Die Thurgauer Kirche im Zweiten Weltkrieg - Evang TG

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Sonderdruck          zum Jahresbericht 2001
                      der Evangelischen Landeskirche          des Kantons Thurgau

Die Thurgauer Kirche
im Zweiten Weltkrieg
Zusammenfassung "Prüfstein Weltkrieg", Lizentiatsarbeit von
                         Beat Müller, Neukirch an der Thur,
   über die Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau
 zwischen Anpassung und Widerstand im Zweiten Weltkrieg
Aus der Geschichte lernen
                                             Geleitwort zu "Prüfstein Weltkrieg", Lizentiatsarbeit von Beat Müller, Neukirch an der
                                             Thur, über die Evangelische Landeskirche des Kantons Thurgau zwischen Anpassung
                                             und Widerstand im Zweiten Weltkrieg

                                             Der Kirchenrat möchte sich der Frage stellen: Wo stand die Evangelische Landeskirche
                                             des Kantons Thurgau während der Zeit des Zweiten Weltkrieges?

                                             Ein erster Durchgang durch die Kreisschreiben des Kirchenrates an die Pfarrämter von
                                             1936 bis 1947 zeigte eigentlich sehr wenig Bezug zum Geschehen rund um die Schweiz
                                             herum oder zu dem was im Land geschah. Da kamen keine Aufrufe zur Hilfe an die ver-
                                             folgten Juden - oder dann nur für Judenchristen! Viel mehr Raum erhielt die Einführung
                                             des neuen Gesangbuchs oder Fragen der Teuerungszulage für die Pfarrer. Erst gegen
                                             Ende des Krieges kamen die Aufrufe des Evangelischen Hilfswerkes zur Unterstützung
                                             der notleidenden Frauen und Kinder im kriegszerstörten Europa. Kreisschreiben mit
                                             auch nur leicht politischem Gehalt wurden deutlich als Meldungen des Schweizerischen
                                             Evangelischen Kirchenbundes deklariert. Der Krieg tauchte hauptsächlich auf im
                                             Zusammenhang mit der Rationierung und mit der Spezialzuteilung von Benzin für
                                             Pfarrer.
                              Impressum
                                             Der Kirchenrat merkte bald: Da müssten wir anders dahinter. Wie andere
                            Herausgeber      Kantonalkirchen müssen wir jemanden damit beauftragen. Da ist uns das Glück in der
   Evangelischer Kirchenrat des Kantons      Person des Theologiestudenten Beat Müller entgegengekommen, der um Bewilligung
                                Thurgau      fragte, ob er unsere Archive mit dieser Fragestellung durchgehen dürfe. Natürlich
                             Bankplatz 5     stimmte der Kirchenrat freudig dieser Aussicht zu, „gratis“ zu einer solchen
                        8500 Frauenfeld      Untersuchung zu kommen.
                     Tel 052 721 78 56
                     Fax 052 721 27 51
            kanzlei@evang-kirche-tg.ch       Wir hofften einerseits, dass eine solche Durchsicht doch auch noch etwas mehr an Mut
                www.evang-kirche-tg.ch       und klaren Worten zutage fördern könne. Wir mussten andererseits auch damit rechnen,
                                             dass offensichtlich werden könne, dass es auch in unserer Kirche Leute gab, die
                                 Redaktion   Sympathien mit dem Nazitum hatten oder die sich aus Opportunismus anpassten.
      Ernst Ritzi, Aktuar des Kirchenrates
                                             Beides ist eingetroffen: Wir wollen die Schwächen unserer Geschichte nicht verschwei-
             Konzeption und Gestaltung       gen und auch dazu stehen. „Die Wahrheit schmerzt, aber sie heilt.", hiess es in Südafrika
Dorena Raggenbass Beringer, Kreuzlingen      und ist auch bei uns wahr. Wir empfehlen diese Zusammenfassung der Arbeit von Beat
                                             Müller zur Lektüre und sollte die Studie später als Buch erscheinen, auch dieses. Wir
                               Druck
         Huber+Co AG, 8500 Frauenfeld        wollen aus der Geschichte lernen, die Gefahren erkennen, die sich aus der Nähe zur
                                             Macht ergeben, aber auch die Möglichkeiten sehen, die wir haben, in dieser Welt
                                             Zeichen des Verstehens und der Liebe zu setzen.
                               Juni 2002
                                             Frauenfeld, den 10. Mai 2002

                                             Evangelischer Kirchenrat des Kantons Thurgau

                             Titelbild
                      Agonie Europas
         Wilhelm Lehmann (1884-1974)
Prüfstein Weltkrieg    Klare Worte waren
                                                                                                      die Ausnahme

