Direkte Demokratie in Kroatien. Eine Übersicht - 26.05.2015 Frank Rehmet, Simon Stolz

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Direkte Demokratie in Kroatien.
Eine Übersicht

26.05.2015
Frank Rehmet, Simon Stolz
frank.rehmet@mehr-demokratie.de

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung und Begriffsbestimmung ....................................................................................................... 2

2. Direktdemokratische Regelungen in Kroatien ......................................................................................                                   3
   2.1 Volksinitiative nach Art. 87 ................................................................................................................................   3
   2.2 Obligatorisches Referendum beim Beitritt zu Staatenbünden nach Art. 142 ........................................                                                3
   2.3 Sonstige Beteiligungsrechte, die zu Volksabstimmungen führen können ..............................................                                              3

3. Praxis: Volksentscheide in Kroatien ...................................................................................................... 4
   3.1 Zwei Volksentscheide aufgrund direktdemokratischer Verfahren ............................................................ 4
   3.2 Keine Volksentscheide aufgrund sonstiger Beteiligungsrechte ................................................................ 5

4. Literatur und Links ................................................................................................................................. 6
1.       Einleitung und Begriffsbestimmung

Diese Übersicht befasst sich mit der direkten Demokratie in Kroatien auf nationaler Ebene. Sie
enthält Informationen über die rechtlichen Regelungen und über die bisherige Praxis.
In Kroatien gab es seit Bestehen der Republik lediglich zwei Volksentscheide, davon einer zum
EU-Beitritt des Landes.

Begriffsbestimmung: Direktdemokratische Verfahren
In der Frage, was unter „direkter Demokratie“ oder „direktdemokratische Verfahren“ verstanden
wird, herrscht in der Wissenschaft kein Konsens. Mehr Demokratie orientiert sich in seinen
Publikationen an der von Mehr Demokratie und dem Initiative and Referendum Institute Europe
IRIE entwickelten und auch vom Direct Democracy Navigator verwendeten Terminologie.

Diese definiert direktdemokratische Verfahren folgendermaßen:
    • Sachfrage: Es handelt sich um eine Sachabstimmung,
    • Auslösung von unten oder obligatorisch: Das Verfahren wird „von unten“, durch die
         Bevölkerung initiiert oder aufgrund einer gesetzlichen Regelung automatisch / obliga-
         torisch ausgelöst,
    • Verbindlichkeit: Es handelt sich um ein verbindliches Verfahren, das heißt, ein Volks-
         entscheid ist einem Parlamentsbeschluss gleichwertig.

Daraus ergeben sich drei direktdemokratische Verfahrenstypen:
    1. Bei der initiierenden Volksgesetzgebung (Volksinitiative) wird ein Volksentscheid
         von den Bürger/innen selbst per Unterschriftensammlung initiiert.
    2. Das fakultative Referendum richtet sich gegen ein vom Parlament beschlossenes
         Gesetz. Eine bestimmte Anzahl von Stimmbürger/innen kann einen Volksentscheid
         beantragen.
    3. Beim obligatorischen Referendum ist der Volksentscheid zu bestimmten Gegen-
         ständen, meist bei Verfassungsänderungen, verpflichtend vorgeschrieben und findet
         automatisch statt. Ein entsprechender Parlamentsbeschluss geht diesem voraus.

Daneben gibt es weitere Varianten der Bürgerbeteiligung, die eine direktere Partizipation bis hin
zu einer Volksabstimmung enthalten, aber mindestens eine der oben genannten Definitionsmerk-
male nicht erfüllen. Beispiele sind konsultative Volksbefragungen, unverbindliche Volkspetitio-
nen (Anregungen), alle „von oben“ eingeleiteten Volksabstimmungen („Plebiszite“ oder „Parla-
mentsreferenden“ genannt) sowie Verfahren zur vorzeitigen Auflösung des Parlaments/Herbei-
führung von Neuwahlen.1

1    Vgl. ausführlicher hierzu: Rehmet/Weber, Volksbegehrensbericht 2015, S. 6 ff.

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2.        Direktdemokratische Regelungen in Kroatien
Tabelle 1: Direktdemokratische Verfahren in Kroatien – Übersicht über Regelungen und Praxis

Regelung / Verfahrenstyp            Regelung                          Bedingungen             Praxis (Anzahl
(in Kraft seit)                                                                             Volksentscheide)

Volksinitiative                     Volksbegehren: 10 Prozent,                                             1
(in Kraft seit 2000)                Sammelfrist: 2 Wochen

                                    Volksentscheid: Kein
                                    Abstimmungsquorum
                                    (vor 2010: 50 Prozent-
                                    Beteiligungsquorum)
Obligatorisches Referendum bei Volksentscheid: Kein                   Nur bei Beitritt zu                  1
Beitritt zu Staatenbünden      Abstimmungsquorum                      Staatenbünden
(in Kraft seit 1990)           (vor 2010: 50 Prozent-                 gemäß Art. 142
                               Zustimmungssquorum)                    der Verfassung

Gesamt                                                                                                     2

Quellen: www.sudd.ch, eigene Recherchen.

