Die Verwendung von Corona-Gästelisten zur Strafverfolgung
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318 KriPoZ 6 | 2020 Die Verwendung von Corona-Gästelisten zur Strafverfolgung von Dr. Tanja Niedernhuber* Abstract Zur Unterbrechung von Infektionsketten im Zusammen- gen. Der Infektionsschutz hat aktuell einen außergewöhn- hang mit der aktuellen COVID-19-Pandemie sind Gast- lich hohen Stellenwert, darf aber gleichwohl nicht zu ei- stätten und andere Einrichtungen, soweit sie geöffnet ha- nem Freibrief werden. Er kann und darf nicht unbegrenzt ben, verpflichtet, Kontaktdaten ihrer Gäste abzufragen Eingriffe in die Grundrechte der Bürger rechtfertigen. und bis zu einen Monat lang aufzubewahren. Jedoch sind die Gesundheitsämter nicht die einzigen Stellen, welche Seit Mai dieses Jahres und hoffentlich ab Januar 2021 wie- die Daten in den Gästelisten verarbeiten. Es häufen sich der dürfen die Gaststätten in Deutschland nach den beiden Berichte, dass auch die Polizei gelegentlich auf solche „Lockdowns“ Gäste bewirten und müssen sich nicht auf Listen zu Strafverfolgungszwecken zugreift. Dieses Vor- den Verkauf von Gerichten zum Mitnehmen beschränken. gehen verletzt jedoch das verfassungsrechtlich geschützte Auch Kinos, Theater, Hotels, Sportanlagen und andere Recht auf informationelle Selbstbestimmung und war bis- Freizeiteinrichtungen dürfen unter strengen Hygieneauf- lang mangels hinreichend konkreter gesetzlicher Grund- lagen nach den Lockdowns wieder öffnen. Damit kehrt lage rechtswidrig. Mitte November 2020 ist der Gesetzge- nach vielen Wochen des Verzichts ein kleines Stück Nor- ber einer verbreiteten Forderung nach mehr Datenschutz malität in den Alltag vieler Menschen zurück. Bis alles nachgekommen und hat ein ausdrückliches Verwendungs- wieder wie vor dem Ausbruch der COVID-19-Pandemie verbot bezüglich der Kontaktdaten in den Gästelisten er- ist, wird es noch eine Weile dauern. Bis dahin versucht die lassen. Verstöße gegen dieses Verbot führen nach der hier Politik, die Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus so gut es vertretenen Ansicht zur Unverwertbarkeit der dadurch geht einzudämmen. Zu den Mitteln der Wahl zählen nicht mittelbar und unmittelbar gewonnenen Beweismittel im nur Präventivmaßnahmen wie Abstandsgebote und die Strafverfahren. Pflicht zur Bedeckung von Mund und Nase in Gebäuden, an hochfrequentierten Plätzen und in öffentlichen Ver- In order to interrupt chains of infection in connection with kehrsmitteln, sondern auch die Nachverfolgung von In- the current COVID 19 pandemic, restaurants and other fektionsketten, um diese zu unterbrechen und eine Wei- establishments, insofar as they are open, are obliged to terverbreitung des Virus zu verhindern. request the contact details of their guests and store them for up to one month. However, the German health services Zum Zweck der Nachverfolgung von Infektionsketten ha- are not the only authorities that process the data in the ben nach und nach alle Bundesländer per Verordnung die guest lists. Reports are piling up that the police also oc- Betreiber von Gaststätten und anderen Einrichtungen1 casionally access such lists for law enforcement purposes. verpflichtet, den Namen, die Anschrift, E-Mail-Adresse This procedure, however, violates the constitutionally und/oder Telefonnummer der Gäste nebst Aufenthalts- protected right to data protection and has so far been il- zeitraum abzufragen und für einen Zeitraum von bis zu legal due to the lack of a sufficiently concrete legal basis. einem Monat aufzubewahren. Nach einem Superspreader- In mid-November 2020, the German federal legislator Event können mit Hilfe der auf dieser Grundlage geführ- complied with a widespread demand for more data pro- ten Gästelisten alle Gäste kontaktiert, isoliert und getestet tection and issued an explicit ban on the use of contact werden, die während des Events in der Gaststätte anwe- data in such guest lists. Violations of this prohibition lead, send waren. Am 19. November 2020 ist nun der neu ein- in the author’s opinion, to the inadmissibility of the evi- gefügte § 28a IfSG in Kraft getreten, den der Gesetzgeber dence obtained directly or indirectly in criminal proceed- im Eilverfahren am Vortag beschlossen und verkündet ings. hatte.2 Diese Norm enthält in Abs. 1 Nr. 17 eine Konkre- tisierung der Verordnungsermächtigung in § 32 i.V.m. I. Einleitung § 28 IfSG und stellt die bereits existierenden landesrecht- lichen Regelungen in den Corona-Verordnungen auf eine Besondere Zeiten erfordern besondere Maßnahmen. Die bundesgesetzliche Grundlage. aktuelle COVID-19-Pandemie ist eine in vielerlei Hin- sicht besonders außergewöhnliche Zeit. Aber auch und Wo Daten anfallen, sind häufig Interessenten an diesen gerade in einer solchen Ausnahmesituation muss ein Daten nicht weit. In vielen Gaststätten wird den Gästen Rechtsstaat die Geltung seiner Rechtsordnung verteidi- versichert, dass ihre Kontaktdaten lediglich zur Nachver- 1 * Dr. Tanja Niedernhuber ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Der Einfachheit halber wird hier auf Gaststätten abgestellt. Selbst- Lehrstuhl für Strafrecht und Strafprozessrecht mit Schwerpunkt Di- verständlich sind auch andere Einrichtungen gemeint, die entspre- gitalisierung (Prof. Dr. Mark A. Zöller) an der Ludwig-Maximili- chenden landesrechtlichen Regelungen unterworfen sind. 2 ans-Universität München. Art. 1 Nr. 17 des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite vom 18.11.2020, BGBl. I S. 2397.
Niedernhuber – Verwendung von Corona-Gästelisten zur Strafverfolgung KriPoZ 6 | 2020 319 folgung und Unterbrechung von Infektionsketten verwen- wird, auch den Besuch einer Prostitutionsstätte genau zu det werden. Während die Gaststätten noch mit der daten- dokumentieren.5 Daher lässt sich leicht nachvollziehen, schutzkonformen Ausgestaltung der Gästelisten, bei- dass einige Bürger Vorbehalte hinsichtlich der Angabe spielsweise anhand der durch die Datenschutz-Grundver- der eigenen Kontaktdaten haben. Mit Bekanntwerden der ordnung geprägten Leitlinien der Landesdatenschutzbe- Verwendung der Daten durch die Polizei zu Strafverfol- auftragten, beschäftigt sind, mehren sich Berichte, dass gungszwecken wurden diese Vorbehalte noch bestärkt. die Polizei auf ebendiese Listen zurückgreift, um die Kon- Seitdem mehren sich die Berichte über Falschangaben in taktdaten zur Strafverfolgung zu verwenden. So haben in Gästelisten.6 den vergangenen Monaten Strafverfolgungsbehörden in mehreren Bundesländern, darunter Bayern, Bremen, Eine effektive Nachverfolgung und Unterbrechung von Hamburg, Hessen, Rheinland-Pfalz und Saarland solche Infektionsketten kann aber nur gelingen, wenn die ange- Gästelisten zu Strafverfolgungszwecken sichergestellt gebenen Daten korrekt sind. Immer wieder liest und hört bzw. beschlagnahmt.3 In den bekannt gewordenen Fällen man, dass Gesundheitsbehörden aufgrund falscher Anga- haben die Strafverfolgungsbehörden die Kontaktdaten da- ben in den Gästelisten Probleme haben, im Falle einer für verwendet, Tat- und Entlastungszeugen sowie Tatbe- COVID-19-Infektion eines Restaurantbesuchers sämtli- teiligte zu ermitteln und den Aufenthaltsort von Tatbetei- che weiteren Besucher zu kontaktieren.7 Wenn sich Gäste ligten in einem für das Verfahren maßgeblichen Zeitraum als „Klaus Müller“ oder „Lisa Meier“ in die Gästelisten nachzuweisen.4 eintragen und/oder falsche Telefonnummern und E-Mail- Adressen angeben, wird dadurch die Arbeit der Gesund- Der