                                           Wie sich die Behörden und                     des neuen Kirchengesangbuches und mit
"Prüfstein Weltkrieg"                      Institutionen der Evangelischen               der Abwehr der in die Thurgauer
                                           Thurgauer Kirche im Zweiten                   Pfarrämter drängenden Frauen weit mehr
Unter dem Titel "Prüfstein Weltkrieg",     Weltkrieg verhalten haben                     beschäftigt gewesen zu sein, als mit der
„...und dass wir nicht geschwiegen                                                       Not der Flüchtlinge."
haben wie ein stummer Hund...“, hat der    Klare Worte
Theologiestudierende Beat Müller aus
Neukirch an der Thur seine                 waren die Ausnahme                            Keine "eigenwilligen
Lizentiatsarbeit über die Evangelische                                                   Sonderschritte"
Landeskirche des Kantons Thurgau           Das Verhalten und die Haltung der
„zwischen Anpassung und Widerstand         Evangelischen Thurgauer Kirche im             Zu Beginn des Krieges erliess der
im Zweiten Weltkrieg“ verfasst. Auf über   Zweiten Weltkrieg schwankte zwischen          Kirchenrat zur Frage von "Armee und
200 Seiten stellt Beat Müller das          vorsichtiger Anpassung, einer abwartend-      Kirche" ein Kreisschreiben an die
Ergebnis       eines    umfangreichen      höflichen Zurückhaltung und einzelnen         Pfarrämter und Kirchenvorsteherschaften,
Aktenstudiums dar. Einen besonders         klaren unverblümten Worten. Zu diesem         in dem er die Aufgaben der Kirche ein-
interessanten Zugang zum Thema und         Schluss kommt der Theologiestudierende        grenzte: "Die Kirche muss sich in der
zur Zeit vermitteln die sechs              Beat Müller in seiner Lizentiatsarbeit        gegenwärtig schweren Zeit besonders auf
Lebensbilder, die Beat Müller über die     "Prüfstein Weltkrieg". Dem Autor ist es       die Verkündigung des Wortes Gottes kon-
Pfarrer     Ernst    Gerhard     Rüsch,    gelungen, ein differenziertes Bild einer      zentrieren und daneben aber auch bei der
Schönholzerswilen; Hans Roduner,           Kirche zu zeigen, die sich in einer schwe-    allgemeinen Hilfeleistung gegenüber dem
Romanshorn; Ernst Signer, Bürglen; und     ren Zeit immer wieder die Frage stellt, wie   Vaterland mitmachen." Weiter appellierte
Walther Huber, Gachnang; verfasst hat.     sie sich dem Staat und der Politik gegenü-    der     Kirchenrat    an    die   innere
Zu den vier Pfarrern kommen die beiden     ber zu verhalten habe.                        Geschlossenheit, was sich durchaus auch
historischen Portraits über Elisabeth                                                    auf die Meinungsäusserung bezog: "Es ist
von Arburg, Frauenfeld, und Anna           von Kirchenratsaktuar Ernst Ritzi             unumgänglich, dass eine einheitliche
Katharina (Didi) Blumer, Neukirch an                                                     Stellungnahme gegenüber den neuen
der Thur. Für seine Arbeit erhielt Beat                                                  Aufgaben sichtbar und wirksam wird und
Müller Zugang zu den Archivbeständen       Dem Kirchenrat attestiert die Arbeit von      eigenwillige Sonderschritte einzelner
der      Landeskirche      und       der   Beat Müller vor allem zu Beginn des           Gruppen oder Pfarrer im Blick auf das
Kirchgemeinden. Nach dem erfolgrei-        Krieges den politischen Behörden gegenü-      Wohl des Ganzen unterbleiben."
chen Studienabschluss an der               ber eine "abwartend-höfliche Zurück-
Universität Fribourg absolviert der        Haltung". Der Autor vermutet, dass die        Eine Hilfeleistung gegenüber dem Vater-
junge Theologe derzeit sein pfarramtli-    "Liaison" mit der politischen Führung des     land sah der Kirchenrat im Beitrag der
ches Praktikum in Neukirch an der Thur.    Kantons wohl zu gross war, um zum             Kirche zur geistigen Landesverteidigung.
Zum Verhalten der Katholischen             Beispiel in der Flüchtlingsfrage deutlich     Im Vorwort seines Rechenschaftsberichts
Landeskirche des Kantons Thurgau und       Stellung zu beziehen. So zeuge die            1941/42 spricht er "von den Wellen des
der Freikirchen im Zweiten Weltkrieg       Auseinandersetzung des Thurgauer              furchtbaren Geschehens", die sich bis in
wurden bisher keine vergleichbaren         Kirchenrates mit Flüchtlingspfarrer Paul      den Thurgau werfen würden und davon,
historischen Studien angestellt.           Vogt "nicht gerade von menschlicher           dass man sich damit auseinandersetzen
                                           Grossherzigkeit und politischer Weitsicht     und Stellung beziehen müsse. Für die
                                           und schon gar nicht von radikal-christli-     Kirche leitet der Kirchenrat den folgenden
                                           chem Engagement". Als "besonders stos-        Auftrag ab: "Das bedeutet Kampf der gläu-
                                           send" wird das "unwürdige Feilschen" um       bigen Persönlichkeit für das Gute und
                                           die Zahl der allenfalls aufzunehmenden        gegen das Böse, in der Nähe und in der
                                           Flüchtlinge vermerkt. Offenbar stand die      Weite. Die Kirche hat gegenüber den ver-
                                           Flüchtlingsfrage für den Kirchenrat nicht     gifteten Einflüssen die Seele des Einzelnen
                                           zu oberst auf der Traktandenliste: "Der       und des Volkes gesund und stark, diesel-
                                           Kirchenrat scheint in den Kriegsjahren mit    be den härteren Anforderungen des
                                           Diskussionen       über     Freinachtsbe-     Lebens - und wenn es sein muss auch den
                                           willigungen und vorzeitigen Konfir-           schwersten Entscheidungen gewachsen -
                                           mationen, der Sorge um die Einführung         zu machen."

                                                                                                 3
Kräfteringen im Kirchenrat                     Kräften für eine unabhängige Eidge-
                                               nossenschaft auf christlicher Grundlage zu
Aufgrund seines umfangreichen Akten-           kämpfen.
studiums kommt Beat Müller zum
Schluss, dass in diesen schwierigen
Kriegsjahren im Kirchenrat nicht einfach       Frühes Schuldbekenntnis
eine einheitliche Meinung geherrscht
habe: "Innerhalb des Kirchenrates waren        Positiv wird in der Arbeit vermerkt, dass
zweifellos verschiedene Positionen vertre-     der Kirchenrat relativ früh von eigenen
ten, die wohl manchmal zu einem                Fehlern, Versagen und Schuld sprach. Im       Holzschnitt Wilhelm Lehmann 1942
Kräfteringen führten, das die oberste          Rechenschaftsbericht 1944/45 des
Kirchenbehörde letztlich aber doch ent-        Kirchenrates wird die Schuldfrage unum-       anhand seiner Kommentare in der
scheidungslahm und etwas unbeweglich           wunden angesprochen: "Möge den                Thurgauer Zeitung nachzeichnen. So
werden liess."                                 Kirchen, auch unserer thurgauischen           schrieb er in seinem Kommentar zur
Der Kirchenrat wurde in der Kriegszeit von     Landeskirche, die Kraft gegeben sein,         umstrittenen Rede von Bundesrat Pilet-
Fürsprech Dr. Robert Keller, Frauenfeld,       eigene Schuld zu erkennen." In einem          Golaz im Sommer 1940 folgendes: " Der
präsidiert. Beruflich war er als Staat-        Kreisschreiben, das in den letzten Kriegs-    Krieg ist fortgerückt und der Friede ist
sanwalt tätig. Als Mitglied des Vorstandes     tagen in Europa am 2. Mai 1945 herausge-      unterwegs. Das Schicksal hat uns die
des Schweizerischen Evangelischen              geben wurde, wies der Kirchenrat darauf       Prüfung auf unseren Todesmut erspart.
Kirchenbundes SEK wirkte Keller auch           hin, dass die Dankgottesdienste mit Blick     Wir werden die Waffen niederlegen."
über die Grenzen der Thurgauer Kirche          auf das Ende des Krieges unter keinen
hinaus.                                        Umständen der Gefahr erliegen sollten, in     Der Thurgauer Pfarrer und Kirchenrat Jean
                                               Siegesfeiern auszuarten: "Das unsern          Hotz hat nach dem Erscheinen dieses
                                               Nachbarvölkern auferlegte unermessliche       Artikels jedenfalls sein Abonnement der
Widerstand                                     Leid, das vor uns liegende Chaos und der      Thurgauer Zeitung gekündigt.
aus christlicher Überzeugung                   drohende Hunger nötigen uns, zum Dank
                                               für das Ende der Feindseligkeiten jenseits
Unter den Mitgliedern des damaligen            der Grenzen vor allem die Bitte um die        Grosse Gegensätze
Kirchenrates findet sich auch der damals       rechte evangelische Haltung hinzuzufü-
40-jährige spätere Kirchenratspräsident        gen. Das Wort der Kirche darf auch nicht      An der ersten ordentlichen Synodalsitzung
Jean Hotz, der in den Kriegsjahren als         eigenes Versagen und eigene Schuld            nach Kriegsausbruch am 11. Dezember
Pfarrer in Berlingen wirkte. Er war Mitglied   während des Krieges ausser acht lassen, die   1939 wies Edwin Altwegg in seiner
der Aktion Nationaler Widerstand. Im           unsere Beugung und Umkehr erheischen."        Ansprache zwar hin auf den "Ernst unserer
Gespräch mit Autor Beat Müller hielt der in                                                  Zeit, wo Unrecht, Gewalt und Gottlosigkeit
Frauenfeld im Ruhestand Lebende rück-                                                        alle Dämme einzubrechen drohten und wo
blickend fest: "Aus meiner Überzeugung         Die Rolle des Synodalpräsidenten              die Sonne edler Menschlichkeit und
für die Werte des Christentums habe ich                                                      Rechtlichkeit verdunkelt" sei, doch ging es
mich für die Mitgliedschaft in der Aktion      Die Zurückhaltung des Kirchenrates wurde      seiner Meinung nach darum, die rechte
Nationaler Widerstand entschieden."            von der Führung der Synode weitgehend         Haltung einzunehmen und nicht zu rich-
                                               geteilt. Aufgrund seines eingehenden          ten. Die Losung heisse, sich nicht einzu-
Die Aktion Nationaler Widerstand war als       Aktenstudiums stellt Beat Müller fest, dass   mischen, sondern "hinhorchen, wachen
Reaktion auf die Rede von Bundesrat            die Synode unter dem Präsidium von            und sich bereit halten", damit man nicht
Marcel Pilet-Golaz vom 25. Juni 1940 zu        Edwin Altwegg mit ihrer "Politik der vor-     unvorbereitet dastehe, "falls die Prüfung
verstehen. Die bundesrätliche Rede wurde       sichtigen Anpassung" zusätzlich für einige    über uns kommen sollte".
als Anpassung an die Gegebenheiten, die        negative Glanzlichter sorgte. Edwin
nach der Niederlage Frankreichs im             Altwegg präsidierte die Synode von 1939       Diese Äusserungen standen in einem
Sommer 1940 bestanden, aufgefasst. Die         bis 1943. 1940 war der ehemalige              Spannungsfeld zur Predigt, die Pfarrer
Mitglieder der Aktion Nationaler Wider-        Staatsschreiber Chefredaktor der Thur-        Hans Roduner aus Romanshorn zuvor im
stand verpflichteten sich mit ihrer            gauer Zeitung geworden. Altweggs Hal-         Synodegottesdienst gehalten hatte. Er
Unterschrift, wenn nötig Widerstand bis        tung dem nationalsozialistischen Regime       hatte die Zuhörer aufgefordert, sich
zum Letzten zu leisten und mit ganzen          in Deutschland gegenüber lässt sich           bewusst zu machen, "dass der Teufel die

