Die jüdisch-christliche Episode des 1853 wiederbegründeten Gymnasium Arnoldinum in Burgsteinfurt 1853 1937

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Die jüdisch-christliche Episode des 1853 wiederbegründeten Gymnasium Arnoldinum in Burgsteinfurt 1853 1937
Die jüdisch-christliche Episode

                  des

   1853 wiederbegründeten

   Gymnasium Arnoldinum

                   in

  Burgsteinfurt 1853 – 1937

                   von

         Karl Friedrich Herhaus

     Münster (2013, aktualisiert 2014)
Die jüdisch-christliche Episode des 1853 wiederbegründeten Gymnasium Arnoldinum in Burgsteinfurt 1853 1937
Inhalt
                                                                                   S.

Einleitung                                                                          1

Exkurs 1 Sprach- und Zitierregelungen                                               1

Teil I: Der Beitrag jüdischer Bürger an der Wiederbegründung des Arnoldinums
         und die Anfänge des so genannten „modernen Antisemitismus“                 1
Teil II: Die Arnoldinerinnen und Arnoldiner mit jüdischem Bekenntnis, angeordnet
         nach dem Geburtsdatum                                                      6

Exkurs 2: Erik Blumenfeld, ein Urenkel von Feibes und Jeannette Blumenfeld         10
Exkurs 3: Alice Ascher, die Tante von Erik Blumenfeld                              10
Exkurs 4: Sam Spanjaards Verwandte und die Niederlande als „Shoah-Falle“           12
Exkurs 5: Max Kempenichs Nachkommen                                                21
Exkurs 6: über das Schicksal der Pagener-Sippe aus Epe                             34
Exkurs 7: über das Schicksal der David-Mildenberg-Sippe aus Lengerich              41
Exkurs 8: Das Verschwinden der Familie Steinmann aus Burgsteinfurt                 51
Exkurs 9: Das Schicksal der Eltern und der Schwester von Paul Eichenwald           58
Exkurs 10: Genealogische Übersicht über die Hirsch-Sippe von Burgsteinfurt         63

Nachwort                                                                           74

Anmerkungen                                                                        75

Verzeichnis der Quellen                                                            90

Namensregister der jüdischen Arnoldinerinnen und Arnoldiner                        95

                            Verzeichnis der Abkürzungen

al. : alias                                 s.o.: siehe oben
ca .: circa                                 s.u.: siehe unten
geb.: geborene                              SA: Sturmabteilung
gen.: genannt                               SS: Schutzstaffel
gesch.: geschiedene                         s.u.: siehe unten
HJ: Hitlerjugend                            u.a.: unter anderem/n
KZ: Konzentrationslager                     UK: United Kingdom
NL: Niederlande                             vgl.: vergleiche
NS: Nationalsozialismus, Nationalsoziali-   zit.: zitiert
       sten, nationalsozialistisch,         z.T.: zum Teil
o.g.: oben genannt                          verw.: verwitwete
p.M.: persönliche Mitteilung                vh.: verheiratete
Die jüdisch-christliche Episode des 1853 wiederbegründeten Gymnasium Arnoldinum in Burgsteinfurt 1853 1937
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                                              Einleitung

Das 1588 gegründete „Gymnasium Illustre Arnoldinum“, die so genannte „Hohe Schule“
von Burgsteinfurt, wurde im Jahre 1811 durch die napoleonische Verwaltung geschlos-
sen, 1853 aber als staatliches „Gymnasium Arnoldinum“ wiederbegründet1. Gründung
und Wiederbegründung jähren sich also 2013 zum 425. bzw. 160 mal.
Von 1853 bis 1937 haben insgesamt 3552 Schüler und (ab 1920 auch 42 Schülerinnen)
christlichen (römisch-katholisch, evangelisch-reformiert, evangelisch-lutherisch, evange-
lisch-mennonitisch) und jüdischen Bekenntnisses das Arnoldinum besucht; letztere Teil-
gruppe macht 4% der Gesamtschülerzahl im genannten Zeitraum aus, ein Anteil, der
deutlich über dem damaligen Bevölkerungsanteil der jüdischen Religionsgruppe in der
Region lag2. Der 84 Jahre dauernde jüdisch-christliche Abschnitt der Geschichte des
Arnoldinums ist Gegenstand der folgenden Darstellung. Damit schließe ich die vor 6
Jahren begonnenen und verstärkt seit 3 Jahren vorangetriebenen Recherchen zu dieser
Gruppe von ehemaligen Arnoldinern ab, um so in diesem Jubiläumsjahr auf einen
besonderen Abschnitt der Schulgeschichte des Arnoldinums aufmerksam zu machen, der
nach 1945 zu lange verschwiegen worden ist.
Primärquelle ist die von 1853 – 1937 geführte Schülermatrikel aus dem Schularchiv des
Gymnasiums, der „Catalogus discipulorum Albo Gymnasii Evangelici Steinfurtensis inde a
Cal. April MDCCCLIII inscriptorum“. Sie ist sozusagen die „Urliste“ meiner Recherchen.
Sie enthält insgesamt 156 Namen jüdischer Schülerinnen und Schüler. Dieser Gruppe
habe ich noch den Namen eines weiteren Schülers (Robert Herz, s.u.) hinzugefügt, der
zwar evangelisch konfirmiert wurde, aber – nach der zwischen 1933 und 1945 gültigen
NS-Nomenklatur – als „Halbjude“ galt und aus diesem Grunde am Arnoldinum seit 1933
von Mitschülern und Lehrern diskriminiert wurde.
Da ich bis jetzt nicht alle 157 Namen eindeutig identifizieren konnte, bleibt der Aufsatz ein
Fragment.

                              Exkurs 1 Sprach- und Zitierregelungen

1. Ich vermeide mit Absicht den Begriff „Holocaust“, obwohl sich dieser seit geraumer Zeit als historischer
Fachbegriff für die physische Judenvernichtung in Deutschland eingebürgert hat. In der Septuaginta, der
alten griechischen Übersetzung des Tanach (= der Heiligen Schriften des von Christen so genannten „Alten
Testaments“) bezeichnet dieser Begriff das „Ganzopfer“, bzw. „Brandopfer“ für den Gott Israels in der Zeit
des nachexilischen Tempels von Jerusalem. Aus der Septuaginta gelangte der Begriff als „holocaustum“ in
die Vulagata und von dort schließlich im 20. Jahrhundert ins englisch-amerikanische „holocaust“. Die Ver-
wendung des Begriffs Holocaust in der zeitgenössischen Geschichtswissenschaft erscheint mir wegen der
ursprünglichen religiösen Bedeutung ungeeignet. Stattdessen verwende ich den hebräischen Begriff
                                                                                3
„Shoa(h)“, der soviel bedeutung wie „Verwüstung“, „Vernichtung“, „Katastrophe“ .
2. Ich verwende die Begriffe „Jude“, „jüdisch“ ausschließlich in der religiösen Bedeutung als Bezeichnung
der Zugehörigkeit zum Judentum und nicht etwa als ethnische oder gar biologistisch-rassistische Bezeich-
nung.
3. Zur Bezeichnung der Todesursache von Menschen, die in der Shoah ums Leben gekommen sind, ver-
wende ich den Begriff „ermorden“ bzw. „Mord“ – auch dann, wenn die NS-Mediziner damals als Todes-
ursachen medizinische Fachausdrücke wie etwa „Altersschwäche“, „Tuberkulose“ oder dergleichen in die
Totenscheine eingetragen haben.
4. Zitierregelung: Wörtliche Zitate sind immer kursiv kenntlich gemacht, unabhängig vom Schrifttyp der zi-
tierten Quelle; Änderungen im Zitat sind durch [ ] kenntlich gemacht.

