Einfluss der Covid-19 Pandemie auf die psychische Gesundheit und psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz

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Einfluss der Covid-19 Pandemie auf die psychische Gesundheit und psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung in der Schweiz
Eidgenössisches Departement des Innern EDI
                                    Bundesamt für Gesundheit BAG
                                    Direktionsbereich Gesundheitspolitik

Einfluss der Covid-19 Pandemie auf die psychische
Gesundheit und psychiatrisch-psychotherapeutische
Versorgung in der Schweiz

Ergebnisse aus dem 1. Teilbericht

B&A / Büro BASS, Nov 2020
Im Auftrag des BAG, Dr. Lea Pucci-Meier

19. November 2020, Herbsttagung der KKBS und VBGF
Eidgenössisches Departement des Innern EDI
                                Bundesamt für Gesundheit BAG
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Ausbruch der Pandemie: BAG Massnahmen

• Unterstützung von niederschwelligen Hilfs- und
  Beratungsangeboten (Dargebotene Hand 143, Pro Juventute
  147 und pro mente sana Beratungstelefon)
• Wissensgrundlagen: Übersichtsstudie zu den Auswirkungen
  auf die psychische Gesundheit und die psychiatrische
  Versorgung
• Kommunikation
  − www.dureschnufe.ch, www.santepsy.ch, www.salutepsi.ch
  − Hinweise und Empfehlungen auf der BAG-Webseite
  − Netzwerk psychische Gesundheit: Für Covid-19 angepasste
    Version der 10-Schritte-Kampagne → mit BAG-Layout (inkl.
    Stummfilm für Socialmedia)

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Ziel des Mandats

• Covid-19-Pandemie und die Massnahmen zum Schutz der
  öffentlichen Gesundheit → grosse Veränderungen, die
  besondere Herausforderung für die psychische Gesundheit
  bedeuten können
• Drei Themen im Zentrum
  − Auswirkungen auf die psychische Gesundheit der
    Allgemeinbevölkerung und spezifischer Risikogruppen
  − Nutzung niederschwelliger Hilfsangebote
  − Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung

• Ziel: Bedürfnisse spezifischer Bevölkerungsgruppen kennen
  und negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit
  möglichst abfedern
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Methoden
• Systematische Recherche zum aktuellen Forschungsstand
  in der Schweiz bis Okt 2020 (laufende und abgeschlossene
  Forschungsprojekte, Allgemeinbevölkerung und
  Risikogruppen)
• Analyse der Nutzung von Beratungs- und Hilfsangeboten:
  −   Die Dargebotene Hand 143
  −   Pro Juventute 147
  −   Pro mente sana Beratungstelefon
  −   www.dureschnufe.ch
  −   www.reden-kann-retten.ch
  −   www.santépsy.ch / www.salutepsi.ch

• Interviews mit Expert/innen aus den Bereichen Forschung,
  Beratung und Versorgung.                                                       4
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Resultate: Allgemeinbevölkerung
• Kein einheitliches Reaktionsmuster: starke Zunahme
  psychischer Belastungssymptome über eine hohe Resilienz
  bis zu positiven emotionalen Effekten
• Soziodemografische Faktoren weniger relevant, mehr die
  spezifischen Lebensumstände (Jobunsicherheit,
  Vereinbarkeitsprobleme, Einsamkeit etc.)
• Die Mehrheit scheint die Krise bisher gut zu bewältigen,
  Lebenszufriedenheit weiterhin hoch
• Wichtiger Faktor in der 1. Welle: schnelles und
  unbürokratisches Handeln der Behörden, v.a. für finanzielle
  Beihilfen und die Unterstützung der Wirtschaft
• Kommunikation in der 1. Welle war sehr klar, seit Ende der
  ausserordentlichen Lage mehr Unsicherheit                                  5
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Belastung der verschiedenen Altersgruppen

• Ältere Menschen Ü65: Verstärkte Einsamkeitsgefühle und
  negative Stimmung, aber nicht bei der gesamten
  Altersgruppe, sondern nur für gewisse Subgruppen: Ältere
  mit gesundheitlichen Vorerkrankungen, mit fehlenden sozialen
  Beziehungen und Isolation.
• Alters- und Pflegeheime: Besuchsverbot wird sehr
  problematisch eingeschätzt
• Ältere sind durch die Krise weniger psychisch belastet als
  jüngeren Generationen:
  − Massnahmen treffen die unter 30-Jährigen stärker
  − Im mittleren Alter sind v.a. Eltern durch Mehrfachbelastung
    betroffen, insbesondere Alleinerziehende und Familien mit
    Kindern unter 12                                                            6
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Kinder und Jugendliche
• Schulschliessungen: Kein einheitliches Reaktionsmuster →
  teilweise erhöhte Werte von Stress, Angst, emotionalen
  Problemen oder Konzentrationsstörungen; teilweise
  Verbesserung des Wohlbefindens
• Relevante Einflussfaktoren:
  − sozioökonomische Familienverhältnisse (Kinder und
    Jugendliche aus benachteiligten Familien stärker betroffen)
  − Wohlbefinden der Eltern (soziale Unterstützung, Flexibilität
    der Arbeitgeber)
• Generell grosses Bedürfnis nach physischen Kontakten zu
  Gleichaltrigen. Auch wenn Massnahmen nötig sind, muss dies
  zumindest anerkannt und nicht als rein unverantwortliches
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  Verhalten behandelt werden.
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Gesundheitsfachpersonal

