Einstellungen zu umverteilender Politik - Babyboomer in Großbritannien und Westdeutschland im Vergleich - Nomos eLibrary

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Achim Goerres

 Einstellungen zu umverteilender Politik
 Babyboomer in Großbritannien und Westdeutschland im
 Vergleich∗

 Kurzfassung

 Die Babyboomer sind die geburtenstarken Jahrgänge der Nachkriegszeit, die
 die jetzige Rentnergeneration in den nächsten 30 Jahren nach und nach erset-
 zen werden. Die Babyboomer wuchsen in Zeiten starker sozialstaatlicher
 Expansion auf, von der sie stärker profitierten als vorhergehende Kohorten.
 Inwieweit unterscheiden sich die Mitglieder dieser demografischen Welle
 von früheren Generationen in ihren wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen?
 Dieser Beitrag untersucht westdeutsche und britische Daten des International
 Social Survey Programme von 1985 bis 1996 (ISSP). Entgegen den allgemei-
 nen Annahmen unterscheiden sich die Babyboomer fast gar nicht von den
 Mitgliedern früherer Generationen. Folglich müssen politische Unternehmer,
 die Reformen des Wohlfahrtsstaates anstreben und sich dabei an elektoraler
 Machbarkeit der Reformen orientieren, die Präferenzen dieser wahlstarken
 Gruppe nicht anders behandeln als die früherer Rentner.

 ∗ Für Hinweise danke ich Marius R. Busemeyer, Markus Klein, Alexander Schmidt
     sowie zwei anonymen Gutachtern der Zeitschrift für Politikwissenschaft. Die ver-
     wendeten Datensätze sind die drei Wellen des International Social Survey Program-
     me „Role of Government“ von 1985, 1990 und 1996, die von Zentralarchiv in Köln
     frei verfügbar sind (ZA2240 und ZA2900). Die Daten und Befehlsdateien können zu
     Replikationszwecken zur Verfügung gestellt werden. Frühere Versionen wurden im
     Jahr 2007 vorgestellt: in Bath (Jahreskonferenz PSA), Mainz (DVPW-AK Wahlen
     und politische Einstellungen), Chicago (Jahrestagung APSA) und Pisa (General Con-
     ference ECPR).

Zeitschrift für Politikwissenschaft 19. Jahrgang (2009) Heft 2, 205-235                      205

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Achim Goerres

 Inhalt

 1. Einleitung                                                          206
 2. Theoretische Diskussion                                             208
    a) Die generationale Besonderheit der Babyboomer                    208
    b) Politisch-ökonomische Modelle zu sozialpolitischen Einstellungen 212
    c) Die Definition der „Babyboomer“                                  213
 3. Forschungsdesign, Daten und Methoden                                215
 4. Empirische Untersuchung                                             218
    a) Die abhängigen Variablen                                         218
    b) Die unabhängigen Variablen                                       219
    c) Deskriptive Analyse                                              221
    d) Modelle wohlfahrtsstaatlicher Einstellungen                      222
 5. Diskussion der Implikationen                                        225
 6. Zusammenfassung                                                     227

                The [British] baby boomers, having throughout their lives been
                at the forefront of radical attitudinal and social change, are
                different to current generations of older people and will redefine
                the meaning of retirement (Aus einem Forschungsbericht des
                britischen Thinktanks Demos [Womack 2006]).

 1. Einleitung

 In britischen und deutschen Medien breiten sich zunehmend Diskussionen
 über die Babyboomer, die großen Geburtenjahrgänge nach dem zweiten
 Weltkrieg, und ihr Vorrücken in das Senioren- und Rentenalter aus: „‚Baby
 boomers‘ are the new political battleground“ (Independent, 20.10.06);
 „Europe‘s ageing crisis […] As baby boomers grow old, it is the young who
 will have to pay a huge price (Observer, 06.03.03)“; „Generation XY unge-
 löst“ (Spiegel, 29.03.04); „Pillenknicker müssen Babyboomer finanzieren“
 (Stuttgarter Zeitung, 09.03.04). Die Annahme ist in diesen Artikeln häufig,
 die zahlreichen Babyboomer unterschieden sich in ihren politischen Erwar-
 tungen von früheren Generationen.

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Babyboomer

      Gleichzeitig zu diesem Generationenwechsel befinden wir uns in einer
 Zeit notwendiger Reformen des Wohlfahrtsstaates, insbesondere als Antwort
 auf den gesellschaftlichen Alterungsprozess. Da die Babyboomer eifrige
 Wähler sind, müssen sich politische Unternehmer, die an der Macht bleiben
 und Reformen durchsetzen wollen, mit deren Interessen auseinandersetzen.
      Aus diesen Überlegungen heraus erscheint es sinnvoll, die politischen
 Erwartungen der Babyboomer mit denen von früheren Generationen zu ver-
 gleichen. Es wäre möglich, dass die Babyboomer – wenn ihre Präferenzen
 tatsächlich anders wären – politische Reformen über ihre Wahlmacht blockier-
 ten, (a) weil sie einen zahlenmäßig großen Anteil der Wähler stellen und (b)
 weil sie kurz vor der Verrentung stehen, d. h. dass sie bald wohlfahrtsstaatli-
 che Dienstleistungen eher beziehen als bezahlen und somit zur „Versor-
 gungsklasse“ werden (Alber 1984).
      Von einer theoretischen Warte geht die Babyboomer-Diskussion davon
 aus, dass die Sozialisation vor und nach dem zweiten Weltkrieg in westeuro-
 päischen Gesellschaften grundsätzliche Unterschiede in sozialen und politi-
 schen Einstellungen hervorbrachte. Nach dem zweiten Weltkrieg erlebten
 westeuropäische Demokratien eine starke Ausbreitung des Wohlfahrtsstaates,
 eine Zeit wirtschaftlichen Aufschwungs und die Ausbreitung von Bildungs-
 möglichkeiten für alle sozialen Schichten. Es stellt sich deswegen die Frage,
 ob die Generationen, die vor und nach dem Krieg aufwuchsen, systematisch
 unterschiedliche Präferenzen für umverteilende Politik haben. In beiden Län-
 dern wurden die sozialstaatlichen Ausgaben nach 1945 massiv hochgefah-
 ren; zudem wurden neue Programme aufgelegt, die die Zielgruppe sozialpo-
 litischer Umverteilung vergrößerten und diversifizierten.
      In diesem Beitrag werden Großbritannien und Westdeutschland vergli-
 chen, zwei Länder mit Babyboomer-Kohorten, aber unterschiedlichen wohl-
 fahrtsstaatlichen Regimes und sozialstaatlichen Expansionsentwicklungen,
 in Bezug auf Unterschiede in wohlfahrtsstaatlichen Erwartungen zwischen
 den Babyboomern und vorhergehenden Generationen. Mithilfe verschiedener
 Regressionstechniken werden Umfragedatensätze des International Social
 Survey Programme „Role of Government I-III“ (1985, 1990, 1996) unter-
 sucht. Das Ergebnis lautet: die Babyboomer unterscheiden sich nicht von
 früheren Generationen in ihren Präferenzen für umverteilende wohlfahrts-
 staatliche Politik (Gesundheit, Arbeitslosigkeit, Bildung, Rente). Es ist dem-
 zufolge ein Mythos anzunehmen, die Babyboomer seien grundsätzlich
 anders. Infolgedessen kann auch die „Besorgnis“, die Verrentungswelle
 dieser Generation könne fundamentale Reformen des Wohlfahrtsstaates

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Achim Goerres

 behindern oder erleichtern, als unplausibel ausgeräumt werden. Was bleibt,
 ist nur die numerische Größe dieser Kohorte.
     Abschnitt 1 gibt eine Übersicht über die verschiedenen Literaturstränge,
 welche die empirische Untersuchung leiten können. In Abschnitt 2 werden die
 Methoden und Daten beschrieben. Abschnitt 3 stellt die Regressionsergeb-
 nisse vor. In Abschnitt 4 werden die empirischen Ergebnisse in Bezug auf ihre
 Relevanz für die Theorie und die Reformdiskussionen interpretiert. Abschnitt
 5 stellt die Zusammenfassung dar.