                                                  Teil I

 Der Beitrag jüdischer Bürger an der Wiederbegründung des Arnoldinums und die
              Anfänge des so genannten „modernen Antisemitismus“

Der website des heutigen Gymnasium Arnoldinum ist zu entnehmen, dass die Wiederbe-
gründung des Gymnasium Arnoldinum im Jahre 1853 gewissermaßen das Ergebnis der
Aktivität einer „Bürgerinitiative“ war: „Aus Kreisen des selbstbewusster gewordenen Stein-
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furter Bürgertums entstand […] schon um 1820 eine Initiative, die alte Hohe Schule als
Gymnasium im Rahmen der Bildungsreform des preußischen Reformers Wilhelm von
Humboldt wieder auferstehen zu lassen. Als Zulassungsberechtigung für die Universität
sollte die verbindliche Abiturprüfung stehen. Die entscheidende Kraft in diesen Bemühun-
gen war Bürgermeister Wilhelm Terberger, dem es hauptsächlich zu verdanken ist, dass
nach dem Abschluss eines Staatsvertrags zwischen der preußischen Regierung und den
beiden Häusern Bentheim das Gymnasium Arnoldinum als nunmehr staatliche Schule mit
dem Namen „Evangelisch Fürstlich Bentheimisches Gymnasium Arnoldinum“ 1853 nach
fast 50-jähriger Unterbrechung wieder begründet war.“ 4
An jener „Gymnasium-Arnoldinum-Wiederbegründungs-Bürgerinitative“ hat maßgeblich
auch eine Reihe jüdischer Bürger Burgsteinfurts mitgewirkt, darunter jene, denen der Bür-
germeister Wilhelm Terberger (er war einer der letzten Schüler des alten Gymnasium
illustre Arnoldinum)5 in seinem Bericht an den kommissarischen Landrat Cormann im Jahre
1818 ein bemerkenswertes Zeugnis ausgestellt hat: „[…] In staatswirtschaftlicher Hinsicht
muß ich bemerken, dass die hiesigen Juden für Steinfurt wichtig sind und hauptsächlich
den Handel mit Tuch, Ausschnitt- und Ellenwaren, Kattun allerhand Zeug, Spitzentüchern
etc. in Händen haben [, weshalb sie] Beförderer des Luxus [sind]“6. Mit den „hiesigen
Juden“ meinte der damalige Bürgermeister u.a. die bildungsbeflissenen Textilgeschäfts-
inhaber Salomon und Moses Itzig7, den Lederfabrikant Elias Marcus (II)8 und den Eisen-
händler Sally Cohen9. Sie standen der jüdischen Aufklärungsbewegung Haskala nahe,
besonders deren Münsteraner Vertreter Alexander Haindorf und dessen bildungstheo-
retischem Begriff „[…] Amalgierung, den er nicht wie die radikalen Reformer als einseitige
Anpassung der Juden an die christliche Gesellschaft, sondern als Austausch jüdischer und
christlicher Kulturgüter interpretierte […]“10. Sie unterstützten deshalb Bürgermeister
Terberger in seinem Vorhaben der Wiederbegründung des Gymnasiums; auch ihre Söhne,
Feibes Itzig, al. Blumenfeld, Joseph Marcus und Moritz Cohen schickten ihre Söhne zum
Arnoldinum; der jüngere Bruder von Moritz Cohen, Wilhelm Cohen besuchte selbst das
Gymnasium (s.u.) und ließ später auch seinen Sohn Paul einschreiben (s.u.).
Feibes Itzig hatte von 1825 an drei Jahre lang zusammen mit seinen Vettern Feibes Jacob
Feibes aus Lengerich und Feodor Blumenfeld aus Osnabrück die jüdische Elementar-
schule der später so genannten Marks-Haindorf-Stiftung besucht und die letzten beiden
Schuljahre auf der von dem Alexander-Haindorf-Schüler ausgebildeten Elias Marcus (III)8
neu eröffneten jüdischen Elementarschule in Burgsteinfurt verbracht11. Seit Mitte der
1840er Jahre engagierte er sich einerseits ehrenamtlich in den Schulangelegenheiten der
Synagogengemeinde, andererseits aber auch zunehmend bildungspolitisch in der Bürger-
gemeinde, indem er u.a. auch die Bestrebungen von Bürgermeister Terberger zur Wieder-
begründung des Gymnasium Arnoldinum unterstützte. Beim Provinzialschulkollegium in
Münster konnte er allerdings mit seinem Antrag nicht durchdringen, als Teilkraft für
jüdischen Religionsunterricht am Arnoldinum den Nachfolger von Elias Marcus (III) im Amt
des Lehrers der jüdischen Elementarschule Hermann Schwarzauer einzustellen, obgleich
er bei diesem Antrag von Bürgermeister Terberger und der Synagogengemeinde unter-
stützt wurde12. Dieser Misserfolg führte nicht dazu, dass sich Feibes Itzig etwa aus der
Politik zurückzogen hätte; vielmehr machte er weiterhin seinen Einfluss als langjähriger
politischer Mandatsträger auf Stadt- und Kreisebene geltend. Das Anliegen, seinen Söhnen
eine angemessene gleichberechtigte Religionsunterweisung zukommen zu lassen, verwirk-
lichte er so, dass er sie sonnntags, wenn die nicht jüdischen Mitschüler schulfrei hatten,
zum privaten Religionsunterricht bei Hermann Schwarzauer schickte. Ob andere jüdische
Eltern ähnlich verfahren sind, ist mir nicht bekannt; im Schularchiv des Arnoldinums
vorhandenen Schulzeugnissen aus späterer Zeit ist zu entnehmen, dass Schüler mit
jüdischem Bekenntnis fakultativ am christlichen Religionsunterricht teilgenommen haben,
und zwar mehrheitlich am evangelischen, der von einer fest angestellten Lehrkraft erteilt
wurde; für den katholischen Religionsunterricht wurde jeweils der amtierende Kaplan der
Kirchengemeinde abgeordnet.
Als im Oktober 1860 das neue Schulgebäude des Gymnasium Arnoldinum an der Wasser-
Straße 18 eingeweiht wurde, „[…] hinterließ [der Schülervater und Stadtverordnete Feibes
Die jüdisch-christliche Episode des 1853 wiederbegründeten Gymnasium Arnoldinum in Burgsteinfurt 1853 1937
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Itzig] den größten Eindruck als großzügiger Spender und Mäzen. Als die Schüler des
Gymnasiums […] sich am Morgen des Einweihungstages auf dem Schulhof versammelt
hatten […], konnte Direktor Rohdewald drei vorher bestimmten Primanern eine preus-
sische, eine fürstliche und eine städtische Fahne übergeben, die Feibes der Schule zur
Ernnerung an diesen großen Tag geschenkt hatte […] Anschließend machte sich der Zug
mit wehenden Fahnen auf den Weg durch die Stadt“13,

       Abb. 1: Das alte Gymnasium Arnoldinum an der Wasserstr. 18

Im alten humanistischen Gymnasium Aroldinum (Abb.1)14 standen die alten Sprachen
Hebräisch, Griechisch und Latein auf dem Lehrplan. Ab 1853 haben jüdische Schüler mit
Schülern verschiedener christlicher Konfessionen die Schulbank gedrückt; nicht selten
waren sie auch gemeinsam im Schülerblasorchester aktiv (s. Abb. 2, 3, 10). Bis Anfang
des 20. Jahrhunderts scheint es nicht zu aktenkundigen anti-jüdischen Vorfällen im Gym-
nasium Arnoldinum gekommen.