Zugriff auf die Gästelisten ist vor allem vor dem Hin- heitsämter wesentlich erschwert oder sogar unmöglich ge- tergrund brisant, dass man aus der Zusammenschau meh- macht.8 Die Corona-Verordnungen der Länder enthalten rerer Gäste- und Anwesenheitslisten Informationen zum zwar eine Pflicht zur wahrheitsgemäßen Angabe der Da- Tagesablauf einzelner Bürger gewinnen und sogar rudi- ten, das Gaststättenpersonal muss jedoch nur eine Plausi- mentäre Bewegungsprofile erstellen kann. Nun mag das bilitätsprüfung durchführen, bei der höchstens Namen wie sonntägliche Mittagessen beim Lieblingsitaliener den „Donald Duck“ auffallen. Je mehr Menschen misstrauisch meisten Menschen nicht als besonders sensibel erschei- werden, wofür ihre Daten verwendet werden, desto gerin- nen. Zum einen ist jedoch auch eine solche vermeintlich ger ist der Anteil derjenigen, die nach Bekanntwerden ei- öffentliche Information schützenswert. Zum anderen mag ner COVID-19-Infektion isoliert werden können. Ein be- die Situation ganz anders aussehen, wenn man wie etwa hutsamer Umgang mit den Daten ist demnach bereits aus in Baden-Württemberg oder im Saarland dazu verpflichtet Sicht des Infektionsschutzes erforderlich. 3 6 https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/polizei-darf-corona- https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-polizei-gaestelisten- daten-fuer-strafrechtliche-ermittlungen-nutzen-100.html (zuletzt corona-1.4966622 (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); abgerufen am 22.11.2020); https://www.zeit.de/digital/daten- https://www.br.de/nachrichten/bayern/warten-auf-die-corona-test- schutz/2020-07/datenschutz-gastronomie-corona-handynummer- ergebnisse-in-garmisch-partenkirchen,SActxV7 (zuletzt abgerufen kontaktdaten-hacking-polizei (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); am 22.11.2020); https://www.spiegel.de/panorama/gesell- https://www.sueddeutsche.de/bayern/corona-bayern-gaestelisten- schaft/corona-gaestelisten-wenn-restaurantsgaeste-falsche-anga- polizei-herrmann-1.4971971 (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); ben-hinterlassen-a-00000000-0002-0001-0000-000172378494 (zu- https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020-08/corona-gaestelis- letzt abgerufen am 22.11.2020); https://www.pnp.de/nachrich- ten-polizei-ermittlungen-zugriff-polizeigewerkschaft (zuletzt abge- ten/politik/Falsche-Kontaktdaten-auf-Restaurantlisten-bereiten- rufen am 22.11.2020); https://www.n-tv.de/panorama/Polizei- Probleme-3740275.html (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); greift-auf-Restaurant-Gaestelisten-zu-article21938856.html (zuletzt https://www.hogapage.de/nachrichten/politik/branchenpolitik/ abgerufen am 22.11.2020); https://www.mopo.de/hamburg/zoff- grossteil-der-gaestedaten-unbrauchbar/ (zuletzt abgerufen am um-corona-gaestelisten-in-lokalen-polizei-bedient-sich---was-ist- 22.11.2020); einen Zusammenhang mit den Zugriffen der Strafver- mit-datenschutz--37119458 (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); folgungsbehörden befürchten Landesdatenschutzbeauftragte und https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/politik_wirtschaft/auswer- einzelne Politiker: https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/corona- tung_corona_kontaktdaten_strafverfahren_102.html (zuletzt abge- gaesteliste-kontaktdaten-nutzung-polizei-ermittlung/ (zuletzt abge- rufen am 22.11.2020); https://www.sueddeutsche.de/bayern/bay- rufen am 22.11.2020); https://www.sr.de/sr/home/nachrichten/poli- ern-polizei-gaestelisten-corona-1.4966622 (zuletzt abgerufen am tik_wirtschaft/corona_daten_strafverfolgung_datenschutz_100.ht 22.11.2020); https://www.fr.de/rhein-main/corona-gaestelisten-in- ml (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); https://www.nordku- hessen-bei-falschangaben-muss-der-gast-gehen-90014916.html rier.de/nachrichten/ticker/diskussion-um-polizeizugriffe-auf- (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). gaestedaten-0240213708.html (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); 4 Vgl. Bayerischer Landtag, Antwort des Staatsministeriums der Jus- https://www.sueddeutsche.de/bayern/corona-bayern-gaestelisten- tiz auf eine Anfrage von Arnold v. 26.8.2020, Drs.18/9582, S. 5. polizei-herrmann-1.4971971 (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). 5 7 § 14 Nr. 15 CoronaVO Baden-Württemberg in der ab 2.11.2020 So gestaltete sich die Ermittlung sämtlicher Gäste bspw. im sog. gültigen Fassung; § 2 Abs. 1 Nr. 12 des Saarländischen Gesetzes zur Corona-Hotspot Garmisch-Partenkirchen aufgrund falscher Anga- Kontaktnachverfolgung im Rahmen der Corona-Pandemie vom ben in Gästelisten schwierig, vgl. https://www.br.de/nachrich- 11.11.2020. ten/bayern/warten-auf-die-corona-testergebnisse-in-garmisch-par- tenkirchen,SActxV7 (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). Auch an- dernorts hatten die Behörden Probleme, vgl. https://www.spie- gel.de/panorama/gesellschaft/corona-gaestelisten-wenn-restaurants gaeste-falsche-angaben-hinterlassen-a-00000000-0002-0001-0000- 000172378494 (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). 8 https://www.pnp.de/nachrichten/politik/Falsche-Kontaktdaten-auf- Restaurantlisten-bereiten-Probleme-3740275.html (zuletzt abgeru- fen am 22.11.2020); https://www.br.de/nachrichten/bayern/warten- auf-die-corona-testergebnisse-in-garmisch-partenkirchen,SActxV7 (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); https://www.sr.de/sr/home/ nachrichten/politik_wirtschaft/corona_daten_strafverfolgung_date nschutz_100.html (zuletzt abgerufen am 22.11.2020).
320 KriPoZ 6 | 2020 Ob die Strafverfolgungsbehörden befugt sind, auf die erhobenen Daten anzufordern, soweit dies zur Kontakt- Kontaktdaten zuzugreifen, war bislang in den Bundeslän- nachverfolgung nach § 25 Absatz 1 erforderlich ist. Die dern umstritten. Während beispielsweise Baden-Würt- Verantwortlichen nach Satz 1 sind in diesen Fällen ver- tembergs Innenministerium die Nutzung der Gästelisten pflichtet, den zuständigen Stellen nach Satz 3 die erhobe- zu Strafverfolgungszwecken kategorisch ausschloss,9 nen Daten zu übermitteln. Eine Weitergabe der übermit- hielten viele Politiker in anderen Bundesländern die Ver- telten Daten durch die zuständigen Stellen nach Satz 3 wendung der Kontaktdaten zu Strafverfolgungszwecken oder eine Weiterverwendung durch diese zu anderen für unproblematisch.10 Bayern hatte sogar ausdrücklich Zwecken als der Kontaktnachverfolgung ist ausge- eine Ausnahme von seinem Verwendungsverbot für die schlossen. Die den zuständigen Stellen nach Satz 3 über- Strafverfolgungsbehörden in seine Verordnung aufge- mittelten Daten sind von diesen unverzüglich irreversibel nommen, nachdem zuvor die Erhebung und Verarbeitung zu löschen, sobald die Daten für die Kontaktnachverfol- der Kontaktdaten lediglich im „Hygienekonzept Gastro- gung nicht mehr benötigt werden. nomie“ der Landesregierung Erwähnung gefunden hat- ten.11 Auch das Bundesjustizministerium ging bisher da- Im Folgenden werden zunächst die relevanten daten- von aus, dass die bestehenden Regelungen dieses Vorge- schutzrechtlichen Grundlagen (II.) erläutert, auf die bishe- hen deckten.12 Der Bundesgesetzgeber hat den Streit nun rige (III.) und die neue Rechtslage (IV.) angewandt und zugunsten des Datenschutzes entschieden und ein Ver- schließlich Konsequenzen für das Strafverfahren (V.) ge- wendungsverbot der Daten zu anderen Zwecken als dem zogen. Infektionsschutz in § 