                                 4
Prüfstein Weltkrieg      Klare Worte waren
                                                                                                      die Ausnahme

Welt derart am laufenden Band mit weltge-    Synodalkommission zeigte Mut
schichtlichen Grossverbrechen in Atem"                                                    Kritische Haltung
halte. Dem Protokoll der Synode vom 22.      Neben kritischen Einzelstimmen war es die    des Kirchenboten
September 1941 lässt sich entnehmen,         damalige Synodalkommission, die in der
dass die Haltung der Synodeführung nicht     Synode bei der Behandlung der jährlichen     Durch eine kritische und klare Haltung
überall auf Zustimmung stiess. So wurde      Rechenschaftsberichte des Kirchenrates       zeichnete sich auch die Redaktion des
gefordert, die Synode sollte "viel weniger   die Zurückhaltung der damaligen Kirche       Evangelischen Kirchenboten für den
den Geschäften als der Vertiefung und        und ihrer Organe immer wieder in Frage       Kanton Thurgau aus. Der als
Stärkung im evangelischen Glauben" dienen.   stellte. Beat Müller attestiert der          Chefredaktor wirkende Pfarrer Jakob
                                             Kommission, die die Funktion der heuti-      Oettli, der in der Kriegszeit in Matzingen
Synodalpräsident Altwegg berief sich in      gen Geschäftsprüfungskommission hatte,       wirkte, war Mitglied der Aktion
seiner Rechtfertigung auf das Organi-        sie habe sich in den Kriegsjahren "erfri-    Nationaler Widerstand und hatte sich
sationsgesetz der Landeskirche (Kirchen-     schend oft und mutig" zu Wort gemeldet:      früh gegen den Nationalsozialismus
verfassung), das die Aufgabe der Synode      "Sie vermag zu gefallen durch klare,         positioniert. So war bereits in der
im Wesentlichen auf organisatorische und     unverblümte Worte mit theologischem          Dezemberausgabe            1938         im
verwaltungstechnische Belange beschrän-      Tiefgang." Unter anderem wies die            Kirchenboten zu lesen: "Wir betreiben
ke". Für Altwegg stand fest, dass die        Synodalkommission darauf hin, dass die       im Kirchenboten keine Staatenpolitik.
Synode in ihrer damaligen Form kaum          Flüchtlingspolitik der Ort sei, an dem die   Aber wir müssen es aussprechen:
anders arbeiten konnte, als sie dies seit    Kirche das lebendige Evangelium bezeu-       Nationalsozialismus ist zugleich
jeher getan habe. Er war überzeugt davon,    gen sollte. Die Wirkung dieser klaren        Totalitätsanspruch des Staates, ist
dass sich die Kirche in ihren politischen    Worte war durch die Aufgaben und             Bedrückung, Erdrückung der Kirche
Äusserungen absoluter Zurückhaltung zu       Befugnisse der Kommission begrenzt.          Christi". Immer wieder wurde im
befleissigen habe.                                                                        Kirchenboten auf die Situation der
                                             "Unmenschlichkeiten" verurteilt              Kirche in Deutschland hingewiesen.
                                                                                          Unmittelbar nach Kriegbeginn wurde
                                             Ab 1941 nahm die Synodalkommission           zum Beispiel ein Predigtwort des von
Engagierte Einzelstimmen                     den kirchenrätlichen Rechenschaftsbericht    den Nazis in Haft gesetzten Pfarrers
                                             jeweils zum Anlass, zur Aufgabe der          Martin Niemöller abgedruckt. Ab 1940
Mit dem Wechsel im Präsidium der             Kirche in der vom Krieg geschüttelten Welt   war der Kirchenbote dann der Zensur
Synode von Edwin Altwegg zu Pfarrer          Stellung zu nehmen. Am 21. September         unterworfen. Im Juni 1940 musste er
Theodor Sieber im Oktober 1943 stellt        1942 gab sie zum Rechenschaftsbericht        eine scharfe Rüge einstecken. Nach
Beat Müller in seiner Arbeit einen anderen   1941/42 des Kirchenrates eine Erklärung      einer Intervention der Zensurbehörden
Ton fest. An der Synodalversammlung          ab, die an Deutlichkeit nichts zu wünschen   verzichtete Hauptredaktor Pfarrer Jakob
vom 17. Oktober 1944 ergänzt Pfarrer         übrig liess: "Die Kommission hat             Oettli am 22. Juni 1940 freiwillig auf die
Sieber sein Eröffnungswort mit einigen       beschlossen, diese Zeilen hervorzuheben      Drucklegung eines Artikels. Bei seinen
Thesen aus einem Vortrag des Schweizer       und im Sinne einer Kundgebung zu             Nachforschungen im Bundesarchiv in
Theologen Karl Barth, der sich durch seine   erklären, dass die thurgauische Landes-      Bern musste Beat Müller leider feststel-
Verbindungen zur Bekennenden Kirche in       kirche nur mit tiefer Beugung und Busse      len, dass der verbotene Artikel nicht
Deutschland und sein Engagement gegen        auf all diese Ereignisse blicken kann. Mit   mehr auffindbar ist.
den Nationalsozialismus verdient machte      aller Entschiedenheit verurteilt sie alle
und wiederholt auch mit der Schweizer        Unmenschlichkeiten und Greuel des            Immer wieder wurde im Kirchenboten
Pressezensur in Konflikt geriet.             Krieges, die rücksichtslose Deportation      auch der Schweizer Theologe Karl Barth
                                             von Frauen, Kindern und Greisen. Wir         zitiert, der sich unter anderem vehement
Diese mehr als zurückhaltende Grund-         erheben im Namen Jesu Christi ein lautes     gegen die Auffassung wandte, die Kirche
haltung der Synode wurde aber immer          Nein gegen die täglichen Rechtsbrüche,       habe sich um die rein geistlichen, jen-
wieder durch einzelne Synodale durchbro-     wodurch unschuldige Menschen ohne            seitigen Belange zu kümmern und sich
chen, die pointiert und lautstark auf den    Gerichtsverfahren hingerichtet oder als      nicht in die wirtschaftlichen, politischen
"evangeliumsgetreuen Auftrag der Kirche"     Geisel gefangen und nachher ermordet         und erzieherischen Fragen einzumi-
pochten".                                    werden. Als evangelische Synode beken-       schen.
                                             nen wir uns auf dem Boden der Liebe
                                             Christi zu stehen."