Das war anders in vielen Großstädten Preußens, als die jüdischen Bürger nach „[…] dem
Scheitern der Revolution von 1848/49 und der beginnenden Reaktionsphase […]
erkennen [mussten], dass die Emanzipationsgesetze und die ihnen rechtmäßig zu-
stehenden Rechte mehr auf dem Papier als in der Wirklichkeit bestanden. Die von den
Hochkonservativen entwickelte christliche Staatsidee zielte auf die Rücknahme des
Gleichberechtigungsprinzips für die Juden. Sprachrohr der Vertreter dieser Richtung war
die „Neue Preussische Zeitung“ („Kreuzzeitung“), die keine Gelegenheit ausließ, gegen
die Juden zu polemisieren. Besonders der Chefredakteur dieser Zeitung Hermann
Wagener betrieb in seinen Leitartikeln antijüdische Agitation: Die Presse würde zu zwei
Dritteln von Juden beherrscht, und diese führten einen „boshaften und erbitterten
Vernichtungskampf“ gegen alles, „was Christ oder Christentum“ […] heiße […]“15. Bruno
Bauer (1809–1882), der als Linkshegelianer in seiner religionskritischen Phase die
„Leben-Jesu-Forschung“ des 19. Jahrhunderts kritisierte und schon 1843 seine erste anti-
jüdische Polemik16 schrieb, war nach dem Scheitern der März-Revolution 1848 zum
Rechtshegelianer „konvertiert“ und hatte sich zum konservativen Politiker gewendet. Als
solcher wurde er „[…] Mitarbeiter der „Kreuzzeitung“ und galt als der geistige Schöpfer
des konservativen Staats- und Gesellschaftslexikons Wageners [; er] trat als entschiede-
ner Antisemit auf […]“17.: „[…] Die antisemitischen Gedankengänge, die in den Konserva-
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tismus eindrangen, sind im Wesentlichen auf den Einfluss des Hegelianers Bruno Bauer
zurückzuführen […]. Bauer bediente sich seit den 1850er Jahren, wenn er über Juden
spricht, einer Rassenterminologie: „[…] man nehme den Juden aus Portugal, Deutsch-
land, Polen, England oder sonst wo her, er ist überall derselbe, weder Portugiese noch
Deutscher, weder Pole noch Engländer. Er ist der echte und unverfälschte Jude geblie-
ben, den nichts beherrscht als der Racetypus. Der Jude gibt den Kern seiner nationalen
Eigentümlichkeit ebenso schwer auf, als es ihm vermöge seiner geistigen Elastizität leicht
wird, sich in das Kleid jeder beliebigen Nationalität zu hüllen und bis zu einem gewissen
Grade sich die fremde Nationalität formell anzueignen. Aber seine Denkweise bleibt in
jedem Kleide und unter jedem Himmelsstrich dieselbe; jüdischer Sinn und jüdisches Blut
sind unzertrennlich geworden, weshalb das Judentum nicht allein als Religion und Kirche,
sondern ganz vorzüglich als der Ausdruck einer Raceeigentümlichkeit die eingehenste
Betrachtung verlangt: die Taufe macht den Juden nicht zum Germanen […]“18. Mit einer
solchen biologistisch-rassistischen „Diagnose“ ließ Bruno Bauer das Kernstück des so
genannten „modernen“ Antisemitismus anklingen und nahm damit die analogen Hetz-
begriffe der Reden eines Heinrich von Treitschke19 („Die Juden sind unser Unglück“) und
eines Adolf Stoecker20 („Die Juden sind […] ein Stamm für sich unter einer fremden
Rasse“) vorweg – Parolen, die später von der antisemitischen NS-Hetzpropaganda
begeistert aufgegriffen und übernommen worden sind.

Wahrscheinlich haben Feibes Itzig und auch andere politisch wache Zeitgenossen unter
den jüdischen Bürgern Burgsteinfurts den mit der 1848/1849 beginnenden Reaktions-
phase einsetzenden „modernen“ Antisemitismus zumindest vom Hörensagen gekannt –
schließlich werden sie auch gelegentlich die „Kreuzzeitung“ gelesen haben. Aber nach-
weislich am Beispiel der eigenen Familie hat Feibes Itzig die Auswirkungen des
„modernen“ Antisemitismus anscheinend erst in den Jahren 1867/68 gespürt. Am 26.
Februar 1868 suchte er nämlich bei der preussischen Regierung offiziell um Namens-
wechsel nach: „[…] Königliche Hochlöbliche Regierung wolle geneigt darin willigen,
meinen Hausnamen Itzig zu ändern und dafür den Namen Blumenfeld annehmen zu
dürfen. So schwer es mir wird, in meinem 52sten Jahre meinen Namen abzulegen, der
sich in merkantilen Kreisen zu meines Vaters wie meines Großvaters Zeiten weit über
100 Jahre hinaus bewährt hat […], so sehe ich mich doch im Interesse meiner Kinder
dazu veranlasst.“21. Feibes Itzig führte im Wortlaut seines Antrags auf Namenswechsel
zur Begründung näher aus: „Meine beiden Söhne, der eine 20, der andre 23 Jahre alt,
haben das hiesige Gymnasium absolviert und das Abiturienten-Examen gemacht, sich
dem Kaufmannsstande widmend, haben sie in Hamburg die Lehre bestanden. Dort trat
das in dem Namen Itzig liegende Hinderliche an sie heran. Man wollte junge Leute des
Namens nicht aufnehmen, da er zu Neckereien und Witzeleien unter dem
Geschäftspersonale zu leicht Anlaß gebe und so Verdrießlichkeiten entständen, die nicht
zu verhindern […]. So bitte ich denn um geneigte Gewährung meines Gesuchs, den
Familiennamen Blumenfeld [22] annehmen zu dürfen oder sonst doch zu gestatten, dass
meine Kinder ihn führen dürfen […]“; die Behörde genehmigte den Namenswechsel
umgehend.
In den Jahren 1868 bis 1884 beherbergte Jeannette Blumenfeld die Söhne auswärtiger
Verwandter, die das Arnoldinum besuchten, in ihrem Haus in Burgsteinfurt an der
Steinstraße, so aus Rhede drei Söhne des Kaufmanns Emil Ems, einen von deren
Vettern aus Münster, ferner zwei Söhne des Kaufmanns Michael Feibes aus Münster und
einen Neffen ihres Mannes aus Münster sowie schließlich einen ihrer eigenen Enkel und
dessen Halbbruder aus Hamburg23. Auch andere Glaubensgenossen beherbergten zeit-
weise Arnoldiner von auswärtigen Verwandten oder nahen Bekannten, was zeigt, dass
das Arnoldinum auch bei auswärtigen jüdischen Eltern einen guten Ruf genoss. Das
erklärt übrigens den eingangs erwähnten überdurchschnittlich hohen Anteil der
jüdischenSchülerinnen und Schüler des Gymnasiums.
Auch wenn Feibes Blumenfeld al. Itzig die Namensänderung persönlich schwer gefallen
war, änderte das doch nichts an seinem guten Ruf im Münsterland – im Gegenteil, er er-
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stieg nach der Reichsgründung 1870/71 weitere Stufen auf der lokal-, regionalpolitischen
und gesellschaftlich-kulturellen „[…] Karrierreleiter […]. Eine Anzahl neuer Positionen und
Ämter gesellten sich zu den bisher bekleideten hinzu. 1872 wurde er […] mit großer
Mehrheit für weitere sechs Jahre in seinem Amt als Kreistagsabgeordneter bestätigt. Im
gleichen Jahr wurde er auf Vorschlag der jüdischen Gemeinden Westfalens und
Rheinprovinz in das Kuratorium der Marks-Haindorf-Stiftung berufen […]. Es folgten die
Wahlen ins Kuratorium der Kreisparkasse […] und zum stellvertretenden Bürgermeister
der Stadt Burgsteinfurt […] sowie die Berufung zum Vertrauensmann des Amtsgerichts
[…]“24. Schon in den 1860er Jahren hatte er sich dafür eingesetzt, dass zur Verbesserung
der Verkehrsinfrastruktur des westlichen Münsterlandes eine Eisenbahnlinie von Münster
nach Enschede gebaut werden sollte, und er war von dem für dieses Projekt gegründeten
Ausschuss unter dem Vorsitz des Erbprinzen Ludwig zu Bentheim-Steinfurt ausgewählt
worden, als Mitglied einer offiziellen Delegation der Stadt Burgsteinfurt an den Feier-
lichkeiten zum 50. Jahrestag der Vereinigung Westfalens mit Preußen in Münster dem
König Wilhelm I eine „[…] Petition in Betreff der projektierten Eisenbahn von Münster
nach Enschede zu überreichen […]“25. Als zehn Jahre später der Bahnbetrieb auf der
Strecke aufgenommen wurde, nahm Feibes Blumenfeld al. Itzig an der Jungfernfahrt von
Münster nach Enschede teil. Als wenig später die Bahn auf der Strecke aus Kosten-
gründen in eine so genannte „Sekundärbahn“ (Geschwindigkeitsbegrenzung auf 25 km/h)
umgewandelt werden sollte, setzte er sich umgehend und mit Erfolg für die Beibehaltung
dieser Bahn als „Primärbahn“ ein26.
1878 ging sein Amt als Kreistagsabgeordneter zu Ende, 1881 legte Feibes Blumenfeld al.
Itzig im Alter von 65 Jahren sein Stadtverordnetenmandat als letztes politisches Mandat,
dass er noch bekleidete, nieder. Zwei Jahre später wurde er zum Vorsitzenden des
Kuratoriums der Marks-Haindorf-Stiftung gewählt und nahm zusammen mit seiner Frau
Wohnsitz in Münster. „Insgesamt 15 Jahre lang sollte Feibes die Geschicke der Haindorf-
Stiftung leiten […].
Überschattet blieben die letzten Jahre seines Lebens durch die bittere Erfahrung, dass
die Judenfeindschaft, die nun Antisemitismus hieß, nicht abnahm, sondern sich nur wan-
delte. Mehr und mehr nahm sie politischen Charakter an und organisierte sich […]. Die
Gleichberechtigung war zwar nach der Reichsgründung (erneut) gesetzlich festgeschrie-
ben worden, bestimmte Führungspositionen blieben den Juden aber de facto für immer
verschlossen […]“27.

