Die Pflegesituation Hundertjähriger aus der Perspektive sorgender Töchter und Söhne vor dem Hintergrund langer gemeinsamer Vergangenheiten - eine ...

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Beiträge                                   Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 25. Jg. 2020 H.3

Arlett Wenzel, Simon Eggert, Petra v. Berenberg-Gossler,
Laura-Maria Jordan, Ralf Suhr, Dagmar Dräger

Die Pflegesituation Hundertjähriger aus der
Perspektive sorgender Töchter und Söhne vor
dem Hintergrund langer gemeinsamer
Vergangenheiten – eine vertiefende Analyse
The care situation of centenarians from the perspective of caretaking daugh-
ters and sons within sharing an extensive past – an in-depth analysis
The number of centenarians has increased significantly in recent years and will continue
to increase. Many of them rely on everyday help and their offspring are a major source of
support. Previous studies paid little attention to the care situation between centenarians
and their children sharing an extensive past. The study presents a detailed analysis of
the care situation of centenarians from the perspective of caretaking daughters and
sons, considering familial relationships and a shared history. In-depth interviews were
conducted with thirteen daughters and sons of centenarians. Interviews were analyzed
with the documentary method. The results show that effective family roles and relations-
hip dynamics cause strain in care situations until a very old age. These care situations
should therefore be considered within the context of common familial history. Further re-
search is needed to develop differentiated forms of support for caretaking family mem-
bers.
Keywords
Centenarians, caretaking relatives, care situations, family relationships, strain

Die Anzahl Hundertjähriger hat sich in den letzten Jahren stark erhöht und wird weiterhin
zunehmen. Viele von ihnen sind auf Hilfe im Alltag angewiesen, und Kinder sind eine
Hauptunterstützungsquelle. Bisherige Studien schenkten der Pflegesituation unter Be-
rücksichtigung langer gemeinsamer Vergangenheiten zwischen Hundertjährigen und ih-
ren Kindern kaum Aufmerksamkeit. Ziel der Untersuchung war eine vertiefende Analyse
der Pflegesituation Hundertjähriger aus der Perspektive sich sorgender Töchter und Söh-
ne vor dem Hintergrund langer gemeinsamer Vergangenheiten und familialer Bezie-
hungsstrukturen. Mit 13 Töchtern und Söhnen Hundertjähriger wurden leitfadengestütz-
te Interviews geführt. Diese wurden in Anlehnung an die Dokumentarische Methode aus-
gewertet. Die Ergebnisse zeigen, dass Pflegesituationen und daraus erwachsende
Belastungen auch Resultat einer bis ins sehr hohe Alter wirksamen familialen Rollen-
und Beziehungsdynamik sind. Aus diesem Grund sollten sie auch im Kontext der bisheri-
gen gemeinsamen Vergangenheiten betrachtet werden. Hier bedarf es weiterer For-
schung, um differenzierte Angebote für sorgende Angehörige weiterentwickeln zu kön-
nen.

  eingereicht 05.03.2019
  akzeptiert 22.08.2019

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Beltz Juventa. Pflege & Gesellschaft 25. Jg. 2020 H.3                                       Beiträge

Schlüsselwörter
Hundertjährige, sorgende Angehörige, familiale Beziehungen, Pflegesituation, Belas-
tungserleben

1. Hintergrund und Zielsetzung 1,2
Die Wahrscheinlichkeit, sehr lange zu leben, hat sich in den letzten Jahrzehnten deut-
lich erhöht. Die Zunahme der Bevölkerung im höchsten Alter ist seit den 1960er-Jah-
ren empirisch evident und eine biologische Grenze für die menschliche Alterung ist
bisher nicht sichtbar (Scholz 2018). Die Veränderung der einzelnen Altersgruppen
zeigt, dass besonders die höchsten Altersgruppen die größten Zunahmen zu erwarten
haben. Im Jahr 2060 werden in Deutschland im Vergleich zu heute zwölfmal mehr
Menschen im Alter ab 100 Jahren leben (Scholz 2018).
   Das hohe Lebensalter ist zwar nicht mit Hilfe- und Pflegebedürftigkeit gleichzuset-
zen, jedoch steigt mit zunehmendem Alter die Wahrscheinlichkeit, pflegebedürftig zu
werden. In der Altersklasse der 85- bis 89-Jährigen sind 40,2% pflegebedürftig, und
bei den über 90-Jährigen ist mit 61,7% die Mehrzahl der Personen pflegebedürftig
(Schwinger et al. 2018).
   Vor diesem Hintergrund ist die Analyse der Versorgungssituation von Langlebigen
wie Hundertjährigen von zunehmender Bedeutung. In Deutschland sind etwa 80%
der Hundertjährigen auf Hilfe im Alltag angewiesen (Börner et al. 2016). Die Ergeb-
nisse einer Studie auf Basis von Krankenkassendaten zeigen, dass 45% der Hundertjäh-
rigen zu Hause und 49% in einer Langzeitpflegeeinrichtung versorgt werden. Nur 6%
erhalten keine Unterstützung (von Berenberg-Gossler et al. 2017). Eine weitere ver-
gleichbare Untersuchung kommt zu einer Rate von 60,1% in Langezeitpflegeeinrich-
tung versorgten Hundertjährigen (Gellert et al. 2018). Die aktuelle und zukünftige
Versorgung Hundertjähriger stellt eine große gesellschaftliche Aufgabe dar, Töchter
und Söhne sind dabei immer noch eine Hauptunterstützungsquelle (Jopp et al. 2013;
Börner 2016). Mit der Versorgung in einer stationären Einrichtung entfallen zwar für
Angehörige Pflegeaufgaben, dennoch bleibt deren Sorge in Form eines Verantwor-
tungs- oder Pflichtgefühls weiterhin bestehen (Gebhart 2018).
    Bisherige Studien zu den Auswirkungen von familiärer Pflege machen deutlich, dass
die Angehörigen erheblichen Belastungen ausgesetzt sind (Brügger et al. 2015; Wetz-
stein et al. 2015; Klaus et al. 2017). Pflege kann beispielsweise mit einem Mangel an
Freizeit und Urlaub sowie eingeschränkten Sozialkontakten einhergehen und sich
nachteilig auf die Gesundheit der pflegenden Angehörigen auswirken (Posch-Eliskases
et al. 2014). Im Gegensatz zur Pflegeforschung betrachten Lüscher & Pillemer (1998)
Generationenbeziehungen unter dem Aspekt der Ambivalenz. Demnach lassen sich
hinsichtlich der Erfahrung wechselseitigen Angewiesenseins zwischen den Generatio-

1 Die Studie wurde von der Ethikkommission an der Charité-Universitätsmedizin Berlin geprüft und positiv
  beschieden (Votumnummer: EA1/030/16) und entspricht den Vorgaben der Deklaration von Helsinki.
2 Es bestehen keine Interessenskonflikte der Autoren.