28a Abs. 4 S. 3, 6 IfSG eingefügt.13 II. Das Recht auf informationelle Selbstbestimmung § 28a IfSG lautet auszugsweise: (1) Notwendige Schutzmaßnahmen im Sinne des § 28 Ab- Sowohl die Erhebung der Kontaktdaten als auch ihre spä- satz 1 Satz 1 und 2 zur Verhinderung der Verbreitung der tere Verwendung berühren das Allgemeine Persönlich- Coronavirus-Krankheit-2019 (COVID-19) können für die keitsrecht aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG in der Dauer der Feststellung einer epidemischen Lage von na- Ausprägung des Rechts auf informationelle Selbstbestim- tionaler Tragweite nach § 5 Absatz 1 Satz 1 durch den mung. Dieses Recht gewährleistet die Befugnis, „grund- Deutschen Bundestag insbesondere sein (...) sätzlich selbst über die Preisgabe und Verwendung per- sönlicher Daten zu entscheiden“.14 Geschützt sind dabei 17. Anordnung der Verarbeitung der Kontaktdaten von alle personenbezogenen Daten, also Daten zu den persön- Kunden, Gästen oder Veranstaltungsteilnehmern, um lichen oder sachlichen Verhältnissen einer bestimmten nach Auftreten einer Infektion mit dem Coronavirus Person.15 Die Daten müssen nicht sensibel sein, sondern SARS-CoV-2 mögliche Infektionsketten nachverfolgen werden unabhängig von ihrer qualitativen Aussagekraft und unterbrechen zu können. geschützt.16 Der Name einer Person sowie ihre Kontakt- daten wie Anschrift, Telefonnummer und E-Mail-Adresse (4) Im Rahmen der Kontaktdatenerhebung nach Absatz 1 sind ebenso wie der Aufenthaltszeitraum in einer be- Nummer 17 dürfen von den Verantwortlichen nur perso- stimmten Gaststätte personenbezogene Daten und somit nenbezogene Angaben sowie Angaben zum Zeitraum und vom Schutzbereich des Rechts auf informationelle Selbst- zum Ort des Aufenthaltes erhoben und verarbeitet werden, bestimmung umfasst. soweit dies zur Nachverfolgung von Kontaktpersonen zwingend notwendig ist. Die Verantwortlichen haben si- Der datenschutzrechtliche Grundsatz der Zweckbindung cherzustellen, dass eine Kenntnisnahme der erfassten Da- gestattet Datenverarbeitungen grundsätzlich nur zu dem- ten durch Unbefugte ausgeschlossen ist. Die Daten dür- selben Zweck, für den die Daten erhoben wurden.17 fen nicht zu einem anderen Zweck als der Aushändi- Zweckänderungen stellen einen erneuten Grundrechtsein- gung auf Anforderung an die nach Landesrecht für die griff dar und bedürfen aus diesem Grund einer eigenen Erhebung der Daten zuständigen Stellen verwendet wer- Rechtsgrundlage.18 Der Zweck der Datenerhebung im den und sind vier Wochen nach Erhebung zu löschen. Falle der Corona-Gästelisten ergibt sich zweifelsfrei aus Die zuständigen Stellen nach Satz 3 sind berechtigt, die § 28a Abs. 1 Nr. 17, Abs. 4 IfSG sowie aus den Corona- 9 12 https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/polizei-darf-corona- Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Lange auf eine An- daten-fuer-strafrechtliche-ermittlungen-nutzen-100.html (zuletzt frage von Klinge v. 27.7.2020, BT-Drs. 19/21374, S. 39 f. 13 abgerufen am 22.11.2020); https://www.lto.de/recht/nachrich- Art. 1 Nr. 17 des Dritten Gesetzes zum Schutz der Bevölkerung bei ten/n/corona-gaesteliste-kontaktdaten-nutzung-polizei-ermittlung/ einer epidemischen Lage von nationaler Tragweite v. 18.11.2020, (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). BGBl. I S. 2397. 10 14 https://www.nordkurier.de/brandenburg/brandenburgs-polizei-igno- BVerfGE 65, 1 (41 f.); 78, 77 (84); 80, 367 (373); 113, 29 (45 f.); riert-corona-gaestelisten-0840622809.html (zuletzt abgerufen am 115, 166 (188); 115, 320 (341); 130, 1 (35); 130, 151 (183); BVerfG, 22.11.2020); https://www.golem.de/news/hamburg-polizei-nutzt- NJW 2018, 2385 (2386). 15 corona-kontaktlisten-nach-straftat-2007-149482.html (zuletzt abge- BVerfGE 128, 1 (43); Jarass/Pieroth, GG, 16. Aufl. (2020), Art. 2 rufen am 22.11.2020); https://www.sueddeutsche.de/bay- Rn. 43. 16 ern/corona-bayern-gaestelisten-polizei-herrmann-1.4971971 (zu- BVerfGE 130, 151 (183 f.); Di Fabio, in: Maunz/Dürig, GG, 39. EL letzt abgerufen am 22.11.2020); https://www.golem.de/news/bay- (2001), Art. 2 Rn. 174. 17 ern-hamburg-rheinland-pfalz-polizei-nutzt-corona-kontaktlisten-in- BVerfGE 65, 1 (46); 100, 313 (360); 133, 277 (323 f.). 18 mehreren-bundeslaendern-2008-150004.html (zuletzt abgerufen am BVerfGE 65, 1 (51 f., 62 f.); 100, 313 (360); 133, 277 (323 f.); He- 22.11.2020). fendehl, GA 2011, 209 (220); Rieß, in: FS Hilger, 2003, S. 172; Sin- 11 § 4 Abs. 3 S. 3 der 8. Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenver- gelnstein, ZStW 120 (2008), 854 (856). ordnung vom 30.10.2020 lautet: „Die Befugnisse der Strafverfol- gungsbehörden bleiben unberührt“.
Niedernhuber – Verwendung von Corona-Gästelisten zur Strafverfolgung KriPoZ 6 | 2020 321 Verordnungen der Bundesländer: Die Erhebung erfolgt werden könnte, wenn dies zunehmend Gäste veranlasst, zur Nachverfolgung von Infektionsketten im Zusammen- falsche Angaben zu machen. Zu diesem Ergebnis ist auch hang mit dem Virus Sars-CoV-2. Die Verwendung der der Bundesgesetzgeber gekommen, wie das Verbot einer Daten zu Strafverfolgungszwecken stellt demgegenüber Zweckänderung in § 28a Abs. 4 S. 3, 6 IfSG erkennen eine Zweckänderung und somit einen erneuten Grund- lässt. rechtseingriff dar. Sie bedarf daher einer eigenen Rechts- grundlage. Im Zusammenhang mit den Corona-Gästelisten ist zu be- denken, dass der Eingriff in das Recht auf informationelle Eine Rechtsgrundlage für einen staatlichen Eingriff in das Selbstbestimmung durch die Datenerhebung ohne einen Recht auf informationelle Selbstbestimmung muss ein gefahrenabwehr- oder strafverfolgungsrechtlichen Anlass parlamentarisches Gesetz sein, das den Anlass, den erfolgt. Es handelt sich letztlich um eine Form der Vor- Zweck und die Grenzen des Eingriffs bereichsspezifisch, ratsdatenspeicherung, der man sich nur durch Verzicht auf präzise und normenklar festlegt.19 Selbstredend muss jede die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben entziehen Rechtsgrundlage den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz kann, indem man keine Restaurants, Bars, Kinos, Theater wahren.20 In Ausnahmefällen kann der Gesetzgeber eine oder ähnliche Stätten mehr besucht. Aus diesem Grund mit einer Zweckänderung verbundene Datenverwendung sind besonders strenge Anforderungen an die Rechts- vorsehen, muss diese allerdings an den Grundrechten grundlage zu stellen.25 messen, die für die Datenerhebung maßgeblich sind.21 III. Begrenzte Zugriffsmöglichkeiten auf die Gästelis- Im Gegensatz zur früheren Rechtsprechung stellt das ten nach bisheriger Rechtslage BVerfG heutzutage nicht mehr auf die Vereinbarkeit von Erhebungs- und Verwendungszweck ab, sondern auf eine Vor Inkrafttreten des § 28a Abs. 4 S. 3, 6 IfSG war die hypothetische Datenneuerhebung.22 Maßgebend sind die Rechtslage unklar und es war nicht nur in der Politik, son- Eingriffsintensität und das Gewicht der geschützten dern auch in der juristischen Literatur umstritten, ob die Rechtsgüter im Rahmen der Datenerhebung. Die neue Strafverfolgungsbehörden auf Corona-Gästelisten zugrei- Nutzung der Daten muss also entweder dem Schutz min- fen durften.26 destens vergleichbar gewichtiger Rechtsgüter oder der Aufdeckung mindestens vergleichbar gewichtiger Strafta- 1. Keine freiwillige Herausgabe durch die Gastwirte ten dienen, wie sie für die ursprüngliche Datenerhebung maßgeblich waren.23 Nach alter Rechtslage durften die Gastwirte die Gästelis- ten nicht freiwillig an die Strafverfolgungsbehörden