Kroatien kennt zwei direktdemokratische Verfahren, die einen Volksentscheid herbeiführen: die
Volksinitiative sowie das obligatorische Referendum beim Beitritt zu Staatenbünden.

2.1       Volksinitiative nach Art. 87

Dieses direktdemokratische Verfahren kennt die kroatische Verfassung erst seit dem Jahr 2000.
Mindestens 10 Prozent der Wahlberechtigen müssen sich innerhalb von 15 Tagen für das Volks-
begehren eintragen, damit es zum Volksentscheid kommt, sofern sich der Vorschlag mit Recht
und Gesetz vereinen lässt. Bei der Abstimmung gilt seit 2010 kein Quorum mehr. Die einfache
Mehrheit der Abstimmenden entscheidet. Das alte 50 Prozent-Beteiligungsquorum wurde kurz
vor dem Volksentscheid über den EU-Beitritt gestrichen.

2.2       Obligatorisches Referendum beim Beitritt zu Staatenbünden nach Art. 142

Falls Kroatien einem Staatenbund beitritt, muss nach Artikel 142 (vor 2010: Art. 135) zwingend
das Volk abstimmen. Bis 2010 mussten neben der Mehrheit der Abstimmenden 50 Prozent der
Stimmberechtigten für einen Beitritt votieren, damit der Volksentscheid gültig war (so genanntes
50 Prozent-Zustimmungsquorum). Diese Regelung wurde jedoch – 2010, als der EU-Beitritt in
Sicht war – gestrichen, so dass seitdem die einfache Mehrheit der Abstimmenden entscheidet.

2.3       Sonstige Beteiligungsrechte, die zu Volksabstimmungen führen können

Kroatien kennt noch zwei weitere Beteiligungsrechte, die zu einer Volksabstimmung führen
können.2 Gemäß unserer Definition zählen sie jedoch nicht zur direkten Demokratie, weshalb sie
hier zwar kurz erwähnt, jedoch nicht vertiefend behandelt werden.

2     Sehr viel ausführlicher und mit Details zu allen Abstimmungen Vospernik 2014, S. 257 ff. sowie bei
      www.sudd.ch.

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•    Das Parlamentsplebiszit (auch „Parlamentsreferendum“ genannt) nach Artikel 87: Das
            Parlament kann es mit einfacher Mehrheit auslösen und damit sowohl Verfassungsän-
            derungen als auch Gesetzesvorschläge und alle anderen Fragen des parlamentarischen
            Wirkungskreises dem Volk zur Abstimmung vorlegen. Es gilt kein Abstimmungs-
            quorum.
       •    Das Präsidialplebiszit (auch „Präsidialreferendum“ genannt) nach Artikel 87: Auch der
            Präsident Kroatiens kann – auf Vorschlag der Regierung mit Gegenzeichnung des
            Ministerpräsidenten – einen Volksentscheid anberaumen, jedoch nur zu Verfassungs-
            änderungen und zu allen anderen Fragen, „die (...) für die Unabhängigkeit, die Einheit
            und das Bestehen der Republik für bedeutend erachtet werden“3.
       •    Konsultative Volksbefragungen nach Art. 87.

3.         Praxis: Volksentscheide in Kroatien

3.1        Zwei Volksentscheide aufgrund direktdemokratischer Verfahren

Tabelle 2: Volksentscheide aufgrund direktdemokratischer Verfahren in Kroatien

Nr.     Datum    Typus *   Thema                        Stimmbe-     PRO-Stimmen                  Ergebnis
                                                         teiligung         in % der
                                                            (in %)   Abstimmenden

1       22.01.   OR        Für Beitritt zur               43,5              66,4       Vorlage angenommen
        2012               Europäischen Union
2       01.12.   VI        Ehe nur für Mann und Frau       37,9             65,9       Vorlage angenommen
        2013

* Verfahrenstypus: OR = Obligatorisches Verfassungsreferendum, VI = Volksinitiative.
Quellen: www.sudd.ch, eigene Recherchen.

Erster Volksentscheid: Beitritt zur Europäischen Union (2012)
Kroatien hatte seinen Beitritt zur Europäischen Union jahrelang vorbereitet. Die letzte Hürde auf
diesem Weg war eine Volksabstimmung, wie sie Artikel 142 der Verfassung vorsah. Am 22.
Januar 2012 sprachen sich zwei Drittel der Abstimmenden (66,4 Prozent) für einen Beitritt zur
EU aus.
Interessanterweise änderte Kroatien seine Verfassung im Vorfeld der Abstimmung – am 16. Juni
2010. Das bis dahin geltende Beteiligungsquorum von 50 Prozent für Volksinitiativen und das
Zustimmungsquorum von 50 Prozent für obligatorische Referenden wurden gestrichen. Ohne
diese Verfassungsänderung wäre der Volksentscheid über den EU-Betritt am Zustimmungs-
quorum („unecht“) gescheitert. Denn die Beteiligung lag bei 43,5 Prozent und es stimmten 28,9
Prozent der Stimmberechtigten für die Vorlage – ein Wert deutlich unter 50 Prozent.