Im Jahre 1911 hatte der „moderne“ Antisemitismus offensichtlich auch das Arnoldinum
erreicht: „[…] Im Frühjahr dieses Jahres meldete der Kaufmann Löwenstein aus Horstmar
seinen Sohn [Bernhard] von der Schule ab, weil er zu sehr „unter den antisemitischen
Allüren des Lehrers Benkert zu leiden hatte“, der, wie es in den Akten heißt, die
„antisemitischen Mätzchen der Mitschüler [Löwensteins] duldete u[nd] dadurch förderte
[…]“28.

Die antisemitische Agitation im deutschen Reich steigerte sich seit Mitte des ersten
Jahrzehnts des 20. Jahrhunderts und schwoll ab 1915 bis zum Ende des Ersten
Weltkriegs beträchtlich an4. Vieles spricht dafür, dass sich Adolf Hitler sogar erst
unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg zum glühenden Antisemiten ausgebildet hat 30. Auf
einige Beiträge von Akademikern aus Medizin und Biologie (Ernst Haeckel, Madison
Grant) wurde schon hingewiesen31; in die Gruppe jener sozialdarwinistischen „Eugeniker“
und „Rassekundler“ reihen sich auch noch Otmar v. Verschuer32, der Doktorvater des
Auschwitz-Arztes Dr. Josef Mengele, dem Verschuer noch 1946 einen „Persilschein“ aus-
gestellt hat33, ferner Erwin Bauer, Eugen Fischer und Fritz Lenz34 ein. Den Quellen des
zum christlichen Antisemitismus gewandelten traditionellen Antijudaismus kann man
neben den schon erwähnten Heinrich von Treitschke und Adolf Stoecker35 auch den
Münsterländer, zeitweise an der Münsteraner Universität lehrenden August Rohling
zugesellen, der geradezu besessen die mittlelalterlichen antijüdischen Ritualmordstereo-
type kämpferisch vertrat, weshalb ihm schließlich der Vatikan die Lehrerlaubnis entzog
Die jüdisch-christliche Episode des 1853 wiederbegründeten Gymnasium Arnoldinum in Burgsteinfurt 1853 1937
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und seine Bücher indizierte. Immerhin war August Rohling für die österreichischen
antisemitischen Politiker Georg Ritter von Schönerer (1842 – 1921) und Karl Lueger
(1844 - 1910), den Bürgermeister von Wien (1897 -1910), ein geschätzter Berater36.
Eine enorme Breitenwirkung hatte schließlich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhun-
derts der schon erwähnte und zitierte Jurist Heinrich Claß37, ein Heinrich-von-Treitschke-
Schüler, Mitglied zunächst des völkisch antisemitischen „Deutschlandbunds“, später des
„Alldeutschen Verbands“, dessen Vorsitzender er seit 1908 war, sowie Mitgründer des
„Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes 1919. „[…] Unter dem Einfluss von Claß
wandte sich der Verband nach der Jahrhundertwende zunehmend einem primitiven biolo-
gistischen und antisemitischen Weltbild zu […]38. In seinem populären „Hauptwerk“ mit
dem Titel „Wenn ich der Kaiser wär“39, das er unter dem Pseudonym Daniel Frymann
veröffentlichte, „[…] propagierte [Heinrich Claß] die Erbfeindschaft mit Frankreich und die
Perfidie Englands [… und] bezeichnete […] die Juden als „Träger und Lehrer des heute
herrschenden Materialismus […]. Sein Kampfruf lautete: „Deutschland den Deutschen“.
Er entblödete sich nicht zu fragen: „[…] Wo fängt das an und wo hört das auf, was uns
zugemutet werden soll, als zur Menschheit gehörig zu lieben und in unser Streben
einzuschließen? Ist der verkommene oder halbtierische russische Bauer des Mir, der
Schwarze in Ostafrika, das Halbblut Deutsch-Südwests oder der unerträgliche Jude
Galiziens oder Rumäniens ein Glied dieser Menschheit ?[…]“40.
Die schon früher zitierte Claßsche antisemitische Zuspitzung der Dolchstoßlegende am 3.
Oktober 1918, verbunden mit der Forderung nach Gründung einer „[…] großen, tapferen
und schneidigen Nationalpartei und rücksichtslosen Kampf gegen das Judentum […]“ sei
hier noch ergänzt durch eine ähnliche, aber weiter gehende Forderung von Claß, die er in
einer geifernden Rede „[…] auf der Tagung der Hauptleitung des Geschäftsführenden
Ausschusses des Alldeutschen Verbandes am 19. und 20. Oktober 1918 in Berlin
[geäußert hat, als er] die Versammelten auf[rief,] die Lage zu Fanfaren gegen das
Judentum und die Juden als Blitzableiter für alles Unrecht zu benutzen [und die Rede –
ein Kleist-Zitat benutzend – mit der Versicherung beendete:] Ich werde vor keinem Mittel
zurückschrecken und mich in dieser Hinsicht an den Ausspruch Heinrich von Kleists […]
halten: „Schlagt sie tot, das Weltgericht fragt Euch nach den Gründen nicht!“41.
Diese Auswüchse des „modernen“ Antisemitismus hat Feibes Blumenfeld, al. Itzig, nicht
mehr erleben müssen; er starb im Jahre 1898 42. Dagegen wurden seine Burgsteinfurter
Glaubensgenossinnen und –genossen und also auch die jüdischen Arnoldiner, soweit sie
nicht vorher gestorben oder emigriert waren, Opfer der sich anbahnenden und nach 1933
einsetzenden großen Katastrophe, der Shoah.

                                          Teil II

           Die Arnoldinerinnen und Arnoldiner mit jüdischem Bekenntnis,
                        angeordnet nach dem Geburtsdatum

Von Ostern 1853, dem ersten Schultag des wiederbegründeten Gymnasium Arnoldinum
bis zum 28. 8. 1937, dem Entlasstag des letzten jüdischen Arnoldiners Horst Martin
Buchheimer (s.u.), haben insgesamt 3 Schülerinnen und 153 Schüler mit jüdischem
Bekenntnis das Arnoldinum besucht. Wie oben gesagt, rechne ich auch noch einen der
Konfession nach evangelischen Schüler dieser Gruppe zu, weil er ab 1933 als „Halbjude“
diskriminiert wurde, Robert Walter Herz (s.u.).