her- Die Erhebung und Verarbeitung der Daten zu Infektions- ausgeben. Es fehlte schlicht an einer Rechtsgrundlage, die schutzzwecken dienen dem Schutz der Volksgesundheit, es ihnen gestattet hätte, den datenschutzrechtlichen Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG.24 Dem steht die Effektivität der Zweckbindungsgrundsatz zu durchbrechen. Strafverfolgung und damit die Gewährleistung der inne- ren Sicherheit gegenüber, wenn die Kontaktdaten zur Er- a) Doppeltürmodell des BVerfG mittlung möglicher Tatzeugen und damit zur Aufklärung von Straftaten genutzt werden. Hier kommt es auf die Ge- Grundsätzlich gilt: Wenn eine andere als die datenerhe- wichtung der beiden Rechtsgüter an. Beide Rechtsgüter bende Stelle die Daten für ihre Zwecke verwenden liegen im Allgemeininteresse. Zu „normalen“ Zeiten möchte, muss zunächst ein Datenaustausch stattfinden. würde man wohl auch sagen, dass beide in etwa gleich- Ein solcher Datenaustausch besteht aus der Datenüber- wertig sind. In der aktuellen Pandemiesituation und insbe- mittlung durch die datenerhebende Stelle auf der einen sondere im Zusammenhang mit den Gästelisten, die der Seite und dem Datenabruf durch die datenanfragende Pandemiebekämpfung dienen, ist es jedoch sehr gut ver- Stelle auf der anderen Seite. Beide Vorgänge konstituie- tretbar, der Volksgesundheit ein höheres Gewicht beizu- ren jeweils für sich einen Eingriff in das Recht auf infor- messen, zumal dieser Zweck durch eine Verwendung der mationelle Selbstbestimmung.27 Nach dem Doppeltürmo- Gästelisten zu Strafverfolgungszwecken konterkariert 19 25 BVerfGE 100, 313 (359 f., 372); 110, 33 (53); 113, 348 (375); 125, BVerfGE 100, 313 (380 ff.); 107, 299 (321); 113, 29 (54); 115, 320 260 (328); 128, 1 (47); 130, 151 (202); BVerfG, NJW 2009, 3293 (354); 120, 378 (402); 125, 260 (317); Gasch, Grenzen der Verwert- (3294); BVerfG, NJW 2020, 2699 (2717); Jarass/Pieroth, GG, barkeit von Daten der elektronischen Mauterfassung zu präventiven Art. 2 Rn. 59. In diesem Zusammenhang sieht der VerfGH des Saar- und repressiven Zwecken, 2012, S. 213; so auch Fährmann/Arzt/A- landes bereits die Pflicht der Gastwirte zur Führung der Gästelisten den, Verfassungsblog v. 14.8.2020, https://verfassungs- als verfassungswidrig an, da sie nicht in einem parlamentarischen blog.de/corona-gaestelisten-masslose-polizeiliche-datennutzung/ Gesetz, sondern lediglich in einer Verordnung der Exekutive festge- (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). 26 legt ist, Beschl. v. 28.8.2020 – Lv 15/20. Bejahend Sikora, JuWiss-Blog v. 21.7.2020, https://www.ju- 20 BVerfGE 65, 1 (44). wiss.de/103-2020/ (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); nach Landes- 21 BVerfGE 100, 313 (389 f.); 109, 279 (377 f.); 120, 351 (369); 130, recht differenzierend Bloß/Kühhorn, Jura 2020, 1036 (1039 ff.); ver- 1 (33 f.); 133, 277 (372 f.); 141, 220 (326 f.). neinend Fährmann/Arzt/Aden, Verfassungsblog v. 14.8.2020, 22 BVerfGE 125, 260, (333); 130, 1 (34); 141, 220 (327 f.); Bieres- https://verfassungsblog.de/corona-gaestelisten-masslose-polizeili- born, NZS 2017, 926 (928). che-datennutzung/ (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). 23 27 BVerfGE 100, 313 (389 f.); 120, 351 (369); 130, 1 (34); 141, 220 BVerfGE 130, 151 (184); 141, 220 (333 f.); BVerfG, NJW 2020, (328, 343). 2699 (2716). 24 Die Volksgesundheit ist als Schutzgut nicht unumstritten, vgl. nur Zuck, in: Quaas/Zuck/Clemens, Medizinrecht, 4. Aufl. (2018), § 2 Rn. 6 ff.
322 KriPoZ 6 | 2020 dell des BVerfG muss ein Datenaustausch zwischen unter- hätte eine Regelung in den Corona-Verordnungen nach al- schiedlichen Stellen daher zu beiden Seiten durch eine ter Rechtslage nicht genügt. Die Verordnungen sind keine entsprechende Rechtsgrundlage abgesichert sein. Die Da- parlamentarischen Gesetze und erfüllen somit nicht die tenübermittlung durch die datenerhebende Stelle muss ge- Vorgaben des BVerfG für Eingriffe in das Recht auf infor- setzlich ebenso zulässig sein wie die Datenverwendung mationelle Selbstbestimmung.34 Auch das aus diesem durch die datenanfragende Stelle.28 Beide Rechtsgrundla- Grund verabschiedete, kompetenzrechtlich nicht unprob- gen müssen für einen rechtmäßigen Datenaustausch lematische, saarländische Gesetz zur Kontaktnachverfol- „passgenau ineinandergreifen“.29 gung im Rahmen der Corona-Pandemie normiert nicht die Weitergabe der Daten an die Strafverfolgungsbehörden Zwar ist mit § 161 Abs. 1 S. 1 StPO eine bereichsspezifi- seitens der Gastwirte. Auf die in den Verordnungen zum sche, strafprozessuale Regelung vorhanden, welche als Teil enthaltenen Verwendungsverbote kam es in diesem zweite Tür fungieren und den Abruf der Daten seitens der Zusammenhang folglich nicht an. Strafverfolgungsbehörden nach altem Recht hätte erlau- ben können. Dass diese Norm die Verarbeitung personen- 2. Begrenzter staatlicher Zugriff bezogener Daten weitgehend ohne Einschränkung gestat- tet und damit den Zweckbindungsgrundsatz für den Be- Für die Strafverfolgungsbehörden blieb somit nur die reich der Strafverfolgung faktisch aufhebt, ist verfas- Möglichkeit, mit staatlichem Zwang auf die Gästelisten sungsrechtlich äußerst bedenklich, soll hier aber nicht zuzugreifen. Dies war zwar möglich, allerdings nur mit weiter vertieft werden.30 Es fehlte nämlich bereits an der Einschränkungen. ersten Tür im IfSG, welche die Datenübermittlung seitens der Gastwirte gestattet hätte. a) Kein Auskunftsanspruch b) Datenschutzrechtliche Vorgaben für nichtöffentliche Mittels Auskunftsanspruchs aus § 161 Abs. 1 S. 1 bzw. Stellen § 163 Abs. 1 S. 2 StPO, der die Abfrage personenbezoge- ner Daten mitumfasst, hätten die Strafverfolgungen die Gastwirte sind datenschutzrechtlich für die erhobenen Gastwirte nicht zu einer Auskunft verpflichten können. Kontaktdaten in den Gästelisten verantwortlich und dür- Der Anspruch richtet sich nämlich nicht gegen Privatper- fen personenbezogene Daten nicht ohne Rechtsgrundlage sonen, sondern lediglich gegen Behörden.35 an Dritte herausgeben.31 Auch sie als nichtöffentliche Stellen sind an den Zweckbindungsgrundsatz aus Art. 5 b) Ermittlungsgeneralklausel Abs. 1 lit. b DSGVO gebunden, der nach dem Vorbild des Doppeltürmodells für eine zweckändernde Datenweiter- Auch die Ermittlungsgeneralklauseln der §§ 161 Abs. 1 gabe eine Rechtsgrundlage verlangt. Zwar erlauben S. 1, 163 Abs. 1 S. 2 StPO wären nicht geeignet gewesen, Art. 23 Abs. 1 lit. d DSGVO und § 24 Abs. 1 Nr. 1 BDSG auf die Gästelisten zuzugreifen. Zum einen erlauben sie eine zweckändernde Nutzung zur Verfolgung von Strafta- lediglich eine informatorische Befragung der Gastwirte.36 ten. Diese Normen genügen für sich jedoch nicht den An- Die daneben in Betracht kommende Zeugenvernehmung forderungen des BVerfG an eine Rechtsgrundlage für eine der Gastwirte gem. §§ 161a Abs. 1, 163 Abs. 3, 48 StPO Zweckänderung, da Anlass und Grenzen des Eingriffs war höchstens bei namentlich bekannten Stammgästen nicht bereichsspezifisch, präzise und normenklar daraus zielführend, da der Zeugenbeweis nur die unmittelbare hervorgehen.32 Sie sind daher keine hinreichende Rechts- Wahrnehmung von Zeugen zum Gegenstand hat.37 In den grundlage zur Übermittlung der Listen an die Strafverfol- meisten Fällen kennen die Gastwirte die Gäste jedoch gungsbehörden. nicht namentlich, sodass allein der direkte Zugriff auf die Kontaktdaten in den Gästelisten einen Ermittlungserfolg Nach wie vor sieht keine der bereichsspezifischen versprochen hätte. Zum anderen ist § 94 Abs. 1, 2 StPO Corona-Verordnungen der Bundesländer eine Übermitt- als Rechtsgrundlage spezieller und somit vorrangig vor lung der Daten aus den Gästelisten an die Strafverfol- den Ermittlungsgeneralklauseln in §§ 161 Abs. 1 S. 1, 163 gungsbehörden vor. Auch die beispielsweise in Bayern Abs. 1 S. 2 StPO heranzuziehen.38 Die Kontaktdaten sind speziell für diesen Zweck aufgenommene Formulierung nämlich gegenständlich verkörpert und unterliegen damit „Die Befugnisse der Strafverfolgungsbehörden bleiben unberührt“33 enthält keine Regelung zur Datenübermitt- lung. Einzig und allein die Weitergabe der Daten an die Gesundheitsbehörden ist geregelt. Unabhängig davon 28 35 BVerfGE 130, 151 (184); 141, 220 (333 f.); BVerfG, NJW 2020, Erb, in: LR-StPO, 27. Aufl. (2018), § 161 Rn. 22; Petri, StV 2007, 2699 (2717); BayVGH, ZD 2019, 515. 