• Bisher keine empirische Evidenz, dass bestimmte
  Berufsgruppen durch die Corona-Krise stärker belastet
  sind.
• Ergebnisse zeigen, dass bei einem beträchtlichen Anteil
  psychische Belastungen und klinisch relevante Symptome
  von Angststörungen oder Depressionen vorhanden sind
• Expert/innen fürchten, dass sich durch die anhaltende
  Belastung des Gesundheitspersonals Folgeerkrankungen
  und Arbeitsausfälle mehren könnten
• Unterstützung durch den Arbeitgeber als massgeblicher
  Einflussfaktor auf die psychische Gesundheit des
  Gesundheitspersonals.
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Weitere Risikogruppen

• Weitere in der Literatur und durch Expert/innen thematisierte
  Risikogruppen (z.B. Verdachtsfälle unter Quarantäne,
  Angehörige von Covid-Patient/innen, Obdach- und
  Wohnungslose, Menschen in Flüchtlingsunterkünften,
  Menschen mit Behinderungen, Menschen mit Bedarf an
  Tagesstrukturen, Migrant/innen etc.) konnten anhand von
  Daten aus der Schweiz nicht eindeutig als solche identifiziert
  werden.
• Aber: bisher noch weitgehend fehlenden empirischen
  Ergebnissen zu spezifischen Risikogruppen/-konstellationen
• Erschwerte Erreichbarkeit entsprechender Personengruppen
  für Befragungen.
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Nutzung der niederschwelligen Hilfsangebote

• Die Nutzung der untersuchten Angebote zur Förderung
  psychischer Gesundheit hat sich während der Phase des
  Lockdowns und danach bis vor die Sommermonate
  deutlich erhöht.
• Relevante Beratungsthemen: psychische Gesundheit /
  persönliche Probleme, Alltagsbewältigung, Einsamkeit,
  Isolation und Freundschaft.
• Frauen nutzten die Angebote tendenziell häufiger.
  Altersgruppe je nach Angebotskanal: telefonische Beratung
  eher von älteren Personen, Websites von Personen der
  mittleren und jüngeren Altersgruppen, Chat / E-Mail / SMS
  eher von jüngeren Altersgruppen.
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Beispiel Dargebotene Hand 143, Anzahl Anrufe

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                    Quelle: Originalabbildung Prof. M. Brülhart, Universität Lausanne
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Psychiatrisch-psychotherapeutische Versorgung

• Aktuell fehlen quantitative Daten, daher Einschätzungen von
  Expert/innen aus der Versorgung
• Erwachsenenpsychiatrie: ambulante und stationäre
  Versorgung konnte insgesamt analog dem vorherigen Niveau
  aufrechterhalten werden konnte
• Wichtiger Faktor: Massnahmen des Bundes zur Finanzierung
  fernmündlicher Konsultationen
• Nach dem Lockdown → Aufhebung der Sonderregelung zur
  Finanzierung fernmündlicher Konsultationen → wird in der
  aktuellen Situation als problematisch eingeschätzt
• Kinder- und Jugendpsychiatrie: Anstieg in
  Notfallbehandlungen zu beobachten (bereits vor der Krise
  Unterversorgung in allen Behandlungssettings!)                            12
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Mittel- und längerfristige Auswirkungen

• gewisse Ermüdung und Erschöpfung im Umgang mit der
  Corona-Krise → Risiko für psychische Belastungsreaktionen
  und Folgestörungen erhöht.

• Mittel- und längerfristige Auswirkungen werden insbesondere
  bei Kindern und Jugendlichen befürchtet. Art und Ausmass
  lassen sich derzeit aber nicht abschätzen.

• Suizidalität im Zusammenhang mit der Corona-Krise: Aktuell
  keine repräsentativen Daten, weder national noch
  international. Für die Schweiz gibt es allerdings Hinweise auf
  eine Zunahme von Suizidgedanken im Zusammenhang mit
  der Corona-Krise (vgl. auch NCS-TF, 2020a).

