Die Könige der Krönchenstadt - Unter der Lupe - Profilgeber
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Unter der Lupe Die Könige der Krönchenstadt 50 Jahre Schacholympiade in Siegen aus Sammlersicht – oder: Wie es eine kleine südwestfälische Provinzstadt schaffte, ein gigantisches dreiwöchiges Schachturnier auszurichten. Von Stefan Liebig 333 Teams trafen sich 2018 im Der zweijährige Turnus und der georgischen Batumi, um in 14 Ta- Name des seit 1927 ausgetrage- gen in zwei Klassen (offene und nen Großturniers verblüffen, Damen) die Sieger der Schach- steht der Begriff „Olympiade“ olympiade zu ermitteln – erst- doch eigentlich für die vierjäh- mals setzte sich China in beiden rige Zeitspanne zwischen den je- Kategorien durch. Neben Welt- weiligen Olympischen Spielen. klasseteams aus China, Russland Aus der Schachsprache ist er aber und den USA traten auch Pre- nicht mehr wegzudenken. mierenteilnehmer wie Nauru, Erst sechs Mal wurde dieses Osttimor, Kosovo oder Gabun wichtigste Turnier der FIDE in und Auswahlmannschaften der Deutschland ausgetragen: Ham- internationalen Schachverbände burg (1930), München (1950) und der Blinden, Körperbehinderten Leipzig (1960), Siegen (1970) und und Gehörlosen an. Dresden (2008). Zudem fand 1936 Eine gigantische Veranstaltung, in München ein von den Ausrich- die den olympischen Gedanken tern als „Olympiade“ bezeichne- lebt. Sie findet aber außerhalb tes Länderturnier statt, das nicht als offizielle FIDE-Veranstaltung Blick in den Spielsaal der Großveranstaltung in Siegen. der Olympischen Spiele statt, da sich das Internationalen Olympi- ausgetragen wurde. sche Komitee und der Welt- 50 Jahre Siegen Zuschauer kamen vom 5. bis 27. Kampf um die Weltmeisterkrone schachverband (FIDE) noch nicht September, um das Spektakel zu ereignen sollte, war dies schon auf eine Aufnahme der Sportart Aktuell feiert die sich selbst als erleben. Eine Begegnung dieses ein Einblick in den Kalten Krieg Schach ins olympische Pro- „Krönchenstadt“ (siehe Kasten) mehr als dreiwöchigen Turniers auf den 64 Schachfeldern. gramm einigen konnten. bezeichnende südwestfälische elektrisierte auch über die Zurück zum schachlichen Mega- Stadt Siegen das 50-jährige Ju- Schachszene hinaus. 4000 Men- ereignis 1970: Dies fand nicht biläum „ihrer Olympiade“ von schen wollten allein das Duell etwa in New York, London, Paris 1970. Heutige Dimensionen er- der Duelle sehen: die Partie zwi- oder Berlin statt – nein, Austra- reichte man damals zwar nicht, schen den später auf mehreren gungsort war das beschauliche aber auch die damaligen Zahlen Briefmarken verewigten Boris westfälische Kreisstädtchen Sie- beeindrucken im Rückblick: Spasski und Bobby Fischer. Auch gen mit seiner Siegerlandhalle. 60 Teams mit 360 Spielern, da- wenn noch niemand ahnte, was runter 35 Großmeister und 66 In- sich zwei Jahre später im islän- Warum Siegen? ternationale Meister, kämpften dischen Reykjavík beim legendä- Wie aber kam es zu einem so 23 Tage lang um Punkte. 30 000 ren und skandalumwobenen kleinen Austragungsort wie Sie- Der Hauptorganisator der Schacholympiade in Siegen: Norbert Gigantenmatch und Zuschauerandrang: Spasski (l.) besiegte Fischer. Schulte (o.) und sein großes Helferteam (Fotos [4]: Friedel an Haak). Adolf Kill (m.) notierte die Züge für das Turnierbulletin. 46 BRIEFMARKEN SPIEGEL 9/2020
Unter der Lupe 1992 trafen sich Fischer und Spasski nochmals zum Revanchekampf für 1972 unter ominösen Bedingungen im krisengeschüttelten Jugo- slawien (MiNr. 2559 und 2560). Fischer gewann erneut. gen? Eigentlich war die Mam- Angelegenheit nicht mehr raus.