3     Verfassung Kroatiens, Art. 87, Absatz 2 (deutsche Fassung), www.verfassungen.eu/hr.

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Zweiter Volksentscheid: Ehe nur für Mann und Frau (2013)
Der zweite Volksentscheid wurde von der katholisch-konservativen Bewegung „U ime obitelji“
(„Im Namen der Familie“) initiiert. Die Volksinitiative nach Art. 87 der Verfassung forderte,
dass die Verfassung die Ehe nur als Verbindung zwischen Frau und Mann definieren solle, was
ein Verbot der homosexuellen Ehe implizierte. Die Initiative sammelte innerhalb von 15 Tagen
fast 750.000 Unterschriften (das entspricht 16,6 Prozent der Wahlberechtigten). Das kroatische
Parlament (der „Sabor“) legte folgende Frage für die Volksabstimmung fest:

          „Sind Sie dafür, dass die Ehe in der Verfassung der Republik Kroatien als lebens-
          lange Verbindung von Mann und Frau definiert wird?“

Im November 2013, kurz vor dem Volksentscheid, rief die kroatische Regierung das Verfas-
sungsgericht an und klagte gegen das Volksbegehren, da dies nicht mit dem Minderheitenschutz
vereinbar sei. Das Verfassungsgericht erklärte am 13. November 2013 den Volksentscheid aber
für zulässig und das Ergebnis für bindend. Im Volksentscheid am 1. Dezember 2013 votierte
eine Mehrheit von 65,9 Prozent der Abstimmenden für die Vorlage und somit gegen die Homo-
Ehe. Die Beteiligung betrug 37,9 Prozent. International wurde das Ereignis kritisch gesehen und
die Frage des Minderheitenschutzes bei Volksentscheiden debattiert.4

Daten zur Praxis
    • Anzahl: Insgesamt erlebte Kroatien bis heute zwei Volksentscheide aufgrund eines
        direktdemokratischen Verfahrens.
    • Die durchschnittliche Abstimmungsbeteiligung lag bei 40,7 Prozent.5
    • Erfolge und Erfolgsquote: Beide Abstimmungen endeten im Sinne der Vorlage. Dies
        ergibt eine formale Erfolgsquote von 100 Prozent, ist aber aufgrund der geringen Fall-
        zahl nicht sonderlich aussagekräftig.

3.2       Keine Volksentscheide aufgrund sonstiger Beteiligungsrechte

In Kroatien gab es noch keinen Volksentscheid aufgrund sonstiger Beteiligungsverfahren.

4     Anders jedoch in Irland im Mai 2015, als die Homo-Ehe per Volksentscheid in die Verfassung aufgenom -
      men wurde. Diesbezüglich wäre auch interessant, wie Parlamentsmehrheiten in diesen Fragen entschei -
      den. Vgl. zum Thema Minderheitenschutz und Volksentscheide ausführlicher und differenzierter Tiefen -
      bach 2013, S. 55 ff.
5     Sie liegt damit deutlich höher als die Beteiligung bei der Europawahl 2014 (25,2 Prozent), jedoch etwas
      niedriger als bei der Wahl zum Präsidentenamt 2014 (Erster Wahlgang: 47,1 Prozent) oder bei den Parla -
      mentswahlen (z. B. 2007: 59,6 Prozent).

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4.      Literatur und Links

C2D, Centre for Research on direct democracy, Zentrum für Demokratie Aarau (ZDA):
      www.c2d.ch (Zugriff am 21.04.2015)

Direct Democracy Navigator: http://www.direct-democracy-navigator.org (Zugriff am
       24.04.2015)

Rehmet, Frank / Weber, Tim (2015): Volksbegehrensbericht 2015, herausgegeben von Mehr
      Demokratie, Berlin
      www.mehr-demokratie.de/fileadmin/pdf/volksbegehrensbericht_2015.pdf (Zugriff am
      23.04.2015).

Neue Züricher Zeitung vom 28.11.2013: Referendum gegen Homo-Ehe. Kroatiens Kirche übt
      den Protest, www.nzz.ch/aktuell/startseite/kroatiens-kirche-uebt-den-protest-1.18193595
      (Zugriff am 22.04.2015)

Suchmaschine für direkte Demokratie: www.sudd.ch (Zugriff am 4.05.2015)

Tiefenbach, Paul (2013), Alle Macht dem Volke? Warum Argumente gegen Volksentscheide
       meistens falsch sind, Hamburg

Verfassung Kroatiens: http://www.verfassungen.eu/hr/verf90-i.htm (in deutscher Sprache,
       Zugriff am 5.05.2015)

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