 2. Theoretische Diskussion

 a) Die generationale Besonderheit der Babyboomer

 Es gibt zwei verwertbare Literaturstränge, die Vorhersagen über die genera-
 tionale Besonderheit aufgrund früher Sozialisation machen: den US-ameri-
 kanischen Babyboomer-Diskurs und die politisch-soziologische Literatur
 über politische Generationen. Der Diskurs um die Babyboomer fing in den
 USA der 80er-Jahren an. Historiker, Soziologen, Politikwissenschaftler und
 Feuilletonisten fragten nach den zu erwartenden Änderungen der amerikani-
 schen Gesellschaft, die mit der Alterung der großen Kohorte der zwischen
 etwa 1940 und 1960 Geborenen eintreten könnten. Aus dieser Tradition gibt
 es einen wachsenden Literaturzweig, in dem vor allem verschiedene Unter-
 gangsszenarien vorhergesagt werden. Allen war eine Grundthese gemein:
 Die Wohlfahrtsprogramme für Rentner (vor allem die Gesundheitsversor-
 gung und Rente) seien nicht mehr bezahlbar, sobald die Babyboomer in diese
 Lebensphase vorrückten (Kotlikoff/Burns 2004; Wallace 1999). Auf der ei-
 nen Seite dreht sich diese Diskussion um die numerische Größe der Baby-
 boomer-Kohorte (77 Millionen in den USA). Auf der anderen Seite geht sie
 auf die wenig überprüfte Annahme zurück, diese Kohorte habe andere politi-
 sche Präferenzen als frühere Kohorten. Gemäß dieser Perspektive rebellierten
 zum Beispiel die Babyboomer stärker gegen ihre Eltern als frühere Genera-
 tionen. Sie seien auch deutlicher auf Konsum ausgerichtet und durch einen
 stärkeren Drang zur Selbstverwirklichung gekennzeichnet. Aber diese Cha-
 rakterisierung basiert vor allem auf der Bewertung prominenter Mitglieder
 der Babyboomer-Generation und nicht auf Umfrageanalysen (Light 1988;
 Strauss/Howe 1991: 299-316).
     In einer systematischen Bewertung der politischen Einstellungen ameri-
 kanischer Babyboomer stellte Alwin (1998) die Existenz mehrerer Mythen

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Babyboomer

 über die Babyboomer fest, die nicht durch die Umfrageevidenz untermauert
 werden. Diese Generation ist nicht liberaler (im amerikanischen Sinne, d. h.
 progressiver) als andere Generationen, selbst wenn ihre formative Zeit in der
 liberalen Ära der 60er- und 70er-Jahren lag. Die Babyboomer waren in den
 Siebzigern noch deutlich minderheitenfreundlicher als andere Kohorten.
 Doch schrumpfte dieser Unterschied in späteren Jahrzehnten. Andere Studien
 stellen eine leicht größere Neigung zum Liberalismus bei den Kohorten fest,
 die in den 60er-Jahren jung waren (Davis 2004).
     Die politisch-soziologische Literatur über Generationen ist der übergrei-
 fende Diskurs, in den die amerikanische Diskussion einzuordnen ist. Seine
 grundlegende Idee ist, dass eine Gruppe von Individuen, die in derselben Zeit
 geboren werden, gewisse soziale und politische Erfahrungen in den ersten
 Lebensjahrzehnten teilt. Diese Erfahrungen hinterlassen Spuren in den Prä-
 ferenzordnungen der Generationsmitglieder, weil Erlebnisse im frühen Alter
 politische Einstellungen stärker beeinflussen als Erfahrungen in späteren
 Jahren. Obwohl diese frühen Präferenzen nicht deterministisch die späteren
 Einstellungen vorhersagen, sind sie sehr stabil (Alwin/Cohen/Newcomb
 1991). Diese These wird manchmal die „Baumring“-Hypothese genannt,
 weil sich gesellschaftliche Erfahrungen in generationalen Baumringen der
 Gesellschaft widerspiegeln. Für europäische Bürger kann man generationale
 Spuren früherer Erfahrung nachweisen in Bezug auf Wahlbeteiligung
 (Franklin 2004) und das Wahlverhalten (Goerres 2008). Wenn sich die Mit-
 glieder einer Kohorte der Tatsache bewusst sind, dass sie politische Präferen-
 zen miteinander teilen, nennt man diese Kohorte eine „politische Generation“
 in Anlehnung an einen Essay von Karl Mannheim (1997).
     Wenn man die Idee generationaler, politischer Sozialisation auf die Baby-
 boomer in Großbritannien und Westdeutschland anwendet, sollte man Unter-
 schiede im Vergleich zu ihren Eltern- und Großelterngenerationen erwarten,
 weil die Babyboomer nach dem zweiten Weltkrieg in einer Zeit wirtschaftli-
 chen Aufschwungs und massiver wohlfahrtsstaatlicher Expansion und ohne
 direkte Erinnerung an den Krieg aufwuchsen. Westdeutschland und Groß-
 britannien stellen zwei unterschiedliche wohlfahrtsstaatliche Regime dar,
 deren dominante Wohlfahrtsideologien zwischen der Fokussierung auf Markt
 (GB) und Subsidiarität/Familie (BRD) variieren (Andreß/Heien/Hofäcker
 2001: Kap. 3; Esping-Andersen 1990). Diese Regime wiesen in den ersten
 Nachkriegsjahren vor der Expansion des Wohlfahrtsstaates unterschiedliche
 Arten von sozialstaatlicher Versorgung auf.

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     Die westdeutschen Institutionen waren historisch viel älter und gingen
 zum großen Teil auf Einrichtungen aus der Kaiserzeit und der Weimarer Re-
 publik zurück (Alber 1986). In Großbritannien bestand vor 1948 ein minima-
 listischer Sozialstaat, der praktisch eine sozialstaatliche Versorgung aus den
 1910er-Jahren darstellte (Parry 1986). Nach 1948 expandierten beide Wohl-
 fahrtsstaaten auf beträchtliche Art und Weise in Bezug auf die Anzahl der
 Nutznießer sozialer Programme, die Großzügigkeit der Zahlungen und
 Dienstleistungen sowie den Umfang der Absicherung beispielsweise in den
 Sozialversicherungen. Die Sozialleistungsquoten stiegen in der BRD von
 14,8 (1950) auf 23,0 % (1980); in Großbritannien im gleichen Zeitraum
 von 9,6 auf 17,9 % (Schmidt/Wolf 2007: 246). Ein Index des Umfangs sozial-
 versicherungstechnischer Versorgungsdichte kletterte im Vereinigten König-
 reich von 75 (1930) auf 110 (1970). In Deutschland wuchs er von 60 auf 80
 (Flora/Alber 1982: 55). Beispiele für neuartige Sozialprogramme, die nach
 dem zweiten Weltkrieg implementiert wurden, sind Steuerermäßigungen für
 Kinder und Kindergeld (Alber 1986; Parry 1986). Rechtlich wurden beste-
 hende Regelungen modernisiert und ergänzt (für einen deutschen Überblick
 Alber 1989: 64 f.). In den ersten Nachkriegsjahrzehnten expandierte der
 Wohlfahrtsstaat in beiden Staaten mithin beträchtlich, allerdings von unter-
 schiedlichen Startpunkten aus.
     Folglich müsste der zweite Weltkrieg eine kollektive Trennscheide für
 frühe Sozialisationserfahrungen darstellen. Im Vergleich zu früheren Genera-
 tionen müsste die Einstellung eines Individuums, das in einer Zeit wohl-
 fahrtsstaatlicher Expansion aufgewachsen ist und von einer größeren Fülle
 von staatlichen Dienstleistungen (vor allem Bildungsmöglichkeiten und
 Gesundheitsversorgung) profitiert hat, zum Wohlfahrtsstaat anders sein
 (Vincent 2005). So zeigt beispielsweise eine westdeutsche Jugendstudie,
 dass unter den 15- bis 30-Jährigen im Jahr 1982 (Jahrgänge 1952 bis 1967)
 eine sehr große Nachfrage nach materieller Grundsicherung bestand, obwohl
 postmaterielle Werte in dieser Generation viel stärker verbreitet waren als in
 früheren Generationen (SINUS-Institut 1983). Gemäß der Postmaterialis-
 mus-These, deren generationale Implikationen bekannt sind, müsste die ma-
 terielle Versorgung in den Einstellungen von Individuen neuerer Kohorten,
 die nach dem zweiten Weltkrieg aufwuchsen, weniger wichtig sein, weil