266 (267); Reichling, JR 2011, 12 (15 f.); Singelnstein, NStZ 2012, 29 BayVGH, ZD 2019, 515 (517). 593 (603); Wohlers/Deiters, in: SK-StPO, 5. Aufl. (2016), § 161 30 Vgl. ausführlich Zöller, StV 2019, 419 (423). Rn. 22; Zöller, in: HK-StPO, 6. Aufl. (2019), § 161 Rn. 7. 31 36 BGH, NJW 2014, 2651 (2652); vgl. BayVGH, ZD 2019, 515 (521) Singelnstein, NStZ 2012, 593 (603); Wohlers/Deiters, in: SK-StPO, m. Anm. Petri, ZD 2019, 521 (522). § 161 Rn. 14; Roxin/Schünemann, Strafverfahrensrecht, 29. Aufl. 32 Anders Sikora, JuWiss-Blog v. 21.7.2020, https://www.ju- (2017), § 25 Rn. 11. 37 wiss.de/103-2020/ (zuletzt abgerufen am 22.11.2020), die auf § 23 Eisenberg, Beweisrecht der StPO, 10. Aufl. (2017), S. 431. 38 Abs. 1 Nr. 4 BDSG abstellt und diesen für ausreichend erachtet. Singelnstein, NStZ 2012, 593 (603); vgl. Zöller, in: HK-StPO, § 161 33 § 4 Abs. 1 S. 3 der 8. BayIfSMV vom 30.10.2020. Rn. 2. 34 VerfGH des Saarlandes, Beschl. v. 28.8.2020, Lv 15/20.
Niedernhuber – Verwendung von Corona-Gästelisten zur Strafverfolgung KriPoZ 6 | 2020 323 der Beschlagnahme nach § 94 Abs. 1, 2 StPO, ggf. in Ver- aa) Einschränkung durch Verwendungsverbote? bindung mit § 103 StPO, wenn eine Durchsuchung der Die Bedeutung der in einigen Corona-Verordnungen ent- Gaststätte erforderlich ist.39 haltenen Verwendungsverbote war bislang umstritten. In Baden-Württemberg maß das Innenministerium dem Ver- c) Beschlagnahme gem. § 94 Abs. 1, 2 StPO wendungsverbot die Bedeutung einer eindeutigen und ausschließlichen Zweckbindung zu.46 Genauso sah es die Da die Gastwirte die Gästelisten aus Datenschutzgründen hessische Datenschutzbeauftragte.47 Anders legten jedoch nicht freiwillig herausgeben dürfen, war nach altem Recht das rheinland-pfälzische Gesundheitsministerium,48 die eine Sicherstellung nach § 94 Abs. 1 StPO nicht möglich. brandenburgische Regierung49 sowie der hamburgische Es blieb nur die Beschlagnahme nach § 94 Abs. 1, 2 StPO, Senat50 ihre jeweiligen Verwendungsverbote aus. Ihrer die eine richterliche Anordnung gem. § 98 Abs. 1 S. 1 Ansicht nach galten die Verwendungsverbote nicht für die StPO voraussetzt. Da die Gästelisten wochenlang aufbe- Strafverfolgungsbehörden. wahrt werden müssen, griff die Eilkompetenz von Polizei und Staatsanwaltschaft höchstens in Fällen, in denen der Problematisch war bereits die Frage, ob die landesrechtli- Beschuldigte flüchtig und die Nacheile durch die Polizei chen Verwendungsverbote in den Corona-Verordnungen erforderlich oder die Aufbewahrungsfrist fast verstrichen gegenüber der StPO als Bundesgesetz überhaupt Wirkung war. entfalten konnten. Das Strafprozessrecht fällt in die kon- kurrierende Gesetzgebungskompetenz des Bundes gem. Laut BVerfG erfüllt § 94 StPO die verfassungsrechtlichen Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 GG. Von dieser hat der Bund mit Anforderungen an eine Rechtsgrundlage für Eingriffe in Schaffung der StPO und dort insbesondere mit den Be- das Recht auf informationelle Selbstbestimmung.40 Insbe- schlagnahmevorschriften der §§ 94 ff. StPO abschließend sondere attestiert das BVerfG, dass § 94 StPO im Hinblick Gebrauch gemacht und sperrt damit grundsätzlich landes- auf unvorhersehbare Ermittlungssituationen hinreichend rechtliche Regelungen.51 Die StPO öffnet sich lediglich in bereichsspezifisch und präzise sei.41 Die Rechtsprechung § 160 Abs. 4 StPO für einschränkende landesgesetzliche hat auch den Zweck, den Anlass und die Grenzen des Ein- Regelungen. griffs festgelegt. So liegt der Zweck der Beschlagnahme von Daten im Sammeln von Beweisen zur Vorbereitung Es wäre daher denkbar gewesen, die Beschlagnahme der einer strafgerichtlichen Entscheidung. Der Anlass dafür Corona-Gästelisten über § 160 Abs. 4 StPO einzuschrän- ist das konkrete Strafverfahren, für das mindestens ein ken. Diese Norm erklärt Ermittlungsmaßnahmen für un- Anfangsverdacht vorliegen muss. Die Begrenzung der zulässig, soweit besondere bundesgesetzliche oder ent- Datenbeschlagnahme ist in der Erforderlichkeit der Eig- sprechende landesgesetzliche Verwendungsregelungen nung als – unmittelbares oder mittelbares42 – Beweismit- entgegenstehen. Für das saarländische gesetzliche Ver- tel für das konkrete Strafverfahren zu sehen.43 Außerdem wendungsverbot52 kam eine direkte Anwendung in Be- kommt der Prüfung der Verhältnismäßigkeit eine begren- tracht, während für die Verwendungsverbote in den zende Funktion zu.44 So konnten die Strafverfolgungsbe- Corona-Verordnungen höchstens eine analoge Anwen- hörden nach alter Rechtslage lediglich solche Daten her- dung möglich gewesen wäre. Beidem widersprach jedoch ausverlangen, die geeignet waren, als Beweismittel oder der gesetzgeberische Wille. Demnach soll § 160 Abs. 4 Ermittlungsansatz zu dienen. Damit schieden von vornhe- StPO die Ermittlungskompetenz der Strafverfolgungsbe- rein solche Gästedaten aus, die nicht in einem eng um- hörden nur durch bundesgesetzliche Verwendungsrege- grenzten Zeitraum der mutmaßlichen Tatbegehung ange- lungen einschränken können. Um die Bundeseinheitlich- fallen sind.45 Wenn beispielsweise auf der Straße vor den keit der Strafverfolgung zu gewährleisten, meint die Ein- Fenstern einer Gaststätte eine Straftat begangen wurde, beziehung landesgesetzlicher Regelungen in § 160 Abs. 4 durften nur die Kontaktdaten der Gäste beschlagnahmt StPO nur solche, die auf Bundesebene eine gesetzliche werden, die zu genau dieser Zeit im Restaurant waren und Entsprechung haben.53 Für die Verwendungsverbote im somit das Geschehen beobachtet haben konnten. Zusammenhang mit Corona-Gästelisten gab es jedoch bis 39 48 Antwort des Parlamentarischen Staatssekretärs Lange auf eine An- https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/polizei-darf-corona- frage von Klinge v. 27.7.2020, BT-Drs. 19/21374, S. 39; BVerfGE daten-fuer-strafrechtliche-ermittlungen-nutzen-100.html (zuletzt 113, 29 (50); Eisenberg, Rn. 2324a; Gercke, in: HK-StPO, § 94 Rn. abgerufen am 22.11.2020). 49 17; Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, 63. Aufl. (2020), § 94 https://www.nordkurier.de/brandenburg/brandenburgs-polizei-ig- Rn. 4, 16a; Wohlers/Greco, in: SK-StPO, § 94 Rn. 24 m.w.N. noriert-corona-gaestelisten-0840622809.html (zuletzt abgerufen am 40 BVerfGE 113, 29 (51 f.). 22.11.2020). 41 50 BVerfGE 113, 29 (51 f.); a.A. im Zusammenhang mit Mautdaten https://www.mopo.de/hamburg/zoff-um-corona-gaestelisten-in-lo- Niehaus, NZV 2004, 502 (503). kalen-polizei-bedient-sich---was-ist-mit-datenschutz--37119458 42 Vgl. Eisenberg, Rn. 2324; Hauschild, in: MüKo-StPO, 2014, § 94 (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). 51 Rn. 15; Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 94 Rn. 5. Vgl. Ipsen, Staatsrecht I: Staatsorganisationsrecht, 32. Aufl. (2020), 43 BVerfGE 109, 279 (376); 113, 29 (52); 115, 166 (191). Rn. 558 ff. 44 52 Köhler, in: Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, § 94 Rn. 18a. § 3 Abs. 2 S. 1, Abs. 5 S. 1 Saarländisches Gesetz zur Kontaktnach- 45 Vgl. BVerfGE 124, 43 (67) bzgl. der Beschlagnahme von E-Mails. verfolgung im Rahmen der Corona-Pandemie v. 11.11.2020. 46 53 https://www.swr.de/swraktuell/rheinland-pfalz/polizei-darf-corona- BT-Drs. 14/1484, S. 22 f., 46; in diesem Sinne auch Bayerischer daten-fuer-strafrechtliche-ermittlungen-nutzen-100.html (zuletzt Landtag, Antwort des Staatsministeriums der Justiz auf eine An- abgerufen am 22.11.2020). frage von Arnold v. 26.8.2020, Drs. 18/9582. 47 https://www.datenschutzticker.de/2020/07/darf-die-polizei-auf- corona-gaestelisten-zugreifen/ (zuletzt abgerufen am 22.11.2020).
