Die Thurgauer Kirche im Zweiten Weltkrieg - Evang TG
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Sonderdruck zum Jahresbericht 2001 der Evangelischen Landeskirche des Kantons Thurgau Die Thurgauer Kirche im Zweiten Weltkrieg Zusammenfassung "Prüfstein Weltkrieg", Lizentiatsarbeit von Beat Müller, Neukirch an der Thur, über die Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau zwischen Anpassung und Widerstand im Zweiten Weltkrieg
Aus der Geschichte lernen Geleitwort zu "Prüfstein Weltkrieg", Lizentiatsarbeit von Beat Müller, Neukirch an der Thur, über die Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau zwischen Anpassung und Widerstand im Zweiten Weltkrieg Der Kirchenrat möchte sich der Frage stellen: Wo stand die Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau während der Zeit des Zweiten Weltkrieges? Ein erster Durchgang durch die Kreisschreiben des Kirchenrates an die Pfarrämter von 1936 bis 1947 zeigte eigentlich sehr wenig Bezug zum Geschehen rund um die Schweiz herum oder zu dem was im Land geschah. Da kamen keine Aufrufe zur Hilfe an die ver- folgten Juden - oder dann nur für Judenchristen! Viel mehr Raum erhielt die Einführung des neuen Gesangbuchs oder Fragen der Teuerungszulage für die Pfarrer. Erst gegen Ende des Krieges kamen die Aufrufe des Evangelischen Hilfswerkes zur Unterstützung der notleidenden Frauen und Kinder im kriegszerstörten Europa. Kreisschreiben mit auch nur leicht politischem Gehalt wurden deutlich als Meldungen des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes deklariert. Der Krieg tauchte hauptsächlich auf im Zusammenhang mit der Rationierung und mit der Spezialzuteilung von Benzin für Pfarrer. Impressum Der Kirchenrat merkte bald: Da müssten wir anders dahinter. Wie andere Herausgeber Kantonalkirchen müssen wir jemanden damit beauftragen. Da ist uns das Glück in der Evangelischer Kirchenrat des Kantons Person des Theologiestudenten Beat Müller entgegengekommen, der um Bewilligung Thurgau fragte, ob er unsere Archive mit dieser Fragestellung durchgehen dürfe. Natürlich Bankplatz 5 stimmte der Kirchenrat freudig dieser Aussicht zu, „gratis“ zu einer solchen 8500 Frauenfeld Untersuchung zu kommen. Tel 052 721 78 56 Fax 052 721 27 51 kanzlei@evang-kirche-tg.ch Wir hofften einerseits, dass eine solche Durchsicht doch auch noch etwas mehr an Mut www.evang-kirche-tg.ch und klaren Worten zutage fördern könne. Wir mussten andererseits auch damit rechnen, dass offensichtlich werden könne, dass es auch in unserer Kirche Leute gab, die Redaktion Sympathien mit dem Nazitum hatten oder die sich aus Opportunismus anpassten. Ernst Ritzi, Aktuar des Kirchenrates Beides ist eingetroffen: Wir wollen die Schwächen unserer Geschichte nicht verschwei- Konzeption und Gestaltung gen und auch dazu stehen. „Die Wahrheit schmerzt, aber sie heilt.", hiess es in Südafrika Dorena Raggenbass Beringer, Kreuzlingen und ist auch bei uns wahr. Wir empfehlen diese Zusammenfassung der Arbeit von Beat Müller zur Lektüre und sollte die Studie später als Buch erscheinen, auch dieses. Wir Druck Huber+Co AG, 8500 Frauenfeld wollen aus der Geschichte lernen, die Gefahren erkennen, die sich aus der Nähe zur Macht ergeben, aber auch die Möglichkeiten sehen, die wir haben, in dieser Welt Zeichen des Verstehens und der Liebe zu setzen. Juni 2002 Frauenfeld, den 10. Mai 2002 Evangelischer Kirchenrat des Kantons Thurgau Titelbild Agonie Europas Wilhelm Lehmann (1884-1974)
Prüfstein Weltkrieg Klare Worte waren die Ausnahme Wie sich die Behörden und des neuen Kirchengesangbuches und mit "Prüfstein Weltkrieg" Institutionen der Evangelischen der Abwehr der in die Thurgauer Thurgauer Kirche im Zweiten Pfarrämter drängenden Frauen weit mehr Unter dem Titel "Prüfstein Weltkrieg", Weltkrieg verhalten haben beschäftigt gewesen zu sein, als mit der „...und dass wir nicht geschwiegen Not der Flüchtlinge." haben wie ein stummer Hund...“, hat der Klare Worte Theologiestudierende Beat Müller aus Neukirch an der Thur seine waren die Ausnahme Keine "eigenwilligen Lizentiatsarbeit über die Evangelische Sonderschritte" Landeskirche des Kantons Thurgau Das Verhalten und die Haltung der „zwischen Anpassung und Widerstand Evangelischen Thurgauer Kirche im Zu Beginn des Krieges erliess der im Zweiten Weltkrieg“ verfasst. Auf über Zweiten Weltkrieg schwankte zwischen Kirchenrat zur Frage von "Armee und 200 Seiten stellt Beat Müller das vorsichtiger Anpassung, einer abwartend- Kirche" ein Kreisschreiben an die Ergebnis eines umfangreichen höflichen Zurückhaltung und einzelnen Pfarrämter und Kirchenvorsteherschaften, Aktenstudiums dar. Einen besonders klaren unverblümten Worten. Zu diesem in dem er die Aufgaben der Kirche ein- interessanten Zugang zum Thema und Schluss kommt der Theologiestudierende grenzte: "Die Kirche muss sich in der zur Zeit vermitteln die sechs Beat Müller in seiner Lizentiatsarbeit gegenwärtig schweren Zeit besonders auf Lebensbilder, die Beat Müller über die "Prüfstein Weltkrieg". Dem Autor ist es die Verkündigung des Wortes Gottes kon- Pfarrer Ernst Gerhard Rüsch, gelungen, ein differenziertes Bild einer zentrieren und daneben aber auch bei der Schönholzerswilen; Hans Roduner, Kirche zu zeigen, die sich in einer schwe- allgemeinen Hilfeleistung gegenüber dem Romanshorn; Ernst Signer, Bürglen; und ren Zeit immer wieder die Frage stellt, wie Vaterland mitmachen." Weiter appellierte Walther Huber, Gachnang; verfasst hat. sie sich dem Staat und der Politik gegenü- der Kirchenrat an die innere Zu den vier Pfarrern kommen die beiden ber zu verhalten habe. Geschlossenheit, was sich durchaus auch historischen Portraits über Elisabeth auf die Meinungsäusserung bezog: "Es ist von Arburg, Frauenfeld, und Anna von Kirchenratsaktuar Ernst Ritzi unumgänglich, dass eine einheitliche Katharina (Didi) Blumer, Neukirch an Stellungnahme gegenüber den neuen der Thur. Für seine Arbeit erhielt Beat Aufgaben sichtbar und wirksam wird und Müller Zugang zu den Archivbeständen Dem Kirchenrat attestiert die Arbeit von eigenwillige Sonderschritte einzelner der Landeskirche und der Beat Müller vor allem zu Beginn des Gruppen oder Pfarrer im Blick auf das Kirchgemeinden. Nach dem erfolgrei- Krieges den politischen Behörden gegenü- Wohl des Ganzen unterbleiben." chen Studienabschluss an der ber eine "abwartend-höfliche Zurück- Universität Fribourg absolviert der Haltung". Der Autor vermutet, dass die Eine Hilfeleistung gegenüber dem Vater- junge Theologe derzeit sein pfarramtli- "Liaison" mit der politischen Führung des land sah der Kirchenrat im Beitrag der ches Praktikum in Neukirch an der Thur. Kantons wohl zu gross war, um zum Kirche zur geistigen Landesverteidigung. Zum Verhalten der Katholischen Beispiel in der Flüchtlingsfrage deutlich Im Vorwort seines Rechenschaftsberichts Landeskirche des Kantons Thurgau und Stellung zu beziehen. So zeuge die 1941/42 spricht er "von den Wellen des der Freikirchen im Zweiten Weltkrieg Auseinandersetzung des Thurgauer furchtbaren Geschehens", die sich bis in wurden bisher keine vergleichbaren Kirchenrates mit Flüchtlingspfarrer Paul den Thurgau werfen würden und davon, historischen Studien angestellt. Vogt "nicht gerade von menschlicher dass man sich damit auseinandersetzen Grossherzigkeit und politischer Weitsicht und Stellung beziehen müsse. Für die und schon gar nicht von radikal-christli- Kirche leitet der Kirchenrat den folgenden chem Engagement". Als "besonders stos- Auftrag ab: "Das bedeutet Kampf der gläu- send" wird das "unwürdige Feilschen" um bigen Persönlichkeit für das Gute und die Zahl der allenfalls aufzunehmenden gegen das Böse, in der Nähe und in der Flüchtlinge vermerkt. Offenbar stand die Weite. Die Kirche hat gegenüber den ver- Flüchtlingsfrage für den Kirchenrat nicht gifteten Einflüssen die Seele des Einzelnen zu oberst auf der Traktandenliste: "Der und des Volkes gesund und stark, diesel- Kirchenrat scheint in den Kriegsjahren mit be den härteren Anforderungen des Diskussionen über Freinachtsbe- Lebens - und wenn es sein muss auch den willigungen und vorzeitigen Konfir- schwersten Entscheidungen gewachsen - mationen, der Sorge um die Einführung zu machen." 3
Kräfteringen im Kirchenrat Kräften für eine unabhängige Eidge- nossenschaft auf christlicher Grundlage zu Aufgrund seines umfangreichen Akten- kämpfen. studiums kommt Beat Müller zum Schluss, dass in diesen schwierigen Kriegsjahren im Kirchenrat nicht einfach Frühes Schuldbekenntnis eine einheitliche Meinung geherrscht habe: "Innerhalb des Kirchenrates waren Positiv wird in der Arbeit vermerkt, dass zweifellos verschiedene Positionen vertre- der Kirchenrat relativ früh von eigenen ten, die wohl manchmal zu einem Fehlern, Versagen und Schuld sprach. Im Holzschnitt Wilhelm Lehmann 1942 Kräfteringen führten, das die oberste Rechenschaftsbericht 1944/45 des Kirchenbehörde letztlich aber doch ent- Kirchenrates wird die Schuldfrage unum- anhand seiner Kommentare in der scheidungslahm und etwas unbeweglich wunden angesprochen: "Möge den Thurgauer Zeitung nachzeichnen. So werden liess." Kirchen, auch unserer thurgauischen schrieb er in seinem Kommentar zur Der Kirchenrat wurde in der Kriegszeit von Landeskirche, die Kraft gegeben sein, umstrittenen Rede von Bundesrat Pilet- Fürsprech Dr. Robert Keller, Frauenfeld, eigene Schuld zu erkennen." In einem Golaz im Sommer 1940 folgendes: " Der präsidiert. Beruflich war er als Staat- Kreisschreiben, das in den letzten Kriegs- Krieg ist fortgerückt und der Friede ist sanwalt tätig. Als Mitglied des Vorstandes tagen in Europa am 2. Mai 1945 herausge- unterwegs. Das Schicksal hat uns die des Schweizerischen Evangelischen geben wurde, wies der Kirchenrat darauf Prüfung auf unseren Todesmut erspart. Kirchenbundes SEK wirkte Keller auch hin, dass die Dankgottesdienste mit Blick Wir werden die Waffen niederlegen." über die Grenzen der Thurgauer Kirche auf das Ende des Krieges unter keinen hinaus. Umständen der Gefahr erliegen sollten, in Der Thurgauer Pfarrer und Kirchenrat Jean Siegesfeiern auszuarten: "Das unsern Hotz hat nach dem Erscheinen dieses Nachbarvölkern auferlegte unermessliche Artikels jedenfalls sein Abonnement der Widerstand Leid, das vor uns liegende Chaos und der Thurgauer Zeitung gekündigt. aus christlicher Überzeugung drohende Hunger nötigen uns, zum Dank für das Ende der Feindseligkeiten jenseits Unter den Mitgliedern des damaligen der Grenzen vor allem die Bitte um die Grosse Gegensätze Kirchenrates findet sich auch der damals rechte evangelische Haltung hinzuzufü- 40-jährige spätere Kirchenratspräsident gen. Das Wort der Kirche darf auch nicht An der ersten ordentlichen Synodalsitzung Jean Hotz, der in den Kriegsjahren als eigenes Versagen und eigene Schuld nach Kriegsausbruch am 11. Dezember Pfarrer in Berlingen wirkte. Er war Mitglied während des Krieges ausser acht lassen, die 1939 wies Edwin Altwegg in seiner der Aktion Nationaler Widerstand. Im unsere Beugung und Umkehr erheischen." Ansprache zwar hin auf den "Ernst unserer Gespräch mit Autor Beat Müller hielt der in Zeit, wo Unrecht, Gewalt und Gottlosigkeit Frauenfeld im Ruhestand Lebende rück- alle Dämme einzubrechen drohten und wo blickend fest: "Aus meiner Überzeugung Die Rolle des Synodalpräsidenten die Sonne edler Menschlichkeit und für die Werte des Christentums habe ich Rechtlichkeit verdunkelt" sei, doch ging es mich für die Mitgliedschaft in der Aktion Die Zurückhaltung des Kirchenrates wurde seiner Meinung nach darum, die rechte Nationaler Widerstand entschieden." von der Führung der Synode weitgehend Haltung einzunehmen und nicht zu rich- geteilt. Aufgrund seines eingehenden ten. Die Losung heisse, sich nicht einzu- Die Aktion Nationaler Widerstand war als Aktenstudiums stellt Beat Müller fest, dass mischen, sondern "hinhorchen, wachen Reaktion auf die Rede von Bundesrat die Synode unter dem Präsidium von und sich bereit halten", damit man nicht Marcel Pilet-Golaz vom 25. Juni 1940 zu Edwin Altwegg mit ihrer "Politik der vor- unvorbereitet dastehe, "falls die Prüfung verstehen. Die bundesrätliche Rede wurde sichtigen Anpassung" zusätzlich für einige über uns kommen sollte". als Anpassung an die Gegebenheiten, die negative Glanzlichter sorgte. Edwin nach der Niederlage Frankreichs im Altwegg präsidierte die Synode von 1939 Diese Äusserungen standen in einem Sommer 1940 bestanden, aufgefasst. Die bis 1943. 