EINFACH LEBEN Das philosophische Wirtschaftsmagazin - eich-communications

 
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4 2   A G O R A

                                                                            AUSGABE 03/2017

                                                            EINFACH LEBEN
                                                                                              Das philosophische Wirtschaftsmagazin

Ausgabe 03/2017 | Deutschland 9,80 EUR
Österreich 9,80 EUR | Schweiz 13,90 CHF
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Einfach leben –
oder was wollt
     ihr?

                                                                        T E R R A I N
      —

   Text: Constanze Eich

   Wie schön wäre es, einfach zu leben, mit leichtem Gepäck, kon-
   kret und unmittelbar. Aber gibt es das einfache Leben wirklich?
   Verbirgt sich hinter dem „Simplify-your-life“ nur ein rentables
   Marketingkonzept? Und wer meint es wirklich ernst mit dem ein-
   fachen Leben? Klar ist: Es ist nicht so einfach, einfach zu leben.
                                                                    9
Constanze Eich                                                agora 42

                                 H
                                          eute leben wir in einer Gesell-        Ist Einfachheit käuflich?
                                          schaft, die sich mit den Heraus-    Im Grunde aber macht den Menschen
                                          forderungen der Globalisierung      das Zuviel zu schaffen: zu viel Arbeit, zu
                                 auseinandersetzen muss. Hinzu kommen         viel Kommunikation, zu viel Konsum, zu
                                 politische Unsicherheiten, ökologische       viele Möglichkeiten, zu viel gleichzeitig,
                                 Bedrohungen, ökonomische Krisen und          zu viel von allem. Wir befürchten, in den
                                 soziale Konflikte, die uns zwar häufig nur   Luxus-Zwängen, die die postmoderne
                                 indirekt über die Medien tangieren, jedoch   Gesellschaft uns auferlegt, ersticken zu
                                 zum allgemeinen Unbehagen beitragen.         müssen und der Maschinerie des Kapita-
                                 Weil all dies wenig greifbar bleibt, wird    lismus nur mit Revolte begegnen zu kön-
                                 es zur diffusen Bedrohung und nährt die      nen. Und genau hier beginnen wir, uns in
                                 Sehnsucht nach dem einfachen Leben. Es-      eigenartige Widersprüche zu verstricken
                                 kapismusgedanken und die romantische         und selbst Stereotype zu erschaffen: Zwar
                                 Überhöhung der Natur sind die Folge:         streben wir nach der Einfachheit, wün-
                                 Erdbeeren im eigenen Garten pflanzen,        schen uns nichts mehr, als dem Konsum-
                                 sie ernten, daraus köstlich duftende Mar-    terror ein Schnippchen zu schlagen, doch
                                 melade kochen, Holz hacken für den hei-      beim genauen Hinsehen werden aus jenen
                                 mischen Kachelofen, die Wohnung ent-         Einfachheitsbestrebungen nur andere,
                                 rümpeln und nur noch mit dem leben, was      neue Konsumoptionen geschaffen, die die
                                 man wirklich braucht, die Ruhe der Natur     Wirtschaft nach Herzenslust auskostet. Die
                                 genießen, den lauten, hektischen Alltag      wenigsten meinen es richtig ernst mit dem
                                 hinter sich lassen – das einfache Leben      einfachen Leben. Selten geht es darum, auf
T E R R A I N

                                 klingt wie ein Heilsversprechen in einer     neue Medien, Smartphone, Internet oder
                                 urbanen, „hyperkomplexen“ Welt, die dem      Fernsehen zu verzichten. Außer vielleicht
                                 Individuum immer mehr abverlangt.            in der Fastenzeit wird an liebgewonnenen
                                                                              Konsum- und Luxusgütern festgehalten.
                                                                              Die Beschränkung auf das Einfache, Ur-
                                                                              sprüngliche oder Unkomplizierte ist eben
                                                                              nicht etwa einfach, wie man meinen soll-
                                                                              te, es erfordert erhebliche Anstrengungen
                                                                              und Entbehrungen.
                                                                                  Zudem profitiert die Wirtschaft von
                                                                              unseren Sehnsüchten, nährt sie und be-
                                                                              dient sie, was dazu führt, dass das einfa-
                                                                              che Leben nur mittels bestimmter Inves-
                                                                              titionen erreichbar scheint. So ist es kein
                                                                              Wunder, dass der Suchende nach dem
                                                                              einfachen Leben zunächst die passende
                                                                              Lektüre braucht: Einfach leben in 10 Schrit-
                                                                              ten, Simplify your life, … your love, … your
                                                                              time, … your work oder Minimalismus für
                                                                              Dummies. Dann braucht man allerhand
                                                                              neue Geräte und Tools, um wirklich ein-
                                                                              fach leben oder gar überleben zu können:
                                                                              Outdoorläden schießen überall wie Pilze
                                                                              aus dem Boden und bieten das angemes-
                                                                              sene Equipment für das einfache Leben
                                                                              feil. Schließlich will man ja in die Natur.
                                                                              Die Berge, einst ein Ort der Stille und
                                                                              Einsamkeit, werden zum Erlebnispark für
                                                                              Wochenendeskapisten und einfache Berg-
                                                                              hütten avancieren zu Luxusherbergen. Bis
                                                                              an die Zähne ausgerüstete Städter, die in

