Verfassungsbilder: Text und Körper in der Ikonographie des demokratischen Verfassungsstaats - Semantic Scholar

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Daniel Schulz

Verfassungsbilder: Text und Körper in der Ikonographie des
demokratischen Verfassungsstaats

1. Einleitung

Welche Rolle spielt die symbolische Darstellung der Verfassung für die Geltungs-
logik des modernen demokratischen Verfassungsstaates? Konstitutionelle Arran-
gements können nicht allein auf ihre Dimension instrumenteller Rechtstexte redu-
ziert werden, sondern müssen für die dauerhafte Behauptung von Geltung auch
symbolisch zum Ausdruck gebracht werden.1 Dabei ist eine konstitutionelle Ord-
nung als »government of laws not of men« spezifischer Ausdruck einer Differenz-
logik, in der die politische Ordnung nicht mit bestimmten Personen oder Institu-
tionen identisch ist. Vielmehr stellt sie ein komplexes Gefüge der geteilten Macht
auf Dauer und setzt nicht zuletzt durch ihren normativen Geltungsanspruch einer
identitären Verkörperungslogik deutlich sichtbare Grenzen. Der Beitrag will die-
sen Zusammenhang anhand von Verfassungsbildern untersuchen: Verfassungsbil-
der sind demnach der visuelle Ausdruck von politischen Ordnungsvorstellungen.
Mit dem Wandel zum modernen demokratischen Verfassungsstaat kommt der
Schriftrepräsentation dabei eine besondere Bedeutung zu. Die Verfassung als Text
wird zu einem wichtigen Teil des ikonographischen Repräsentationszusammen-
hanges demokratischer Verfassungsstaatlichkeit. Dabei lassen sich ikonographi-
sche Überlagerungsprozesse beobachten, in denen gerade zu Beginn der Ära mo-
derner Staatlichkeit die neue konstitutionelle Schriftsymbolik mit der älteren Kör-
persymbolik politischer Ordnung konkurriert.
  Mit den modernen Verfassungsrevolutionen in den USA und in Frankreich tritt
daher auf der Schauseite politischer Ordnung die visuell dargestellte Verfassungs-
urkunde an die Stelle älterer Verkörperungsbilder. Letztere werden dadurch je-
doch nicht einfach abgelöst. Vielmehr kann in der historischen Entwicklung eine
Dopplung von konstitutionellen Text- und Körperbildern beobachtet werden. Bei-
de Darstellungsformen konstitutioneller Ordnung können in Konkurrenz zueinan-
der treten, aber auch erfolgreich miteinander verbunden werden. Anhand der iko-
nographischen Entwicklung der offiziellen Staatsrepräsentation im nachrevolutio-
nären Frankreich lassen sich diese verschiedenen Optionen rekonstruieren. Dabei
wird deutlich, wie die Spannung zwischen Text- und Körperdarstellung der politi-
schen Verfassung in eine erfolgreiche Syntheseleistung mündet. Die Medien bilden
dabei die offiziellen Herrscherporträts und ihre Variationen, die mit dem napoleo-
nischen Kaiserreich und den konstitutionellen Monarchien an die Stelle des tradi-
tionellen Königsbildes treten und auch in den Republiken mit den Darstellungen
der Präsidenten fortgesetzt werden. Bis zum offiziellen Porträt de Gaulles wird da-