1940 war der ehemalige Spannungsfeld zur Predigt, die Pfarrer Mitglieder der Aktion Nationaler Wider- Staatsschreiber Chefredaktor der Thur- Hans Roduner aus Romanshorn zuvor im stand verpflichteten sich mit ihrer gauer Zeitung geworden. Altweggs Hal- Synodegottesdienst gehalten hatte. Er Unterschrift, wenn nötig Widerstand bis tung dem nationalsozialistischen Regime hatte die Zuhörer aufgefordert, sich zum Letzten zu leisten und mit ganzen in Deutschland gegenüber lässt sich bewusst zu machen, "dass der Teufel die 4
Prüfstein Weltkrieg Klare Worte waren die Ausnahme Welt derart am laufenden Band mit weltge- Synodalkommission zeigte Mut schichtlichen Grossverbrechen in Atem" Kritische Haltung halte. Dem Protokoll der Synode vom 22. Neben kritischen Einzelstimmen war es die des Kirchenboten September 1941 lässt sich entnehmen, damalige Synodalkommission, die in der dass die Haltung der Synodeführung nicht Synode bei der Behandlung der jährlichen Durch eine kritische und klare Haltung überall auf Zustimmung stiess. So wurde Rechenschaftsberichte des Kirchenrates zeichnete sich auch die Redaktion des gefordert, die Synode sollte "viel weniger die Zurückhaltung der damaligen Kirche Evangelischen Kirchenboten für den den Geschäften als der Vertiefung und und ihrer Organe immer wieder in Frage Kanton Thurgau aus. Der als Stärkung im evangelischen Glauben" dienen. stellte. Beat Müller attestiert der Chefredaktor wirkende Pfarrer Jakob Kommission, die die Funktion der heuti- Oettli, der in der Kriegszeit in Matzingen Synodalpräsident Altwegg berief sich in gen Geschäftsprüfungskommission hatte, wirkte, war Mitglied der Aktion seiner Rechtfertigung auf das Organi- sie habe sich in den Kriegsjahren "erfri- Nationaler Widerstand und hatte sich sationsgesetz der Landeskirche (Kirchen- schend oft und mutig" zu Wort gemeldet: früh gegen den Nationalsozialismus verfassung), das die Aufgabe der Synode "Sie vermag zu gefallen durch klare, positioniert. So war bereits in der im Wesentlichen auf organisatorische und unverblümte Worte mit theologischem Dezemberausgabe 1938 im verwaltungstechnische Belange beschrän- Tiefgang." Unter anderem wies die Kirchenboten zu lesen: "Wir betreiben ke". Für Altwegg stand fest, dass die Synodalkommission darauf hin, dass die im Kirchenboten keine Staatenpolitik. Synode in ihrer damaligen Form kaum Flüchtlingspolitik der Ort sei, an dem die Aber wir müssen es aussprechen: anders arbeiten konnte, als sie dies seit Kirche das lebendige Evangelium bezeu- Nationalsozialismus ist zugleich jeher getan habe. Er war überzeugt davon, gen sollte. Die Wirkung dieser klaren Totalitätsanspruch des Staates, ist dass sich die Kirche in ihren politischen Worte war durch die Aufgaben und Bedrückung, Erdrückung der Kirche Äusserungen absoluter Zurückhaltung zu Befugnisse der Kommission begrenzt. Christi". Immer wieder wurde im befleissigen habe. Kirchenboten auf die Situation der "Unmenschlichkeiten" verurteilt Kirche in Deutschland hingewiesen. Unmittelbar nach Kriegbeginn wurde Ab 1941 nahm die Synodalkommission zum Beispiel ein Predigtwort des von Engagierte Einzelstimmen den kirchenrätlichen Rechenschaftsbericht den Nazis in Haft gesetzten Pfarrers jeweils zum Anlass, zur Aufgabe der Martin Niemöller abgedruckt. Ab 1940 Mit dem Wechsel im Präsidium der Kirche in der vom Krieg geschüttelten Welt war der Kirchenbote dann der Zensur Synode von Edwin Altwegg zu Pfarrer Stellung zu nehmen. Am 21. September unterworfen. Im Juni 1940 musste er Theodor Sieber im Oktober 1943 stellt 1942 gab sie zum Rechenschaftsbericht eine scharfe Rüge einstecken. Nach Beat Müller in seiner Arbeit einen anderen 1941/42 des Kirchenrates eine Erklärung einer Intervention der Zensurbehörden Ton fest. An der Synodalversammlung ab, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen verzichtete Hauptredaktor Pfarrer Jakob vom 17. Oktober 1944 ergänzt Pfarrer übrig liess: "Die Kommission hat Oettli am 22. Juni 1940 freiwillig auf die Sieber sein Eröffnungswort mit einigen beschlossen, diese Zeilen hervorzuheben Drucklegung eines Artikels. Bei seinen Thesen aus einem Vortrag des Schweizer und im Sinne einer Kundgebung zu Nachforschungen im Bundesarchiv in Theologen Karl Barth, der sich durch seine erklären, dass die thurgauische Landes- Bern musste Beat Müller leider feststel- Verbindungen zur Bekennenden Kirche in kirche nur mit tiefer Beugung und Busse len, dass der verbotene Artikel nicht Deutschland und sein Engagement gegen auf all diese Ereignisse blicken kann. Mit mehr auffindbar ist. den Nationalsozialismus verdient machte aller Entschiedenheit verurteilt sie alle und wiederholt auch mit der Schweizer Unmenschlichkeiten und Greuel des Immer wieder wurde im Kirchenboten Pressezensur in Konflikt geriet. Krieges, die rücksichtslose Deportation auch der Schweizer Theologe Karl Barth von Frauen, Kindern und Greisen. Wir zitiert, der sich unter anderem vehement Diese mehr als zurückhaltende Grund- erheben im Namen Jesu Christi ein lautes gegen die Auffassung wandte, die Kirche haltung der Synode wurde aber immer Nein gegen die täglichen Rechtsbrüche, habe sich um die rein geistlichen, jen- wieder durch einzelne Synodale durchbro- wodurch unschuldige Menschen ohne seitigen Belange zu kümmern und sich chen, die pointiert und lautstark auf den Gerichtsverfahren hingerichtet oder als nicht in die wirtschaftlichen, politischen "evangeliumsgetreuen Auftrag der Kirche" Geisel gefangen und nachher ermordet und erzieherischen Fragen einzumi- pochten". werden. Als evangelische Synode beken- schen. nen wir uns auf dem Boden der Liebe Christi zu stehen." 5