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nen Potentiale für Ambivalenzen verorten. In Hinblick auf die Pflegebeziehung geht es
um Aushandlungsprozesse zwischen erwachsenen Kindern und ihren Eltern hinsicht-
lich des Verhältnisses von Autonomie und Dependenz, von Nähe und Distanz (Lü-
scher 2011). In der neuen Familienforschung wird für den innerfamilialen Kontext der
Pflege das Konzept der Familie als Herstellungsleistung („doing family“-Ansatz) be-
vorzugt, welches auf die Pflegebeziehung übertragen werden kann (Gröning 2011). Fa-
milie wird demnach als wandelbares System verstanden. Dieses ist zwar auf Gemein-
samkeiten hin angelegt, muss jedoch reproduziert werden und kann sich im Familien-
verlauf und in verschiedenen Familienkonstellationen immer wieder verändern
(Jurczyk 2014). So konnten Gröning et al. (2007) zeigen, dass die Pflege eines Eltern-
teils vor dem Hintergrund eines traditionellen Geschlechtervertrages zum Aufbau ei-
ner nicht-reziproken, auf Feinfühligkeit und Sorge basierenden Beziehung und
schließlich zum dauerhaften Bemühen um die Herstellung von familialer Normalität
außerhalb der Pflege im Sinne des „doing family“ führt.
    Familiale Pflege von Hundertjährigen und die Belastungen, welche aus der Pflegesi-
tuation erwachsen, sind international gut erforscht (Nishikawana et al. 2003; Freeman
et al. 2010; Freeman et al. 2017; Brandao et al. 2017). Jedoch schenken bisherige Stu-
dien der sehr langen, gemeinsam erlebten Vergangenheit von Hundertjährigen und ih-
ren Kindern kaum Aufmerksamkeit. Die Pflegesituation ohne diese gemeinsame Ver-
gangenheit in den Blick zu nehmen reicht jedoch nicht aus, um diese zu verstehen
(Geister 2002), denn sie ist Resultat eines sich lebenslang vollziehenden und wirksa-
men dynamischen Geschehens (Fooken 1999). Familiäre Erfahrungen und Entwick-
lungen sowie die Qualität der früheren Beziehung bleiben nicht ohne Einfluss auf eine
spätere Sorge und Pflege (Geister 2005; Gröning 2009). Hier wird eine Forschungslü-
cke sichtbar, die angesichts der demographischen Entwicklungen Beachtung finden
sollte. Die Untersuchung der Frage, inwiefern familiale Beziehungen und Strukturen
bis in das höchste Alter in die Pflegesituation pflegender Kinder und ihrer Hundertjäh-
rigen hineinwirken, kann dazu beitragen, das Versorgungsangebot den Bedürfnissen
der selber bereits im hohen Alter befindlichen Pflegenden anzupassen und Belastungen
zu reduzieren.
   Ziel der vorliegenden Untersuchung ist somit eine vertiefende Analyse der Pflegesi-
tuation Hundertjähriger aus der Perspektive sorgender Töchter und Söhne, vor dem
Hintergrund langer gemeinsamer Vergangenheiten. Dabei stehen folgende Fragen im
Fokus:
- Wie gestalten sich familiale Beziehungen in Pflegesituationen, auf der Basis der ge-
  meinsamen Vergangenheit von sorgenden Töchtern und Söhnen und ihren Hun-
  dertjährigen?
- Wie beschreiben sorgende Töchter und Söhne Hundertjähriger ihr Belastungserle-
  ben vor dem Hintergrund bestehender Beziehungsstrukturen?

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2. Methodisches Vorgehen
Um biographisch geprägte familiale Beziehungen und die bestehende Pflegesituation
angemessen abbilden zu können, wurde ein qualitativer Forschungsansatz gewählt.
Dieses Vorgehen schien besonders geeignet, da es bisher zum Untersuchungsgegen-
stand keine tiefergehenden Erkenntnisse für die Zielgruppe „Töchter und Söhne Hun-
dertjähriger“ gibt.
   Die vorliegende Studie greift auf eine Gelegenheitsstichprobe von Töchtern und
Söhnen zurück. Entscheidend für den Einschluss war, dass diese die Sorge für ihren
hundertjährigen Elternteil tragen. Sorge wurde dabei als Verantwortungsübernahme
für den Betreuungs- und Versorgungsprozess des hundertjährigen Elternteils definiert
und umfasset materiell-physische, emotionale sowie kognitive Leistungen (Jurczyc
2010). Diese war nicht an einen spezifischen Versorgungskontext – stationär oder am-
bulant – gebunden. Bei bereits verstorbenen Hundertjährigen durfte der Tod nicht län-
ger als ein Jahr zurückliegen.
   Der Kontakt zu den Studienteilnehmern erfolgte primär über ambulante Pflege-
dienste, Tagespflegeeinrichtungen und stationäre Pflegeeinrichtungen. Insgesamt
konnten 16 Angehörige Hundertjähriger für die Studie gewonnen und interviewt wer-
den. Für die vorliegende Untersuchung wurden 13 Interviews von Angehörigen ausge-
wertet und analysiert, da sie der Kindergeneration der Hundertjährigen angehörten.
Von einer der betreuten Hundertjährigen erklärten sich zwei Angehörige – Tochter
und Sohn – zum Interview bereit.
    Zur Datenerhebung wurde theoriebasiert und an den interessierenden Forschungs-
fragen ein teilstrukturierter Interviewleitfaden entwickelt. Dieser wurde in einem ite-
rativen Prozess innerhalb der Forschungsgruppe immer wieder diskutiert und bearbei-
tet. Zudem wurde der Leitfaden getestet und modifiziert. Wie von Przyborski et al.
(2014) empfohlen bewegte sich der Interviewleitfaden thematisch vom Allgemeinen
zum Spezifischen. Nach einem Eingangsstimulus, welcher die Befragten zunächst in
die Lage versetzen sollte, ihre Perspektive auf das zu interessierende Phänomen zu er-
zählen (ebd. 2014), schlossen sich Fragen zu folgenden inhaltlichen Themenbereichen
an:
- zur Person des Hundertjährigen und der eigenen Person,
- zur Beziehung zwischen Hundertjährigem und Angehörigem,
- zur Versorgungssituation und zu wahrgenommenen Belastungen.
Die Interviews fanden im häuslichen Umfeld der Befragten statt, wobei die Interview-
dauer zwischen vierzig und neunzig Minuten lag. Den Töchtern und Söhnen war es
freigestellt eine Vertrauensperson für das Interview an ihre Seite zu bitten. Zwei der Be-
fragten nahmen diese Möglichkeit in Anspruch, was zu einer Anreicherung des Inter-
viewmaterials führte. Informationen dieser Vertrauenspersonen wurden in die Auswer-
tung einbezogen. Die Interviews wurden von drei geschulten Interviewerinnen durch-
geführt, auf Tonband aufgezeichnet und anschließend transkribiert. Zur Erfassung der
Interviewsituation wurde im Anschluss an jedes Interview ein Postskriptum erstellt,