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Babyboomer

 diese Generationen in wirtschaftlich guten Zeiten sozialisiert wurden und
 ihre materiellen Bedürfnisse immer befriedigt sahen (Abramson/Inglehart
 1987; Inglehart 1971, 1990).
      Wer zwischen den Weltkriegen in Deutschland oder Großbritannien
 aufwuchs, sollte erste Erfahrungen mit dem Wohlfahrtsstaat in seiner viel
 schmaleren Variante haben als ein Babyboomer. Wenn diese frühe Erfah-
 rung für spätere Einstellungen zum Sozialstaat prägend sein sollte, weil die
 politischen Erfahrungen bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen stärker
 wirken als bei Älteren, müsste sich dieser Unterschied in den Einstellun-
 gen verschiedener Generationen messen lassen. Beispielsweise zeigt ein
 Vergleich von Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat bei ost- und westdeut-
 schen Bürgern, dass im Osten sozialisierte Bürger eher gegen wohlfahrts-
 staatliche Kürzungen sind. Die Sozialisation in einem Staatswesen mit
 umfassender Sozialversorgung wie in der DDR scheint die Präferenzen
 seiner Bürger anders geprägt zu haben als diejenige im westdeutschen
 Staat (Roller 1996).
      Zusammengefasst lässt sich nun fragen: Beeinflussen die Unterschiede in
 frühen politischen Erfahrungen die Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat im
 späteren Leben? Generell erwarten wir eine höhere Befürwortung von wohl-
 fahrtsstaatlichen Leistungen bei den Babyboomern im Vergleich zu früheren
 Generationen. Je extensiver der Wohlfahrtsstaat in der Jugend, desto stärker
 ist seine Befürwortung in späteren Jahren. Diese Erwartung ist relativer
 Natur: Der deutsche Wohlfahrtsstaat weckt andere Erwartungen als der briti-
 sche. Aber die Babyboomer sollten in beiden Ländern ein höheres Versor-
 gungsniveau fordern als frühere Generationen.
      Die Kausalkette liegt in der Erfahrung von wohlfahrtsstaatlichen Klien-
 telbeziehungen (Pierson 1994): Wenn ein Individuum Nutznießer eines
 wohlfahrtsstaatlichen Programms ist, dann wird es für den Erhalt dieses Pro-
 gramms oder eine weitere Expansion sein. Da Einstellungen, die durch frühe
 Erfahrungen geprägt worden sind, nachhaltig wirken und aufrechterhalten
 werden (weil sie erlernt sind), wird ein solches Individuum ein Programm
 auch dann noch unterstützen, wenn es gar nicht mehr selbst davon profitiert.
 Angesichts der Tatsache, dass in der Generation der Babyboomer mehr pro-
 fitiert worden ist, sollte sich auch mehr Unterstützung für sozialstaatliche
 Programme relativ zu früheren Generationen messen lassen, die weniger
 profitiert haben.

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 b) Politisch-ökonomische Modelle zu sozialpolitischen Einstellungen

 Ein ganz anderer Literaturzweig beschäftigt sich mit allgemeinen Modellen,
 die zu erklären versuchen, welche Individuen wie viel und welche Art von
 wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen nachfragen. Seine Erklärungsansätze
 stehen im Gegensatz zu den Generationenerklärungen der politischen Sozio-
 logie und des Babyboomer-Diskurses, weil sie vor allem die sozioökonomi-
 sche Position des Individuums als entscheidende Determinante erfassen.
 Bean und Papadakis (1998) fassen drei Perspektiven zusammen: Klassen-
 politik (Wie und wann bildeten soziale Klassen an kritischen Stellen der
 Geschichte Koalitionen?) (Esping-Andersen 1990; Esping-Andersen/Korpi
 1984), soziale Verortung/das Eigeninteresse der Mittelklasse (Welcher so-
 zialen Klasse gehört man an? Unterstützt die Mittelklasse grundsätzlich die
 wohlfahrtsstaatlichen Dienstleistungen in einer Gesellschaft?) und die Inter-
 essen der Transferklassen (Gehört das Individuum einer Gruppe an, die
 von einem bestimmten Programm profitiert z. B. Arbeitslose oder Rent-
 ner?) (Alber 1984). Gemäß diesen drei Perspektiven könnten die Baby-
 boomer sich als aggregierte Kohorte von früheren Generationen unter-
 scheiden, weil sie eine andere Klassenschichtung – nämlich eine größere
 Mittelklasse – aufweisen.
     Eine Abwandlung dieser Theorien sozialer Lagen und Verortungen ist die
 Asset Theory sozialpolitischer Präferenzen (Iversen/Soskice 2001). Indivi-
 duen unterstützen den Wohlfahrtsstaat nicht nur, wenn sie einen Netto-
 Gewinn daraus erwarten. Vielmehr sehen Individuen auch den Versicherungs-
 charakter des Wohlfahrtsstaates. Dies gilt besonders für den Arbeitsmarkt:
 Individuen, die mit einer längeren Zeit von Arbeitslosigkeit rechnen müssen,
 befürworten stärker die staatliche Absicherung von Arbeitsmarktrisiken.
 Wiederum sagt diese Theorie Unterschiede zwischen den Babyboomern und
 früheren Generationen vorher, weil die Babyboomer andere wirtschaftliche
 Fähigkeiten akkumuliert haben. Demnach wären die Unterschiede in politi-
 scher Sozialisation weniger relevant als ihre Stratifikation nach sozialen
 Charakteristiken oder ihre Ausstattung mit spezifischen oder generell über-
 tragbaren Fähigkeiten.
     Zusammengefasst kann man zwischen zwei Schulen unterscheiden, die
 für eine empirische Untersuchung der Babyboomer relevant sind:
     1. Die Vertreter der Sozialisationsschule (die amerikanische Babyboo-
 mer-Literatur und politische Soziologie) postulieren, dass die Mitglieder

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Babyboomer

 der Babyboomer-Generation sich systematisch in Bezug auf ihre Erwar-
 tungen an den Wohlfahrtsstaat von früheren Generationen unterscheiden.
 Diese Unterschiede sind zurückzuführen auf den zweiten Weltkrieg als
 soziale und politische Wasserscheide in vielen europäischen Ländern. Das
 Ende des Krieges markierte den Beginn wohlfahrtsstaatlicher Expansion;
 die Babyboomer waren die Ersten, die von dieser Expansion profitierten
 und sollten infolgedessen den Wohlfahrtsstaat stärker unterstützen als
 frühere Generationen.
     2. Die Schule politischer Ökonomie (Soskice/Iversen, Bean/Papadakis,
 Esping-Andersen) hinterfragt nicht den Ursprung von Präferenzenbildung. Die
 Vertreter dieser Schule nehmen an, dass die sozioökonomische Position des
 Individuums, insbesondere auf dem Arbeitsmarkt oder generell innerhalb
 einer sozialen Klasse, die individuelle Position gegenüber dem Wohlfahrts-
 staat bestimmt. Somit hätte die Mitgliedschaft in der Babyboomer-Generation
 keine Erklärungskraft, sobald die Forscher den sozioökonomischen Hinter-
 grund berücksichtigt haben.