Synode und Flüchtlingspfarrer Paul lingsfrage äusserte: "Heute beschäftigen Vogt setzten den Kirchenrat wegen uns die Juden, in einigen Monaten wohl seiner zögerlichen Haltung in der andere Flüchtlinge aus Deutschland. Flüchtlingsfrage unter Druck Unsere kantonale Regierung hat die strikte Weisung erteilt, alle Flüchtlinge abzuwei- "Vorher ist nie eine sen. Wir haben keine politischen und keine jüdischen Flüchtlinge im Kanton. Mag man Beschwerde in Bern befehlen und beschliessen, was eingegangen" man will, unser Kanton wird keine Flüchtlinge zulassen." An der Synode vom 6. Oktober 1942 Der Thurgauer Polizeikommandant Ernst erzwang der Arboner Pfarrer Fritz Rohrer Haudenschild und auch der zuständige eine Diskussion über die restriktive Regierungsrat Paul Altwegg neigten in der Thurgauer Aufnahmepraxis für Flüchtlinge. Flüchtlingsfrage zu einer äusserst harten Die Synode erhob seinen Antrag gegen den Haltung. Das ging so weit, dass sogar Willen des Kirchenrates zum Beschluss und Heinrich Rothmund, Chef der Polizei- verlangte, der Kanton solle in Sachen abteilung des Bundes, vernehmen liess, Aufenthaltsbewilligung für Flüchtlinge solche "extremen Haltungen wie jene des keine Haltung einnehmen, die von derjeni- Kantons Thurgau" sollten vermieden wer- gen der dabei führenden Kantone abweiche. den. Der Kirchenrat tat sich schwer mit dem Auftrag. Dem Flüchtlingspfarrer des Kirchenbundes gab er zu verstehen, dass gegen die Thurgauer Fremdenpolizei vorher Nur bei finanziellen Garantien nie eine Beschwerde eingegangen sei. Die Haltung des Kirchenrates änderte sich erst Aufgrund verschiedenster historischer am 7. November 1944, als er Nachforschungen muss festgestellt werden, Flüchtlingspfarrer Paul Vogt mitteilte, dass dass der Kanton Thurgau nur äusserst er eine Aktion zur Werbung von Freiplätzen wenige Flüchtlinge aufnahm. Eine für Flüchtlinge unternehmen wolle. Aufnahme war davon abhängig, ob die Flüchtlinge selbst oder Dritte finanzielle von Kirchenratsaktuar Ernst Ritzi Garantien übernehmen konnten. So ver- langte und erhielt der Kanton Thurgau 1941 Der Kanton Thurgau war schon vor für 142 Flüchtlinge Garantien in der Höhe Kriegsausbruch durch seine restriktive von 468'000 Franken. So erteilte beispiels- Flüchtlingspolitik bekannt. So sahen sich weise die Stadt Frauenfeld der Emigrantin das Eidgenössische Justiz- und Polizei- Elisabeth M. nur eine Toleranzbewilligung departement und die Bundesanwaltschaft unter dem Vorbehalt, dass sie eine stolze zu einer Intervention gegen die harte Kaution von 10'000 Franken leiste, damit Thurgauer Haltung veranlasst, als die kan- sie der öffentlichen Hand keinesfalls zur tonalen Behörden 1933 sieben politische Last falle. Da Elisabeth M. als Köchin arbei- Flüchtlinge dazu aufforderten, das tete, hätte sie Jahre benötigt, um die Kantonsgebiet zu verlassen. Dies geschah Auflage erfüllen zu können. wohl aus Sorge, die andern Kantone könn- ten dem Thurgauer Beispiel folgen und die Auch als der Kanton Thurgau dann ab 1944 Aufnahme von Flüchtlingen ebenfalls rigo- im Zuge der Lockerung der ros verweigern. In seiner Arbeit zitiert Beat Flüchtlingspolitik vermehrt Flüchtlinge auf- Müller den damaligen Thurgauer Polizei- nahm, sprach er mit Vorliebe sogenannte kommandanten Ernst Haudenschild, der Toleranzbewilligungen aus, was einem sich am 17. August 1938 an der kantonalen vorübergehenden Aufenthalt zur Polizeidirektorenkonferenz zur Flücht- Vorbereitung der Weiterreise gleichkam. 6
Prüfstein Weltkrieg Vorher ist nie eine Beschwerde eingegangen Diese Spezialbewilligung zwang die Flücht- Anlass des eidgenössischen Bettags, an zu vermeiden. Frey liess aber nicht locker. linge, sich alle drei Monate bei der dem die Kirche, des schweren Amtes Er bat den Kirchenrat, den ehrengerichtli- Fremdenpolizei zu melden und dabei gedenkend, das unsere Landesväter zu tra- chen Entscheid in Sachen Angriffe der Gebühren zu entrichten. gen haben, sonst für sie betet." Thurgauer Zeitung auf ihn und den Evangelischen Pressedienst zu veröffentli- Altwegg geht in seiner Reaktion so weit, chen. Der Kirchenrat bleibt bei seiner "Soweit immer möglich dass er Arthur Frey der böswilligen Haltung und er verzichtete auch auf die zur Regierung halten" Verleumdung bezichtigt und dem anfänglich vorgesehene Veröffentlichung Schweizerischen Evangelischen Kirchen- im Thurgauer Kirchenboten. Der Entscheid Die Thurgauer Kirche tat sich schwer damit, bund den Rat erteilt, dem von ihm einge- wurde den Kirchgemeinden in einem ver- die von den kantonalen Behörden verfolgte richteten Pressedienst sorgfältigere traulichen Schreiben mitgeteilt. Die restriktive Flüchtlingspolitik kritisch zu hin- Instruktionen über die Grenzen zu erteilen, Kirchenvorsteherschaft Frauenfeld reagierte terfragen. Durch seine Doppelrolle als darauf mit dem folgenden Beschluss: "Was Chefredaktor der Thurgauer Zeitung und als wir für eine Stellung einnehmen, mag erse- Präsident der Synode ist die Haltung von hen werden aus dem Beschluss: Das Edwin Altwegg gut dokumentiert. Die Schreiben des Kirchenrates geht ad acta. Thurgauer Zeitung stand klar hinter dem Der Beitrag an den Evangelischen vom Bundesrat im Sommer 1942 gefassten Pressedienst wird ab 1944 