324 KriPoZ 6 | 2020 vor Kurzem keine entsprechende bundesgesetzliche Re- ker Tatverdacht bezüglich einer schweren Anlasstat auf- gelung, sodass § 160 Abs. 4 StPO weder direkt noch ana- wiegen. log herangezogen werden konnte. Der Zugriff der Strafverfolgungsbehörden auf die Gäste- bb) Einschränkung durch den Verhältnismäßigkeits- listen war daher – bei unterstellter Erfolglosigkeit anderer grundsatz Ermittlungsmaßnahmen – lediglich bei Straftaten von be- Eine bundesweit geltende Einschränkung erfährt die Be- sonderem Gewicht möglich.56 Ein einfacher Diebstahl, schlagnahmeregelung jedoch durch den Verhältnismäßig- eine Beleidigung oder ähnliche Bagatelldelikte, die bei- keitsgrundsatz, da jede Zwangsmaßnahme von Verfas- spielsweise in Bayern der Grund für eine Sicherstellung sungs wegen verhältnismäßig sein muss.54 von Gästelisten waren,57 konnten jedenfalls eine Be- schlagnahme der Gästelisten nicht rechtfertigen. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeit werden die Geeig- netheit und Erforderlichkeit der Maßnahme zur Aufklä- Ein Teil der Literatur58 wäre unabhängig von der Schwere rung der Straftat beurteilt sowie anschließend die Schwere der Straftat zu einem vollständigen Ausschluss der Be- des Grundrechtseingriffs ins Verhältnis zur Schwere der schlagnahme gelangt. Wenn man auf der Ebene des Be- Anlasstat und zur Stärke des Tatverdachts gesetzt.55 Ein weisrechts ein Beweisverwertungsverbot mit Fernwir- Blick in die Gästelisten ist zweifelsohne geeignet, die kung annimmt, ist es denkbar diesem Beweisverwertungs- Kontaktdaten möglicher Tatzeugen herauszufinden. Be- verbot eine Vorwirkung zuzusprechen. Diese würde sich reits an der Erforderlichkeit bestehen allerdings Zweifel. über den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz auf die Be- Stehen weniger eingriffsintensive und dennoch gleicher- schlagnahme selbst auswirken. Schließlich wäre es unver- maßen erfolgversprechende Ermittlungsmethoden zur hältnismäßig, etwas zu beschlagnahmen, das hinterher im Verfügung, müssen die Strafverfolgungsbehörden auf Verfahren nicht einmal als Ermittlungsansatz verwertet diese zurückgreifen. Denkbar wäre etwa ein Zeugenaufruf werden darf.59 auf Webseiten der Polizeibehörden, in lokalen Zeitungen, Fernseh- und Radiosendern sowie über Social-Media-Ka- IV. Strenges Verwendungsverbot nach neuer Rechts- näle. Der Weg zur Prüfung der Verhältnismäßigkeit im lage engeren Sinne ist erst dann eröffnet, wenn nach Aus- schöpfung weniger einschneidender Ermittlungsmaßnah- Mit § 28a Abs. 1 Nr. 17, Abs. 4 IfSG hat der Gesetzgeber men keine Zeugen oder nicht diejenigen ausfindig ge- eine von vielen Seiten herbeigesehnte bundeseinheitliche macht werden können, die das Geschehen aus nächster Regelung geschaffen.60 Aus der Zusammenschau der Nor- Nähe beobachtet haben müssten, weil sie etwa im Restau- men ergibt sich eine strenge Zweckbindung. § 28a Abs. 1 rant am Fenster saßen. Nr. 17 IfSG legt den Zweck der Datenverarbeitung auf die Nachverfolgung und Unterbrechung von Infektionsketten Der mit der Einsicht der Gästelisten verbundene Grund- fest. § 28a Abs. 4 S. 3 IfSG bestimmt, dass die Kontakt- rechtseingriff wiegt vor allem deshalb besonders schwer, daten allein an die „nach Landesrecht für die Erhebung weil zum einen potenziell eine große Anzahl unbeteiligter der Daten zuständigen Stellen“, also an die Gesundheits- Personen von der Maßnahme betroffen ist. Zum anderen behörden,61 ausgehändigt und nicht zu einem anderen kann mithilfe der in den Listen enthaltenen zeitlichen An- Zweck verwendet werden dürfen. § 28a Abs. 4 S. 6 IfSG gaben zum Aufenthalt in jeder einzelnen Lokalität auf den ergänzt schließlich, dass auch die Landesbehörden die Da- Lebenswandel einzelner Personen geschlossen und ein zu- ten nicht weitergeben oder zu anderen Zwecken verwen- mindest rudimentäres Bewegungsprofil erstellt werden. In den dürfen. der Waagschale liegt also ein schweres Gewicht. Dies muss auf der anderen Seite der Waage ein besonders star- Aus den Gesetzesmaterialien ergibt sich, dass sich die Verwendungsverbote nicht nur an die Gastwirte (Satz 3) bzw. an die Gesundheitsbehörden (Satz 6) richten, wie 54 60 BVerfG, NJW 1970, 505 (506); NStZ 1992, 91 (92). https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-polizei-gaestelisten- 55 BVerfGE 113, 29 (53); 96, 44 (51). corona-1.4966622 (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); Anfrage von 56 So u.a. auch Kugelmann, in: https://www.swr.de/swraktuell/rhein- Klinge v. 27.7.2020, BT-Drs. 19/21374, S. 39; land-pfalz/polizei-darf-corona-daten-fuer-strafrechtliche-ermittlun- https://rsw.beck.de/aktuell/daily/meldung/detail/regierung-haelt- gen-nutzen-100.html (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). gesetz-fuer-polizei-zugriff-auf-corona-gaestelisten-nicht-fuer-er- 57 Bayerischer Landtag, Antwort des Staatsministeriums der Justiz auf forderlich (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); Fährmann/Arzt/Aden, eine Anfrage von Arnold v. 26.8.2020, Drs. 18/9582, S. 4; Verfassungsblog v. 14.8.2020, https://verfassungsblog.de/corona- https://www.stuttgarter-nachrichten.de/inhalt.bayern-polizei-nutzte gaestelisten-masslose-polizeiliche-datennutzung/ (zuletzt abgerufen -corona-gaestelisten-auch-gegen-kleinkriminelle.3a9f0c52-2235- am 22.11.2020); https://www.zeit.de/politik/deutschland/2020- 47cc-adcf-b94f86fb2f7b.html (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). 08/gastronomie-gaestelisten-corona-regierung-daten-strafverfol- 58 Beulke/Swoboda, Strafprozessrecht, 14. Aufl. (2018), Rn. 482; Fe- gung (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); https://www.deutschland- zer, JZ 1987, 937 (938 f.); Gössel, NStZ 1998, 126; Grünwald, StV funkkultur.de/corona-gaestelisten-wir-brauchen-ein-begleitge- 1987, 470 (472); Otto, GA 1970, 289 (293 f.); differenzierend Ei- setz.1008.de.html?dram:article_id=481523 (zuletzt abgerufen am senberg, Rn. 403; Rogall, JZ 2008, 818 (827). 22.11.2020); https://www.golem.de/news/polizei-zugriff-auf- 59 Gössel, in: LR-StPO, Einl. L Rn. 197 m.w.N.; Jahn, Gutachten C corona-gaestelisten-nur-bei-mord-und-totschlag-2008-150053.html für den 67. Deutschen Juristentag, C 86 f., Kudlich, in: MüKo- (zuletzt abgerufen am 22.11.2020). 61 StPO, 2014, Einl. Rn. 487; Wohlers, in: GS Weßlau, 2016, S. 427 Vgl. u.a. § 6 Abs. 1 S. 1 CoronaVO Baden-Württemberg in der ab (435); Wohlers/Greco, in: SK-StPO, § 97 Rn. 50. 2.11.2020 gültigen Fassung, § 4 Abs. 3 S. 1 der 8. BayIfSMV v. 30.10.2020, § 6 Abs. 2 SARS-CoV-2-Eindämmungsverordnung Brandenburg v. 30.10.2020.