 c) Die Definition der „Babyboomer“

 Der englische Begriff der „Baby-boomer“ kam aus der amerikanischen De-
 mografie und bezeichnete ursprünglich die geburtenstarke, US-amerikani-
 sche Nachkriegsgeneration. Der deutsche Duden beschreibt einen Babyboo-
 mer allgemein als jemanden, der aus einer geburtenstarken Kohorte stammt.
 Hier verwenden wir den Begriff wieder in seiner ursprünglichen, jedoch auf
 Deutschland und Großbritannien übertragenen Verwendung: die Mitglieder
 der geburtenstarken Jahrgänge nach 1945.
 Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der Geburtenzahlen in Deutschland und
 England/Wales nach 1945. In beiden Ländern stiegen die Zahlen nach 1945
 stark an; in England und Wales fielen die Raten nach 1948 zunächst, bis sie
 nach 1956 wieder anstiegen. In beiden Gesellschaften fand die Entwicklung
 in den Jahren 1964 und 1965 ihren Höhepunkt, wonach sie wieder bis in die
 70er-Jahre hinein abfiel. Der Durchschnitt der Nachkriegsjahre zwischen
 1945 und heute wurde 1972 in Westdeutschland und 1973 in England/Wales
 erreicht. Dieser gemeinsame Abschwung war zum Teil auf die allgemeine
 Verfügbarkeit der Antibabypille zurückzuführen.

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Achim Goerres

 Abbildung 1
 Geburten in Deutschland und in England/Wales 1946-2005

        1,600,000

        1,400,000

        1,200,000

        1,000,000

          800,000

       Geburten
          600,000

          400,000

          200,000

                0
                    1946     1950   1954   1958   1962   1966       1970   1974       1978   1982   1986    1990   1994   1998   2002
                                                                             Ja hre

                                              E ngland und W ales                            Deutschland
                                              Durchschnitt E ngland/W ales                   Durchschnitt Deutschland

 Quellen: Statistisches Bundesamt (2006, 2007), Office for National Statistics (2007).

     Ich definiere Babyboomer als all jene Individuen, die zwischen 1946
 (erstes Jahr des Anstiegs) und 1972 (Erreichen des durchschnittlichen Ni-
 veaus) geboren wurden. Diese Definition geht zurück auf eine demogra-
 fisch-numerische Komponente, die über die Definition einer politischen
 Generation à la Karl Mannheim hinausgeht, und eine Sozialisationskompo-
 nente. Numerisch gesehen stellen diese Jahrgänge die große demografische
 „Welle“ nach dem zweiten Weltkrieg dar, die viele Wähler umfasst. Weiter-
 hin sollte in beiden Ländern die Nachkriegserfahrung die Mitglieder dieser
 Jahrgänge anders als die früherer Jahrgänge in ihren Einstellungen zum
 Wohlfahrtsstaat sozialisieren. In beiden Ländern kam es nach dem zweiten
 Weltkrieg zu einem massiven Ausbau des Wohlfahrtsstaates, wie oben dar-
 gelegt. In weiteren Modellen teste ich auch alternative Spezifikationen von

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Babyboomer

 Babyboomern, in denen die Gruppe der 1946 bis 1972 Geborenen in zwei
 Untergruppen (1946 bis 1957 und 1958 bis 1972) aufgebrochen wird. Die-
 se Alternative überprüft, ob die bewusste Erfahrung der Ölkrise und des
 damit zusammenhängenden Wirtschaftsabschwungs im Jahr 1973 zu
 nachhaltigen Einstellungsunterschieden führte. Weiterhin zeigen die bri-
 tischen Geburtsdaten zwei verschiedene demografische Maxima, die durch
 diese Einteilung modelliert werden, um zu testen, ob sich die Mitglieder
 der demografischen „Teilwellen“ in ihren Präferenzen voneinander unter-
 scheiden.
      Die Babyboomer-Generation wird verglichen mit zwei früheren Refe-
 renzgenerationen. Die „passive“ Kriegsgeneration umfasst die Jahrgänge
 1928 bis 1945. Die Mehrheit der Mitglieder dieser Jahrgänge hatte direkte
 Erfahrungen mit dem Krieg und dem damit verbundenen Leid, ohne selbst
 direkt am Krieg beteiligt gewesen zu sein. Die Erfahrung des Krieges spielt
 eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates, da gerade in
 Großbritannien die sozialstaatliche Expansion durch die nationale Kriegser-
 fahrung legitimiert wurde (Parry 1986). Die passive Kriegsgeneration erfuhr
 bereits im jugendlichen Alter bzw. als junge Erwachsene die Expansion
 vom schmalen zum extensiven Wohlfahrtsstaat, unterscheidet sich aber noch
 von den Babyboomern aufgrund ihrer bewussten Kriegserfahrung. Die
 „aktive“ Kriegsgeneration umschließt all jene, die 1927 oder früher geboren
 wurden. Diese Generation, die praktisch mit dem Jahrgang 1900 abschließt,
 war erwachsen am Ende des zweiten Weltkrieges, und ihre männlichen Mit-
 glieder mussten zum großen Teil am Krieg teilnehmen. Ihre Mitglieder pro-
 fitierten nicht mehr als junge Menschen von der Expansion des Wohlfahrts-
 staates; vielmehr lag ihre Sozialisationszeit in den Zwischenkriegs- und
 Kriegsjahren.

 3. Forschungsdesign, Daten und Methoden

 Empirisch nehme ich zwei Arten von Vergleichen vor: über die Zeit hinweg
 und zwischen zwei westeuropäischen Ländern (Westdeutschland und Großbri-
 tannien). Beide Länder waren bereits in der ersten Welle der ISSP-Erhebung

 	 Ich danke Susumu Shikano für diese Idee einer alternativen Spezifikation.
 	 Ostdeutschland kann leider aufgrund der Notwendigkeit langer Umfrageserien nicht
    mit einbezogen werden. Außer den beiden Ländern waren nur noch Australien, Italien
    und die USA an allen drei Wellen des ISSP Role of Government beteiligt. Eine Analyse
    aller Länder würde den Rahmen dieses Artikels sprengen.

ZPol 2/09                                                                                          215