gestrichen." Entscheid zur Schliessung der Grenze. Die Dagegen spricht die Kirchenvorsteherschaft Haltung entsprach dem publizistischen Neukirch an der Thur in Bezug auf den Grundverständnis der damaligen Thurgauer Evangelischen Pressedienst von einem Zeitung, das Altwegg in seinen Lebens- "verdienstvollen Unternehmen", welches erinnerungen so umschrieb: "Wir an der durch das Vorgehen der Thurgauer Zeitung Thurgauer Zeitung hielten dafür, es sei in keinen Schaden erleiden sollte. so kritischen Zeiten solange und soweit immer möglich zur Regierung zu halten, die unser Vertrauen geniesse." Thurgau gegen Freiplatzaktion von Flüchtlingspfarrer Paul Vogt Bundesrat Pilet-Golaz verteidigt Der Evangelische Kirchenrat wurde von Heftig reagierte Altwegg auf die Kritik, die Holzschnitt Wilhelm Lehmann 1934 aussen wiederholt auf die harte Haltung der Arthur Frey, Chefredaktor des Schwei- Thurgauer Behörden in der Flüchtlingsfrage zerischen Evangelischen Pressedienstes, angesprochen. Insbesondere Flüchtlings- an der Politik der geschlossenen Grenzen die ihm gesetzt sind. Die Auseinander- pfarrer Paul Vogt machte immer wieder übte. Zu Bundesrat Pilet-Golaz meinte Frey setzung hatte ein juristisches Nachspiel. unumwunden auf diese Tatsache aufmerk- im Pressedienst: "dass dieser Bundesrat Frey zog Altwegg wegen Verleumdung vor sam. Besonders abweisend zeigte sich der dann rede, wenn er glaube man müsse den das journalistische Ehrengericht und erhielt Thurgau bei der Freiplatzaktion. Mächtigen dieser Welt die Referenz erwei- Recht: "Der Entscheid des Gerichts fiel ein- Flüchtlingspfarrer Paul Vogt schlug dabei sen; aber Schweigen gebiete, wenn uner- stimmig zugunsten von Dr. Arthur Frey aus die private Aufnahme von Flüchtlingen vor, hörtes Unrecht in der Welt geschehe." Die und erteilte diesem volle Genugtuung." für die das Leben in den Lagern nicht Antwort von Chefredaktor Altwegg in der zumutbar war. Besonders Kinder unter 16 Thurgauer Zeitung fiel massiv aus: "Eine Jahren, Mütter mit Kindern, Betagte, sehr widerwärtige Sache dagegen ist es, Evangelischer Pressedienst Behinderte und Kranke. Privatpersonen wenn ein Beauftragter der kirchlichen unter Beschuss konnten durch die monatliche Zahlung von Behörden des Landes die Bibel und die 120 Franken einen Beitrag an die Aktion Reformation auslegt und mit Hilfe einer Als Frey darauf den Thurgauer Kirchenrat leisten. Einige Kantone, darunter der falschen Auslegung das Vertrauen in die anfragte, ob es nicht angezeigt wäre, den Kanton Thurgau, weigerten sich jedoch, christliche, die moralische und die vater- ehrengerichtlichen Entscheid an die thur- Flüchtlingen, die bereits eine Unterkunft bei ländische Standfestigkeit von Mitgliedern gauische Synode weiterzuleiten, wurde dar- Einwohnern des Kantons gefunden hatten, der Regierung untergräbt! Und das bei auf verzichtet, um öffentliche Diskussionen eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen. 7
die Vermutung geäussert wird, die "heute im Thurgau aufgenommenen Emigranten Streitpunkt militäri- seien bloss deshalb aufgenommen wor- den, weil ihr Geldsack schwer genug sei". scher Vorunterricht Fremdenpolizei Politische Äusserungen von Pfarrern wur- versuchte Kirchenrat zu beruhigen den von der Politik als unzulässige Holzschnitt Wilhelm Lehmann Einmischung der Kirche empfunden. Eine Auf eine Intervention von Pfarrer Fritz heftige öffentliche Diskussion entbrannte Rohrer, Arbon, der sich im Namen des kan- im Herbst 1940, als sich nicht wenige Kirchenrat lehnte ab Thurgauer Pfarrer gegen das sogenannte tonalen Flüchtlingskomitees an den Kirchenrat wandte, trat der Kirchenrat in Vorunterrichtsgesetz engagierten. Sie Als die Schweiz im August 1942 die sahen sich durch das neue Gesetz zu sehr Kontakt mit den kantonalen Polizei- Grenzen für die vertriebenen Menschen an die Kriegsschulung der deutschen behörden. Pfarrer Rohrer hatte an den gänzlich schloss, wandte sich der Kinder erinnert. Die eigentliche Kirchenrat klare Erwartungen: "Im Schweizerische Evangelische Kirchenbund Kontroverse um das politische Vordergrund steht die Frage, wie die frem- SEK an die kantonalkirchlichen Behörden Engagement des Pfarrerstandes wurde denpolizeiliche Praxis in unserem Kanton und forderte sie auf, sich bei den kantona- durch einen Artikel der Thurgauer Zeitung geändert werden könnte. Wenn die len Regierungen für eine entgegenkom- in Gang gesetzt, in dem die Pfarrer dazu Regierung und Fremdenpolizei nicht von mende Aufnahmepraxis für Flüchtlinge angehalten wurden, sich nicht in die sich aus einen anderen Kurs einschlagen einzusetzen. Aufgrund der heftigen Politik einzumischen. 27 Thurgauer und niemand sonst die Initiative dazu Reaktionen auf die Schliessung der Pfarrer reagierten auf die Belehrung der ergreift, dann ist es heilige Pflicht unserer Grenzen machte der Bund darauf die Thurgauer Zeitung mit einer offenen evangelischen Kirche, bei den genannten Aufnahme von Flüchtlingen von der Erklärung, in der sie zwar das Anliegen der Behörden in diesem Sinne vorstellig zu Aufnahmebereitschaft der Kantone abhän- Thurgauer Zeitung, "dass sich die Kirche werden." gig. Da sich die Kantone damit aber offen- in politischen Fragen einer gewissen bar weiter schwer taten, wandte sich Zurückhaltung befleissige", teilten, aber Mit einem Brief versuchte die Fremden- Flüchtlingspfarrer Paul Vogt am 24. betonten, der Kirche sei aber andererseits polizei die aufgescheuchte kirchliche September 1942 in einem dringlichen ein Wächteramt aufgetragen, welches sich Behörde zu beruhigen. Der Kirchenrat hielt Hilferuf an die Präsidenten der Kirchenräte auf die Fragen des öffentlichen Lebens in seiner Antwort an Pfarrer Fritz Rohrer der Kantone Zürich, Aargau und Thurgau erstrecken müsse. Die Thurgauer Zeitung fest, dass die von Flüchtlingspfarrer Paul und bat um