Im Folgenden werden die Namen und Schicksale der insgesamt 157 Schülerinnen und
Schüler wiedergegeben soweit ich ihre Biographien mehr oder weniger gründlich recher-
chieren konnten. Ich ordne die Namen nach dem Geburtsdatum an und greife dabei
gelegentlich auf die beiden Vorarbeiten43 zurück, die hier z.T. durch inzwischen
gewonnene neue Informationen ergänzt oder auch – sofern sie Fehler enthalten haben –
korrigiert werden konnten.
Die jüdisch-christliche Episode des 1853 wiederbegründeten Gymnasium Arnoldinum in Burgsteinfurt 1853 1937
- 7-

„Albert Kehlberg, * 21.4.1841 in Warburg, „Sohn des Kaufmanns Robert Kehlberg,
Warburg, der [zum Zeitpunkt des Schuleintritts von Albert] schon gestorben war […],
[Arnoldiner] von Michaelis 1865 in G I b – Abitur 1869 44, 45, will in Berlin jüdische Theo-
logie studieren 45.
Dass Albert Kehlberg nach dem Abitur in Berlin gelebt hat, geht aus dem Abiturienten-
verzeichnis von 193344 hervor. Dass er dort jüdische Theologie studiert hat, ist nicht un-
wahrscheinlich, kann aber nicht belegt werden, ebensowenig, ob er an der berühmten, u.
a. von dem wichtigen Vordenker des modernen Reformjudentums Abraham Geiger (1810
– 1874) mitgegründeten „Lehranstalt für die Wissenschaft des Judentums“46 eingeschrie-
ben war. Er hat nachweislich in Berlin Humanmedizin studiert und ist zum Dr. med. pro-
moviert worden. Danach hat er sich in Berlin als praktischer Arzt und Mohel
(„Beschneider“) niedergelassen. Die Berufsbezeichnung „Mohel“ lässt annehmen, dass er
sich zumindest zur Vorbereitung auf den Beschneiderberuf mit jüdischer Theologie inten-
siv beschäftigte; ja, man kann sogar annehmen, dass er sich in diesem Zusammenhang
für das Medizinstudium entschlossen hat. Er hat nämlich zusammen mit seinem Kollegen
Dr. Ludwig Loewe in A. Glassberg (1896) den Beitrag „Die rituelle Circumcision, vom
medicinischen Standpunkt aus“ verfasst, in dem es im Vorwort u.a. heißt: „[…] Wir haben
bei jeder Zeile dieses Werkchens den Gedanken [...] gehabt, dass die Procedur, wie sie
jetzt üblich ist, den Säugling und den Beschneider grossen, leicht zu vermeidenden
Gefahren aussetzt […]. Die fast täglich sich wiederholenden, traurigen Fälle sind jedem,
der sich mit der Sache beschäftigt, genügend bekannt […].
Wir haben uns bei den von uns vorgeschlagenen Modificationen der eigentlichen Be-
schneidung soviel als irgend möglich beschränkt [, …] uns namentlich in Acht genommen,
das durch Satzung und Zeit Geheiligte anzutasten [… und] das Augenmerk darauf
gerichtet, den nicht rituellen Theil wie die Vorbereitung zur Operation, die Nachbe-
handlung und den Wundverband so zu gestalten, wie er nach den bei operativen
Eingriffen in Frage kommenden Verhältnissen unbedingt sein muss. Wenn der
Beschneider die nachfolgenden Vorschriften über Reinhaltung der Instrumente, Desinfec-
tion der Hände und der Wunde, Stillung der Blutung etc. genau befolgt, wird er jeden
ernstlichen Unfall mit Sicherheit vermeiden können.
Wenn irgend Etwas zum festen Zusammenhalten und zu der den J a h r h u n d e r t e n
trotzenden Standhaftigkeit des Judenthums beigetragen hat, so war es unzweifelhaft der
Gebrauch der Beschneidung. Wer es mit der mosaischen Gemeinschaft ernst meint, wird
daher in der Beschneidung eine nie und nimmer abschaffbare Nothwendigkeit erblicken.
Aber wozu den jungen israelitischen Weltbürger, der schon unmittelbar nach der Geburt
mit seinem Blute Zeugnis für den Glauben seiner Väter ablegen muss, Gefahren aus-
setzen, die so leicht vermieden werden können? Sollte es nicht an der Zeit sein das
Beschneidungswesen so zu regeln, dass jeder Beschneider – abgesehen von seiner
rituellen Befähigung – den Nachweis seiner Vertrautheit mit den wichtigsten Grundregeln
der Wundbehandlung führen muss. Es scheint uns im dringenden Interesse der israeliti-
schen Gemeinde zu liegen, dass hierüber allgemein giltige Bestimmungen getroffen
werden, um dem Unwesen zu steuern, dass gänzlich Unbefugte in das Leben und die
Gesundheit unserer Nachkommenenschaft einzugreifen sich bemüssigt fühlen.

                                                            B e r l i n, im April 1888 […]“47.

Dieses „Werkchen“ will also nichts anderes als den die jüdische Identität stiftenden Ritus
des „Bundes der Beschneidung“ dem damals erreichten psycho- und physiohygienischen
Standard anpassen, ein Anliegen, das in der Folgezeit durch jeweils neue medizinische
Erkenntnisse aktualisiert wurde48. Albert Kehlberg hat das Erscheinen der richtungs-
weisenden Monographie, an der er mitgearbeitet hatte, selbst nicht mehr erlebt: drei
Jahre nach Abschluss des Manuskripts ist er gestorben. Die genauen Umstände des
relativ frühen Todes von Albert Kehlberg sind mir bislang nicht bekannt.

Albert Kehlberg starb am 11. 6. 1891 in Berlin45 im Alter von 50 Jahren.
Die jüdisch-christliche Episode des 1853 wiederbegründeten Gymnasium Arnoldinum in Burgsteinfurt 1853 1937
- 8-

 „Kalman Moses Wertheim,*„2.2.1843 in Bocholt, Sohn des Färbers Moses Coppel
Wertheim aus Bocholt [49, des Gründers der seit 1852 in Burgsteinfurt Jute verarbeiten-
den Firma M. C. Wertheim, Bruder von Benjamin und Selig Wertheim (s.u.), Arnoldiner]
von Ostern 1855 in VI – Ostern 1859 (aus R III) Abgang, um bei seinem Vater in die
Lehre zu gehen“50. Es kann nicht mit Sicherheit gesagt werden, ob Moses Kalman
Wertheim das „Einjährigen-Zeugnis“51 bekommen hat.
Weil er in der elterlichen Firma eine Lehre begonnen hat, dürfte er dort seine kauf-
männische Ausbildung absolviert haben.

Das weitere Schicksal von Kalman Moses Wertheim ist mir mangels Daten unbekannt.

„Moses al. Max[52] Heimann, *10.7.1843 in Coesfeld, Sohn des Joel Heimann, Gerber,
Kürschner in Burgsteinfurt, [Bruder von Levi und Meyer Heimann (s.u.), Arnoldiner] von
Ostern 1853 in Sexta – Abitur 1861“ 53, 54
Max Heimann wurde Kaufmann in Berlin, in welchem Arbeitsbereich, ist mir ebenso wenig
bekannt wie seine übrigen Lebensbedingungen und die näheren Umstände seines Todes.

Moses, al. Max Heimann starb im Alter von 60 Jahren am 18.9.1913 in Burgsteinfurt. 54

„Max Blumenfeld al. Itzig[55] *28. 3. 1844 in Burgsteinfurt, Sohn des Kaufmanns Feibes
Itzig [, der die Pläne Bürgermeisters Wilhelm Terberger, das Gymnasium Arnoldinum
wieder zu begründen, zusammen mit anderen Bürgern Burgsteinfurts unterstützte (s.o.)
und daher natürlich auch seine eigenen Söhne am Gymnasium eingeschult hat. Max’
Bruder war Bernhard Itzig, al. Blumenfeld, sein Vetter Albert Blumenfeld (s.u.). Max war
Arnoldiner] von Ostern 1853 – Abitur 1861 [; vor Schuleintritt hatte er die] „interemistische
Vorschule des Gymnasiums“56 besucht. Er und sein Mitschüler Moses, gen. „Max“,
Heimann (s.o.) waren die ersten jüdischen Arnoldiner, wobei Max mit gerade 9 Jahren
„einer der Jüngsten [der eingeschulten Arnoldiner war“57. Als Sextaner trug er beim ersten
Stiftungsfest des Arnoldinums 1854 das Gedicht „Der Wolf und der Fuchs“ vor; auch 1855
trat er als Quintaner erneut auf, um der Festversammlung Gedichte vorzutragen57. Die
exponierte Stellung von Max Itzig sind vermutlich ein Hinweis auf den prominenten Rang
seines Vaters als Bürger der Stadt und nicht zuletzt auch als Förderer des neu eröffneten
Arnoldinums (s.o.).
Nach dem Abitur machte Max eine Ausbildung zum Bankaufmann in Hamburg, bekam
aber nach Abschluss der Lehre keine Anstellung, weshalb sein Vater den Wechsel des
Nachnamens von Itzig zu Blumenfeld beantragte (s.o.). Max ist zusammen mit seinem
Bruder 1862 nach Hamburg gekommen, „[…] 1867 verließ Max die Hansestadt wie-
der[…]“10; ob er zunächst nach Burgsteinfurt gegangen ist, um dort zu berichten, dass er
keine Anstellung in Hamburg bekommen hatte (s.o.), oder ob er gleich nach Berlin umge-
zogen ist, um sich dort zu bewerben, ist mir bislang nicht bekannt. Die Goldhochzeit der
Eltern im Jahre 1891 „[…] wurde von Max und Bernhard in Hamburg ausgerichtet […]“59,
was nicht bedeutet, dass Max in dieser Zeit in Hamburg gewohnt hat. Er ist in Berlin ge-
storben; vermutlich hat er als „Kaufmann in Berlin“60 gewohnt. Im übrigen sind mir das
Schicksal von Max Blumenfeld, al. Itzig zwischen dem Weggang aus Hamburg 1867 und
dem Tod in Berlin sowie dessen nähere Umstände bislang unbekannt.