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Einfach leben – oder was wollt ihr?                                                            agora 42

ihrem normalen Leben Highperformer            Facebook-Freunde daran teilhaben lässt.             Die Paradoxien der Einfachheit
in erfolgreichen Wirtschaftsunternehmen       Oder aber man bucht einen Retreat im             Der Rückzug in die Einfachheit, wenn auch
sind, kämpfen sich über massentauglich        Zen-Kloster mit Relaxprogramm, Work-             nur kurzfristig, und die damit einherge-
ausgebaute Klettersteige und schwärmen        shops und Vorträgen darüber, wie man am          hende Besinnung auf sich und das Wesent-
hernach von einzigartigen Selbsterfahrun-     leichtesten aus dem Hamsterrad aussteigen        liche ist seit jeher ein Thema insbesondere
gen mit sich in der Natur. Man investiert     kann.                                            der Dichter und Denker. Sehr eindrucks-
in Fahrräder mit Elektroantrieben, die teu-       Es drängt sich der Verdacht auf, dass das    voll beschreibt zum Beispiel der Philosoph
rer sind als so manches gebrauchtes Auto,     einfache Leben womöglich einfach nur ein         Henry David Thoreau im 19. Jahrhundert
kaufen in der Mittagspause völlig über-       weiterer Lifestyle geworden ist. Zwar geht       in seinem Werk Walden oder Leben in den
teuerte Stullen oder Suppen, wie Muttern      es den Simplifizierern um Abgrenzung von         Wäldern seinen Rückzug in die Einfach-
sie einst zubereitete, erfreuen uns an den    den Konsumjunkies, die völlig unreflek-          heit. In einer selbstgebauten Hütte am
vielen ökologisch anmutenden Produkten,       tiert, ja geradezu egoistisch „einfach leben“,   Waldensee suchte er zwei Jahre lang nach
die uns die Nähe zur Natur vorgaukeln und     sich keine Gedanken über Achtsamkeit,            einer Antwort auf die Frage: Wie soll ich
uns das Gefühl vermitteln, dem kapitalis-     Nachhaltigkeit oder Gemeinwohl machen            und wie will ich leben? Interessanterweise
tischen Massenkonsum wirkungsvoll zu          und stattdessen ohne Rücksicht auf die All-      war das einfache Leben ein ökonomischer
entgehen. Zuhause wird dann vielleicht        gemeinheit in die Bettenburgen nach Mal-         Reinfall, wie der Autor selber konstatiert.
noch ausgemistet und – statt das „Weniger“    lorca fliegen, beim Billig-Discounter Un-        Einer seiner Bekannten, der Land geerbt
zu genießen – in neues Mobiliar investiert,   mengen abgepackter Produkte kaufen, die          hatte, schrieb an ihn, so Thoreau, „er wür-
gerne auch von nachhaltigen Designern.        Massentierhaltung durch das Verschlingen         de gerne so leben wie ich, wenn er die Mit-
Und wenn es in den Urlaub geht, dann soll-    von XXL-Schnitzeln unterstützen und un-          tel dazu hätte.“ Auch Mahatma Gandhi hat
te es schon der alte VW-Bus sein, mit dem     sere Umwelt zerstören. Doch umgekehrt            insbesondere in seiner zweiten Lebenshälf-
man unerschlossene Gefilde in Kroatien        könnte das einfache Leben auch nur als           te ein Leben in totaler Einfachheit geführt.

                                                                                                                                              T E R R A I N
oder Norwegen erkundet, natürlich nicht       hedonistischer Trend der Hipster oder als        Die Dichterin und Gandhis Nachfolgerin
ohne die neue digitale Spiegelreflexkame-     zur Schau getragener Individualismus in-         als Präsidentin des Indischen Kongresses,
ra im Gepäck, mit der man eindrucksvoll       terpretiert werden, der zu mehr sozialer         Sarojini Naidu, hatte sich über die Lebens-
das einfache Leben dokumentiert und           Anerkennung, Aufmerksamkeit oder zu              weise des berühmten Asketen folgender-
dank WLAN-vernetztem Smartphone alle          einem temporären neuen Ich führen soll.          maßen geäußert: „Es kostet das Land ein