tatkräftige Unterstützung bei liess die offene Erklärung nicht unbeant- Vogt aufgestellten Behauptungen gegenü- der Bereitstellung von 300 Freiplätzen: "Es wortet. Sie bezeichnete eine Theologie, die ber dem Kanton Thurgau in verschiedenen ist mir nur möglich, zu Handen der eid- sich in die Kämpfe um eine konkrete poli- Punkten bestritten würden. genössischen Fremdenpolizei 300 Plätze tische Frage mische, als "lebensunwahr", anzubieten, wenn ich an die Pfarrämter und wies auf die schwere Verantwortung und Kirchenpflegen der Gemeinden gelan- hin: "Ob nun die Vorlage angenommen Erzwungene Diskussion gen darf, mit der Bitte, zu prüfen, ob ein- oder verworfen wird, so befürchten wir an der Synode vom 6. Oktober 1942 zelne Gemeinden nicht zwei bis drei sehr, man werde den Theologen, die wider Personen übernehmen könnten, ihnen die guten Ratschläge der führenden Pfarrer Rohrer hatte in seinem Brief auch Kost und Logis besorgen und gewisser- Kirchenmänner das Gesetz bekämpfen, eine Diskussion über die thurgauische massen das Patronat übernehmen würden. noch lange vorhalten, sie hätten durch Flüchtlingspolitik an der bevorstehenden Eile ist leider geboten. Die Zahl der theologische Verstiegenheit das Volk in Synode vom 6. Oktober 1942 angeregt. Flüchtlinge wächst mit jedem Tag." sehr ernster Zeit auf einen falschen Weg Kirchenratspräsident Dr. Robert Keller stand dem Vorhaben skeptisch gegenüber: gewiesen". Am Tag darauf erhielten die Im Gegensatz zu den Schwesterkirchen in Pfarrer in der Thurgauer Zeitung zudem "Angesichts der gegenwärtigen Situation Zürich und Aargau lehnte der Thurgauer den Widerspruch eines Amtskollegen, der und zudem mit Rücksicht auf die starke Kirchenrat das Anliegen von Pfarrer Vogt sich klar dafür aussprach, der Jugend das Belastung der Tagesordnung der Synode ab. Im Kirchenratsprotokoll ist dabei aber Rüstzeug zu geben, das sie brauche, um zu mit anderen Geschäften erscheint wohl eine eine kritische Distanz zu den staatlichen "starken, markigen, wetterfesten Eidge- allgemeine Flüchtlingsdebatte kaum als Behörden des Kantons zu erkennen, indem nossen" heranzuwachsen. erwünscht. Vielleicht gibt es vor den 8
Prüfstein Weltkrieg Vorher ist nie eine Beschwerde eingegangen Verhandlungen der Synode noch Gelegen- ablehnende Haltung der Thurgauer Sinneswandel im Jahre 1944 heit, darüber mündlich zu sprechen." Regierung und der Fremdenpolizei, die "zahlreiche Anhaltspunkte" habe, dass sie Die kirchenrätliche Skepsis gegenüber der Trotz der ablehnenden Haltung des dabei auch vom Willen des Volkes getragen Flüchtlingsarbeit von Pfarrer Vogt scheint Kirchenratspräsidenten brachte Pfarrer Fritz sei. Kirchenratspräsident Dr. Robert Keller sich erst im Jahre 1944 allmählich gelöst Rohrer sein Anliegen am 6. Oktober 1942 rechtfertigte die nach wie vor ablehnende zu haben. Am 7. November 1944 teilte der vor der versammelten Synode vor und stell- Haltung des Kirchenrates mit dem Hinweis, Kirchenrat Pfarrer Vogt mit, dass er eine te folgenden Antrag: "Unser Kanton soll die Arbeit der thurgauischen Fremden- Aktion zur Werbung von Freiplätzen und seinen vollen, uneingeschränkten Anteil an polizei sei bisher noch nie beanstandet Patronaten für die Freiplatzaktion unter- jeder Art Hilfeleistung für die Flüchtlinge worden: "Was Ihre Angriffe und Ihre nehmen wolle. übernehmen und in Sachen Aufenthaltsbe- Aussetzungen gegenüber der thurgaui- willigung für Flüchtlinge keine Haltung ein- schen Fremdenpolizei anbetrifft, so bedau- nehmen, die von derjenigen der dabei re ich, feststellen zu müssen, dass weder führenden Kantone abweicht." Der Antrag von Ihnen noch von irgend einem Damals und heute wurde von der Synode zum Beschluss Flüchtlingskomitee bei unserem Kirchen- Wer sich die Frage stellt, wie weit die erhoben. rate vorher je eine Beschwerde eingegan- Kirche als Institution damals das gen ist." Verhalten von Politik und Flüchtlingspfarrer Vogt In seinem Rechenschaftsbericht 1942/43 Gesellschaft beeinflusst hat und wie nennt Beispiele stellt der Kirchenrat die Geschehnisse so ihre Möglichkeiten und Grenzen dar: "Angesichts einiger an die Adresse waren, muss sich bewusst sein, dass Aufgrund dieses klaren Auftrags der unseres Kantons gerichteter Vorwürfe die Kirche damals in der Öffentlich- Synode wurde Flüchtlingspfarrer Paul Vogt wegen zu grosser Zurückhaltung in der keit anders wahrgenommen wurde. vom Kirchenrat gebeten, konkrete Aufnahme von Flüchtlingen muss betont Der Wandel, der sich in den letzten Erfahrungen aus dem Kanton Thurgau bei- werden, dass der Kirchenrat es nicht unter- 60 Jahren vollzogen hat, wird zum zubringen. In seiner Antwort zitiert Pfarrer liess, mit den Polizeibehörden in Ver- Beispiel darin deutlich, dass die Vogt unter anderem aus einem Antwort- bindung zu treten, dass es aber anderer- Landi 1939 in Zürich noch "im brief, den Verwandte eines mittellosen seits angezeigt wäre, wenn er durch die Namen des Herrn" eröffnet wurde. An Flüchtlings auf ihr Begehren um zentralen Flüchtlingsstellen immer die nöti- der Eröffnung der Expo 2002 wären Ermässigung der Kautionssumme von Ernst gen Orientierungen erhielte. Die staatlichen solche Worte nicht (mehr) denkbar Haudenschild, Chef der Thurgauer Behörden wünschen in dieser Angelegen- gewesen. Fremdenpolizei, erhielten: "Von einer heit mit einer bestimmten, verantwortlichen Reduktion kann keine Rede sein. Im kirchlichen Instanz zu verkehren, als welche Zum Gewicht der Kirchen in der poli- Gegenteil muss diese Kaution bestehen sie den Kirchenrat ansehen." tischen Diskussion stellt Beat Müller bleiben, bis der absolute Nachweis gelei- in seiner Arbeit fest, dass es damals ungleich grösser war als heute: "Die stet wird, dass der Obgenannte die Schweiz Kirchenrat wollte Vollmacht des Schweiz berief sich in den entgültig verlassen hat und