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welches Angaben zum Interviewverlauf, zu thematischen Schwerpunkten und der
Interviewatmosphäre enthielt. Zudem umfasste es soziodemographische Angaben des
Befragten und der Hundertjährigen.
   Die Auswertung erfolgte über die vollständig transkribierten Interviews in Anleh-
nung an die dokumentarische Methode (Bohnsack et al. 2013). Dazu wurde in einem
ersten Schritt, wie von Bohnsack et al. (2007, 2013) empfohlen, für jedes Interview ei-
ne formulierende Interpretation verfasst, welche eine Übersicht über die Texte ermög-
lichte. Bei der formulierenden Interpretation geht es darum, noch einmal zusammen-
zufassen, was von den Befragten begrifflich expliziert wurde (Bohnsack et al. 2007). An
die formulierende Interpretation schloss sich die reflektierende Analyse der relevanten
Interviewpassagen an, bei der Orientierungen und Sinnmuster der Interviewpartner
herausgearbeitet wurden. Diese wurden dann in der komparativen Analyse mit ande-
ren Fällen verglichen, um Besonderheiten der einzelnen Fälle klarer herauszuarbeiten.

3. Ergebnisse
Von 13 befragten Personen sind zehn weiblich und drei männlich. Die jüngste Befragte
ist zum Zeitpunkt des Interviews 65 Jahre alt, die älteste Befragte bereits 78 Jahre, das
Durchschnittsalter liegt bei 71,77 Jahren. Alle Befragten haben eine abgeschlossene
Berufsausbildung oder ein abgeschlossenes Studium und sind zum Zeitpunkt der
Interviews bereits berentet. Hinsichtlich des Beziehungsverhältnisses finden sich in der
Stichprobe drei Verhältnisformen: Tochter-Vater-, Tochter-Mutter- und Sohn-Mut-
ter-Verhältnis (Tabelle 1).
   Den Übergang in die Pflegebedürftigkeit der Hundertjährigen beschreiben die Be-
fragten als sehr individuellen Prozess, jedoch lassen sich zwei typische Verläufe erken-
nen. Zum einen wird der Eintritt der Pflegebedürftigkeit durch die Befragten an einem
plötzlichen Ereignis, wie beispielsweise einem Sturz oder einer Operation, festge-
macht. Zum anderen schildern die Befragten diesen als schleichenden Prozess, der mit
dem Einsetzen und Fortschreiten körperlicher und geistiger Einschränkungen einher-
geht. Kennzeichnend ist, dass beide Formen des Übergangs in die Pflegebedürftigkeit
frühestens mit dem 90. Lebensjahr beginnen.
   Die Pflegearrangements gestalten sich sehr vielfältig. In sieben Fällen werden die
hundertjährigen Mütter in einer Pflegeeinrichtung versorgt, während drei noch in ih-
rer eigenen Wohnung wohnen. Zwei der Befragten leben mit den Hundertjährigen in
einem gemeinsamen Haushalt. In einem Fall war der hundertjährige Vater zum Zeit-
punkt des Interviews bereits verstorben, Tochter und Vater wohnten zuvor im gemein-
samen Haus, aber in getrennten Wohnungen. Entsprechend vielfältig gestaltet sich
auch die Versorgung der hundertjährigen Väter und Mütter durch ihre Töchter und
Söhne in den Bereichen der körpernahen Pflege, der sozioemotionalen sowie der in-
strumentellen Unterstützung des Hundertjährigen. Einige der Befragten sehen mehr-
mals täglich ihren hundertjährigen Elternteil und nehmen Aufgaben der pflegerischen,
sozioemotionalen sowie der instrumentellen Unterstützung wahr. Andere wiederum

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Angehörige                                      Hundertjährige