1 Vorländer 2006.

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bei eine visuelle Logik sichtbar, die mit der Spannung von Verfassungstext und
Person die These einer spezifischen Differenzlogik in der Ikonographie moderner
demokratischer Ordnungen nachdrücklich bestätigt. Deutlich wird, wie einerseits
auch republikanische Ordnung auf personalisierte Selbstvisualisierung zurückgrei-
fen, dieser Ordnungsikonographie aber eben andererseits eine Differenz einschrei-
ben, die durch den Text der Verfassung deren Unverfügbarkeit für die personali-
sierte Regierungsmacht zum Ausdruck bringt. Gerade mit dieser Differenzsymbo-
lik unterscheiden sie sich von der tradierten Einheitsdarstellung, die das Personali-
sierungsmotiv zum Leitbild souveräner Einheitsvorstellungen eingesetzt hatte.
   Gerade für den Geltungsanspruch des Rechts- und Verfassungsstaats kommt der
Visualisierung des Gesetzes und der konstitutionellen Ordnung dagegen eine be-
sondere Bedeutung zu, die sich in einem Spannungsverhältnis zu den körperlich-
personalisierten Darstellungen politischer Ordnung befinden und die auf eine
Vielzahl von historischen Vorbildern zurückgreift – seien es die Mosaischen Ge-
setzestafeln, die römischen Zwölftafelgesetze oder die sakralen Darstellungen der
biblischen Texte. Am Beispiel der französischen Entwicklung lässt sich diese Kon-
stellation besonders gut sichtbar machen. Hier treffen seit der Französischen Re-
volution unterschiedliche Elemente symbolischer Repräsentation aufeinander, in
denen die politischen Kämpfe divergierender Ordnungsvorstellung greifbar wer-
den. Die tradierte monarchische Personalisierungssymbolik trifft zum Ende des
achtzehnten Jahrhunderts auf die radikal antipersonale Bildsprache der liberal-re-
publikanischen Aufklärung mit ihrem Versuch, politische Ordnung als eine
schriftgebundene Verfassungsordnung zu definieren.
   Der Beitrag legt so ein besonderes Augenmerk darauf, welche Rolle der Verfas-
sung bei der Imagination des body politic zukommt. Welche Bedeutung besitzt der
geschriebene Verfassungstext im Symbolhaushalt politischer Repräsentation? Am
Anfang dieser Überlegung steht – gewissermaßen als Kontrastfolie – das »Urbild
des modernen Staates«, Hobbes’ Leviathan. Die klassische Personalisierungsiko-
nographie souveräner Staatlichkeit verbildlicht bei Hobbes zwar bereits die ver-
traglich begründete Herrschaft des Souveräns, sie unterschlägt jedoch zugleich das
geschriebene Gesetz, dessen Form die Herrschaft erst legitimiert. Der moderne
Konstitutionalismus amerikanischer und französischer Prägung markiert dagegen
mit seiner herausgehobenen Sichtbarkeit der geschriebenen Verfassungsurkunde
eine weitreichende Differenz zu dieser Hobbesschen Staatsvorstellung.2

2. Das Urbild des modernen Staates und die Abwesenheit des Gesetzes

Versteht man den Leviathan als »Urbild des modernen Staates«3, so ist das ver-
schriftlichte Recht in dieser symbolischen Einheitssymbolik erstaunlicherweise

2 Eine Analyse des US-Beispiels bei Haltern 2009; zur Kritik des dort verwendeten Reprä-
  sentationsbegriffs Diehl 2015.
3 Bredekamp 2003.