Max Blumenfeld, al. Itzig, ist am 6.11.1912 in Berlin im Alter von 68 Jahren gestorben60.

„Albert Blumenfeld, *15.4.1845 in Osnabrück, als Sohn des Bernhard Blumenfeld,
Kaufmann in Osnabrück. [Albert war ein Vetter mütterlicherseits von Max (s.o.). und
Bernhard Itzig, al. Blumenfeld (s.u.). Er war Arnoldiner] von Michaelis 1854 (in VI) –
Februar 1859 (aus R III) [, um] auf die Realschule zu Leipzig [zu gehen], wegen Über-
siedlung des Vaters nach Leipzig“61.
Der Umzug war eine Konsequenz aus der Umstrukturierung der Geschäfte von Feibes
Itzig, Burgsteinfurt, und Bernhard Itzig, Osnabrück, die sich zu der Großhandelsabteilung
-9 -

„Blumenfeld und Comp.“ zusammengeschlossen hatten62. Während die Einzelhandels-
abteilung unter dem Geschäftsnamen „Samuel Itzig“ weiter in Burgsteinfurt blieb, weshalb
auch Feibes Itzig als Geschäftsführer weiter in Burgsteinfurt wohnen blieb, wurde die neu
gegründete Großhandelsabteilung nach Guben in der Niederlausitz verlegt und dort ein
eigenes industrielles Unternehmen, „[…] ein Etablissement […] zur Fabrikation von
Tuchen, Zephyr und Burkeens“62, angeschlossen. Die Familie von Bernhard Blumenfeld
sen., des Vetters von Feibes Itzig, hat ihren Wohnsitz offenbar nicht am Sitz der neu
gegründeten Firma genommen, sondern in der Messestadt Leipzig.

Das weitere Schicksal von Albert Blumenfeld und seiner Familie ist mir bislang mangels
Daten unbekannt.

„Bernhard Itzig, al. Blumenfeld, *„13. 5. 1846 in Burgsteinfurt, Sohn des Kaufmanns
Feibes Itzig, [Bruder von Max Itzig, al. Blumenfeld (s.o.) sowie Vetter von Albert Blumen-
feld (s.o.). Er war Arnoldiner] von Ostern 1855 (in VI) bis zum [so genannten] „Realabitur“
1862 [und verließ das Arnoldinum an] Michaelis 1862 aus Real I b, um Kaufmann zu
werden]“63. Als er eingeschult wurde, war er wie sein Bruder Max auch erst 9 Jahre alt ,
hatte allerdings zuvor „Privatunterricht“63 gehabt.
Auch er bekam die Gelegenheit, diesmal beim Arnolditag 1858 (am Ende der Untertertia),
öffentlich aufzutreten und der versammelten Schulgemeinde ein Gedicht, die lange
Ballade „Kassandra“ von Friedrich Schiller vorzutragen64.

„Am 7. Dezember 1862 betrat ein selbstbewusster, noch sehr junger Mann das poli-
zeiliche Paß- und Fremdenbureau im Hamburger Stadthaus. Dem karteiführenden Beam-
ten teilte er mit, er heiße Bernhard Blumenfeld, stamme aus Burgsteinfurt in Westfalen,
wohne jetzt in der Peterstraße beim Großneumarkt und arbeite als Lehrling beim Kauf-
mann Ernst Hertz […]“65. Sieben Jahre später lautete sein Eintrag im Hamburger Adress-
buch: „Blumenfeld, Bd., Agent u. Commission in Kohlen, Eisen, Metallen, Bergwerks-
Producten, Baumaterialien etc., Spezial. Westfäl. Steinkohlen u. Coakes. BCto. Nordd.B.
Compt. Neuerwall 40 I., Lager Venloer Bahnhof. Meyerstr. Pl. 12 u. 13, Börsenst. Pf 8c,
Wohn. Pöseldorf, Schulstraße 10, Inh. Bd. Blumenfeld“ 66.
Bernhard Blumenfeld hatte sich augenscheinlich mit großem Erfolg in den sieben Jahren
am Hamburger Kohlen- und Stahlmarkt etabliert. 1877 heiratete er Helene Karpeles; „[…]
aus der Ehe gingen vier Kinder – die Söhne Ernst [* 1880] und Otto [ *1883] sowie die
Töchter Martha [*1877] und Clara [*1889] – hervor […]. Am 18. Juni [1880] leistete er den
Bürgereid. In seinem Antrag gab er als Beruf „Kaufmann“ an, als versteuertes
Einkommen für 1880 nannte er den Betrag von 9360 Mark […]“ 67.
BAJOHR (2010) charakterisiert die weitere Entwicklung von Bernhard Blumenfeld wie
folgt68 „[…] Obwohl [er] nach außen ganz als Patriot und Propagandist der „deutschen
Kohle“ auftrat, baute er – ganz hamburgischer Kaufmann – gleichzeitig seine internatio-
nalen Handelsbeziehungen aus und gründete Niederlassungen in Amsterdam, Paris und
London. Da er sich nach der Jahrhundertwende eine kleine Dampferflotte zugelegt hatte,
konnte er die russische, britische und deutsche Marine gleichermaßen mit Bunkerkohle
beliefern. Zudem betrieb er um die Jahrhundertwende erfolgreich die Gründung einer ei-
genen Produktionsstätte für Koks und Briketts, die „Norddeutschen Kohlen & Cokes
Werke“, die am Indiakai im Hamburger Hafen pro Jahr mehr als 300.000 Tonnen Kohlzu
Koks und Briketts verarbeiteten […]. Kurz vor dem Ersten Weltkrieg hatte sich die Bd.
Blumenfeld OHG zu einem [...] regional bedeutenden Unternehmen des Kohlenhandels
und der Brennstoffproduktion mit mehreren hundert Beschäftigten entwickelt [... . Es ist]
nicht zu übersehen, dass sich der ehemalige Kaufmannslehrling […] binnen weniger
Jahrzehnte in das höhere Hamburger Bürgertum hinaufgearbeitet hatte […]. Davon
kündigen nicht zuletzt seine Wohnadressen: zunächst ein Haus auf der „richtigen“,
nämlich westlichen Seite der Außenalster, später an der Elbchaussee eine große schloss-
ähnliche Villa […] sowie ein großes Landhaus in der Lüneburger Heide, die Villa Schelp-
loh[69] trafen […] die führenden Repräsentanten des deutsch-jüdischen Wirtschaftsbürger-
- 10-

tums wie Albert Ballin von der Hapag […] mit Schriftstellern wie Gerhard Hauptmann oder
bildenden Künstlern wie Max Slevogt, Lovis Corinth und Max Liebermann zusammen
[…].
Was in der bürgerlichen Erfolgsgeschichte Blumenfelds lediglich fehlte, war ein reprä-
sentatives Amt im Hamburger Senat oder in der Handelskammer, das seinen Auftstieg
zweifellos gesellschaftlich abgerundet hätte. Daran war jedoch wegen seiner jüdischen
Herkunft nicht zu denken, auch wenn sich Blumenfeld durchaus assimilationsbereit zeigte
und 1902 […] zum Protestantismus übergetreten war. Diese Assimilationstendenzen
waren in der nachfolgenden Generation noch stärker ausgeprägt: Während Bernhard
Blumenfeld mit Helene, geb. Karpeles, noch eine Jüdin zur Frau genommen hatte,
heiratete sein Sohn Ernst – Erik Blumenfelds Vater, der ebenfalls konvertiert war – […]
1911[…]die protestantische Gutsbesitzertochter und Lehrerin Ebba Möller […]. Zum Zeit-
punkt der Eheschließung war sie 24, Ernst Blumenfeld jedoch bereits 37 Jahre alt [. … Er
war] mit seinem Bruder Otto im selben Jahr als Gesellschafter in das Blumenfeld’sche
Familienunternehmen eingetreten [… . Der] Erste Weltkrieg 1914 [markierte] einen
entscheidenden familiären und geschäftlichen Einschnitt. Er brachte die Geschäfts-
tätigkeit der Firma […] nahezu zum Erliegen [… . Er zerriss] die noch junge Familie Ernst
und Ebba Blumenfeld: Ernst rückte als Soldat ins Feld aus, und Ebba zog sich mit der
1912 geborenen Tochter Sonja und dem im März 1915 noch in Hamburg zur Welt ge-
kommenen Sohn Erik zu ihren Eltern nach Dänemark zurück […]. Erik und […] Sonja
waren kurz nach der Geburt protestantisch getauft worden […]“.