TN           Ge-      Verhält-      Familien-   Alter                   Kontakt zum Angehörigen
(Pseudonyme) schlecht nis           stand       Wohnsituation           Unterstützung
             Alter                  Kinder
AW 1         W/ 72       Tochter- Verheira-     100 Jahre/ Lebt mit     Kontakt: Mehrmals täglich/Unterstüt-
Sophia Knabe             Vater    tet/          Ehefrau in Wohnung      zung: körpernahe Pflege,
                                  1 Kind        von Tochter und         Sozioemotionale und instrumentelle
                                                Schwiegersohn           Unterstützung
AW 2          W/ 71      Tochter- Verheira-     103 Jahre/Lebt im eige- Kontakt: Mehrmals täglich/Unterstüt-
Claudia Meier            Mutter   tet/          nen Haus neben dem zung: Sozioemotionale und instrumen-
                                  1 Kind        Haus von Tochter und telle Unterstützung
                                                Schwiegersohn
AW 3            M/ 70    Sohn-      Geschie-    102 Jahre/Lebt im Pfle- Kontakt:1 x pro Woche, zusätzlich nach
Frank Gus                Mutter     den/        geheim                  Bedarf/Unterstützung: Sozioemotionale
                                    1 Kind                              und instrumentelle Unterstützung
AW 4          W/ 72      Tochter- Verheira-     103 Jahre/Lebt in eige- Kontakt: Mehrmals täglich/Unterstüt-
Luisa Weinert            Mutter   tet/          ner Wohnung             zung: körpernahe Pflege, Sozioemotio-
                                  2 Kinder                              nale und instrumentelle Unterstützung
AW 6            M/ 71    Sohn-      Verwitwet/ 100 Jahre/Lebt im Pfle- Kontakt: Mehrere Tage alle 2-3 Mona-
Hans Gobelt              Mutter     0 Kind     geheim                  te/Unterstützung: Sozioemotionale und
                                                                       instrumentelle Unterstützung
AW 7            W/ 69    Tochter- Verheira-     100 Jahre/Lebt im Pfle- Kontakt: 1 x pro Woche/Unterstützung:
Maria Wust               Mutter   tet/          geheim                  Sozioemotionale und instrumentelle
                                  5 Kinder                              Unterstützung
AW 8            W/ 73    Tochter- Geschie-      101 Jahre (†)/Lebte mit Kontakt: Mehrmals täglich Unterstüt-
Bettina Selig            Vater    den/          Ehefrau in Wohnung, zung: Sozioemotionale und instrumen-
                                  2 Kinder      die sich im Haus der    telle Unterstützung
                                                Tochter befand
AW 11           W/ 76    Tochter- Verheira-     100 Jahre/Lebt im Pfle- Kontakt: Mehrere Tage alle 2-3 Mona-
Paula Arn                Mutter   tet/          geheim                  te/Unterstützung: Sozioemotionale und
                                  1 Kind                                instrumentelle Unterstützung
AW 12           W/ 65    Tochter- Verheira-     100 Jahre/Lebt im Pfle- Kontakt: 2-3 x pro Woche/Unterstüt-
Carola Wies              Mutter   tet/          geheim                  zung: Sozioemotionale und instrumen-
                                  1 Kind                                telle Unterstützung
AW 13           M/ 77    Sohn-      Verheira-   106 Jahre/Lebt im Pfle- Kontakt: 1-2 x pro Woche/Unterstüt-
Klaus Lob                Mutter     tet/        geheim                  zung: Sozioemotionale und instrumen-
                                    2 Kinder                            telle Unterstützung, finanzielle Unter-
                                                                        stützung
AW 14           W/ 67    Tochter- Verwitwet/ 100 Jahre/Lebt in eige- Kontakt: 3-4 x pro Woche/Unterstüt-
Gisela Rust              Mutter   1 Kind     ner Wohnung             zung: körpernahe Pflege, Sozioemotio-
                                                                     nale und instrumentelle Unterstützung
AW 15           W/ 78    Tochter- Verwitwet/ 102 Jahre/Lebt im Pfle- Kontakt: 4-5 x pro Woche /Unterstüt-
Rita Liesing             Mutter   1 Kind     geheim                  zung: Sozioemotionale und instrumen-
                                                                     telle Unterstützung
AW 16           W/ 72    Tochter- Ledig/        101 Jahre/Lebt mit      Kontakt: Mehrmals täglich/Unterstüt-
Greta Stock              Mutter   0 Kind        Tochter in gemeinsa-    zung: körpernahe Pflege, Sozioemotio-
                                                mer Wohnung             nale und instrumentelle Unterstützung
Instrumentelle Unterstützung: z. B. Hauswirtschaftliche Tätigkeiten, Behördengänge, Finanzmanagement etc.
Tab. 1: Soziodemographische Angaben

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haben in größeren Zeitabständen Kontakt zum Hundertjährigen und übernehmen vor-
wiegend die instrumentelle und sozioemotionale Unterstützung ihrer Hundertjährigen.

Pflegesituation und Belastungen vor dem Hintergrund von
Rollenzuschreibungen und dem familialen Beziehungsgefüge
Die individuellen Lebensgeschichten der befragten Töchter und Söhne dokumentie-
ren unterschiedliche Positionen der einzelnen Familienmitglieder zueinander und
innerhalb des familialen Gefüges. Charakterisierungen der Hundertjährigen sowie der
eigenen Person und weiterer Familienmitglieder ergeben ein Bild differenzierter Rol-
lenzuschreibungen innerhalb der Familie. So beschreibt z. B. Maria Wust ihre Mutter
als Person, die in der Familie für die „Innenpolitik“ sorgte (Z.: 30), Sophia Knabe ihren
Vater als den „selbstbestimmten Vater“ (Z.: 155) oder Rita Liesing, ihre Mutter als „into-
lerant“ (Z.: 151), wobei sie sich selbst als „so unverständlich anders“ (Z.: 43) ihrer Mut-
ter gegenüber wahrnimmt.
   Es zeigt sich, dass diese Beziehungsstrukturen bereits weit vor dem Eintritt in die
Pflegebedürftigkeit die spätere Ausgestaltung der Pflegesituation anbahnen. „Und da
war uns aber auch klar (…) wenn wir hierherziehen, dann geht das ja alles mehr oder we-
niger Hand in Hand. (…) Ich hab‘ ja noch ‘n Bruder, der aber in ‘ner Stadt wohnt weit weg
und sich auch eigentlich nie außer um sich (lacht) um seine Mutter in irgendeiner Form ge-
kümmert hat. Also war mir schon klar, es hängt sowieso alles an uns. Also können wir auch
hierherziehen.“ (Claudia Meier, Z.: 248-254)
   In allen Interviews zeigt sich mit dem Beginn von Pflegebedürftigkeit ein Wandel
bisheriger Rollen, verbunden mit der Notwendigkeit, sich innerhalb des familialen
Systems neu zu positionieren. Aus diesen Veränderungen erwachsen für die Befragten
jeweils individuelle Belastungen. Einerseits verstärken sich dabei bereits bestehende
Belastungen durch die einsetzende Pflegebedürftigkeit. Andererseits entstehen Belas-
tungen erst durch die mit der Pflegebedürftigkeit einhergehenden Anforderungen. So
resultiert für Claudia Meier in ihrer Rolle als Managerin der Familie ein noch intensive-
res Kümmern um die hundertjährige Mutter, welches mit der subjektiven Belastung
verbunden ist, vom Tagesrhythmus der Mutter abhängig zu sein. Für Frau Greta Stock
hingegen, die ihr gesamtes Leben mit ihrer Mutter zusammenlebte, bedeutet die Pfle-
gebedürftigkeit eine „Totalumstellung“ (Z.: 78), da sie es nicht gewohnt ist im Leben
„Dinge machen zu müssen“ (Z.: 79), die sie nicht kann oder die sie erst erlernen muss.
   Anhand zweier kontrastierender Fälle sollen im Folgenden Rollenzuschreibungen
und Positionierungen innerhalb des familialen Beziehungsgefüge und die sich daraus
ergebenden Pflegesituationen vertiefend dargestellt werden. Kontraste ergeben sich
entlang der Dimensionen Nähe und Distanz sowie Annahme und Ablehnung inner-
halb der Beziehung zum Hundertjährigen und weiteren Familienmitgliedern. Sie
überspannen als Orientierungsrahmen den Umgang mit der Pflegebedürftigkeit des je-
weiligen Elternteils und bestimmen die inhaltliche Ausrichtung sowie Gestaltung der
Pflegebeziehung.