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Handlungsempfehlungen I
1. Strukturelle Risikofaktoren reduzieren
Wirtschafts- und sozialpolitischen Massnahmen im Kontext der Corona-
Krise; Mitdenken von Belastungs- und Schutzfaktoren für die psychische
Gesundheit im Rahmen des Krisenmanagements

2. Klar kommunizieren
   − glaubwürdig und umfassend informieren, klare und umsetzbare
     Anweisungen
   − bei Schutzmassnahmen gleichzeitig auch über Abfederung von
     Stress und Belastung informieren (finanziell, wirtschaftlich und
     psychosoziale Unterstützungsangebote)
   − aufzeigen, dass nicht nur Infektionsrisiken, sondern auch die
     sozialen und psychologischen Konsequenzen der
     Schutzmassnahmen ernst genommen und angegangen werden
   − kommunizieren was trotz Einschränkungen noch möglich ist                   14
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Handlungsempfehlungen II
3. Sozialen Zusammenhalt und Unterstützung fördern
Informelle Netzwerke der Nachbarschaftshilfe und der Freiwilligenarbeit
fördern und stärken, ihnen Sichtbarkeit verleihen und ihre Bedeutung
anerkennen.
4. Risikogruppen für psych. Belastung differenziert erfassen
Bei der Identifikation Fokus auf individuelle und soziale Belastungs- und
Schutzfaktoren legen, welche bestehende Vulnerabilitäten verstärken oder
abmildern können, sowie auf Mehrfachbelastungen achten. Betroffene
besser miteinbeziehen bei der Definition von Risikogruppen.
5. Zugang zu psychosozialer Unterstützung fördern
Zielgruppenspezifischen Ausgestaltung solcher Informations- und
Beratungsangebote: Zugangskanäle, verschiedene Sprachen, Erreichbarkeit
zu verschiedenen Tageszeiten. Bessere Bekanntmachung der Angebote,
Ausweitung in spezifischen Sektoren.
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Handlungsempfehlungen III
6. Zugang zur Versorgung gewährleisten
Regelung für die Vergütung von Psychotherapien überarbeiten:
Kostenübernahme auch bei fernmündlichen Erstkonsultationen, Gleichstellung
fernmündlicher und vor Ort durchgeführter Psychotherapie, gleiche
Bedingungen für Psychiater/innen und psychologische
Psychotherapeut/innen.
Für soziale Randgruppen und stark belastete Personen institutionelle
Angebote aufrechterhalten. Die Zugänglichkeit von IV-Stellen, Sozialbehörden
usw. sind auch für die psychiatrische Rehabilitation entscheidend.
7. Versorgungslücken schliessen, Angebote weiterentwickeln
Massnahmen zur Schliessung bestehender Versorgungslücken (Kinder und
Jugendliche, in ländlichen Gebieten). Zugangsbarrieren und Unterversorgung
abbauen durch die Sicherstellung der Finanzierung intermediärer Dienste
(Tageskliniken, mobile Equipen, Job-coaches).
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Fazit
• Insgesamt: Die Mehrheit der Bevölkerung scheint gut durch
  die Krise gekommen zu sein, Versorgung konnte insgesamt
  sicher gestellt werden.
• Aber: Corona-Krise als «Brennglas» oder «Katalysator»:
  Bestehende Tendenzen von Ungleichheit und Vorbelastung
  werden durch die Krise verstärkt
• Faktoren wie eingeschränkte soziale Kontakte oder geringe
  Selbstwirksamkeit, finanziell prekäre Verhältnisse oder
  psychische Vorerkrankungen sind eher mit negativen
  Auswirkungen der Krise auf die Psyche verbunden.
• Versorgungssituation in der Kinder- und Jugendpsychiatrie
  unabhängig von Corona problematisch – in Krisenzeiten
  können sich Engpässe verschärfen.                                         17
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Ausblick/aktuelle Situation

• In der Zwischenzeit in der zweiten Welle → Monitoring
  wird fortgesetzt bis im Frühjahr 2021 (aktuelle Situation
  muss nicht der zukünftigen entsprechen)

• Grundlage für alle Akteure im Feld

• Kommunikationskanäle / Kampagne BAG

• Niederschwellige Angebote werden weiter unterstützt

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Link zum Bericht: Original in D inkl. Zusammenfassung in F, Kurzversion in D

  https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/strategie-und-politik/politische-
 auftraege-und-aktionsplaene/politische-auftraege-im-bereich-psychische-
                           gesundheit1.html

      Kurzversion in Französisch und Italienisch in Kürze verfügbar.

       Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

                          lea.pucci@bag.admin.ch

                                                                                   19
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