Am 9. 4.1919 ist Bernhard Blumenfeld, fast 73-jährig, in Hamburg gestorben70.

       Exkurs 2: Erik Blumenfeld, ein Urenkel von Feibes und Jeannette Blumenfeld71

Nachdem der Firmennachfolger Ernst Blumenfeld 1927 gestorben war, musste Eriks Mutter Ebba ihren
Sohn Erik alleine aufziehen und war außerdem mit den Firmenproblemen nach 1933 konfrontiert. Erik Blu-
menfeld besuchte das von dem Reformpädagogen Kurt Hahn geleitete Schlossinternat Salem, wo er 1933
das Abitur ablegte. Anschließend machte er bis 1935 eine kaufmännische Ausbildung in England und
studierte danach an der TU Berlin die Fächer Geologie und Metallurgie, Fächer, die ihm (einem inzwi-
schen „jüdischen Mischling 1. Grades“) noch offen standen. 1935 schloss er sein Studium mit dem Vor-
examen ab und wurde vor Kriegsausbruch von der Wehrmacht rekrutiert . Von 1939 bis 1941 war er aktiver
Soldat („Gefreiter“) im Zweiten Weltkrieg; am 1. Dezember 1942 wurde er aber als „Halbjude“ aus der
Wehrmacht entlassen. Er kehrte nach Hamburg zurück und verlor die Prokura für die Firma Blumenfeld, die
er seit 1935 inne gehabt hatte. Weil sein Onkel Otto 1938 aus Protest gegen die Forderung der NS-
Behörden, das Wort „Blumenfeld“ aus dem Firmennamen zu streichen und den Firmennamen in „Krupp
Reederei und Kohlenhandel G.m.b.H.“ abzuändern, nach Großbritannien emigriert war, sass nur noch
Mutter Ebba in der Geschäftsleitung, wurde aber gezwungen, ihren Mädchennamen Möller zu führen. Erik
wurde im Dezember 1942 als „Schutzhäftling“ ins Stadtgefängnis Fuhlsbüttel überstellt und von dort am
7.1.1943 in das KZ Auschwitz deportiert, nicht als „Jude“, sondern als „Politischer“. Eriks Mutter Ebba
erreichte über einen persönlichen Kontakt zu Heinrich Himmlers Leibmasseur, den Medizinalrat Felix
Kersten, der sie 1932 einmal in Hamburg behandelt hatte, dass Erik schließlich im Oktober in das KZ
Buchenwald verlegt wurde. Im Februar 1944 wurde Erik Blumenfeld die Haftentlassung in Aussicht gestellt -
unter der Bedingung allerdings, dass er sich sterilisieren lasse. Nachdem er dieser Bedingung zugestimmt
hatte, wurde er im Juli 1944 nach Hamburg wieder ins Polizeigefängnis Fuhlsbüttel verbracht, wo er den
ärztlichen Eingriff an sich vornehmen ließ. Im August 1944 kehrte Erik zu seiner Mutter zurück.
Nach Ende des Zweiten Weltkriegs wurde er wieder persönlich haftender Gesellschafter des väterlichen
Unternehmens in Hamburg. Er engagierte sich auch politisch 1946 als Gründungsmitglied der CDU und als
Mitglied der Hamburgischen Bürgerschaft. 1961 wurde er Mitglied des Deutschen Bundestages und 1972
Mitglied des Europaparlaments. Von 1977 bis 1991 war er Präsident der Deutsch-Israelischen Gesellschaft.
1989 erhielt er von Bundespräsident Richard von Weizsäcker das Bundesverdienstkreuz.

Am 10. April 1997 ist Erik Blumenfeld 82-jährig in Hamburg gestorben.

                   Exkurs 3: Alice Ascher, eine Tante von Erik Blumenfeld72

Nicht nur die beiden Söhne von Feibes Blumenfeld, al. Itzig, hatte es nach dem Schulabschluss am
Arnoldinum in die Hansestadt gezogen (wobei Max nach der Ablehnung bei der Stellensuche anscheinend
sich eine andere Großstadt, anscheinend Berlin, gesucht hat s.o.). Auch ihre älteste Schwester, Olga
(*1842), und die zweitjüngste, Emilie (*1858) hatten dort ihre Familien gegründet. Olga hatte den Hambur-
- 11 -

Kaufmann Salli Elkan geheiratet und war mit ihm nach Hamburg gezogen, wo ihr Sohn Willy Morris geboren
wurde (s.u.). Emilie hatte den Hamburger Fabrikanten Gustav Joachim Ascher geheiratet, mit dem sie die
Tochter Alice (*1880) und die Söhne Felix Daniel (*1883) und Richard (*1888) bekam. Es ist anzunehmen,
dass alle Mitglieder der zahlreich gewordenen Blumenfeld-Sippe auf der Goldhochzeit von Feibes und
                       73
Jeannette Blumenfeld zugegen waren, die im Oktober 1891 wahrscheinlich in der Villa von Bernhard
Blumenfeld an der Elbchaussee gefeiert wurde.
Emilies Ehemann ist relativ früh gestorben; sie lebte als Witwe in einem Haus in Hamburg-Winterhude, in
dem auch ihre Tochter Alice, zusammen mit Lebensgefährtin Margot Doctor, wohnte. Alice war Privat-
sekretärin des prominenten Bankiers Max Warburg, einem engagierten Fluchthelfer bis zu seiner eigenen
Flucht 1938. Dieser hatte auch für sie noch ein Affidavit besorgt. Für ihre Partnerin war aber kein Affidavit
zu bekommen, weshalb Alice darauf verzichtet hat, ihr eigenes zu benutzen. Ihr war Ende Januar 1940 ihr
Privatvermögen gesperrt worden. Im Frühjahr 1941 waren die Abwicklungsarbeiten der Warburgbank
beendet, und das Bankhaus war von der NSDAP beschlagnahmt worden. Am 6. 12. 1941 wurde Alice
Ascher mit ihrer Lebensgefährtin Sara Doctor nach Riga deportiert; ob sie überhaupt dort angekommen sind
und ob sie auf dem Transport oder in Riga ermordet wurden, ist nicht bekannt. Ihre Mutter wurde am
Deportationstag gezwungen, in ein als „Judenhaus“ deklariertes jüdisches Altenheim zu ziehen, wo sie am
19.7. 1942 in den Freitod ging.
Alices Brüder Felix Daniel und Richard war es schon 1938 gelungen, mit ihren Familien nach
Großbritannien zu flüchten.

„Levi Heimann, *14.10.1847 in Burgsteinfurt, Sohn des Joel Heimann, Gerber und
Kürschner in Burgsteinfurt [Levi war der ältere Bruder von Moses, al. Max (s.o.) und von
Meyer Heimann (s.u.). Er war Arnoldiner] von Ostern 1858 in Sexta – Dezember 1861
(aus R III)“74.

Das weitere Schicksal von Levi Heimann ist mir bislang mangels Daten unbekannt.