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Der Fall Bettina Selig
„Und da hab‘ ich dann anfangen müssen, mich abzugrenzen und das war ein ziem-
licher Kampf.“ Bettina Selig ist zum Zeitpunkt des Interviews 73 Jahre alt, geschie-
denen mit einer Tochter, die bereits selbst ein Kind hat. Sie lebt mit ihren Eltern
im gemeinsamen Haus, jedoch in getrennten Wohnungen. Frau Selig hat den
Beruf der Krankschwester gelernt, jedoch aufgrund gesundheitlicher Probleme eine
Umschulung zur Bürokauffrau absolviert. Ihren Vater besucht sie mehrmals
wöchentlich und übernimmt dabei vielfältige Aufgaben. Er verstirbt mit 101
Jahren im Kreise der Familie.
    Frau Selig beschreibt ihren Vater zu Beginn des Interviews als sehr aktiven und inter-
essierten Menschen. Die Beziehung zu ihrem Vater beschreibt sie zunächst positiv. Es
bestand immer ein reger Kontakt und guter Austausch zwischen den beiden. „Und er
war sehr, äh, kontaktfreudig, belesen und bis ins hohe Alter geistig, äh, fit und konnte sich
auch gut anderen Menschen mitteilen und auch zuhören. (…) Also, ich habe mit ihm ja
viel Kontakt gehabt und viel gesprochen.“ (Z: 5 – 10)
    Im Verlaufe des Interviews eröffnet sich ein Bild des Vaters, in dem die Rolle des
„Patriarchen“ (Z.: 127) erkennbar wird, der „an erster Stelle“ (Z.: 151) stand. Diese Po-
sition wird nicht nur auf die eigene Person bezogen, sondern auf das gesamte Familien-
system, welches die Herkunftsfamilie des Vaters, die eigene Herkunftsfamilie sowie die
Gründungsfamilie von Bettina Selig einbezieht. Mit der Rolle des „Patriarchen“ (Z.:
127) und unterstützt von der akzeptierenden Haltung der Mutter wird zugleich eine
stete Einflussnahme auf das eigene Leben sowie von Bruder und Tochter beschrieben.
Ihr Bruder entzieht sich dieser Autorität bereits vor dem Eintreten der Pflegebedürftig-
keit. „Ich hab‘ noch einen Bruder. Und der hat sich sehr konsequent von Anfang an abge-
grenzt. Und zwar ging das soweit, dass es sogar zwischen den Eltern zum Bruch kam. Weil
die Eltern nicht verstehen konnten, dass wir Kinder auch unser eigenes Leben haben und
auch schaffen müssen.“ (Z: 44 – 46) Frau Selig versucht in ihrer Rolle als Tochter mit die-
ser Situation „diplomatischer“ (Z.: 134) umzugehen, in dem steten Bestreben einen gu-
ten Kontakt zu ihren Eltern zu erhalten, „was eigentlich das ganze Leben immer schwierig
war (…).“ (Z.: 146). Die stete Einflussnahme der Eltern auf das Leben von Bettina Selig
erfährt eine erste Steigerung als sie 43 Jahre alt ist. Bereits hier zeichnen sich Belastungs-
prozesse ab, die in weitere Lebensbereiche von Frau Selig hineinwirken. „(…). Und hab
das so ca. mit Mitte 40 abgeschlossen, aber nicht den Abschluss zur Industriekauffrau, son-
dern nur, äh, Bürokauffrau, weil ich das alles / genau / nicht mehr geschafft habe. Eltern, al-
so da fing das / Genau. Ja, gut, dass Sie gefragt haben. Da ging das nämlich schon los, so als
ich Anfang Mitte 40 war. Immer die Eltern, ähm, mit all ihren Anliegen.“ (Z: 36 – 39)
    Der Übergang in die Pflegebedürftigkeit des Vaters beginnt für Frau Selig nach des-
sen 90. Geburtstag, wird als „schleichend“ (Z.: 30) beschrieben und äußerte sich da-
durch, dass er „körperlich hinfälliger“ (Z.: 20) wurde. Die frühere Rolle des Vaters als
Patriarch „kippte“ (Z.: 127, 130). Dies führt zur weiteren Einflussnahme durch den Va-
ter auf das Leben von Bettina Selig, indem er versucht, ihr die Rolle einer privaten Pfle-
gekraft zuzuschreiben: „Ja“ sagte er, äh „wozu hab‘ ich eine Tochter, die auch Kranken-
schwester ist?“ (Z.: 26-27). Die Inanspruchnahme eines Pflegedienstes wird vom Vater