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abwesend.4 Die Verfassung der politischen Körperschaft wird zwar durch einen
Vertrag paktiert, jedoch bedarf es dazu für Hobbes keineswegs einer schriftlichen
Form. Dies ist insofern überraschend, weil er in seiner Definition des Rechts
durchaus geschriebenes Recht von ungeschriebenem Recht unterscheidet.5 Diese
Unterscheidung ist jedoch irreführend: Sie bezieht sich im Wesentlichen auf den
Unterschied zwischen Recht im Naturzustand und Recht im staatlichen Zustand.
Das natürliche Recht ist ungeschrieben, weil es nicht künstlich vom Menschen
erzeugt werden muss. Dagegen ist das positive staatliche Recht per Definition ein
geschriebenes Recht, weil es immer ein Produkt des Souveräns darstellt. Entschei-
dend ist dabei, dass Hobbes die Bezeichnung »geschrieben« in einer metaphori-
schen, nicht in einer buchstäblichen Bedeutung verstanden wissen will.6 Ihm geht es
lediglich um die Kennzeichnung des Rechts als künstliches Produkt, das sich durch
sein Zustandekommen aufgrund eines politischen Willens von der natürlichen
Ordnung unterscheidet. Dieses »geschriebene« Recht muss dabei keineswegs in
einem Dokument oder einem Text verschriftlicht sein – für seine Geltungskraft reicht
es vollkommen aus, wenn es gesprochen, mündlich zum Ausdruck gebracht wird.
Allein die Tatsache der öffentlichen Verkündung bildet das entscheidende Merkmal
eines Gesetzes. In genau diesem Sinne können daher auch ungeschriebene Gesetze zu
»geschriebenen« Gesetzen werden. Hobbes versteht das Gesetz in erster Linie in
Analogie zu Befehlen des Souveräns. Die eigentliche Form – als Text oder als
mündliche Verkündung – ist für seine Eigenschaft des Machtausdrucks nicht maß-
geblich. Das Gesetz nimmt Gestalt an in »ausreichende[n] Zeichen des Urhebers und
der Ermächtigung«,7 die Form dieser Zeichen hingegen bleibt kontingent. Die
notwendige Bedingung ist reduziert auf den souveränen Willen. Hobbes geht in
dieser Frage nun sogar soweit, die geschriebene Form des Gesetzes als Problem zu
betrachten: Worte sind vieldeutig in ihrer Bedeutung und können unterschiedlich
interpretiert werden. Wichtig für Hobbes ist, diese Deutungsvielfalt als Quelle
politischer Konflikte über den Sinn des Gesetzes auszuschließen. Er schreibt dem
Souverän daher nicht nur das für jeden Bürger unbedingt verbindliche Gesetzge-
bungsmonopol zu, sondern darüber hinaus auch die Deutungsautorität, die den Sinn
rechtlicher Akte hoheitlich festzuschreiben vermag und damit Verwirrung über die
Interpretation des Gesetzes und über seine wahren Absichten ausschließt. Der
souveräne Leviathan ist zugleich Quelle des Willens, Macht der Gesetzgebung und
Autorität der Deutung. Die Tatsache, dass Hobbes der schriftlichen Form des
Gesetzes nur geringe Relevanz zugemessen hat, scheint im historischen Kontext der
common law Tradition zunächst nicht allzu überraschend. Gleichwohl zeigt der
Vergleich mit seinem republikanischen Kontrahenten James Harrington, dass diese
spezifische Analogie des Gesetzes zum souveränen Befehl bei Hobbes keineswegs
unerheblich ist. Harrington hatte in seiner Kritik an Hobbes nicht zuletzt die

4   Zur Interpretation des Frontispiz neben Bredekamp auch Brandt 1982.
5   Hobbes 1994, S. 226.
6   Vgl. zur Relevanz des Metaphorischen für Hobbes nur Tralau 2014.
7   Hobbes 1996, S. 231.