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Achim Goerres

 vertreten. Der Vergleich von zwei Ländern erhöht die Anzahl der strukturel-
 len Kontexte, in denen die Haupthypothese getestet werden kann: Die Erfah-
 rung, in der Nachkriegszeit aufzuwachsen, beeinflusst die Präferenzen für
 den umverteilenden Wohlfahrtsstaat anders als die, in der Vorkriegszeit auf-
 zuwachsen. Obgleich sich die Natur und die allgemeine Intensität der Unter-
 stützung des Wohlfahrtsstaates in beiden Ländern unterscheiden, so sollten
 sich doch ähnliche relative Unterschiede zwischen den Babyboomern und
 früheren Generationen zeigen, weil der Sozialstaat in beiden Ländern mas-
 siv expandierte. Ähnliche Ergebnisse für zwei unterschiedliche strukturelle
 Kontexte weisen eher darauf hin, dass diese Kontexte keinen Einfluss haben.
 Unterschiedliche Ergebnisse für verschiedene Kontexte deuten auf die
 Notwendigkeit, sie in die Kausalerklärung mit einbeziehen zu müssen.
     Umfrageforschung, die sich mit Generationeneffekten befasst, sieht sich
 mit drei Effekten (Kohorte, Alter, Periode) konfrontiert. Kohorten- oder
 Generationeneffekte betreffen die Bürger, die zur gleichen Zeit geboren wor-
 den sind und deswegen eine Kohorte bilden. Der Babyboomer-Effekt gehört
 gemäß dieser Definition zu den Kohorteneffekten. Alterseffekte betreffen die
 Gruppe von Bürgern, die – unabhängig vom Geburtstagdatum – an verschie-
 denen Zeitpunkten dasselbe Alter haben. Periodeneffekte fassen all jene Ef-
 fekte zusammen, die durch den Zeitpunkt der Datensammlung entstehen. Sie
 betreffen alle Individuen, die derselben Umfragenstichprobe angehören. Sie
 sind insbesondere wichtig, weil sie die Alters- und Kohorteneffekte mit
 beeinflussen. Perioden-, Alters- und Kohorteneffekte sind jeweils perfekte
 lineare Kombinationen der beiden anderen Effekte (Glenn 1976; Hadjar/
 Becker 2006). Wenn man beispielsweise in Umfragedaten von 1985 und
 1990 die Einstellungen von 50-Jährigen betrachtet, kann deren Verhalten
 entweder darauf zurückzuführen sein, dass sie 50 Jahre alt sind, oder sich aus
 einer Kombination der wirksamen Kohorten- (geboren 1935/1940) und
 Periodeneffekte (Messung 1985/1990) ergeben. Folglich kann einer der
 Effekte – bei dieser Art von Querschnittsdaten – immer durch eine lineare
 Kombination der anderen beiden Effekte ausgetauscht werden, die zu Über-
 bestimmung führen – d. h. ein Effekt ist immer durch die Kombination von
 zwei anderen erklärbar und somit nicht eindeutig identifizierbar. Aus diesen
 Gründen muss eine Kohortenanalyse immer Längsschnittdaten benutzen – in
 unserem Fall eine Reihe von Querschnittsdaten.
     Die Daten entstammen dem International Social Survey Programme
 (Role of Government I-III) aus den Jahren 1985, 1990 und 1996. Die Fragen

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Babyboomer

 zum Wohlfahrtsstaat beziehen sich auf die Unterstützung von Ausgaben
 (mehr/weniger/gleichviel Ausgaben in einem bestimmten Bereich) oder auf
 die Unterstützung eines bestimmten wohlfahrtsstaatlichen Zieles. Der ISSP
 ist ein Querschnittdatensatz, der mehrere Bereiche wohlfahrtsstaatlicher
 Ausgaben und staatlicher Aktivitäten abdeckt. Leider fehlt bei diesen Daten
 die wiederholte Befragung derselben Individuen über die Zeit hinweg. Folg-
 lich kann man nicht die Einstellungsveränderungen einzelner Individuen
 verfolgen. Es gibt allerdings Querschnittsbefragungen mit denselben Fragen
 an drei verschiedenen Zeitpunkten. Diese können aber nicht für eine multiva-
 riate Regressionsanalyse kumuliert werden, weil drei Zeitpunkte nicht aus-
 reichen, um Probleme von Multikollinearität zwischen Kohorten- und Al-
 tersvariablen nur annähernd zu mildern. Doch sind die ISSP-Daten vorteilhaft
 aufgrund ihrer großen inhaltlichen Bandbreite und der relativ einfachen Ver-
 gleichbarkeit von Einstellungen über Länder und Zeitgrenzen hinweg.
     Der Babyboomer-Effekt ist ein Generationeneffekt. Bei der einzelnen Ana-
 lyse von Querschnittsdaten an drei verschiedenen Zeitpunkten sollte – wenn
 dieser existiert – die Richtung und Größe der Unterschiede der Babyboo-
 mer-Gruppe von den Vergleichsgruppen (statistisch der Koeffizient der
 Babyboomer-Dummys) gleich groß bleiben, wenn man die Stichproben-
 fehler berücksichtigt. Dies ist eine notwendige aber keine hinreichende
 Bedingung. Falls dieser Unterschied konstant bliebe, könnte es sich immer
 noch um einen konstanten Alterseffekt handeln. Die Gruppe der Babyboo-
 mer ist zu allen drei Zeitpunkten immer um dieselbe Alterspanne jünger als
 die Mitglieder der Vergleichsgenerationen. In diesem Falle müsste eine

 	 Ein Indikator für Multikollinearität ist der Varianzinflationsfaktor (vif). Je größer
    diese Maßzahl für eine unabhängige Variable ist, desto besser lässt sie sich durch die
    anderen unabhängigen Variablen in der Regression vorhersagen und desto geringer
    wird die Präzision der Schätzung für ihren Koeffizienten. Ab einer gewissen Höhe der
    Vifs werden Koeffizienten von Variablen insignifikant, weil Ihr Einfluss von den an-
    deren unabhängigen Variablen „aufgesogen“ wird. Je größer die Stichproblemgröße
    ist, desto höhere Vif-Werte kann man tolerieren, ohne insignifikante Ergebnisse be-
    fürchten zu müssen. Die Modelle sind auch für den kumulierten Datensatz mit Dum-
    mys für die Generationen und die Perioden, sowie mit Alter geschätzt worden. Die
    Vif-Werte für die insignifikanten Babyboomer-Koeffizienten (breite Definition) sind
    für westdeutsche und britische Stichproben 11.68 und 10.67 (Bei den Robustheitstests
    wurden zusätzliche Regressionen mit zwei Babyboomer-Untergruppen durchgeführt. In
    diesen Fällen sind die Vif-Werte 20.31 und 17.71.) Dieses Kollinearitätsniveau ist weit
    jenseits dessen, was eine solche Stichprobe leisten kann. Man orientiert sich gewöhn-
    lich an einem maximalen Vif-Wert von 5.

ZPol 2/09                                                                                           217

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Achim Goerres

 weitere Analyse von Paneldaten die Entscheidung über die Präsenz eines
 Alters- oder Generationeneffektes bringen. Doch werden wir sehen, dass
 dieser letzte Schritt nicht notwendig ist, weil diese notwendige Bedingung
 bereits nicht erfüllt wird.
     Die empirische Analyse besteht aus drei Schritten. Erstens werden die
 einfachen Unterschiede von den Babyboomern zu den Vergleichsgeneratio-
 nen dargestellt und beschrieben. Zweitens werde ich eine OLS-Analyse einer
 konstruierten abhängigen Variable vornehmen, die die latente Bereitschaft,
 wohlfahrtsstaatliche Ausgaben und Ziele aller Art zu unterstützen, misst.
 Diese Analysen sollen zeigen, ob es generelle Generationenunterschiede in
 der latenten Haltung zum Wohlfahrtsstaat gibt. Drittens werde ich – da
 keine generellen Unterschiede festzustellen sind – die Analysen für die dis-
 aggregierten Items, die sich auf die Staatsausgaben beziehen, in ordinalen
 logistischen Regressionen wiederholen. Dabei werde ich zeigen, dass die
 einzigen systematischen Unterschiede in den Bereichen Bildung und Renten
 bestehen, aber nicht stabil sind und somit keinen Generationeneffekt dar-
 stellen können.