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zunächst abgelehnt. Frau Selig bittet um die Hilfe ihrer Tochter, die einen ambulanten
Pflegedienst einschaltet. Gegenüber der Enkelin kommt es wiederholt zu einer Miss-
achtung der von ihr gewünschten Distanz, so dass auch diese zunächst den Kontakt
zum Großvater abbricht. Durch den Pflegedienst erfährt Bettina Selig keine spürbare
Entlastung, da ihr Vater sie weiterhin sehr in Anspruch nimmt. Ein von ihr aufgesuch-
ter Gesprächskreis für pflegende Angehörige macht sie „eher unglücklich“ (Z.: 238-
239). Im weiteren Verlauf des Interviews wird mehrfach der Versuch einer Abgrenzung
geschildert, welcher von ihr als sehr erschöpfend wahrgenommen wird und letztlich
nicht vollzogen werden kann. „Naja, das wär‘ dann auch der Anspruch an meine eigene,
äh, Person, ähm, mich von Anfang an mehr abzugrenzen, obwohl ich es geglaubt habe, ich
hätte es getan. Aber man kommt dann, wenn man in der Situation ist, also so war es bei mir,
in so einen Sog rein, äh, so zu denken: „Ach, mach das mal noch.“ Und das war im Nach-
hinein nicht gut.“ (Z: 476 – 479)
    Frau Selig ist es bis zum Tod ihres Vaters nicht möglich, sich in einer für sie erklärba-
ren Rolle zu ihrem Vater zu positionieren. Sie betont zwar mehrfach ihre Rolle als Toch-
ter, erläutert aber nicht, was diese Rolle beinhaltet. Der sich daraus ergebende Konflikt
mündet in dem steten Versuch einer Abgrenzung zum Vater bzw. zu den Eltern. An-
sprüche und Erwartungen an Bettina Selig bleiben letztlich bis zum Tod des Vaters er-
halten, was sich in der folgenden Aussage wiederspiegelt: „(…) Und ich musste immer
wieder auch bis zum Schluss auch meiner Mutter noch sagen: „Ich bin als Tochter doch für
Euch da, aber nicht als Pflegerin.“ Ähm, das ging in ihren Kopf nicht rein. Und das ging bei
meinem Vater bis zu seinem Ende nicht in seinen Kopf rein.“ (Z: 138 – 140)

Der Fall Hans Gobelt
   „Die war immer eine starke Frau uns Kindern gegenüber“. Hans Gobelt ist zum Zeit-
punkt des Interviews 71 Jahre alt. Er und seine Schwester haben die Sorge für ihre 100
Jahre alte und an Demenz erkrankte Mutter übernommen, die seit 6 Jahren in einer
Pflegeeinrichtung in einer anderen Stadt lebt. Bruder und Schwester teilen sich die Ver-
antwortung und kommen in regelmäßigen Abständen für mehrere Tage, um sich um
ihre Mutter zu kümmern. Neben den regelmäßigen Besuchen sorgt sich Herr Gobelt
um alle organisatorischen Dinge, die mit der Unterbringung in der Pflegeeinrichtung
verbunden sind.
   Herr Gobelt nimmt seine Mutter als eine starke Frau wahr, die ihn sehr gefördert
und geliebt hat. Seinen Aussagen zufolge hat er ein „gutes Verhältnis“ (Z.: 65) zu seiner
Mutter. Da seine Mutter bereits mit 16 Jahren ihr Elternhaus verlassen hat wurde sie
früh selbstständig. Im gesamten Interview dokumentiert sich das Bild einer unabhän-
gigen und starken Frau. „(…), dass sie sich von Krankheiten wenig hat umwerfen lassen,
auch viel ertragen hat, wenig jammert, wenig leidet, ähm, sehr selbstbewusst Probleme an-
geht, äh, vielleicht sich das Leben manchmal ein bisschen schöner macht (…)“ (Z: 13 – 16)
  Zwischen Mutter und Sohn besteht ein Beziehungsgefüge, welches sich durch Tren-
nung der Lebenswelten von Herkunftsfamilie und eigener Familie auszeichnet. Sowohl