Niedernhuber – Verwendung von Corona-Gästelisten zur Strafverfolgung KriPoZ 6 | 2020 325 man aus dem Kontext des Absatzes 4 meinen könnte,62 1. Rechtsnatur des § 28a Abs. 4 S. 3, 6 IfSG sondern alle Dritten, darunter auch die Strafverfolgungs- behörden, von der Verwendung der Kontaktdaten aus- Der Gesetzgeber unterscheidet an vielen Stellen in der schließen.63 Die Formulierung „die Daten dürfen nicht zu StPO zwischen der Verwendung von Erkenntnissen allge- einem anderen Zweck (...) verwendet werden“ ist passi- mein und der Verwendung speziell zu Beweiszwecken.67 visch konstruiert, nennt keine Adressaten und sieht keine Insbesondere bei der Verwendung von personenbezoge- Ausnahme vor. In den parlamentarischen Debatten wurde nen Daten tritt diese Unterscheidung zutage, wenn in auch keine Ausnahme diskutiert, sondern vielmehr betont, § 161 Abs. 3 S. 1 und Abs. 4 StPO die Verwendung der dass die Kontaktdaten „nur noch zur Nachverfolgung von Daten zu Beweiszwecken verboten, eine Verwendung zu Infektionsketten verarbeitet“ werden dürfen.64 Da die anderen Zwecken jedoch nicht erwähnt und damit im Um- Problematik der Zugriffe auf die Gästelisten durch die kehrschluss gestattet ist.68 Strafverfolgungsbehörden bei der Beschlussfassung be- kannt gewesen sein musste, ist davon auszugehen, dass Im Folgenden wird von „Verwertung“ gesprochen, wenn der Gesetzgeber eine ausdrückliche Regelung für Straf- es um die beweisrechtliche Frage der Verwertbarkeit als verfolgungsbehörden aufgenommen hätte, wenn er eine Beweismittel im Urteil oder in einer anderen prozessualen Ausnahme hätte vorsehen wollen.65 Eine teleologische Entscheidung in einem früheren Verfahrensstadium (etwa Reduktion des Verwendungsverbots auf interne Datenver- Anklageerhebung oder Eröffnungsbeschluss) geht. „Ver- arbeitungsabläufe der Gastwirte und Gesundheitsbehör- wendung“ umfasst als datenschutzrechtlicher Oberbegriff den, wie sie für ein vergleichbares Verwendungsverbot im ganz allgemein jede Datenverarbeitung im Strafverfahren, Zusammenhang mit Mautdaten diskutiert wurde,66 schei- geht also über die Verwertung weit hinaus.69 Davon ist der det daher von vornherein aus. beweisrechtliche Begriff „Verwendung als Ermittlungs- ansatz“ zu unterscheiden, der unter der Verwendung eines Das Verwendungsverbot in § 28a Abs. 4 S. 3, 6 IfSG ist ggf. unverwertbaren Beweismittels die Nutzung als Er- ein Bundesgesetz, das anders als eine Landesverordnung mittlungsansatz versteht, um weitere, ggf. verwertbare, oder auch das saarländische Corona-Gesetz gem. § 160 Beweismittel zu erlangen.70 Abs. 4 StPO zur Unzulässigkeit von diesem Verbot wider- sprechenden Ermittlungsmaßnahmen führt. Die Strafver- § 28a Abs. 4 S. 3, 6 IfSG normiert ein datenschutzrechtli- folgungsbehörden dürfen daher ab sofort keine Gästelis- ches Verwendungsverbot. Der Wortlaut unterscheidet ten mehr beschlagnahmen. § 28a Abs. 4 S. 3, 6 IfSG nicht zwischen Verwendung und Verwertung und verbie- i.V.m. § 160 Abs. 4 StPO konstituieren insofern ein Be- tet explizit auch die Weitergabe und Weiterverwendung weiserhebungsverbot. durch die Gesundheitsbehörden zu anderen Zwecken als dem Infektionsschutz. Damit ist klar, dass jede Art der V. Folgen für das Strafverfahren Verwendung umfasst sein soll. Ob damit auch ein Ver- wertungsverbot und ggf. sogar eine Fernwirkung im be- Eine entgegen § 28a Abs. 4 S. 3, 6 IfSG durchgeführte weisrechtlichen Sinn bestehen, bedarf jedoch weiterer Beschlagnahme ist wegen § 160 Abs. 4 StPO rechtswid- Klärung. rig. Umstritten sind allerdings die Konsequenzen einer rechtswidrigen Beweiserhebung im weiteren Strafverfah- 2. Verwertung als Beweismittel ren. Für die Bestimmung der Rechtsfolge ist zunächst die Rechtsnatur des § 28a Abs. 4 S. 3, 6 IfSG zu ermitteln. a) Allgemeine Beweislehre Anschließend sind verschiedene beweisrechtliche Folgen zu differenzieren. Dabei kommt es vor allem auf das um- Nach der weit überwiegenden Ansicht führt nicht jeder strittene Verhältnis zwischen dem verfassungsrechtlich Verstoß gegen ein Beweiserhebungsverbot automatisch geprägten Datenschutzrecht und dem strafprozessualen zu einem Beweisverwertungsverbot. Vielmehr ist anhand Beweisrecht an. bestimmter Kriterien zu prüfen, ob ein fehlerhaft erlangtes Beweismittel im Einzelfall verwertet werden darf oder nicht. Während die Literatur teilweise auf den Schutz- zweck der verletzten Norm abstellt, wägt die Rechtspre- 62 66 Vgl. die unterschiedlichen Auslegungsmöglichkeiten der Verwen- Für teleologische Reduktion AG Gummersbach, NJW 2004, 240; dungsverbote in einigen Corona-Verordnungen, Bloß/Kühhorn, Jura dagegen LG Magdeburg, NJW 2006, 1073 (1074); Göres, NJW 2020, 1036 (1041 f.). 2004, 195 (197 f.) 63 67 BT-Drs. 19/24334, S. 81: „Absatz 4 regelt die datenschutzrechtli- Wohlers, in: GS Weßlau, 2016, S. 427 (437). 68 chen Anforderungen im Hinblick auf die Kontaktdatenerhebung Wohlers/Deiters, in: SK-StPO, § 161 Rn. 48 f.; Wohlers, in: GS nach Absatz 1 Nummer 17“; Bundestag, Plenarprotokoll 19/191 v. Weßlau, 2016, S. 427 (438); diese Unterscheidung ablehnend 18.11.2020, 24056 B: „Kontaktdaten dürfen nur noch zur Nachver- Dencker, in: FS Meyer-Goßner, S. 237 (250); Engelhardt, Verwen- folgung von Infektionsketten verarbeitet und weitergegeben wer- dung präventiv-polizeilich erhobener Daten im Strafprozess, 2011, den“. S. 224 f.; Hengstenberg, Die Frühwirkung der Verwertungsverbote, 64 Bundestag, Plenarprotokoll 19/191 v. 18.11.2020, 24056 B. 2007, S. 122; Jahn, Gutachten C für den 67. Deutschen Juristentag, 65 Das Gebot der Normenklarheit erfordert eine ausdrückliche Erwäh- C 96 f. 69 nung einer solchen Ausnahme, vgl. auch LG Magdeburg, NJW Vgl. Rogall, in: FS Kohlmann, 2003, S. 465 (485); ders., JZ 2008, 2006, 1073 (1074) zum ABMG; ebenso Göres, NJW 2004, 195 818 (827 f.). 70 (197 f.). Vgl. etwa Singelnstein, in: MüKo-StPO, 2019, § 477 Rn. 33 f.; Schuhr, in: MüKo-StPO, 2014, § 136a Rn. 98.