                                                                                                                                        11
Constanze Eich                                                                                   agora 42

                Vermögen, Gandhi ein Leben in Armut zu             sondern sie als das begreift, was sie sind:
                ermöglichen.“ Ohne die großzügige Unter-           als Teil unseres Lebens und vielleicht auch
                stützung von mächtigen Industriellen wie           größte Herausforderung unseres Daseins.
                Ghanshyam Das Birla hätte es wohl kaum             Durch das Nachdenken über diese Parado-
                die geschützten Meditationsräume, die              xien des Lebens entwickeln wir eine Hal-
                Ashrams, gegeben. Ebenso muss viel Geld            tung zu den Dingen. Wir positionieren uns
                aufgebracht werden, um Papst Franziskus            und können deshalb selbst entscheiden
                ein Leben in Einfachheit zu ermöglichen.           und gestalten.
                Ist also das einfache Leben purer Luxus                Die Suche nach dem guten Leben mag               Von der Autorin
                oder am Ende nur ein Hirngespinst, eine            dabei nach Sisyphusarbeit aussehen, weil             empfohlen:
                Utopie?                                            wir immer wieder von vorne beginnen und
                    So paradox die Überlegungen über das           dabei die Welt als undurchdringbar und                   SACH-/FACHBUCH

                einfache Lebens auch anmuten mögen, sie            sinnlos wahrnehmen. Doch ist es nicht                    Frank Berzbach: Formbewusstsein.
                haben alle den gleichen Ausgangspunkt,             gerade diese absurde Tatsache, die uns er-               Eine kleine Vernetzung der
                nämlich die Frage des Menschen nach ei-            mutigen sollte, genau jene Suche mit ihrem               alltäglichen Dinge (Verlag Hermann
                nem guten und glücklichen Leben. Diese             Scheitern und ihrem wiederkehrenden                      Schmidt, 2016)
                Frage ist so alt, wie die Menschheit selbst.       Neubeginn als wertvolle Lebensaufgabe                    Rebekka Reinhard: Die Sinn-Diät
                Sie wird zur Triebfeder für die Reflektion         wahrzunehmen und zu akzeptieren? „Wir                    – warum wir schon alles haben, was
                über das eigene Dasein und gleichsam zu            müssen uns Sisyphos als glücklichen Men-                 wir brauchen (Ludwig Verlag, 2009)
                einem unendlichen Gestaltungsraum. Wir             schen vorstellen“, sagte einst Albert Camus
                sind dem Alltag und dem Zuviel darin               – wobei das Leben des Sisyphos bei ihm für               ROMAN
                nicht passiv ausgesetzt, sondern können            das Leben des Menschen stand. Er sucht                   Marlen Haushofer: Die Wand
                aktiv formgebend in ihn eingreifen. Al-            vergeblich nach einem Sinn, kann aber die                (Ullstein Verlag, 2004)
                lein der Entschluss, die eigenen Lebensge-         ewig gleichen Handlungsabfolgen hinneh-
                                                                                                                            Hermann Hesse: Siddhartha
                wohnheiten zu überprüfen oder sie bereits          men und damit ein Stück weit seine Freiheit
                                                                                                                            (Suhrkamp Verlag, 1974)
                mit einem neuen Ziel, zum Beispiel einfa-          zurückerobern. Freiheit heißt bei Camus
                cher zu leben, zu verändern, macht uns zu          also, über Revolte gegen die Sinnlosigkeit
T E R R A I N

                mündigen Menschen, gibt unserem Da-                zu einer Akzeptanz zu finden und das Le-                 FILM

                sein eine Form und bringt uns im Leben             ben anzunehmen, wie es ist. Und diese                    Ridley Scott: Ein gutes Jahr (2006)
                vorwärts. Wir werden zu Gestaltern. Der            Akzeptanz bedeutet nicht, wie das Kanin-                 Matt Ross: 2001: Captain Fantastic
                Philosoph Wilhelm Schmid schreibt dazu:            chen vor der Schlange zu sitzen und darauf               – Einmal Wildnis und zurück (2016)
                „Die Ethik des Umgangs mit sich sollte             zu warten, gefressen zu werden. Vielmehr
                (…) kunstvoll, das heißt durchdacht und            können wir unterscheiden lernen, welche
                gestaltet, nicht kunstlos, also unüberlegt         Gegebenheiten wir schlichtweg akzeptie-
                und zufällig sein.“ In Bezug auf das Zuviel        ren müssen und in welchen Fällen wir die
                in unserem Leben schreibt er weiter: „Ein          Entscheidungsgewalt haben. Und wir wer-
                Selbst, das sich selbst zu sehr verliert, ist zu   den erstaunt sein, wie viel wir entscheiden
                keinerlei Aufmerksamkeit mehr fähig, we-           können, wenn wir nur wollen. ■
                der für sich noch für andere.“ Somit wird
                klar, warum das einfache Leben nicht nur
                als neues Lebenskonzept funktioniert, son-
                dern als existenzielles Bedürfnis aus einem
                Mangel an gesunder Aufmerksamkeit,
                sprich aus einem zivilisatorischen Leiden
                heraus entsteht.

                     Echt einfach
                Wer es also wirklich ernst meint mit dem
                einfachen Leben, der wird sicher kein Buch
                dazu brauchen, keinen Smoothiemaker
                für die einfache, gesunde Ernährung und
                auch kein Simplifizierungsseminar. Wer es
                ernst meint, hat es im Grunde einfach: Er
                muss nur den Gegensatz von dem finden,
                was ihn belastet oder was ihm zu viel wird,
                um seine Handlungsmöglichkeiten auszu-
                loten. Er muss also die Balance herstellen,
                indem er die vermeintlichen Paradoxien
                nicht als unversöhnbare Konkurrenten
                oder absurde Konstrukte wahrnimmt,

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