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Synode und Flüchtlingspfarrer Paul              lingsfrage äusserte: "Heute beschäftigen
Vogt setzten den Kirchenrat wegen               uns die Juden, in einigen Monaten wohl
seiner zögerlichen Haltung in der               andere Flüchtlinge aus Deutschland.
Flüchtlingsfrage unter Druck                    Unsere kantonale Regierung hat die strikte
                                                Weisung erteilt, alle Flüchtlinge abzuwei-
"Vorher ist nie eine                            sen. Wir haben keine politischen und keine
                                                jüdischen Flüchtlinge im Kanton. Mag man
Beschwerde                                      in Bern befehlen und beschliessen, was
eingegangen"                                    man will, unser Kanton wird keine
                                                Flüchtlinge zulassen."
An der Synode vom 6. Oktober 1942               Der Thurgauer Polizeikommandant Ernst
erzwang der Arboner Pfarrer Fritz Rohrer        Haudenschild und auch der zuständige
eine Diskussion über die restriktive            Regierungsrat Paul Altwegg neigten in der
Thurgauer Aufnahmepraxis für Flüchtlinge.       Flüchtlingsfrage zu einer äusserst harten
Die Synode erhob seinen Antrag gegen den        Haltung. Das ging so weit, dass sogar
Willen des Kirchenrates zum Beschluss und       Heinrich Rothmund, Chef der Polizei-
verlangte, der Kanton solle in Sachen           abteilung des Bundes, vernehmen liess,
Aufenthaltsbewilligung für Flüchtlinge          solche "extremen Haltungen wie jene des
keine Haltung einnehmen, die von derjeni-       Kantons Thurgau" sollten vermieden wer-
gen der dabei führenden Kantone abweiche.       den.
Der Kirchenrat tat sich schwer mit dem
Auftrag. Dem Flüchtlingspfarrer des
Kirchenbundes gab er zu verstehen, dass
gegen die Thurgauer Fremdenpolizei vorher       Nur bei finanziellen Garantien
nie eine Beschwerde eingegangen sei. Die
Haltung des Kirchenrates änderte sich erst      Aufgrund verschiedenster historischer
am 7. November 1944, als er                     Nachforschungen muss festgestellt werden,
Flüchtlingspfarrer Paul Vogt mitteilte, dass    dass der Kanton Thurgau nur äusserst
er eine Aktion zur Werbung von Freiplätzen      wenige Flüchtlinge aufnahm. Eine
für Flüchtlinge unternehmen wolle.              Aufnahme war davon abhängig, ob die
                                                Flüchtlinge selbst oder Dritte finanzielle
von Kirchenratsaktuar Ernst Ritzi               Garantien übernehmen konnten. So ver-
                                                langte und erhielt der Kanton Thurgau 1941
Der Kanton Thurgau war schon vor                für 142 Flüchtlinge Garantien in der Höhe
Kriegsausbruch durch seine restriktive          von 468'000 Franken. So erteilte beispiels-
Flüchtlingspolitik bekannt. So sahen sich       weise die Stadt Frauenfeld der Emigrantin
das Eidgenössische Justiz- und Polizei-         Elisabeth M. nur eine Toleranzbewilligung
departement und die Bundesanwaltschaft          unter dem Vorbehalt, dass sie eine stolze
zu einer Intervention gegen die harte           Kaution von 10'000 Franken leiste, damit
Thurgauer Haltung veranlasst, als die kan-      sie der öffentlichen Hand keinesfalls zur
tonalen Behörden 1933 sieben politische         Last falle. Da Elisabeth M. als Köchin arbei-
Flüchtlinge dazu aufforderten, das              tete, hätte sie Jahre benötigt, um die
Kantonsgebiet zu verlassen. Dies geschah        Auflage erfüllen zu können.
wohl aus Sorge, die andern Kantone könn-
ten dem Thurgauer Beispiel folgen und die       Auch als der Kanton Thurgau dann ab 1944
Aufnahme von Flüchtlingen ebenfalls rigo-       im     Zuge      der     Lockerung       der
ros verweigern. In seiner Arbeit zitiert Beat   Flüchtlingspolitik vermehrt Flüchtlinge auf-
Müller den damaligen Thurgauer Polizei-         nahm, sprach er mit Vorliebe sogenannte
kommandanten Ernst Haudenschild, der            Toleranzbewilligungen aus, was einem
sich am 17. August 1938 an der kantonalen       vorübergehenden         Aufenthalt       zur
Polizeidirektorenkonferenz zur Flücht-          Vorbereitung der Weiterreise gleichkam.