 4. Empirische Untersuchung

 a) Die abhängigen Variablen

 Die ISSP-Daten enthalten verschiedene Items, die individuelle Einstellungen
 zum Wohlfahrtsstaat einfangen. Sie umfassen vier verschiedene Bereiche
 umverteilender Politik: Gesundheit, Arbeitslosigkeit, Bildung und Renten. Es
 gibt zwei Arten von Fragen – nach Ausgabenbefürwortung und nach der Unter-
 stützung für bestimmte Staatsaufgaben.
     1) Die Frage nach Ausgaben lautet: „Listed below are various areas of
 government spending. Please show whether you would like to see more or
 less government spending in each area. Remember that if you say ‚much
 more‘, it might require a tax increase to pay for it. More or less government
 spending on: health, education, old age pensions, unemployment benefits.
 Answer categories: Spend much more, spend more, spend the same as now,
 spend less, spend much less.“
     2) Die Formulierung der anderen Frageart lautet: „On the whole, do you
 think it should be or should not be the government’s responsibility to: Provide
 health care for the sick, provide a decent standard of living for the old, provide

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Babyboomer

 a decent standard of living for the unemployed. Answer categories: definitely
 should be, probably should be, probably should not be.“
     In der Literatur gibt es eine theoretische Unterscheidung zwischen Ein-
 stellungen, die sich auf Intensität und Extensität wohlfahrtsstaatlicher
 Ziele beziehen (Andreß/Heien/Hofäcker 2001: 106-111; Roller 1992: 47);
 gemäß dieser Unterscheidung wird erwartet, dass die Items bezüglich der
 Ausgabenhöhe und der Staatsfunktionen unterschiedliche Dimensionen
 messen. Doch zeigt die empirische Realität in diesem Datensatz, dass Be-
 fragte zugleich mehr Ziele und mehr Staatsausgaben stärker befürworten.
 So ergab eine Hauptkomponentenanalyse aller sieben Items eine latente
 Dimension, die 40 % aller Varianz erklären kann (Eigenwert 2,76) und die
 ich „wohlfahrtsstaatliche Erwartung“ benenne. Aus dieser Analyse gene-
 riere ich eine neue Variable, bei der höhere Werte stärkere Unterstützung
 umverteilender Politiken durch ein Individuum darstellt. Diese neue Variable
 stellt die Summe der gewichteten Ladungen aus der Hauptkomponenten-
 analyse dar.

 b) Die unabhängigen Variablen

 Die unabhängige Variable, auf der unser Hauptaugenmerk liegt, ist eine no-
 minale Variable mit einem Dummy für zwei der drei Generationen. Die Ba-
 byboomer-Generation umfasst all jene Individuen, die zwischen 1946 und
 1972 (alternative Spezifikationen 1946-57 und 1958-72) geboren wurden,
 die passive Kriegsgeneration die Jahrgänge 1928 bis 1945 und die aktive
 Kriegsgeneration die Jahrgänge 1900 bis 1927. Die wenige Beobachtungen
 vor 1900 und nach 1972 wurden aus dem Datensatz gelöscht. Zusätzlich
 verwende ich eine Reihe von Kontrollvariablen. Sie wurden allesamt dicho-
 tom definiert, um einen einfachen Vergleich ihrer geschätzten Koeffizienten
 mit den Generationen-Dummys zu ermöglichen.

 	 Die gewichtete Analyse ergab über die drei Zeitpunkte und zwei Länder hinweg zwar
    einen zweiten Faktor, der mit einem Eigenwert von 1,06 über der häufig angeführten
    Grenze von 1 lag. Doch zeigten die Ladungen bei der rotierten Zwei-Komponenten-
    Lösung theoretisch schwierig zu interpretierende Zuordnungen der einzelnen Items,
    die nicht dem Unterschied zwischen Intensität und Extensität entsprachen. Eine Ein-
    Komponenten-Lösung wurde daraufhin auf ihre Ladungen untersucht, wobei festge-
    stellt wurde, dass alle Items ähnlich stark auf dem einen Faktor luden (Bartholomew
    u. a. 2002: 121 f.).

ZPol 2/09                                                                                          219

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Achim Goerres

 •   Geschlecht (1 = weiblich, 0 = männlich): Je älter eine Generation wird,
     desto mehr Frauen umfasst sie, weil Frauen im Schnitt länger leben als
     Männer;
 • Bildung (1 = abgeschlossene weiterführende Schulbildung, 0 = keine
     abgeschlossene Schulbildung): Die Mitglieder neuer Kohorten sind im
     Schnitt formell höher gebildet;
 • Gewerkschaftsmitgliedschaft (1 = Gewerkschaftsmitglied, 0 = kein Mit-
     glied): Gewerkschaftsmitgliedschaft kommt in neueren Generationen
     seltener vor (Ebbinghaus/Visser 1999);
 • Beschäftigungsstatus (1 = selbstständig, 0 = alle Anderen): Je nach
     Beschäftigtenstatus haben Individuen andere Erwartungen von den
     wohlfahrtsstaatlichen Erwartungen des Staates;
 • Haushaltsgröße (1 = im Haushalt wohnen 3 oder mehr Personen, 0 = im
     Haushalt wohnen 1 bis 2 Personen): Befragte, die Kinder versorgen,
     werden bestimmte Ausgaben des Staates stärker befürworten, insbeson-
     dere Bildung; mit steigendem Alter sinkt im Schnitt die Haushaltsgröße,
     weil Kinder ausziehen;
 • Religiosität (1 = besucht religiöse Veranstaltungen wenigstens mehrmals
     im Monat, 0 = weniger oder gar nicht religiös): Jüngere Kohorten könnten
     insgesamt politisch anders (eher links) geprägt worden sein (Tilley 2005).
     Diese Variable soll die allgemeine politische Orientierung des Individu-
     ums auf dem Links-Rechts-Spektrum messen. Leider enthält der Daten-
     satz keine anderen Variablen für die Messung politischer Orientierung,
     da ebenso Fragen zu (post-)materiellen Werten fehlen.
    Abbildung 2 zeigt Datenpunkte, die die Prozentanteile der Babyboomer,
 der aktiven und passiven Kriegsgeneration darstellen, die für die Erhöhung
 der Ausgaben in einem bestimmten Politikbereich sind. Die Abbildung um-
 fasst vier Policy-Felder (Gesundheit, Arbeitslosigkeit, Bildung und Rente),
 drei Zeitpunkte (1985, 1990, 1996) und zwei Länder.

220

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Babyboomer

  c) Deskriptive Analyse

  Abbildung 2
  Die Zustimmungsraten von Babyboomern und anderen Generationen in vier
  Politikfeldern 1985-1996 in Westdeutschland und Großbritannien
                                                                        Westdeutschland                                        Großbritannien

                                                             1                                               1
                     Wahrscheinlichkeit der Befürwortung

                                                           0,9                                             0,9

                                                           0,8                                             0,8

                                                           0,7                                             0,7
    Gesundheit

                                                           0,6                                             0,6
                     von mehr Ausgaben

                     Gesundheit
                        0,5                                                                                0,5

                                                           0,4                                             0,4

                                                           0,3                                             0,3
                                                                 1985         1990        1996                      1985                1990         1996

                                                             1                                               1
                     Wahrscheinlichkeit der Befürwortung

                                                           0,9                                             0,9

                                                           0,8                                             0,8
  Arbeitslosigkeit

                                                           0,7                                             0,7

                                                                                                           0,6
                     von mehr Ausgaben

                                                           0,6

                                                           0,5                                             0,5
                     Arbeitslosigkeit
                                                           0,4                                             0,4

                                                           0,3                                             0,3
                                                                 1985          1990       1996                       1985               1990         1996

                                                             1                                               1
                     Wahrscheinlichkeit der Befürwortung

                                                           0,9                                             0,9

                                                           0,8                                             0,8

                                                           0,7                                             0,7
    Bildung

                     von mehr Ausgaben

                                                           0,6                                             0,6
                     Bildung
                                                           0,5                                             0,5

                                                           0,4                                             0,4

                                                           0,3                                             0,3
                                                                 1985         1990        1996                       1985               1990         1996

                                                             1                                               1
                     Wahrscheinlichkeit der Befürwortung

                                                           0,9                                            0,9

                                                           0,8                                            0,8

                                                           0,7                                            0,7
   Rente

                     von mehr Ausgaben

                                                           0,6                                            0,6

                     Rente0,5                                                                             0,5

                                                           0,4                                            0,4

                                                           0,3                                            0,3
                                                                 1985          1990       1996                       1985               1990         1996

                                                                                                                 Aktive
                                                                                                                 Akti      Kriegsgen.
                                                                                                                    ve Kriegsgen.              Passive
                                                                                                                                                   ve KrieKriegsgen.
                                                                                                                                               Passi      gsgen.
                                                                                                                  Babyboomer
                                                                                                                 Babyboomer

  Quelle: Eigene Berechnungen, ISSP (RoG I-III).