nicht wieder Flüchtlingspfarrers "eingrenzen" Kriegsjahren, wohl nicht zuletzt zur zurückkehrt. Übrigens wären wir sehr froh, Abgrenzung gegenüber totalitären wenn Sie die Veranlassung nehmen wür- Das Verhältnis zu Flüchtlingspfarrer Paul Ideologien, stark auf ihre christliche den, diesen uns aufgedrungenen Ausländer Vogt blieb belastet. Als der Kirchenrat im Tradition und damit auf die Kirchen." baldmöglichst aus der Schweiz herauszu- Juli 1943 erfuhr, dass in Frauenfeld von der Aus heutiger Sicht könnte man aus bringen, sodass wir endlich von den immer Kanzel aus zur Meldung von Freiplätzen für kirchlicher Sicht beklagen, dass ein wiederkehrenden Eingaben verschont blie- Flüchtlinge aufgerufen worden war, beauf- politisches Wort der Kirchen nicht ben." tragte der Kirchenrat seinen Präsidenten, mehr so viel Gewicht hat. Dem steht der gleichzeitig im Vorstand des als Chance gegenüber, dass die Kirchenrat: Schweizerischen Evangelischen Kirchen- Kirchen (eigentlich) weniger politi- "Bisher nie beanstandet worden" bundes SEK wirkte, auf eine klarere sche Rücksichten nehmen müssten. Eingrenzung der Vollmacht von Flücht- Eine nächste Generation wird in 60 In Bezug auf die von Pfarrer Vogt angereg- lingspfarrer Paul Vogt zu verlangen. Weiter Jahren einmal beurteilen, was wir te Thurgauer Beteiligung an der Frei- sollte der Kirchenrat über die von Pfarrer aus unserer Situation und unseren platzaktion hielt der Kirchenrat an seiner Vogt in Thurgauer Kirchgemeinden unter- Möglichkeiten gemacht haben. Absage fest. Dabei stützte er sich auf die nommenen Aktivitäten orientiert werden. 9
Aus heutiger Sicht in den Osterstau am Gotthard stürzen, für In seiner Lizentiatsarbeit wünscht sich die Sommerferien klimaschädigende Flug- Beat Müller eine politische Kirche, die "Prüfstein Weltkrieg" reisen buchen und so den Druck auf die sich nicht um den Schmutz der Welt her- natürlichen Lebensgrundlagen erhöhen. umdrückt. Zur Aufarbeitung einer so hoch- Zur Lizentiatsarbeit von Beat Müller Aber wir könnten auch anders. Als brisanten Zeit, wie sie es 1933-45 war, Stimmberechtigte eröffnet sich uns zusätz- gehört nicht nur das Aneinanderreihen Zur Zeit und zur Unzeit licher Handlungsspielraum, wenn etwa historischer Fakten, sondern auch die demnächst über eine Verschärfung der Gesinnung und Tat. Müller greift damit auf „Der Handlungsspielraum wäre grosser Flüchtlingspolitik und über das humanitä- eine Erkenntnis zurück, die Leonhard gewesen als man allgemein wahrhaben re Werk der Solidaritätsstiftung abzustim- Ragaz bereits vor dem Zweiten Weltkrieg wollte" - so lautete der Grundtenor nach men ist." als Eingriffe ins Zeitgeschehen bezeichnet der Veröffentlichung des Bergier-Berichts. hat. Er sieht uns Christen auf der Seite der Und der Kommentator im Tagesanzeiger Diesem Gedankengang (von nicht-kirchli- Verachteten. Diese Solidarität mit den vom 25. März 2002 belässt es dann nicht cher Seite) ist nicht mehr viel beizufügen. Schwachen als ein Akt der Nachfolge bei der Beurteilung des Handlungs- Höchstens dies: Der Handlungsspielraum Christi erinnert an die Befreiungs- spielraums von damals, sondern fährt - kann nur dann richtig genutzt werden, theologie. Liebestätigkeit allein genügt meines Erachtens völlig zu Recht - mit wenn zuvor der gedankliche und sprachli- nicht. Die Unterdrückten und Ausge- dem Aufzeigen des Handlungsspielraums che Spielraum ausgenutzt worden ist. Jede grenzten wollen keine Almosen, sondern von heute fort. Das ist für mich auch nach Handlung kommt aus einer bestimmten Gerechtigkeit. dem Lesen von Beat Müllers Haltung heraus. Und hier ist die Kirche Sozialpolitik ist wieder ein Reizwort Lizentiatsarbeit die entscheidende besonders gefordert. Timotheus wird von geworden. Die Kirche hat nicht mehr viel Aufgabe. Weniger die Frage, was die Paulus ermahnt, zum Wort zu stehen „zur dazu zu sagen. Sie soll sich auf das Generation von damals allenfalls falsch Zeit und zur Unzeit“ (2. Timotheus 4,2); in Eigentliche zurückziehen, auf die Ver- gemacht hat, soll uns beschäftigen, als der lateinischen Übersetzung heisst es kündigung des Evangeliums. Was soll's? vielmehr die Frage, was spätere hier: „importune-opportune“ – eine deutli- Die grössten Dinge werden durch einzelne Generationen allenfalls uns einmal vor- che Absage an allen Opportunismus. Menschen getan, nicht durch Organi- werfen könnten. Glücklicherweise hat es innerhalb und sationen. Wir sind nach dem Lesen von ausserhalb der Kirche neben viel Versagen Müllers fundierten Aussagen zur Stellung Bruno Vanoni schreibt im genannten und Feigheit auch immer wieder Mut und der Evangelischen Landeskirche des Zeitungskommentar: „Wenn es aber in der Zivilcourage gegeben. Und glücklicher- Kantons Thurgau während des genannten prekären Nazi-Zeit Handlungsspielräume weise haben wir die Möglichkeit, diese zu Zeitraums nicht aus der Verantwortung gab, so gibt es sie erst recht heute. Wer üben ausserhalb eines „Prüfsteins“ entlassen, sondern aufgefordert, mutig mit der Bergier-Kommission zu Recht kri- Weltkrieg. Farbe zu bekennen. tisch nach dem „Wissen und Handeln" der Kriegsgeneration fragt, muss redlicher- Pfarrer Wilfried Bührer*, Felben Manchmal bedarf es eigener Schlüs- weise den gleichen Massstab auch bei der selerlebnisse, um die grösseren Zusam- Gegenwart ansetzen. Wir wissen heute menhänge aufzuspüren, die in unserem mehr über die Not der Flüchtlinge, das Gesinnung und Tat Leben zu Konsequenzen in der Umsetzung Unrecht in der Welt und die apokalypti- drängen. Beat Müller lädt uns ein, in der schen Gefahren, die ihr nunmehr vor allem Immer drängender stellt sich in der letzten persönlichen Vergangenheit Erfahrungen durch Umweltzerstörung und Klimawandel Zeit weltweit die Frage: Wie gehen wir mit aufzudecken, die nicht wertfrei als abgetan drohen... dem um, was uns fremd ist? Können wir es gelten, sondern emotional aufhellen, was uns noch leisten auszugrenzen, uns mit das Evangelium eigentlich meint, hier und Als Konsumenten können wir weiterhin Vorurteilen zu begnügen oder es aus jetzt! gedankenlos Billigprodukte einkaufen, die unserm Gesichtskreis zu verdrängen? Die zweifelhaften Geschäften mit heutigen politischen Ereignisse der letzten Monate Pfarrer Walter von Arburg*, Bürglen Unrechtsregimes zu verdanken sind. Wir haben uns eines andern belehrt. Das können all die Spendenaufrufe, die uns Reden von senkrechten Schweizern Hilfswerke in den Briefkasten legen las- bekommt einen schalen Beigeschmack, sen, unbeeindruckt in den Papierkorb wer- wenn wir uns an die Berichte der fen. Wir können uns rein zum Vergnügen Kommission Bergier erinnern. 10