                                    6
Prüfstein Weltkrieg      Vorher ist nie eine
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Diese Spezialbewilligung zwang die Flücht-        Anlass des eidgenössischen Bettags, an         zu vermeiden. Frey liess aber nicht locker.
linge, sich alle drei Monate bei der              dem die Kirche, des schweren Amtes             Er bat den Kirchenrat, den ehrengerichtli-
Fremdenpolizei zu melden und dabei                gedenkend, das unsere Landesväter zu tra-      chen Entscheid in Sachen Angriffe der
Gebühren zu entrichten.                           gen haben, sonst für sie betet."               Thurgauer Zeitung auf ihn und den
                                                                                                 Evangelischen Pressedienst zu veröffentli-
                                                  Altwegg geht in seiner Reaktion so weit,       chen. Der Kirchenrat bleibt bei seiner
"Soweit immer möglich                             dass er Arthur Frey der böswilligen            Haltung und er verzichtete auch auf die
zur Regierung halten"                             Verleumdung bezichtigt und dem                 anfänglich vorgesehene Veröffentlichung
                                                  Schweizerischen Evangelischen Kirchen-         im Thurgauer Kirchenboten. Der Entscheid
Die Thurgauer Kirche tat sich schwer damit,       bund den Rat erteilt, dem von ihm einge-       wurde den Kirchgemeinden in einem ver-
die von den kantonalen Behörden verfolgte         richteten Pressedienst sorgfältigere           traulichen Schreiben mitgeteilt. Die
restriktive Flüchtlingspolitik kritisch zu hin-   Instruktionen über die Grenzen zu erteilen,    Kirchenvorsteherschaft Frauenfeld reagierte
terfragen. Durch seine Doppelrolle als                                                           darauf mit dem folgenden Beschluss: "Was
Chefredaktor der Thurgauer Zeitung und als                                                       wir für eine Stellung einnehmen, mag erse-
Präsident der Synode ist die Haltung von                                                         hen werden aus dem Beschluss: Das
Edwin Altwegg gut dokumentiert. Die                                                              Schreiben des Kirchenrates geht ad acta.
Thurgauer Zeitung stand klar hinter dem                                                          Der Beitrag an den Evangelischen
vom Bundesrat im Sommer 1942 gefassten                                                           Pressedienst wird ab 1944 gestrichen."
Entscheid zur Schliessung der Grenze. Die                                                        Dagegen spricht die Kirchenvorsteherschaft
Haltung entsprach dem publizistischen                                                            Neukirch an der Thur in Bezug auf den
Grundverständnis der damaligen Thurgauer                                                         Evangelischen Pressedienst von einem
Zeitung, das Altwegg in seinen Lebens-                                                           "verdienstvollen Unternehmen", welches
erinnerungen so umschrieb: "Wir an der                                                           durch das Vorgehen der Thurgauer Zeitung
Thurgauer Zeitung hielten dafür, es sei in                                                       keinen Schaden erleiden sollte.
so kritischen Zeiten solange und soweit
immer möglich zur Regierung zu halten, die
unser Vertrauen geniesse."
                                                                                                 Thurgau gegen Freiplatzaktion
                                                                                                 von Flüchtlingspfarrer Paul Vogt
Bundesrat Pilet-Golaz verteidigt
                                                                                                 Der Evangelische Kirchenrat wurde von
Heftig reagierte Altwegg auf die Kritik, die      Holzschnitt Wilhelm Lehmann 1934               aussen wiederholt auf die harte Haltung der
Arthur Frey, Chefredaktor des Schwei-                                                            Thurgauer Behörden in der Flüchtlingsfrage
zerischen Evangelischen Pressedienstes,                                                          angesprochen. Insbesondere Flüchtlings-
an der Politik der geschlossenen Grenzen          die ihm gesetzt sind. Die Auseinander-         pfarrer Paul Vogt machte immer wieder
übte. Zu Bundesrat Pilet-Golaz meinte Frey        setzung hatte ein juristisches Nachspiel.      unumwunden auf diese Tatsache aufmerk-
im Pressedienst: "dass dieser Bundesrat           Frey zog Altwegg wegen Verleumdung vor         sam. Besonders abweisend zeigte sich der
dann rede, wenn er glaube man müsse den           das journalistische Ehrengericht und erhielt   Thurgau bei der Freiplatzaktion.
Mächtigen dieser Welt die Referenz erwei-         Recht: "Der Entscheid des Gerichts fiel ein-   Flüchtlingspfarrer Paul Vogt schlug dabei
sen; aber Schweigen gebiete, wenn uner-           stimmig zugunsten von Dr. Arthur Frey aus      die private Aufnahme von Flüchtlingen vor,
hörtes Unrecht in der Welt geschehe." Die         und erteilte diesem volle Genugtuung."         für die das Leben in den Lagern nicht
Antwort von Chefredaktor Altwegg in der                                                          zumutbar war. Besonders Kinder unter 16
Thurgauer Zeitung fiel massiv aus: "Eine                                                         Jahren, Mütter mit Kindern, Betagte,
sehr widerwärtige Sache dagegen ist es,           Evangelischer Pressedienst                     Behinderte und Kranke. Privatpersonen
wenn ein Beauftragter der kirchlichen             unter Beschuss                                 konnten durch die monatliche Zahlung von
Behörden des Landes die Bibel und die                                                            120 Franken einen Beitrag an die Aktion
Reformation auslegt und mit Hilfe einer           Als Frey darauf den Thurgauer Kirchenrat       leisten. Einige Kantone, darunter der
falschen Auslegung das Vertrauen in die           anfragte, ob es nicht angezeigt wäre, den      Kanton Thurgau, weigerten sich jedoch,
christliche, die moralische und die vater-        ehrengerichtlichen Entscheid an die thur-      Flüchtlingen, die bereits eine Unterkunft bei
ländische Standfestigkeit von Mitgliedern         gauische Synode weiterzuleiten, wurde dar-     Einwohnern des Kantons gefunden hatten,
der Regierung untergräbt! Und das bei             auf verzichtet, um öffentliche Diskussionen    eine Aufenthaltsbewilligung zu erteilen.

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die Vermutung geäussert wird, die "heute
                                              im Thurgau aufgenommenen Emigranten             Streitpunkt militäri-
                                              seien bloss deshalb aufgenommen wor-
                                              den, weil ihr Geldsack schwer genug sei".
                                                                                              scher Vorunterricht

                                              Fremdenpolizei                                  Politische Äusserungen von Pfarrern wur-
                                              versuchte Kirchenrat zu beruhigen               den von der Politik als unzulässige
Holzschnitt Wilhelm Lehmann                                                                   Einmischung der Kirche empfunden. Eine
                                              Auf eine Intervention von Pfarrer Fritz         heftige öffentliche Diskussion entbrannte
                                              Rohrer, Arbon, der sich im Namen des kan-       im Herbst 1940, als sich nicht wenige
Kirchenrat lehnte ab                                                                          Thurgauer Pfarrer gegen das sogenannte
                                              tonalen Flüchtlingskomitees an den
                                              Kirchenrat wandte, trat der Kirchenrat in       Vorunterrichtsgesetz engagierten. Sie
Als die Schweiz im August 1942 die                                                            sahen sich durch das neue Gesetz zu sehr
                                              Kontakt mit den kantonalen Polizei-
Grenzen für die vertriebenen Menschen                                                         an die Kriegsschulung der deutschen
                                              behörden. Pfarrer Rohrer hatte an den
gänzlich schloss, wandte sich der                                                             Kinder erinnert. Die eigentliche
                                              Kirchenrat klare Erwartungen: "Im
Schweizerische Evangelische Kirchenbund                                                       Kontroverse um das politische
                                              Vordergrund steht die Frage, wie die frem-
SEK an die kantonalkirchlichen Behörden                                                       Engagement des Pfarrerstandes wurde
                                              denpolizeiliche Praxis in unserem Kanton
und forderte sie auf, sich bei den kantona-                                                   durch einen Artikel der Thurgauer Zeitung
                                              geändert werden könnte. Wenn die
len Regierungen für eine entgegenkom-                                                         in Gang gesetzt, in dem die Pfarrer dazu
                                              Regierung und Fremdenpolizei nicht von
mende Aufnahmepraxis für Flüchtlinge                                                          angehalten wurden, sich nicht in die
                                              sich aus einen anderen Kurs einschlagen
einzusetzen. Aufgrund der heftigen                                                            Politik einzumischen. 27 Thurgauer
                                              und niemand sonst die Initiative dazu
Reaktionen auf die Schliessung der                                                            Pfarrer reagierten auf die Belehrung der
                                              ergreift, dann ist es heilige Pflicht unserer
Grenzen machte der Bund darauf die                                                            Thurgauer Zeitung mit einer offenen
                                              evangelischen Kirche, bei den genannten
Aufnahme von Flüchtlingen von der                                                             Erklärung, in der sie zwar das Anliegen der
                                              Behörden in diesem Sinne vorstellig zu
Aufnahmebereitschaft der Kantone abhän-                                                       Thurgauer Zeitung, "dass sich die Kirche
                                              werden."
gig. Da sich die Kantone damit aber offen-                                                    in politischen Fragen einer gewissen
bar weiter schwer taten, wandte sich                                                          Zurückhaltung befleissige", teilten, aber
                                              Mit einem Brief versuchte die Fremden-
Flüchtlingspfarrer Paul Vogt am 24.                                                           betonten, der Kirche sei aber andererseits
                                              polizei die aufgescheuchte kirchliche
September 1942 in einem dringlichen                                                           ein Wächteramt aufgetragen, welches sich
                                              Behörde zu beruhigen. Der Kirchenrat hielt
Hilferuf an die Präsidenten der Kirchenräte                                                   auf die Fragen des öffentlichen Lebens
                                              in seiner Antwort an Pfarrer Fritz Rohrer
der Kantone Zürich, Aargau und Thurgau                                                        erstrecken müsse. Die Thurgauer Zeitung
                                              fest, dass die von Flüchtlingspfarrer Paul
und bat um tatkräftige Unterstützung bei                                                      liess die offene Erklärung nicht unbeant-
                                              Vogt aufgestellten Behauptungen gegenü-
der Bereitstellung von 300 Freiplätzen: "Es                                                   wortet. Sie bezeichnete eine Theologie, die
                                              ber dem Kanton Thurgau in verschiedenen
ist mir nur möglich, zu Handen der eid-                                                       sich in die Kämpfe um eine konkrete poli-
                                              Punkten bestritten würden.
genössischen Fremdenpolizei 300 Plätze                                                        tische Frage mische, als "lebensunwahr",
anzubieten, wenn ich an die Pfarrämter                                                        und wies auf die schwere Verantwortung
und Kirchenpflegen der Gemeinden gelan-                                                       hin: "Ob nun die Vorlage angenommen
                                              Erzwungene Diskussion
gen darf, mit der Bitte, zu prüfen, ob ein-                                                   oder verworfen wird, so befürchten wir
                                              an der Synode vom 6. Oktober 1942
zelne Gemeinden nicht zwei bis drei                                                           sehr, man werde den Theologen, die wider
Personen übernehmen könnten, ihnen                                                            die guten Ratschläge der führenden
                                              Pfarrer Rohrer hatte in seinem Brief auch
Kost und Logis besorgen und gewisser-                                                         Kirchenmänner das Gesetz bekämpfen,
                                              eine Diskussion über die thurgauische
massen das Patronat übernehmen würden.                                                        noch lange vorhalten, sie hätten durch
                                              Flüchtlingspolitik an der bevorstehenden
Eile ist leider geboten. Die Zahl der                                                         theologische Verstiegenheit das Volk in
                                              Synode vom 6. Oktober 1942 angeregt.
Flüchtlinge wächst mit jedem Tag."                                                            sehr ernster Zeit auf einen falschen Weg
                                              Kirchenratspräsident Dr. Robert Keller
                                              stand dem Vorhaben skeptisch gegenüber:         gewiesen". Am Tag darauf erhielten die
Im Gegensatz zu den Schwesterkirchen in                                                       Pfarrer in der Thurgauer Zeitung zudem
                                              "Angesichts der gegenwärtigen Situation
Zürich und Aargau lehnte der Thurgauer                                                        den Widerspruch eines Amtskollegen, der
                                              und zudem mit Rücksicht auf die starke
Kirchenrat das Anliegen von Pfarrer Vogt                                                      sich klar dafür aussprach, der Jugend das
                                              Belastung der Tagesordnung der Synode
ab. Im Kirchenratsprotokoll ist dabei aber                                                    Rüstzeug zu geben, das sie brauche, um zu
                                              mit anderen Geschäften erscheint wohl eine
eine kritische Distanz zu den staatlichen                                                     "starken, markigen, wetterfesten Eidge-
                                              allgemeine Flüchtlingsdebatte kaum als
Behörden des Kantons zu erkennen, indem                                                       nossen" heranzuwachsen.
                                              erwünscht. Vielleicht gibt es vor den