ZPol 2/09                                                                                                                                                                 221

                                                                                  https://doi.org/10.5771/1430-6387-2009-2-205
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Achim Goerres

     In den ersten beiden Politikfeldern müssen wir erkennen, dass es prak-
 tisch keine Unterschiede in den Einstellungen auf diesem deskriptiven Ni-
 veau gibt. Zu welcher Generation jemand gehört, hat keinerlei Auswirkungen
 auf die Zustimmung im Bereich Gesundheit und Arbeitslosenunterstützung.
 Wir sehen nur einige allgemeine Niveauunterschiede zwischen Jahren und
 Ländern. Beispielsweise ist die Zustimmung zu höheren Ausgaben (aufgrund
 des damals maroden National Health Service) in Großbritannien sehr hoch
 und bewegte sich über alle Jahre und alle drei Generationen hinweg bei etwa
 90 %. In den anderen Policy-Bereichen, wie etwa Bildung und Rente, sehen
 wir einige Unterschiede. In Westdeutschland lag die Zustimmungsrate für
 höhere Bildungsausgaben der Babyboomer in den Jahren 1985 und 1990
 deutlich über denen der anderen Generationen. In Großbritannien galt dies
 für alle drei Jahre. Im Bereich der Rentenausgaben sehen wir ein Spiegelbild
 der Bildungsausgabenmuster. Die Zustimmungsraten der Babyboomer lie-
 gen in fast allen Jahren und beiden Ländern unterhalb derjenigen der anderen
 Kohorten. Doch sind die Unterschiede im Jahr 1996 in beiden Ländern nicht
 besonders groß.
     Diese deskriptiven Ergebnisse scheinen in Bezug auf die ersten beiden
 Politikfelder der Sozialisationshypothese zu widersprechen. Wir sehen die
 erwartete relativ höhere Zustimmung der Babyboomer zu Bildungsausgaben
 und entgegen den Erwartungen eine niedrigere Befürwortung von Rentenaus-
 gaben. Die Muster bei Bildung und Rente könnten auch mit der Alterssalienz
 dieser beiden Policies zu tun haben (Busemeyer/Goerres/Weschle i. E.).
 Denn die Mitglieder der Babyboomer sind in dieser Darstellung auch immer
 die jüngsten Befragten, sodass beispielsweise die niedrigere Zustimmung zu
 Rentenausgaben auf die Tatsache zurückzuführen ist, dass Rentenniveaus
 für die Älteren eine wichtigere Bedeutung haben. Weiterhin könnten die
 Unterschiede auf Kompositionseffekte zurückzuführen sein; beispielsweise
 umfassen ältere Gruppen von Befragten mehr Frauen und Individuen mit
 durchschnittlich höherem Bildungshintergrund. Deswegen müssen wir uns
 den multivariaten Regressionsanalysen zuwenden, die eine differenzierte
 Betrachtung erlauben.

 d) Modelle wohlfahrtsstaatlicher Einstellungen

 Tabelle 1 (siehe Anhang) zeigt sechs OLS-Regressionsmodelle (drei Zeit-
 punkte, 2 Länder) mit der allgemeinen wohlfahrtsstaatlichen Erwartung als

222

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Babyboomer

 abhängiger Variable. Da die unabhängigen Variablen alle ein Minimum von
 0 und ein Maximum von 1 haben, können die geschätzten Koeffizienten di-
 rekt in ihrer Effektgröße verglichen werden. Die Richtungen der Koeffizien-
 ten von fünf Kontrollvariablen bestätigen die Erwartungen, die wir aus der
 politisch-ökonomischen Literatur heraus bilden würden: Frauen, weniger
 Gebildete, Gewerkschaftsmitglieder, Nicht-Selbstständige und weniger Reli-
 giöse (ergo: eher linke Individuen) sind in beiden Ländern im Schnitt stärker
 für ein höheres wohlfahrtsstaatliches Niveau. Die sechste Kontrollvariable,
 Haushaltsgröße, zeigt einen uneinheitlichen Einfluss.
     Wir sehen für Westdeutschland, dass die Koeffizienten für den Dummy
 der Babyboomer für 1985 und 1996 negative, insignifikante und für 1990
 positive, signifikante Vorzeichen aufweisen. Das bedeutet, dass die westdeut-
 schen Babyboomer im Jahr 1990 zwar deutlich stärker für wohlfahrtsstaatli-
 che Aus- und Aufgaben waren als die aktive Kriegsgeneration, die die stati-
 stische Referenzkategorie darstellt. Doch findet sich dieser Befund nicht für
 die anderen beiden Zeitpunkte; im Gegenteil: In jenen Fällen ist die Richtung
 negativ, wenngleich auch nicht signifikant. In den britischen Schätzungen
 ergibt sich ein ähnliches Bild. Die Koeffizienten sind entgegen den Erwar-
 tungen immer negativ und niemals signifikant, d. h. die Babyboomer unter-
 schieden sich nicht deutlich und konsistent von der aktiven Kriegsgeneration.
 Somit ist für beide Länder die notwendige Bedingung eines generationalen
 Unterschiedes, das Vorfinden einer konstanten Differenz in allen Zeitpunk-
 ten, nicht erfüllt. Was die allgemeine Erwartung gegenüber dem Wohlfahrts-
 staat angeht, sind die Babyboomer also nicht von der früheren Generation zu
 unterscheiden.
     Nun könnte es sein, dass die Aggregation zu solch einer latenten Dimen-
 sion zu stark die Unterschiede in den Einstellungen nach Policy-Feld unter-
 schlägt, die wir in der deskriptiven Analyse gesehen hatten. Immerhin gab es
 beispielsweise gerade im Bildungsbereich eine große Expansion der Mög-
 lichkeiten, von denen die Babyboomer profitiert haben. Die folgende Reihe
 von Regressionen (vgl. Tabelle 2 im Anhang) disaggregiert die latente Variable
 wieder und untersucht die Einstellungen zu Staatsausgaben in vier Bereichen:
 Gesundheit, Arbeitslosigkeit, Bildung und Renten.

 	 Die Einstellungen zu den Aufgaben des Staates werden aus Platzgründen nicht separat
    untersucht, weil bei ihnen insgesamt eine sehr hohe Zustimmung zu den Aufgaben des
    Sozialstaates besteht und somit statistisch weniger Varianz auf der abhängigen Variable
    vorzufinden ist.

ZPol 2/09                                                                                           223

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Achim Goerres

 Gesundheitsausgaben
 Es sind in keinem Land und in keinem Jahr signifikante Unterschiede zwischen
 den Babyboomern und der aktiven Kriegsgeneration nachzuweisen.

 Ausgaben für Arbeitslose
 Wiederum sind die Unterschiede zwischen Generationen in den meisten
 Regressionen nicht signifikant. In Westdeutschland (1990 und 1996) sind
 zwar signifikante Unterschiede zu sehen. Doch sind die Babyboomer einmal
 für mehr (1990) und einmal für weniger (1996) Ausgaben zugunsten von
 Arbeitslosen. Unterschiedliche Sozialisationserfahrungen scheinen keine
 nachweisbaren Spuren in Bezug auf die Unterstützung von Arbeitslosenaus-
 gaben zu haben.