326 KriPoZ 6 | 2020 chung das Strafverfolgungsinteresse gegen die Beschul- Fälle haben die Strafverfolgungsbehörden die Kontaktda- digtenrechte ab.71 Überwiegt das Strafverfolgungsinte- ten genutzt, um potentielle Tatzeugen ausfindig zu ma- resse die Rechte des Beschuldigten, etwa weil eine beson- chen.76 Die Gästelisten und die darin enthaltenen Kontakt- ders schwere Straftat im Raum steht und die Maßnahme daten sollten nicht selbst als Beweismittel dienen, sondern hypothetisch rechtmäßig hätte durchgeführt werden kön- dabei helfen, durch Zeugenvernehmungen weitere Be- nen, darf das an sich rechtswidrig gewonnene Beweismit- weismittel zu erhalten. tel im Strafurteil nach Ansicht der Rechtsprechung den- noch verwertet werden. Im umgekehrten Fall, etwa bei ei- a) Allgemeine Beweislehre nem besonders gravierenden oder willkürlichen Verfah- rensverstoß, besteht ein Beweisverwertungsverbot.72 Ein Die strafprozessuale Dogmatik trennt bei der Prüfung der bestimmter Verstoß kann daher in verschiedenen Verfah- Fehlerfolgen im Rahmen der Beweiserhebung zwischen ren zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, da es keine der Verwertung der Daten als Beweismittel und der Ver- allgemeingültige Regel gibt. wendung als Ermittlungsansatz, also zur Gewinnung wei- terer Beweismittel. Während Beweisverwertungsverbote b) Datenschutzrechtliche Verwendungsregelungen im Rahmen der Abwägung sorgfältig geprüft werden, lässt die Rechtsprechung die Verwendung der rechtswid- Die Rechtsprechung und ein Teil der Literatur übertragen rig erlangten Informationen als Ermittlungsansatz grund- die Abwägungslehre aus dem Beweisrecht auf daten- sätzlich zu.77 Sie spricht damit Beweisverwertungsverbo- schutzrechtliche Verwendungsregelungen und treffen ten eine Fernwirkung bis auf wenige Ausnahmen ab und auch in diesem Bereich jeweils eine Entscheidung im Ein- verwertet auch solche Beweismittel, die mittelbar durch zelfall.73 Demnach wäre eine Verwertung der Gästelisten das fehlerhaft erlangte Beweismittel hervorgebracht wur- als Beweismittel jedenfalls in solchen Verfahren zulässig, den.78 Demgegenüber bejaht ein Teil der Literatur eine in denen der Verdacht auf eine schwere Straftat – wie bei- solche Fernwirkung.79 spielsweise ein vorsätzliches Tötungsdelikt – im Raum steht. b) Datenschutzrechtliche Verwendungsregelungen Demgegenüber argumentieren andere Teile der Literatur In § 161 Abs. 3, 4 StPO ist die Trennung zwischen Ver- von einem datenschutzrechtlichen Standpunkt aus. Für die wertung als Beweismittel und Verwendung als Ermitt- Verwendung (und damit auch die Verwertung als Beweis- lungsansatz auch für personenbezogene Daten angelegt. mittel) muss eine Rechtsgrundlage vorliegen und der Ver- Diese Unterscheidung ist jedoch nicht mit der verfas- hältnismäßigkeitsgrundsatz gewahrt sein.74 Bei rechtmä- sungsrechtlichen Konzeption des Datenschutzrechts ver- ßig erlangten Daten dient § 161 Abs. 1 S. 1 StPO als einbar. Schließlich greifen beide Verwendungsarten Rechtsgrundlage. Besteht jedoch bereits ein ausdrückli- gleichermaßen in das Recht auf informationelle Selbstbe- ches gesetzliches Verwendungsverbot, kommt eine Ver- stimmung ein.80 wertung der Daten als Beweismittel nicht mehr in Be- tracht.75 Ein datenschutzrechtliches Verwendungsverbot Wenn man Verwendungsregeln umfassend versteht, ge- zieht damit ein Beweisverwertungsverbot nach sich. hen sie weiter als bloße Verwertungsverbote, wie sie die allgemeine Beweisverbotslehre kennt. Als Verbote unter- 3. Verwendung als Ermittlungsansatz sagen sie nicht lediglich die Berücksichtigung der Infor- mationen zur Entscheidungsfindung, sondern bereits je- Für die Konstellation des Zugriffs auf Corona-Gästelisten den Zugriff und jede Verarbeitung der Daten im Strafver- ist die Verwendung der Daten als Ermittlungsansatz deut- fahren.81 Die Kontaktdaten dürfen somit erst gar nicht lich relevanter als die unmittelbare Verwertung als Be- Eingang in ein Strafverfahren finden.82 Aus datenschutz- weismittel. In den meisten der bisher bekannt gewordenen rechtlicher Sicht dürfen die Strafverfolgungsbehörden die 71 77 Übersicht bei Beulke, Jura 2008, 653 (654 ff.). BVerfG, NStZ 2006, 46; BGHSt 27, 355 (358); 32, 68 (71); BGH, 72 BGH, NJW 1983, 1570 (1571); NJW 2007, 2269 (2271); Eisenberg, NJW 2006, 1361 (1363); vgl. aber BVerfGE 109, 279 (332). 78 Beweisrecht der StPO, Rn. 363. BGHSt 29, 244 (247 ff.); Eisenberg, Rn. 403 ff. 73 79 BGHSt 54, 69 (87 f.); Singelnstein, NStZ 2012, 593 (605); Wohlers, Beulke/Swoboda, Rn. 482; Fezer, JZ 1987, 937 (938 f.); Gössel, in: GS Weßlau, 2016, S. 427 (438). NStZ 1998, 126; Grünwald, StV 1987, 470 (472); Otto, GA 1970, 74 Bertram, Die Verwendung präventiv-polizeilicher Erkenntnisse im 289 (293 f.); differenzierend Eisenberg, Rn. 403; Rogall, JZ 2008, Strafverfahren, 2009, S. 298 ff., 342; Singelnstein, NStZ 2012, 593 818 (827). 80 (605); Zöller, in: HK-StPO, § 161 Rn. 32. BVerfGE 109, 279 (377); 141, 220 (327); Singelnstein ZStW 120 75 Rogall, JZ 2008, 818 (827); Singelnstein, ZStW 120 (2008), 854 (2008), 854 (884 ff.); ders., NStZ 2012, 593 (604, 606); Weßlau, in: (867). SK-StPO, 4. Aufl. (2013), § 477 Rn 27. 76 81 https://www.sueddeutsche.de/bayern/bayern-polizei-gaestelisten- So auch Singelnstein, ZStW 120 (2008), 854 (867 f.); Schmitt, in: corona-1.4966622 (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); Meyer-Goßner/Schmitt, StPO, Einl. Rn. 57d; vgl. auch Rogall, in: https://www.mopo.de/hamburg/zoff-um-corona-gaestelisten-in-lo- FS Kohlmann, 2003, S. 465 (482 ff.); ders., JZ 2008, 818 (827 f.). 82 kalen-polizei-bedient-sich---was-ist-mit-datenschutz--37119458 Vgl. Singelnstein, ZStW 120 (2008), 854 (867 f.) (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); https://www.n-tv.de/pano- rama/Polizei-greift-auf-Restaurant-Gaestelisten-zu-article2193885 6.html (zuletzt abgerufen am 22.11.2020); https://www.zeit.de/digi- tal/datenschutz/2020-07/datenschutz-gastronomie-corona-handy- nummer-kontaktdaten-hacking-polizei (zuletzt abgerufen am 22.11.2020).
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