                                 8
Prüfstein Weltkrieg      Vorher ist nie eine
                                                                                                          Beschwerde eingegangen

Verhandlungen der Synode noch Gelegen-         ablehnende Haltung der Thurgauer               Sinneswandel im Jahre 1944
heit, darüber mündlich zu sprechen."           Regierung und der Fremdenpolizei, die
                                               "zahlreiche Anhaltspunkte" habe, dass sie      Die kirchenrätliche Skepsis gegenüber der
Trotz der ablehnenden Haltung des              dabei auch vom Willen des Volkes getragen      Flüchtlingsarbeit von Pfarrer Vogt scheint
Kirchenratspräsidenten brachte Pfarrer Fritz   sei. Kirchenratspräsident Dr. Robert Keller    sich erst im Jahre 1944 allmählich gelöst
Rohrer sein Anliegen am 6. Oktober 1942        rechtfertigte die nach wie vor ablehnende      zu haben. Am 7. November 1944 teilte der
vor der versammelten Synode vor und stell-     Haltung des Kirchenrates mit dem Hinweis,      Kirchenrat Pfarrer Vogt mit, dass er eine
te folgenden Antrag: "Unser Kanton soll        die Arbeit der thurgauischen Fremden-          Aktion zur Werbung von Freiplätzen und
seinen vollen, uneingeschränkten Anteil an     polizei sei bisher noch nie beanstandet        Patronaten für die Freiplatzaktion unter-
jeder Art Hilfeleistung für die Flüchtlinge    worden: "Was Ihre Angriffe und Ihre            nehmen wolle.
übernehmen und in Sachen Aufenthaltsbe-        Aussetzungen gegenüber der thurgaui-
willigung für Flüchtlinge keine Haltung ein-   schen Fremdenpolizei anbetrifft, so bedau-
nehmen, die von derjenigen der dabei           re ich, feststellen zu müssen, dass weder
führenden Kantone abweicht." Der Antrag        von Ihnen noch von irgend einem                Damals und heute
wurde von der Synode zum Beschluss             Flüchtlingskomitee bei unserem Kirchen-
                                                                                              Wer sich die Frage stellt, wie weit die
erhoben.                                       rate vorher je eine Beschwerde eingegan-
                                                                                              Kirche als Institution damals das
                                               gen ist."
                                                                                              Verhalten     von     Politik     und
Flüchtlingspfarrer Vogt                        In seinem Rechenschaftsbericht 1942/43
                                                                                              Gesellschaft beeinflusst hat und wie
nennt Beispiele                                stellt der Kirchenrat die Geschehnisse so      ihre Möglichkeiten und Grenzen
                                               dar: "Angesichts einiger an die Adresse        waren, muss sich bewusst sein, dass
Aufgrund dieses klaren Auftrags der            unseres Kantons gerichteter Vorwürfe           die Kirche damals in der Öffentlich-
Synode wurde Flüchtlingspfarrer Paul Vogt      wegen zu grosser Zurückhaltung in der          keit anders wahrgenommen wurde.
vom Kirchenrat gebeten, konkrete               Aufnahme von Flüchtlingen muss betont          Der Wandel, der sich in den letzten
Erfahrungen aus dem Kanton Thurgau bei-        werden, dass der Kirchenrat es nicht unter-    60 Jahren vollzogen hat, wird zum
zubringen. In seiner Antwort zitiert Pfarrer   liess, mit den Polizeibehörden in Ver-         Beispiel darin deutlich, dass die
Vogt unter anderem aus einem Antwort-          bindung zu treten, dass es aber anderer-       Landi 1939 in Zürich noch "im
brief, den Verwandte eines mittellosen         seits angezeigt wäre, wenn er durch die        Namen des Herrn" eröffnet wurde. An
Flüchtlings auf ihr Begehren um                zentralen Flüchtlingsstellen immer die nöti-   der Eröffnung der Expo 2002 wären
Ermässigung der Kautionssumme von Ernst        gen Orientierungen erhielte. Die staatlichen   solche Worte nicht (mehr) denkbar
Haudenschild, Chef der Thurgauer               Behörden wünschen in dieser Angelegen-         gewesen.
Fremdenpolizei, erhielten: "Von einer          heit mit einer bestimmten, verantwortlichen
Reduktion kann keine Rede sein. Im             kirchlichen Instanz zu verkehren, als welche   Zum Gewicht der Kirchen in der poli-
Gegenteil muss diese Kaution bestehen          sie den Kirchenrat ansehen."                   tischen Diskussion stellt Beat Müller
bleiben, bis der absolute Nachweis gelei-                                                     in seiner Arbeit fest, dass es damals
                                                                                              ungleich grösser war als heute: "Die
stet wird, dass der Obgenannte die Schweiz     Kirchenrat wollte Vollmacht des
                                                                                              Schweiz berief sich in den
entgültig verlassen hat und nicht wieder       Flüchtlingspfarrers "eingrenzen"
                                                                                              Kriegsjahren, wohl nicht zuletzt zur
zurückkehrt. Übrigens wären wir sehr froh,
                                                                                              Abgrenzung gegenüber totalitären
wenn Sie die Veranlassung nehmen wür-          Das Verhältnis zu Flüchtlingspfarrer Paul      Ideologien, stark auf ihre christliche
den, diesen uns aufgedrungenen Ausländer       Vogt blieb belastet. Als der Kirchenrat im     Tradition und damit auf die Kirchen."
baldmöglichst aus der Schweiz herauszu-        Juli 1943 erfuhr, dass in Frauenfeld von der   Aus heutiger Sicht könnte man aus
bringen, sodass wir endlich von den immer      Kanzel aus zur Meldung von Freiplätzen für     kirchlicher Sicht beklagen, dass ein
wiederkehrenden Eingaben verschont blie-       Flüchtlinge aufgerufen worden war, beauf-      politisches Wort der Kirchen nicht
ben."                                          tragte der Kirchenrat seinen Präsidenten,      mehr so viel Gewicht hat. Dem steht
                                               der gleichzeitig im Vorstand des               als Chance gegenüber, dass die
Kirchenrat:                                    Schweizerischen Evangelischen Kirchen-         Kirchen (eigentlich) weniger politi-
"Bisher nie beanstandet worden"                bundes SEK wirkte, auf eine klarere            sche Rücksichten nehmen müssten.
                                               Eingrenzung der Vollmacht von Flücht-          Eine nächste Generation wird in 60
In Bezug auf die von Pfarrer Vogt angereg-     lingspfarrer Paul Vogt zu verlangen. Weiter    Jahren einmal beurteilen, was wir
te Thurgauer Beteiligung an der Frei-          sollte der Kirchenrat über die von Pfarrer     aus unserer Situation und unseren
platzaktion hielt der Kirchenrat an seiner     Vogt in Thurgauer Kirchgemeinden unter-        Möglichkeiten gemacht haben.
Absage fest. Dabei stützte er sich auf die     nommenen Aktivitäten orientiert werden.