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grundsätzliche Bedeutung einer geschriebenen Verfassung für eine freiheitliche
politische Ordnung unterstrichen. Nur fünf Jahre nach der Veröffentlichung des
Leviathan demonstriert Harrington in The Commonwealth of Oceana 1656, wie ein
Verfassungsdokument zu einem Bindeglied der Bürger und der Magistrate werden
könnte. Er zeigt, dass seine Vorstellung der konstitutionellen »orders«, so die
Bezeichnung der einzelnen Artikel und Abschnitte der Verfassung, sich grundlegend
von Hobbes’ Fassung des Gesetzes als souveräne Herrschaftsbefehle unterscheidet.8
Oceana ist damit das erste ideengeschichtliche Beispiel eines geschriebenen Verfas-
sungsentwurfs –9 und auch die berühmte Definition der Regierung als »the empire of
laws, not of men« bringt diese Geltungshierarchie zwischen Recht und Person zum
Ausdruck.10 Das Beispiel Harringtons zeigt, dass die Idee einer geschriebenen
Verfassung in Form eines einzelnen Dokuments im Horizont des politischen Den-
kens dieser Zeit keineswegs unvorstellbar gewesen ist. Als einheitliche Schrift bildet
die rechtlich definierte Verfassung einen republikanischen Gegenentwurf zu monar-
chistischen Semantiken wie »the Laws of this Kingdom, His Majesty’s Laws, the
Laws of the Land«.11
   Hobbes’ Leviathan ist es daher nicht in erster Linie um die Konstitution des po-
litischen Körpers durch die Verschriftlichung seiner Verfassung zu tun. Ihm geht
es vielmehr um die Frage der verbindlichen Durchsetzung der vom Souverän er-
lassenen Gesetze. Daher steht nicht der Gesetzestext, sondern das Bild des macht-
vollen Souveräns im Mittelpunkt dieser Ikonographie.12 Das geschriebene, in
einem Textdokument materialisierte Gesetz ist im Frontispiz abwesend und fehlt
damit in der einflussreichsten visuellen Symbolisierung souveräner Staatlichkeit
am Beginn des modernen politischen Denkens.
   Für Hobbes ist die Verfassung des Politischen lediglich in einem negativen Sinne
lesbar: Die Beschaffenheit des Naturrechts impliziert einen Gründungsakt, der
gerade nicht schriftlich festgehalten werden soll. Ein solches Dokument würde der
souveränen politischen Maschine lediglich Beschränkungen auferlegen und durch
seine strukturelle Deutungsbedürftigkeit die Tür für konfligierende Interpretationen

 8 Der Text gliedert sich in insgesamt dreißig »orders«, in denen die Institutionen der re-
   publikanischen Mischverfassung beschrieben werden; vgl. Harrington 1991.
 9 Riklin 1999, S. 77 u. 155.
10 Harrington 1977, S. 161.
11 Stourzh 1989, S. 19.
12 Skinner (1996) unterstreicht die Bedeutung der rhetorischen Tradition für Hobbes, um
   der wissenschaftlichen Logik seiner Theorie auch Geltungsmacht zu verschaffen; Brede-
   kamp (2003, S. 131) erklärt die fundamentale Funktion des Frontispiz als dynamisches
   Mittel zur Überwindung des geschriebenen Wortes: »Damit Verträge und Gesetze zu
   kontrollierten Handlungen werden, müssen sich Worte in Körper verwandeln, und diesen
   Vermittlungsschritt leistet das Bild des Leviathan. Ohne visuelle Repräsentation kann der
   Leviathan zwar gegründet, aber nicht dauerhaft am Leben gehalten werden. Er ist kein
   Zusatz zur Schrift, sondern das Medium zur Überwindung ihrer Schwäche.«

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öffnen. Eine schriftliche Verfassung wäre demnach die Legitimationsgrundlage für
permanente Opposition und Akte der Rebellion gegen den Willen des Souveräns.13
  Um den Vertrag durchzusetzen, der den Leviathan erschafft, bedarf es Hobbes
zufolge eines personalisierten, künstlichen Gottes, eines schöpferischen Aktes also
der »politischen Robotik«.14 Dieser machtvolle Golem dient allein dem Ziel, das
Leben seiner Schöpfer zu erhalten und sie gegenseitig vor ihrer schlechten Natur
zu schützen. Genau gegen dieses Bild ungeteilter, personalisierter Macht schaffen
die Revolutionen des späten achtzehnten Jahrhunderts nicht nur eine andere Ord-
nung der Teilhabe und der politischen Repräsentation, sondern auch ein alternati-
ves ikonologisches Gegenprogramm zum Hobbesschen Bild moderner Staatlich-
keit. Die Revolution wälzt nicht nur die Legitimitätsgrundlage politischer Macht
und ihre institutionelle Struktur grundlegend um, sondern übersetzt dieses Modell
auch in eine neue Bildsprache politischer Ordnungsvorstellung.