Prüfstein Weltkrieg Aus heutiger Sicht Prophetische Stimme Niemand konnte saubere Hände Autoren behalten Wem gegenüber ist die Kirche eigentlich *Pfarrer Wilfried Bührer verantwortlich? Ihren eigenen Grund- Von den vier kantonalen Einzel- ist Gemeindepfarrer in Felben und Mitglied sätzen? Dem Kirchenvolk? Der Politik? darstellungen über die reformierten des Evangelischen Kirchenrates des Gott? - Diese Frage war schon damals Kirchen im Spannungsfeld des Zweiten Kantons Thurgau ungeklärt. Deshalb beherbergte die Weltkriegs zeichnet sich die Arbeit des Thurgauer Kirche überzeugte Kriegsgegner Thurgauers Beat Müller durch besonders *Pfarrer Walter und mutige Antifaschisten ebenso wie sorgfältiges Recherchieren aus. Liegt es von Arburg war während Jahren Leiter des Diakonenhauses Greifensee. Seine Mutter ängstliche Anpasser und versteckte an der Geschichtsschreibung oder an der Elisabeth von Arburg engagierte sich in der Frontisten. Gewiss, uns steht ein Urteil Geschichte selbst, dass dabei der Thurgau Kriegs- und Nachkriegszeit für Flüchtlinge nicht zu. Doch sei es erlaubt, der Kirche in eher schlecht wegkommt? Eine Antwort und Vertriebene. ihre Zukunft hinein einen Wunsch mitzu- fällt nicht schwer. Im Thurgau gab es geben: Kirche soll immer prophetische tatsächlich mehr Sympathien für den *Beat Müller Stimme sein! Sie hat sich nicht anzupas- Nationalsozialismus als etwa in St. Gallen. hat sein Theologiestudium an der sen an die Mächtigen dieser Welt und die Den Flüchtlingen gegenüber benahm sich Universität Fribourg mit der Lizentiatsarbeit Kräfte der Politik. Sie kann es sich erlau- Baselstadt humaner als Bundesbern, der "Prüfstein Weltkrieg", „...und dass wir nicht ben einem „Höheren" verpflichtet zu sein Thurgau dagegen härter. Auf den geschwiegen haben wie ein stummer Hund...“, Die Evangelische Landeskirche und ein Ideal, gleich der Bergpredigt Jesu, Thurgauer Kirchenrat, der misstrauisch des Kantons Thurgau zwischen Anpassung auszurufen. Dies gilt für alle Fragen, wel- die Arbeit von Flüchtlingspfarrer Paul Vogt und Widerstand im Zweiten Weltkrieg, im che das Zusammenleben von uns verfolgte, passt die Devise: Je näher bei Herbst 2001 erfolgreich abgeschlossen. Menschen stellt. Eine Politik der höflichen der politischen Führung, desto ferner von Zurückhaltung steht einer prophetischen Gottes Wort und von christlicher *Walter Wolf Stimme nicht an. Eine Kirche, welche sich Nächstenliebe. Aber in Müllers Arbeit ist Publizist und Historiker. Er ist unter zur Welt und ihren lebenszerstörenden kommt auch viel Positives zur Darstellung. anderem durch seine Dissertation und wei- Mächten nicht äussert, verkümmert zu Der Einsatz von mutigen, hilfsbereiten tere Publikationen über das Verhalten der einem kraftlosen Geflüster und verliert im Thurgauerinnen und Thurgauern gibt Schaffhauser Kirche im Zweiten Weltkrieg bekannt geworden. Stimmengewirr unserer Tage zu Recht ihre Anlass zu Freude und Genugtuung. Existenzberechtigung. Jesus ruft die Beat Müller beschreibt nicht nur, er nimmt Christen nicht dazu auf, sich möglichst auch Stellung. Er beurteilt Menschen, Zusammenfassung und Redaktion gut auf die Gesellschaft einzustimmen, Behörden und kirchliche Gremien, aber er sondern er ermutigt sie, das Salz der Erde verurteilt nicht. Behutsam fühlt er sich in Ernst Ritzi, Redaktor, Aktuar des zu bleiben. Die Kirche ist gesandt nach der die damalige Zeit ein, ihre „grosse Evangelischen Kirchenrates des Kantons „Stimme von oben" zu hören und mit Bedrängnis" und ihre „schwierigen Thurgau, Sulgen Courage einzutreten für das Leben. Ohne Umstände". Unvermeidlich kommt er auf Zweifel wird das Ideal hier auf Erden nicht Schuld zu sprechen. Bei der Zitierung des zu erreichen sein und die Kirche wird im Arboner Pfarrers Andreas Gantenbein, Illustrationen Einzelfall wohl oft in seelsorgerlicher wonach im Zweiten Weltkrieg niemand Wilhelm Lehmann, 1884-1974. Lebte und Weisheit entscheiden müssen. Dies soll saubere Hände behalten konnte, blitzt der wirkte als Kunstschaffender in der die Kirche aber nicht daran hindern, ihre Gedanke auf, dass es letztlich nicht davon Kobesenmühle bei Niederhelfenschwil. In prophetische Stimme mutig zu erheben. abhängt, wer Schuld hat und wer nicht. seinen Figuren und Holzschnitten hat er Wer weiss, ob die Stimme der Kirche nicht „Bei der Schuld im geschichtlichen Sinn sich immer wieder mit dem Zeitgeschehen einmal wieder vor denselben geht es (vielmehr) darum, wer sie über- und mit dem christlichen Glauben ausein- Herausforderungen steht wie im Zweiten nimmt. Sie ist die enge Pforte, durch die andergesetzt. Weltkrieg. Vielleicht ist sie es ja heute der Weg nach vorne führt." (Hans Joachim Die Illustrationen wurden entnommen aus: schon. Iwand) - Robert Lejeune, Wilhelm Lehmann, St.Gallen 1962 (2. Aufl.) 71. -Holzschnitte, Wilhelm Lehmann Beat Müller*, Neukirch an der Thur Walter Wolf*, Schaffhausen Stiftung Wilhelm Lehmann, 1991 11
Prüfstein Weltkrieg
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