“ mutveranstaltung bereits an die Und Feuring auch nicht – er war ungarische Hauptstadt Budapest fortan im Organisationsteam vergeben worden. Doch die Ost- und für die Unterbringung der europäer machten 1967 einen Spieler und Betreuer zuständig. Briefbeleg mit Sonderstempeln zur Schacholympiade. Rückzieher. Deutschland sprang ein und suchte nach einer Kan- Zweifler entgehen lassen wollten, bei. Anfassen“ freuten, auch Sammler didatenstadt. Das war der Mo- Kenner der Region bezweifelten, Wen wunderts? auf ihre Kosten kamen. Schach- ment für einen Macher. Und der dass es in der damals 57 000 Ein- Die als (fast) unschlagbare gel- fans konnten Autogramme, Fotos, hieß Norbert Schulte. Der Grün- wohner zählenden Stadt genug tende sowjetische Mannschaft Banner, Wimpel und Bierdeckel der und Vorsitzende des sieger- Unterbringungsmöglichkeiten reiste in einer Weltklassebeset- ergattern, Philatelisten freuten ländischen Vereins Kreuztal- für Spieler und den umfangrei- zung an und erspielte sich in Sie- sich über Sonderstempel und Buschhütten hatte bereits knapp chen Tross sowie die Funktionäre gen die zehnte olympische Gold- vielfältige philatelistische Belege, drei Jahre zuvor die Deutschen und Helfer gebe. Doch Hermann medaille in Folge. Auf den Numismatiker stürzten sich auf Mannschaftsmeisterschaften Schmidt, der Landrat des Kreises Medaillenrängen folgten Ungarn die Münzen zur Schacholym- nach Siegen geholt und vorbild- Siegen, und der Vorstand des und Jugoslawien, die Bundesre- piade 1970. Über eine sehr viel- lich durchgeführt. Damit hatte er Deutschen Schachbundes (DSB) publik Deutschland wurde seitige Auswahl Schach-Sam- sich das Vertrauen erarbeitet, glaubten an die Fähigkeiten des Sechster, drei Plätze vor der DDR. melstücke verfügt Wolfgang auch für sehr viel größere Aufga- Organisationsteams um Norbert Pähtz. Der Bruder des Großmeis- ben geeignet zu sein. Als er von Schulte. So fiel auf dem Kongress Fans und Sammler ters Thomas Pähtz ist Vorsitzen- Konsul Emil Dähne erfuhr, dass des DSB in Gießen im Jahr 1969 der der Gemeinschaft der die Ungarn auf die Olympiade die endgültige Entscheidung, die Bei der Bedeutung und der Größe Schachmotivsammler (GSM, verzichteten, sagte er spontan: Schacholympiade 1970 in der des Turniers ist es nicht verwun- www.gsm-schach.eu). „Dann machen wir das in Siegen!“ Krönchenstadt auszutragen. derlich, dass neben den Schach- Ein Sammler, der sich nicht aus enthusiasten, die sich über span- Heinz Feuring vom Siegener Zum Erfolg der Veranstaltung schachlichen, sondern aus phil- nende Partien und „Stars zum Schachverein war dabei und er- trugen dann nicht nur die Orga- atelistischen Gründen mit der innert sich: „So ganz ernst ge- nisatoren, sondern auch die Olympiade befasst hat, ist Wil- meint hatte Schulte das nicht, 30 000 Zuschauer, die sich das fried Lerchstein. Er lebt in aber irgendwie kam er aus der Spektakel vor ihrer Haustür nicht Netphen bei Siegen. Der passio- nierte Heimatforscher fungiert seit langer Zeit als Vorsitzender Krönchenstadt Schach in Zahlen der Briefmarkenfreunde Netphen Das Krönchen Schätzungen gehen davon aus, e.V. Auch er hat in den Tiefen sei- ist Wahrzei- dass zwischen einer halben nes Archivs gestöbert und als chen der Stadt und einer Millarde Menschen Fortsetzung auf Seite 48 → Siegen. Seit Schach spielen können. Über 1658 schmückt 360 000 haben schon an offi- es die Spitze ziellen internationalen Turnie- der Nikolaikir- ren teilgenommen. Die Zahl der che. Johann Spieler, die national in Verei- Moritz zu Nas- nen aktiv ist, beträgt ein Viel- sau-Siegen faches davon. Mit über 90 000 schenkte das vergoldete Meis- Mitgliedern ist der Deutsche terwerk der Schmiedekunst der Schachbund einer der großen reformierten Kirchengemeinde Schachverbände weltweit und anlässlich seiner Erhebung in gehört auch zu den größten den Fürstenstand 1652. Quelle: Mitgliedsverbänden im Deut- www.siegen.de/www.wikime schen Olympischen Sportbund Sonderstempel aus dem Archiv Stempelirrtum: Sonderstempel dia.org (DOSB). Verein für Briefmarkenkunde ohne Jahreszahl (Belege [3]: und Postgeschichte Siegen. Sammlung Wilfried Lerchstein). BRIEFMARKEN SPIEGEL 9/2020 47