 Bildungsausgaben
 In Westdeutschland finden wir für 1985 und 1990 einen positiven Effekt für
 die Babyboomer gemäß unseren Erwartungen; er ist auch 1990 signifikant.
 Allerdings ist der Effekt für 1996 negativ und signifikant. In Großbritannien
 sind alle Koeffizienten positiv, wie die Hypothese es vorgibt, doch ist der
 Koeffizient nur für 1985 signifikant. Das bedeutet auch hier, dass die not-
 wendige Bedingung für einen Kohortenunterschied nicht erfüllt ist. Die
 Muster, die wir in der deskriptiven Analyse gesehen haben, verschwinden
 größtenteils in der komplexeren Regressionsanalyse.

 Rentenausgaben
 In diesem letzten Politikbereich kann man das einzige Muster erkennen, das
 über Zeit und Länder hinweg stabil ist und das in der deskriptiven Analyse
 auch schon zu sehen war. Die Babyboomer sind immer mit einer geringeren
 Wahrscheinlichkeit für (höhere) Rentenausgaben als die Mitglieder der akti-
 ven Kriegsgeneration, wobei diese Unterschiede nur für den britischen Fall
 signifikant sind. Die passive Kriegsgeneration ist dabei auch immer weniger
 für Rentenausgaben als die aktive Kriegsgeneration.
     Entgegen unseren Erwartungen sind die Babyboomer zu allen Zeitpunk-
 ten weniger für Rentenausgaben und nicht für mehr Ausgaben als Reflexion
 	 Hinzu kommt noch die Möglichkeit eines Alterseffektes. Jüngere Leute, die selbst
    noch in der Ausbildung sind oder kleine Kinder haben, haben ein größeres Eigeninter-
    esse an höheren Bildungsausgaben. Ein Teil dieses Effektes wird durch die Variable
    Haushaltsgröße aufgefangen. Wenn man sie nicht einschließt (Ergebnisse nicht ge-
    zeigt) steigt die Größe des Babyboomer-Koeffizienten noch an.

224

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Babyboomer

 einer extensiven wohlfahrtsstaatlichen Erfahrung. Das vorliegende Ergebnis
 kann stattdessen durch einen Alterseffekt erklärt werden. Ein im Medianjahr
 der aktiven Kriegsgeneration (1914) geborenes Individuum stand 1985 kurz
 vor der Pensionierung und war 1990 und 1996 sicherlich in Rente. Mitglieder
 einer Generation, die bei der Befragung bereits pensioniert sind, unterstüt-
 zen Rentenausgaben mehr als andere, die noch nicht in Rente sind. Den
 Unterschied zwischen Deutschland, wo wir weniger Variation zwischen
 den Altersgruppen feststellen, und Großbritannien, wo die Effekte stärker
 sind, kann man damit erklären, dass Großbritannien nur eine geringfügige
 staatliche Rente bereitstellt, die weniger stark an Beiträge gebunden ist als
 die deutsche Rente. Deswegen werden staatliche Eingriffe, wie die Art der
 Indexierung und die Verknüpfung mit der Sozialhilfe für britische Rentner
 wichtiger und spiegeln sich in stärkeren Alterseffekten bei den Einstellun-
 gen wieder als in Deutschland, wo die Renten größtenteils Bestandschutz
 genießen.
    Um die Robustheit der Ergebnisse in Bezug auf die Operationalisierung
 der Babyboomer-Variable zu untersuchen, sind zusätzlich eine Reihe von
 Regressionen ausgeführt worden (erhältlich auf Nachfrage), in denen (a) die
 Babyboomer noch einmal in zwei Sub-Gruppen aufgespaltet worden sind
 (gemäß der bewussten Erfahrung der Ölkrise 1973 im Alter von 15 oder mehr
 Jahren [siehe Abschnitt 3]) und (b) diverse Interaktionsterme zwischen Ba-
 byboomer-Dummy und Bildung bzw. Geschlecht nacheinander eingeführt
 worden sind. Die Ergebnisse bestätigen, dass die Babyboomer sich auch
 in Untergruppen nicht systematisch von anderen Generationen in ihren
 Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat unterscheiden und dass die Evidenz
 robust ist.

 5. Diskussion der Implikationen

 Die empirischen Ergebnisse zeigen eindeutig, dass die demografisch starke
 Babyboomer-Generation in Bezug auf ihre wohlfahrtsstaatlichen Einstellun-
 gen nicht anders als andere Generationen in Westdeutschland und Großbri-
 tannien ist. Die wenigen signifikanten Koeffizienten sind nicht über die Zeit
 hinweg stabil. Deswegen muss die generationale Sozialisationsthese zurück-
 gewiesen werden; es hat sich keinerlei Evidenz gemäß den Erwartungen ge-
 zeigt. Die Erfahrung der Expansion des Wohlfahrtsstaates nach dem zweiten
 Weltkrieg und die größere Wahrscheinlichkeit, von mehr Möglichkeiten,
 Transfers und Dienstleistungen profitiert zu haben, hat keinen Einfluss auf

ZPol 2/09                                                                                        225

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Achim Goerres

 die Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat in Westdeutschland und Großbri-
 tannien. Das bedeutet auch, dass die zu vermutende größere Verbreitung
 postmaterieller Werte in der Babyboomer-Generation keinen Einfluss auf die
 allgemeinen wohlfahrtsstaatlichen Einstellungen hat.
     Warum schlägt sich ein Aufwachsen vor und nach dem Krieg nicht in
 völlig unterschiedlichen Erwartungen zum Wohlfahrtsstaat nieder? Eine
 plausible Erklärung könnte sein, dass der Wohlfahrtsstaat und seine nationale
 Etablierung allgemein akzeptiert sind. Unterschiede in Erwartungen ent-
 stammen nur der politisch-ökonomischen Position und keinen Sozialisati-
 onsprozessen. Paul Pierson (1994: 2) schrieb nach seiner Analyse der schwie-
 rigen Reformprozesse der Reagan- und Thatcher-Regierungen: „Welfare
 states have created their own constituencies. If citizens dislike paying taxes,
 they nonetheless remain fiercely attached to public social provision. That
 social programs provide concentrated and directed benefits while imposing
 diffuse and often indirect costs is an important source of their continuing
 political viability.“
     Da Individuen über den Lebenszyklus hinweg so häufig von wohlfahrts-
 staatlichen Programmen profitieren (als Kinder, Schüler, Eltern, Kranke,
 Rentner), könnten die ersten Einstellungen zum Wohlfahrtsstaat hinfällig
 werden. Bürger gewöhnten sich demnach an bestimmte wohlfahrtsstaatliche
 Versorgungen, die so zahlreich und verbreitet in fortgeschrittenen liberalen
 Demokratien sind, dass die eventuell existierenden frühen Einstellungsunter-
 schiede verschwänden.
     Wie kann man erklären, dass einige Forscher und vor allem die Medien
 die Babyboomer als eine Herausforderung beschreiben? Erstens kann eine
 zu oberflächliche Forschung, die nur Querschnittsdaten von einem Zeit-
 punkt untersucht, die Unterschiede zwischen der Altersgruppe, die die Baby-
 boomer beschreibt, und anderen Altersgruppen als Babyboomer-Effekt
 darstellen. Mit solch einer Analyse wäre aber noch nicht gezeigt, dass es sich
 wirklich um einen Generationeneffekt handelt. Dafür muss dieser Unter-
 schied zu anderen Generationen stabil über die Zeit hinweg sein. Es muss
 auch eine hypothetisierte Kausalkette existieren, die den Unterschied theore-
 tisch erklären kann. Zweitens könnte die Medienhysterie einfach auf die
 Stärke des Bildes zurückzuführen sein: Eine „Welle“ von anders denkenden
 Menschen wird verrentet und geschlossen gegen bestimmte Veränderungen
 stimmen. Drittens kann die Babyboomer-Kohorte als Ganzes anders wirken,
 da sie sozioökonomisch anders geschichtet ist. Doch können beispielsweise

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                              https://doi.org/10.5771/1430-6387-2009-2-205
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