                                                                                                      9
Aus heutiger Sicht                           in den Osterstau am Gotthard stürzen, für     In seiner Lizentiatsarbeit wünscht sich
                                             die Sommerferien klimaschädigende Flug-       Beat Müller eine politische Kirche, die
"Prüfstein Weltkrieg"                        reisen buchen und so den Druck auf die        sich nicht um den Schmutz der Welt her-
                                             natürlichen Lebensgrundlagen erhöhen.         umdrückt. Zur Aufarbeitung einer so hoch-
Zur Lizentiatsarbeit von Beat Müller         Aber wir könnten auch anders. Als             brisanten Zeit, wie sie es 1933-45 war,
                                             Stimmberechtigte eröffnet sich uns zusätz-    gehört nicht nur das Aneinanderreihen
Zur Zeit und zur Unzeit                      licher Handlungsspielraum, wenn etwa          historischer Fakten, sondern auch die
                                             demnächst über eine Verschärfung der          Gesinnung und Tat. Müller greift damit auf
„Der Handlungsspielraum wäre grosser         Flüchtlingspolitik und über das humanitä-     eine Erkenntnis zurück, die Leonhard
gewesen als man allgemein wahrhaben          re Werk der Solidaritätsstiftung abzustim-    Ragaz bereits vor dem Zweiten Weltkrieg
wollte" - so lautete der Grundtenor nach     men ist."                                     als Eingriffe ins Zeitgeschehen bezeichnet
der Veröffentlichung des Bergier-Berichts.                                                 hat. Er sieht uns Christen auf der Seite der
Und der Kommentator im Tagesanzeiger         Diesem Gedankengang (von nicht-kirchli-       Verachteten. Diese Solidarität mit den
vom 25. März 2002 belässt es dann nicht      cher Seite) ist nicht mehr viel beizufügen.   Schwachen als ein Akt der Nachfolge
bei der Beurteilung des Handlungs-           Höchstens dies: Der Handlungsspielraum        Christi erinnert an die Befreiungs-
spielraums von damals, sondern fährt -       kann nur dann richtig genutzt werden,         theologie. Liebestätigkeit allein genügt
meines Erachtens völlig zu Recht - mit       wenn zuvor der gedankliche und sprachli-      nicht. Die Unterdrückten und Ausge-
dem Aufzeigen des Handlungsspielraums        che Spielraum ausgenutzt worden ist. Jede     grenzten wollen keine Almosen, sondern
von heute fort. Das ist für mich auch nach   Handlung kommt aus einer bestimmten           Gerechtigkeit.
dem Lesen von Beat Müllers                   Haltung heraus. Und hier ist die Kirche       Sozialpolitik ist wieder ein Reizwort
Lizentiatsarbeit    die      entscheidende   besonders gefordert. Timotheus wird von       geworden. Die Kirche hat nicht mehr viel
Aufgabe. Weniger die Frage, was die          Paulus ermahnt, zum Wort zu stehen „zur       dazu zu sagen. Sie soll sich auf das
Generation von damals allenfalls falsch      Zeit und zur Unzeit“ (2. Timotheus 4,2); in   Eigentliche zurückziehen, auf die Ver-
gemacht hat, soll uns beschäftigen, als      der lateinischen Übersetzung heisst es        kündigung des Evangeliums. Was soll's?
vielmehr die Frage, was spätere              hier: „importune-opportune“ – eine deutli-    Die grössten Dinge werden durch einzelne
Generationen allenfalls uns einmal vor-      che Absage an allen Opportunismus.            Menschen getan, nicht durch Organi-
werfen könnten.                              Glücklicherweise hat es innerhalb und         sationen. Wir sind nach dem Lesen von
                                             ausserhalb der Kirche neben viel Versagen     Müllers fundierten Aussagen zur Stellung
Bruno Vanoni schreibt im genannten           und Feigheit auch immer wieder Mut und        der Evangelischen Landeskirche des
Zeitungskommentar: „Wenn es aber in der      Zivilcourage gegeben. Und glücklicher-        Kantons Thurgau während des genannten
prekären Nazi-Zeit Handlungsspielräume       weise haben wir die Möglichkeit, diese zu     Zeitraums nicht aus der Verantwortung
gab, so gibt es sie erst recht heute. Wer    üben ausserhalb eines „Prüfsteins“            entlassen, sondern aufgefordert, mutig
mit der Bergier-Kommission zu Recht kri-     Weltkrieg.                                    Farbe zu bekennen.
tisch nach dem „Wissen und Handeln" der
Kriegsgeneration fragt, muss redlicher-      Pfarrer Wilfried Bührer*, Felben              Manchmal bedarf es eigener Schlüs-
weise den gleichen Massstab auch bei der                                                   selerlebnisse, um die grösseren Zusam-
Gegenwart ansetzen. Wir wissen heute                                                       menhänge aufzuspüren, die in unserem
mehr über die Not der Flüchtlinge, das       Gesinnung und Tat                             Leben zu Konsequenzen in der Umsetzung
Unrecht in der Welt und die apokalypti-                                                    drängen. Beat Müller lädt uns ein, in der
schen Gefahren, die ihr nunmehr vor allem    Immer drängender stellt sich in der letzten   persönlichen Vergangenheit Erfahrungen
durch Umweltzerstörung und Klimawandel       Zeit weltweit die Frage: Wie gehen wir mit    aufzudecken, die nicht wertfrei als abgetan
drohen...                                    dem um, was uns fremd ist? Können wir es      gelten, sondern emotional aufhellen, was
                                             uns noch leisten auszugrenzen, uns mit        das Evangelium eigentlich meint, hier und
Als Konsumenten können wir weiterhin         Vorurteilen zu begnügen oder es aus           jetzt!
gedankenlos Billigprodukte einkaufen, die    unserm Gesichtskreis zu verdrängen? Die
zweifelhaften Geschäften mit heutigen        politischen Ereignisse der letzten Monate     Pfarrer Walter von Arburg*, Bürglen
Unrechtsregimes zu verdanken sind. Wir       haben uns eines andern belehrt. Das
können all die Spendenaufrufe, die uns       Reden von senkrechten Schweizern
Hilfswerke in den Briefkasten legen las-     bekommt einen schalen Beigeschmack,
sen, unbeeindruckt in den Papierkorb wer-    wenn wir uns an die Berichte der
fen. Wir können uns rein zum Vergnügen       Kommission Bergier erinnern.