Salomon, gen. Sam, Spanjaard, *1. 1. 1848 in Borne, Sohn des niederländischen
Fabrikanten Jacob Salomon Spanjaard aus Borne, [Arnoldiner] von Michaelis 1863 –
„Einjähriges“ August 1865 (aus RIII a)“75.
Die Geschichte der in den Niederlanden noch heute berühmten Familie Spanjaard ist u.a.
in zwei Quellen76 recht ausführlich dargestellt, die für die folgende Darstellung benutzt
wurden:
Der Großvater von Salomon Spanjaard, Salomon Jacob Spanjaard (1783 – 1861), war
Anfang des 19. Jahrhunderts aus seinem Geburtsort Bodendorf bei Remagen a. Rhein
aus- und in die Niederlande eingewandert und wohnte seit 1811 in Borne. Dort begrün-
dete er die „Handelsfirma S. J. Spanjaard“, die von seinen beiden Söhnen, Jacob
Salomon Spanjaard (1813-1899) und Levie Salomon Spanjaard (1821-1892) zunächst
gemeinsam als eine Aktiengesellschaft mit dem Vater weitergeführt wurde; sie handelten
mit Biber- und Moltonstoffen, Flannell- und Baumwolldecken. 1852 übergab Vater Sa-
lomon Jacob die Fabrik in die Hände seiner beiden Söhne. 1864 nahmen sie die beiden
älteren Söhne von Jakob Salomon, Izak Jacob (1838 - 1912) und David Jacob (1840 –
1917) in die Aktiengesellschaft auf und begannen damit, die Firma zu vergrößern und zu
modernisieren, indem sie Dampfwebstühle anschafften. 1875 kaufte sich auch ein
weiterer Bruder von Jacob Salomon und Levie Salomon, Bernard Spanjaard (1843 –
1908), in die Firma ein. Sie hieß schließlich „N.V. Stoom-Spinnerijen en -weverijen v/h
S.J.Spanjaard“ und war bis weit ins 20. Jahrhundert in Betrieb.
Jacob Salomon Spanjaard hatte am 22. 6.1837 Rosina Zwartz (1816 – 1846) geheiratet
und mit ihr 5 Kinder bekommen; im Wochenbett des 5. Kindes starb sie. Nach ihrem Tod
heiratete Jacob Salomon am 24. 2. 1847 als zweite Frau die in Lünen geborene Lotte
Charlotte Lehmann (1817 – 1896), mit der er noch drei Söhne bekam: Salomon, gen.
Sam (1848 – 1928), Louis (1851 – 1933), Alexander (1855 – 1912) und zwei Töchter:
Paulina (1849 -1907) und Sara (1852 – 1912) bekam. Der spätere Arnoldiner war also der
erste Sohn der zweiten Ehe.
Während drei Halbbrüder von „Sam“ in die väterliche Firma eintraten, hat sich Sam nach
dem Besuch des Arnoldinums im Finanz- und Versicherungswesen ausbilden lassen und
wurde Bankier und Versicherungsagent in Utrecht77. Er heiratete am 8. 6. 1874 Hannah
Colaço Osorio (*1849 in Amsterdam) und wohnte mit ihr zunächst in Rotterdam, wo ihnen
- 12 -

die beiden Söhne Jacob (1875 – 1943) und David (1876 – 1944) geboren wurden; nach
dem Umzug nach Amsterdam bekamen sie noch weitere drei Kinder: Maurits (*1880),
Rosa Charlotte (1885-1969) und Bernard (1887 - 1914). Später zogen Sam und seine
Frau nach Utrecht.

Salomon, gen. „Sam“, Spanjaard starb mit 80 Jahren am 13. 5.1928 in Utrecht.
                                                                                          77, 78, 79
   Exkurs 4: Sam Spanjaards Verwandte und die Niederlande als „Shoah- Falle“                       :

Während bei den Nachkommen der in Borne gebliebenen Geschwister von Salomon, gen. „Sam“, Span-
jaard insgesamt 8 Shoah-Todesopfer zu verzeichnen sind (außerdem mehr als 10 niederländische Ange-
stellte und Arbeiter der Firma seines Vaters und seiner Brüder), haben seine eigenen Nachkommen die
Shoah überlebt – möglicherweise im Untergrund. So leben noch heute Enkel und Urenkel von „Sam“
Spanjaard und Hannah Colaço Osario an verschiedenen niederländischen Orten.
Die Niederlande wurden im Mai 1940 vom Deutschen Reich angegriffen. Seit 1933 waren viele jüdische
Menschen aus Deutschland (bis zum Kriegsbeginn etwa 22 000) Schutz suchend in die Niederlande
geflohen in der Hoffnung, der sich abzeichnenden Shoah zu entkommen.
Nach der ersten Razzia der Besatzer im Februar 1941, bei der mehr als 400 jüdische Männer nach
Mauthausen verschleppt wurden, reagierten die Niederländer mit einem Generalstreik. Nichtsdestoweniger
fuhren die Deportationszüge vom 15. Juli 1942 bis zum September 1944 in den Tod, zumeist wurden
Menschen nach den Razzien zuerst im so genannten „polizeilichen Judendurchgangslager“ Westerbork
konzentriert, um von dort in die Todeslager deportiert zu werden. Letztendlich sind aus den besetzten
Niederlanden 107.000 jüdische Menschen ermordet worden, d.h. aus den Niederlanden sind die meisten
Deportationen erfolgt. Auch eine Reihe jüdischer Arnoldiner ist in die Falle der besetzten Niederlande
hineingeraten.
Nichtsdestoweniger ist festzuhalten, dass die Niederlande im Vergleich zu den anderen europäischen
Staaten den größten „Rettungswiderstand“ geleistet haben, sowohl seitens vieler Einzelpersonen als auch
größerer Gruppen. Nicht weniger als 5108 Niederländer sind bis Januar 2011 von Yad Vashem als
„Gerechte“ ausgezeichnet worden.

„Meyer Meyer, * 21.8.1848 in Burgsteinfurt, Sohn des Moses Meyer, Handelsmann in
Burgsteinfurt, [Arnoldiner] von Ostern 1860 (in VI) bis Einjähriges 1866 (aus R II b), um
Kaufmann zu werden“4
Er scheint eine kaufmännische Lehre gemacht zu haben, wie man der Berufsbezeichnung
in der Passagierliste des Schiffes ersehen kann, mit dem er in die USA gefahren ist:
Am 29. 7.1868 emigrierte Meyer Meyer als „[…Shop apprentice]“ von Bremen mit dem
Ziel Chicago auf der „Hansa“ nach USA und landete als Passagier 468 am 31. 8. 1868 in
New York, diesmal mit der Berufsbezeichnung „[… merchant]“81.

Das weitere Schicksal von Meyer Meyer ist mir bislang mangels Daten unbekannt.

„Itzig Heymann, *16.2.1848 in Burgsteinfurt, Sohn des Levy Heymann, Kaufmann in
Burgsteinfurt, [Arnoldiner] von Ostern 1858 (in VI) – Einjähriges 1862 (aus R III b)“6. Itzig
Heymann wurde Lohgerber und Lederhändler in Burgsteinfurt.
Im gleichen Jahr wie Meyer Meyer, aber schon am 10.10.1868, reiste auch Itzig Heymann
als„apprentice tanner“ (Lohgerber-Lehrling) von Bremen mit dem Ziel New York auf
der„Smidt“ nach USA und landete als Passagier 472 am 2. Dezember 1868 am Zielort als
„tanner“. Wie aus dem Passeintrag hervorgeht, wollte er nicht dorthin emigrieren, sondern
nur „Verwandte besuchen“ 83.

Itzig Heimann ist mit fast 37 Jahren am 2.12.1884 in Burgsteinfurt gestorben.
Er erhielt das erste Grab des 1884 neu angelegten jüdischen Friedhofs von Burgstein-
furt84.

„Jacob Urias, *5. 6. 1848 in Hattingen, Sohn des Kaufmanns Salomon Urias [, Arnoldi-
ner] von Herbst 1858 (in VI) bis „Einjähriges“ 1862 (aus Real III a),um Kaufmann zu
werden“85.
Sein Großvater Jacob Urias (1772 – 1844) hatte schon im Jahre 1826 das über 100 Jahre
existierende Kaufhaus Urias in Hattingen begründet, das zunächst von dessen ältestem
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