD in der momentanen
Form nicht stützen, da sich meist das Praktische, das Einfache, das Schnelle in der
breiten Masse durchgesetzt hat: Vinyl wurde von Audiokassetten, die einfach bespielt
werden konnten, in Frage gestellt und letztendlich von der in Nutzung und Klang
überlegenen CD endgültig in eine Nische verdrängt.

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Musik ist somit heute an einem technischen Wende- oder gar Endpunkt angelangt, an
dem sie auch losgelöst von einem Speichermedium, wie man es bis jetzt gekannt hat,
existieren und distribuiert werden kann: „Music has become liquid ... [and it] ... is open for
any interested user to re-enter the cycle of musical creation at any point, as was once the
Gase for all music in tribal societies“ (Hughes & Lang, 2003, S.186). Bereits zeigen sich
erste Folgen dieser neuen Form der ständigen und unbegrenzten Verfügbarkeit von
Musik: Durch schnellen, internationalen Transfer von Musik werden Kooperationen von
Künstlern möglich, die sich noch nie zuvor gesehen haben. Werke werden veröffentlicht,
die auf den bisherigen Wegen der Musikindustrie nie erschienen wären. Argumente dieser
Art finden leider in der mehrheitlich negativen Medienberichterstattung nur selten Platz.
Jedoch sollten auch sie uns Ansporn für weitere Forschung zur Nutzung von medial
vermittelter Musik sein.

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