Unter der Lupe Postalischer Beleg für das 1. Treffen der Gemeinschaft für Schach- Gelaufener Brief mit Sonderstempeln zur Schacholympiade . motivsammler (Belege [2]: Sammlung von Wilfried Lerchstein). umtriebiger Vereinsfunktionär da er monatelang organisiert gitalisierung ihrer Erinnerungen ner hervorragenden Deutsch- mit gutem Gespür für Öffentlich- habe und ständig in Bewegung an die Großveranstaltung. Die kenntnisse viele Sympathien im keitsarbeit bereits frühzeitig den war. Er habe zwar viele namhafte Stadt Siegen möchte in ihrem Siegerland. Kontakt zur Siegener Zeitung ge- Schachgrößen getroffen, aber Museum wichtige Siegener Er- sucht. So wurden die Leser be- meist nur im Vorbeilaufen. Sehr eignisse und Entwicklungen in Dank engagierter Menschen und reits einige Monate vor dem an- genossen hingegen habe er die einem Digitalarchiv festhalten Sammler wie Norbert Schulte, stehenden Jubiläum an das allabendlichen Arbeitsessen mit und den Besuchern zeigen. Heinz Feuring, Reinhard Radtke, Großereignis erinnert. Weitere den Entscheidern des DSB. „Wir Wolfgang Pähtz und Wilfried Neben der Judenverfolgung Lerchstein sowie der regionalen Berichte folgen in diesem Monat. hatten das gemeinsame Ziel, ein durch die Nazis, der Geschichte Presse und nicht zuletzt auch der Durch diesen unermüdlichen erinnerungswürdiges Turnier der zerbombten Stadt nach 1945, Stadt Siegen bleibt diese außer- Einsatz erhalten Schach und durchzuführen. Das ist uns ge- der Bedeutung der Siegerland- gewöhnliche internationale Philatelie in der Regionalpresse lungen“, sagt Feuring, dem die halle für die Region und dem Meisterschaft in Erinnerung. große Aufmerksamkeit. Schacholympiade trotz aller An- Museum der Gegenwartskunst strengungen als „außergewöhn- Mannschaftsleistung soll hier auch ein ausführlicher liches Erlebnis“ in Erinnerung ist. Das öffentliche Interesse über- Ein großer Erfolg, der nicht zu- Bericht über die Schacholym- piade 1970 in Siegen zu sehen Literatur- raschte auch während der Olym- letzt auch den vielen Helfern zu sein. „Ich bin sehr gespannt, wie und Quellenangaben piade mit dem Höhepunkt am verdanken ist. Sie ermöglichten Tag der Begegnung Spasski ge- es sogar, wie Feuring berichtet, der fertige Bericht aussehen 1 Berichterstattung der Siegener Zei- wird“, sagt Radtke, der als Lehrer tung aus dem Jahr 1970 und zum 50- gen Fischer. „Wir mussten Zeit- ein tägliches Turnierbulletin mit jährigen Jubiläum 2020, basierend auf tickets vergeben. Die Fans durf- den Partien vom Vortag zu ver- zwar damals nur ein begrenztes Dokumenten, die auf einem Speicher ten also nur kurz in die Nähe der öffentlichen. Partien wurden da- Zeitfenster hatte, um vor Ort zu gefunden wurden Spieler und mussten dann für die für zusätzlich von Schreibern sein, der sich aber vor allem 1 Archiv Wilfried Lerchstein nächsten Platz machen“, erinnert festgehalten, die direkt am Brett gerne an seine Begegnungen mit 1 Gespräche mit Heinz Feuring, Rein- sich Heinz Feuring. Doch er selbst sitzend die Züge notierten und dem Weltklassespieler Paul Ke- hard Radtke blickt mit gemischten Gefühlen nach der Partie in die Bulletinre- res erinnert. Keres war damals 1 Gemeinschaft der Schach-Motiv- zurück. Er habe in den ersten ru- daktion weitergaben. Zwar gab Betreuer des sowjetischen sammler higen Momenten nach dem Tur- es einen Großrechner für die Or- Teams und gewann laut Radtke 1 www.siegen.de, www.gsm-schach.eu, nier gedacht: „Jetzt ist es vorbei.“ ganisatoren, doch die redaktio- dank seiner offenen Art und sei- Wikipedia Alles sei an ihm vorbeigerauscht, nelle Bearbeitung erforderte viel mehr Handarbeit als heutzutage. Ein echtes Mammutprogramm. Museumsprojekt Das Ereignis sollte in diesem Jahr rückblickend gewürdigt werden, aber die Feierlichkeiten zum 50- jährigen Jubiläum der Schach- olympiade mussten aufgrund der Auch die Corona-Pandemie leider auf un- Numisa- bestimmte Zeit verschoben wer- matiker den. Doch gemeinsam mit dem Merchandising in den 1970ern: kamen damals ebenfalls im Helferteam Bierdeckel und Sonderpostkarte auf ihre tätigen Reinhard Radtke arbeitet mit Untestützung der örtlichen Kosten. Heinz Feuring gerade an einer Di- Brauerei (Belege [3]: GSM). 48 BRIEFMARKEN SPIEGEL 9/2020
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