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Hans Gobelt als auch seine Mutter geben dem jeweils eigenen Leben die größte Prio-
rität. Diese Entscheidung für ein getrenntes Leben wird im Laufe der Jahre von seiner
Mutter immer wieder neu ausgelotet. Grenzen werden dabei in einem gemeinsamen
Dialog ausgehandelt und letztlich von Herrn Gobelt und seiner Mutter akzeptiert.
„(…) Ja, das gab kräftige Erwartungen. Meine Mutter hat regelmäßig gefragt, warum ich
nicht nach A-Stadt komme, nach A-Stadt ziehe (schnalzt mit der Zunge). Dann hab ich ge-
fragt: „Warum ziehst Du nicht nach B-Stadt, wo ich wohne?“ Dann hat sie mir erklärt:
„Einen alten Baum verpflanzt man nicht.“ Sie hat hier ihre Freunde und Beziehungen. Sa-
ge ich: „Mutter, das gleiche habe ich in meinem Ort auch.“ Und dann sagt sie: „Ja, das ver-
stehe ich.“ Und das war der Punkt. Aber es wurde immer wieder nachgefragt. (…)“ (Z: 139
– 143) Vor dem Hintergrund des Wunsches an ihrem Wohnort bleiben zu wollen, mel-
det sich die Mutter bereits lange vor dem Eintritt der Pflegebedürftigkeit in einer sta-
tionären Pflegeeinrichtung an. „(…) Ähm, sie hat relativ früh für sich selbst gesorgt. Also
in dem Altenheim, in dem sie lebt, hat sie sich schon angemeldet, da war sie knapp über 80
und da war sie noch sehr stabil. Da war an solche Fragen noch gar nicht zu denken. Sie hat
nur gesagt, sie hat die Chance das zu machen, und das hat sie getan. (…)“ (Z: 66 – 69)
    Als Herr Gobelt und seine Schwester merken, dass ihre Mutter „ein bisschen die Kon-
trolle verliert“ (Z.: 153), wird die Pflege zunächst so organisiert, dass das Leben in der
eigenen Häuslichkeit weiter aufrechterhalten werden kann. Positionierungen inner-
halb des Beziehungsgefüges bleiben damit zunächst erhalten. Es kommt jedoch der
Zeitpunkt, an dem durch die körperlichen und kognitiven Einschränkungen ein eigen-
ständiges Leben in der eigenen Wohnung kaum noch möglich ist. Das Bild der starken
Mutter gerät ins Wanken, was sowohl für Hans Gobelt als auch seine Mutter schwierig
ist und sich für beide als große emotionale Herausforderung darstellt. „(…) Also das
mitzubekommen und zu sehen, wie sie sich eigentlich darum windet, es nicht zuzugestehen,
dass sie das vor ihrem Sohn zugestehen muss, nicht, wo sie eigentlich eine starke Mutter war,
das war für sie, ich glaube, sehr anstrengend, sehr emotional. Und für mich auch. Ich denke,
dass das mit die schwierigste Situation war, mich darauf einzulassen. (…)“ (Z: 219 – 222)
   Im Verlauf der sich weiter verschlechternden gesundheitlichen Situation der Mutter
kommt es zu einem Aushandlungsprozess zwischen Sohn und Mutter. Die Entschei-
dung in eine Pflegeeinrichtung zu gehen, wird nicht erzwungen und letztlich von ihr
selbst getroffen. „(…) Und ich glaube alles, dass diese Punkte sich selbst zu überlegen, war
am Ende die Entscheidung meiner Mutter zu sagen: „Jetzt bin ich hier, jetzt bleibe ich di-
rekt hier.“ (…).“ (Z: 240 – 241)
    Ein Unterstützungsbedarf für diesen Prozess wird aufgrund der Beziehungsstruktur
zwischen Sohn, Mutter und Schwester von Herrn Gobelt nicht formuliert: „Also ich
hätte keine Unterstützung gewünscht. Das war für mich eine Sache zwischen meiner Mut-
ter und mir oder zwischen uns Geschwistern mit meiner Mutter. Ich denke, das war etwas,
was uns in der Familie anging. (…)“ (Z.: 228 - 230)
   Die Entwicklung der Demenz versucht Hans Gobelt zunächst „aufzuhalten“ (Z.:
353), indem er seine Mutter in ihren Aussagen und Äußerungen korrigiert. Im weite-
ren Verlauf sucht er jedoch „Fachleute“ (Z.: 354) auf, durch deren Informationen er

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letztlich einen Umgang mit der Erkrankung seiner Mutter findet. Schließlich führt die
Demenz der Mutter dazu, dass diese zeitlich, örtlich, situativ und zur Person nicht
mehr orientiert ist. Ab diesem Zeitpunkt erfolgt die Sorge um die Mutter in „sehr enger
Abstimmung“ (Z.: 250) mit der Schwester, was von Herrn Gobelt als positiv bewertet
wird. Die Beziehung zur Schwester erhält dadurch eine neue Qualität und wird seitdem
als enger wahrgenommen.

4. Diskussion
Ziel der vorliegenden Untersuchung war, eine vertiefende Analyse der Pflegesituation
Hundertjähriger aus der Perspektive sorgender Töchter und Söhne, vor dem Hinter-
grund ihrer langen gemeinsamen Vergangenheit und Beziehung.
   Die Sorgesituationen von Töchtern und Söhnen hundertjähriger Eltern stellen sich
vielfältig dar und differieren sehr stark. Sorge findet unabhängig vom Pflegesetting so-
wohl im ambulanten als auch im stationären Bereich statt. Entsprechend breit ist auch
das Spektrum an Unterstützung durch die Befragten in den Bereichen der körpernahen
Pflege, der sozioemotionalen und instrumentellen Unterstützung und deckt sich mit
der bereits bestehenden Studienlage zu pflegenden Angehörigen (Gräßel et al. 2016).
   Zum Zeitpunkt des Interviews waren alle Töchter und Söhne bereits berentet, wo-
durch die Sorge um die hundertjährigen Eltern nicht mehr zu Vereinbarkeitskonflik-
ten mit beruflichen Interessen führt wie es bei jüngeren Pflegenden der Fall sein kann
(Schwinger et al. 2016; Gräßel et al. 2016). Die Kinder der Befragten sind bereits selbst
erwachsen, berufstätig und haben zum Teil selbst Kinder. Bei der Sorge um die Hun-
dertjährigen bieten sie zum Teil aufgrund der eigenen Lebensführung in nur sehr gerin-
gem Umfang ein Unterstützungspotenzial und werden von einigen befragten Töchtern
und Söhnen bewusst nicht in die Sorge einbezogen.
   Der Übergang in die Pflegebedürftigkeit wird als schleichender Prozess oder als ein
plötzlich eintretendes Ereignis beschrieben. Kennzeichnend ist, dass in der Regel die
Pflegebedürftigkeit erst sehr spät, ca. ab dem 90. Lebensjahr einsetzt. Hinweise auf ei-
nen späteren Übergang in die Pflegebedürftigkeit ergeben sich auch aus der Studie von
Gellert et al. (2018). Die quantitative, retrospektive Analyse von Leistungsdaten hun-
dertjährig Verstorbener zeigt bei der Mehrzahl der Hundertjährigen einen Versor-
gungswechsel ins Pflegeheim erst in den letzten Lebensjahren. Dieser war seltener mit
Ereignissen wie einer Demenz oder einem Krankenhausaufenthalt assoziiert als bei 80-
und 90-jährig Verstorbenen.
   Unter Berücksichtigung der gemeinsamen Vergangenheit zwischen Töchtern und
Söhnen und ihren hundertjährigen Müttern und Vätern wird deutlich, dass die Ausge-
staltung der Pflegesituation das Ergebnis eines sich über viele Jahre erstreckenden Pro-
zesses ist. Rollenzuschreibungen und Positionierungen innerhalb des familialen Bezie-
hungsgefüges bilden dabei eine Art biographische Hintergrundfolie für Entscheidun-
gen in diesem Prozess und bestimmen unter anderem das Maß an Sorge gegenüber dem