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Prüfstein Weltkrieg       Aus heutiger Sicht

Prophetische Stimme                            Niemand konnte saubere Hände                  Autoren
                                               behalten
Wem gegenüber ist die Kirche eigentlich                                                      *Pfarrer Wilfried Bührer
verantwortlich? Ihren eigenen Grund-           Von den vier kantonalen Einzel-               ist Gemeindepfarrer in Felben und Mitglied
sätzen? Dem Kirchenvolk? Der Politik?          darstellungen über die reformierten           des Evangelischen Kirchenrates des
Gott? - Diese Frage war schon damals           Kirchen im Spannungsfeld des Zweiten          Kantons Thurgau
ungeklärt. Deshalb beherbergte die             Weltkriegs zeichnet sich die Arbeit des
Thurgauer Kirche überzeugte Kriegsgegner       Thurgauers Beat Müller durch besonders        *Pfarrer Walter
und mutige Antifaschisten ebenso wie           sorgfältiges Recherchieren aus. Liegt es      von Arburg war während Jahren Leiter des
                                                                                             Diakonenhauses Greifensee. Seine Mutter
ängstliche Anpasser und versteckte             an der Geschichtsschreibung oder an der
                                                                                             Elisabeth von Arburg engagierte sich in der
Frontisten. Gewiss, uns steht ein Urteil       Geschichte selbst, dass dabei der Thurgau     Kriegs- und Nachkriegszeit für Flüchtlinge
nicht zu. Doch sei es erlaubt, der Kirche in   eher schlecht wegkommt? Eine Antwort          und Vertriebene.
ihre Zukunft hinein einen Wunsch mitzu-        fällt nicht schwer. Im Thurgau gab es
geben: Kirche soll immer prophetische          tatsächlich mehr Sympathien für den           *Beat Müller
Stimme sein! Sie hat sich nicht anzupas-       Nationalsozialismus als etwa in St. Gallen.   hat sein Theologiestudium an der
sen an die Mächtigen dieser Welt und die       Den Flüchtlingen gegenüber benahm sich        Universität Fribourg mit der Lizentiatsarbeit
Kräfte der Politik. Sie kann es sich erlau-    Baselstadt humaner als Bundesbern, der        "Prüfstein Weltkrieg", „...und dass wir nicht
ben einem „Höheren" verpflichtet zu sein       Thurgau dagegen härter. Auf den               geschwiegen haben wie ein stummer
                                                                                             Hund...“, Die Evangelische Landeskirche
und ein Ideal, gleich der Bergpredigt Jesu,    Thurgauer Kirchenrat, der misstrauisch
                                                                                             des Kantons Thurgau zwischen Anpassung
auszurufen. Dies gilt für alle Fragen, wel-    die Arbeit von Flüchtlingspfarrer Paul Vogt   und Widerstand im Zweiten Weltkrieg, im
che das Zusammenleben von uns                  verfolgte, passt die Devise: Je näher bei     Herbst 2001 erfolgreich abgeschlossen.
Menschen stellt. Eine Politik der höflichen    der politischen Führung, desto ferner von
Zurückhaltung steht einer prophetischen        Gottes Wort und von christlicher              *Walter Wolf
Stimme nicht an. Eine Kirche, welche sich      Nächstenliebe. Aber in Müllers Arbeit         ist Publizist und Historiker. Er ist unter
zur Welt und ihren lebenszerstörenden          kommt auch viel Positives zur Darstellung.    anderem durch seine Dissertation und wei-
Mächten nicht äussert, verkümmert zu           Der Einsatz von mutigen, hilfsbereiten        tere Publikationen über das Verhalten der
einem kraftlosen Geflüster und verliert im     Thurgauerinnen und Thurgauern gibt            Schaffhauser Kirche im Zweiten Weltkrieg
                                                                                             bekannt geworden.
Stimmengewirr unserer Tage zu Recht ihre       Anlass zu Freude und Genugtuung.
Existenzberechtigung. Jesus ruft die           Beat Müller beschreibt nicht nur, er nimmt
Christen nicht dazu auf, sich möglichst        auch Stellung. Er beurteilt Menschen,         Zusammenfassung und Redaktion
gut auf die Gesellschaft einzustimmen,         Behörden und kirchliche Gremien, aber er
sondern er ermutigt sie, das Salz der Erde     verurteilt nicht. Behutsam fühlt er sich in   Ernst Ritzi, Redaktor, Aktuar des
zu bleiben. Die Kirche ist gesandt nach der    die damalige Zeit ein, ihre „grosse           Evangelischen Kirchenrates des Kantons
„Stimme von oben" zu hören und mit             Bedrängnis" und ihre „schwierigen             Thurgau, Sulgen
Courage einzutreten für das Leben. Ohne        Umstände". Unvermeidlich kommt er auf
Zweifel wird das Ideal hier auf Erden nicht    Schuld zu sprechen. Bei der Zitierung des
zu erreichen sein und die Kirche wird im       Arboner Pfarrers Andreas Gantenbein,          Illustrationen
Einzelfall wohl oft in seelsorgerlicher        wonach im Zweiten Weltkrieg niemand
                                                                                             Wilhelm Lehmann, 1884-1974. Lebte und
Weisheit entscheiden müssen. Dies soll         saubere Hände behalten konnte, blitzt der
                                                                                             wirkte als Kunstschaffender in der
die Kirche aber nicht daran hindern, ihre      Gedanke auf, dass es letztlich nicht davon    Kobesenmühle bei Niederhelfenschwil. In
prophetische Stimme mutig zu erheben.          abhängt, wer Schuld hat und wer nicht.        seinen Figuren und Holzschnitten hat er
Wer weiss, ob die Stimme der Kirche nicht      „Bei der Schuld im geschichtlichen Sinn       sich immer wieder mit dem Zeitgeschehen
einmal      wieder       vor     denselben     geht es (vielmehr) darum, wer sie über-       und mit dem christlichen Glauben ausein-
Herausforderungen steht wie im Zweiten         nimmt. Sie ist die enge Pforte, durch die     andergesetzt.
Weltkrieg. Vielleicht ist sie es ja heute      der Weg nach vorne führt." (Hans Joachim      Die Illustrationen wurden entnommen aus:
schon.                                         Iwand)                                        - Robert Lejeune, Wilhelm Lehmann,
                                                                                             St.Gallen 1962 (2. Aufl.) 71.
                                                                                             -Holzschnitte, Wilhelm Lehmann
Beat Müller*, Neukirch an der Thur             Walter Wolf*, Schaffhausen
                                                                                             Stiftung Wilhelm Lehmann, 1991

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Prüfstein Weltkrieg
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