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Hundertjährigen, bevor eine solche überhaupt erforderlich ist. Dies deckt sich mit Er-
gebnissen zu pflegenden Töchtern von jüngeren Müttern (Geister 2005).
    Mit dem Einsetzen von kognitiven und körperlichen Einschränkungen der Hun-
dertjährigen kommt es zu Veränderungen von Rollen, die zudem mit einer Verände-
rung der relationalen Positionierung (Retkowski 2011) der beteiligten Personen inner-
halb des familialen Beziehungsgefüges verbunden sind. Im ersten Fallbeispiel zeigt
sich, dass der hundertjährige Vater körperliche Verluste zu kompensieren sucht, indem
er seiner Tochter die Rolle einer Pflegekraft zuschreibt und gleichzeitig bis zu seinem
Versterben an der Rolle als Patriarch festhält. Es wird deutlich, dass durch den Vater die
Beziehung auf Handlugen rund um die Pflege reduziert wird. In dem Bestreben von
Frau Selig sich abzugrenzen und als Tochter für ihre Eltern da zu sein, versucht sie – im
Sinne des „doing family“ – Familie herzustellen, was aber vor dem Hintergrund des fa-
milialen Beziehungsgefüges scheitert. Auch Gröning (2011) konstatiert in diesem Zu-
sammenhang, dass Polarisierungen zwischen den Pflegenden und pflegebedürftigen
Personen entstehen, wenn die Herstellungsleistung der Familie verleugnet, die Familie
als gegebene natürliche Ressource betrachtet wird und Familienmitglieder auf ihrem
Recht beharren, an dieser Ressource zu partizipieren. Mit dem Wandel von Rollen und
der Veränderung von Positionen können zudem ganz spezifische Belastungen verbun-
den sein. So führt im zweiten Fallbeispiel die Demenz der Mutter zu einem schmerz-
lichen Prozess für Mutter und Sohn. Die „Lücke“, die mit dem Rollenverlust der Mut-
ter verbunden ist, wird letztlich durch eine engere Beziehung zwischen Bruder und
Schwester geschlossen, so dass im Handeln zwischen Bruder und Schwester ein Her-
stellen von Familie („doing family“), trotz der massiven Veränderungen, vollzogen wer-
den kann. Rollen und Positionierungen werden in einem steten Diskurs zwischen den
Befragten und Hundertjährigen immer wieder neu ausgehandelt. Lettke (2002) be-
schreibt dies als einen unausweichlichen Prozess zwischen Kindern und Eltern, der
durch Annäherung und Ablösung sowie durch Beharren und Innovation gekennzeich-
net ist. Wie die Ergebnisse zeigen, kann dieser Prozess mit Konflikten einhergehen. Lü-
scher et al. (1998) beschreiben diesen mit dem Konzept der intergenerationalen Ambi-
valenz. Auch Tesch-Römer und Kollegen (2000) verweisen in diesem Kontext auf das
Konzept der intergenerationalen Ambivalenzen und darauf, dass Konflikte angesichts
von Pflegebedürftigkeit älterer Menschen besonders deutlich werden. Zudem doku-
mentiert sich am Fallbeispiel von Frau Selig, dass Rollen und Positionierungen inner-
halb familialer Strukturen relativ stabil sein können und sich bereits bestehende Kon-
flikte und Belastungen zusätzlich verstärken. So konstatieren auch Tesch-Römer et al.
(2009), dass wahrgenommene Belastungen insbesondere durch die Beziehung zum
Pflegebedürftigen beeinflusst werden und dass die aktuelle Sorgebeziehung wesentlich
durch die Qualität der Beziehung vor Eintritt der Pflegebedürftigkeit bestimmt wird.

5. Fazit
Zusammenfassend zeigen die Ergebnisse eine große Nähe und Übertragbarkeit von
Befunden aus der bisherigen Forschung zu pflegenden Angehörigen. Jedoch konnte

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die vorliegende Untersuchung zeigen, dass die Pflegesituationen und deren Belastun-
gen – vor dem Hintergrund der gemeinsamen Biografie – auch Ergebnis einer bis ins
sehr hohe Alter wirksamen familialen Rollen- und Beziehungsdynamik sein können.
Infolgedessen sollten diese auch im Kontext der gemeinsamen Vergangenheit betrach-
tet werden. Um differenzierte Angebote für Pflegende weiterentwickeln zu können, be-
darf es der weiteren Erforschung von Rollen und familialen Beziehungen vor dem
Hintergrund bisheriger Lebensgeschichten. Hier sollten dann auch die zu pflegenden
Eltern sowie Geschwister und weitere Familienangehörige einbezogen werden, um ein
umfassendes Bild familialer Beziehungen und deren Einfluss auf die Pflegesituation
abbilden zu können.

6. Limitationen
Im Fokus der Untersuchung stand vor allem die persönliche Dimension von familialen
Beziehungen. Die gesellschaftliche Komponente familialer Beziehungen wurde in die-
ser Untersuchung nicht näher beleuchtet (Lettke 2002) und bedarf weiterer For-
schung.
   Bei der vorliegenden Studie handelt es sich um eine Gelegenheitsstichprobe Ange-
höriger von Hundertjährigen. Aufgrund der zeitliche Begrenzung der Studie beziehen
sich die Ergebnisse nur auf eine kleine Stichprobe von Angehörigen Hundertjähriger.
Während für die meisten Themenbereiche (z. B. Belastungen durch die Pflege) eine
Datensättigung erzielt wurde, kann davon ausgegangen werden, dass in Hinblick auf
die Analyse familialer Beziehungen keine vollständige Datensättigung erreicht wurde.
Weitere Muster familialer Beziehungen sind demnach nicht ausgeschlossen.

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Arlett Wenzel2
arlett.wenzel@charite.de (Korrespondenz)

Simon Eggert1
simon.eggert@zqp.de

Dr. Petra v. Berenberg-Gossler2
p.berenberg@gmx.de

Laura-Maria Jordan2
laurajordan@web.de

Dr. Ralf Suhr1
ralf.suhr@zqp.de

Dr. Dagmar Dräger2
dagmar.draeger@charite.de

1 Zentrum für Qualität in der Pflege (ZQP), Reinhardtstraße 45, 10117 Berlin
2 Institut für Medizinische Soziologie und Rehabilitationswissenschaft, Virchowweg 22
  10117 Berlin

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