3. Die Französische Revolution und der Kult des Gesetzesbildes

Die Französische Revolution markiert nicht nur einen Bruch in der Bildsprache
politischer Ordnung, weil sie den Monarchen als Souverän entthront.15 Sie geht
auch über die Staatlichkeitssymbolik des Leviathans hinaus, weil sie im Unter-
schied zum Hobbesschen Imaginären den Text des Gesetzes und der Verfassung
an die zentrale Stelle ihrer Ikonographie einsetzt. Das französische Beispiel ist ge-
rade deshalb so gut geeignet, die konkurrierenden Bildsprachen des europäischen
Staatsdiskurses zu veranschaulichen, weil sich in kurzer Folge der wechselnden
Regimes von der Revolution bis weit hinein in das zwanzigste Jahrhundert para-
digmatische Konstellationen erkennen lassen: Die Verfassung und ihre bildliche
Vergegenwärtigung stehen so in einem Kampf mit der personalisierten Staatsge-
walt, der schließlich in eine komplexe Synthese einmündet und im Zeitalter der
medialen Personalisierung des Politischen ebenso aktuell wie prekär bleibt.
  Bereits in ihrer frühen Phase vor der Verabschiedung der ersten Verfassung von
1791 schuf die Revolution eine Ikonologie der impersonalen Macht, die zwar den
König noch als repräsentative Figur integriert, strukturell aber schon eine radikal
antimonarchische Stoßrichtung impliziert. Die Revolution bricht mit dem Mono-
pol personaler Verkörperung der Nation durch den König und setzt an dessen
Stelle eine neue Symbolsprache ein.16 Jenseits des traditionellen Imaginären perso-
nalisierter Souveränität entstehen so in kürzester Zeit und im rasanten Wandel
zahlreiche allegorische Körper, mit deren Hilfe die revolutionären Ideen als ta-

13 Hobbes 1996, S. 234.
14 Bates 2012, S. 63.
15 Den Zeitraum der Verfassungsikonographie von 1789 bis 1830 analysiert mit zahlrei-
   chen Bildbeispielen Reichardt 2007; umfassend zur Revolutionsikonographie auch
   Schröer 2014.
16 Eine weitere wichtige Alternative zum Leviathan ist das Parlament als Kollektivkörper:
   dazu Skinner 1998, S. 32; Skinner 2012, S. 24-43; Manow 2008.

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bleaux vivants zur Aufführung gebracht werden – die Göttin der Freiheit, die Re-
publik, die Nation und das Volk treten so nach und nach auf die Bühne der politi-
schen Symbolik und evozieren in gewandelten Variationen die Legitimitätsgrund-
lage der neuen Ordnung vor den Augen des zum Publikum erhobenen französi-
schen Gemeinwesens (Abb. 1).

         Abb. 1: Déclaration des droits de l’homme et du citoyen 1789.

Neben diesen transformierten politischen Verkörperungen tritt nun auch die Ver-
fassung selbst in die Szenerie visualisierter Leitideen ein. Der Wandel von der al-
ten, physiologisch geprägten Begrifflichkeit hin zum normativen, textbasierten

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Verfassungsverständnis17 spiegelt sich also auch in der Symbolisierung des Politi-
schen. Der Bruch ist jedoch keineswegs eindeutig: Die Verfassungsbilder können
das Dokument selbst und damit den Text abbilden, aber auch in der personifizier-
ten Gestalt einer Verfassungsgöttin erscheinen. Zudem hat sich der ursprüngliche
Impuls des Verfassungstextes als Gegenbild zur personalen Herrscherfigur nicht
lange erhalten. In der revolutionären Ikonologie wird es bald durch zahlreiche Al-
ternativen an den Rand gedrängt und verschwindet gänzlich in der napoleoni-
schen Herrschaftsinszenierung. Das neunzehnte Jahrhundert hat dann eine reiche
Vielfalt an Kombinationen und symbolischen Amalgamierungen produziert, in de-
nen der Konflikt über den Charakter und die Legitimität politischer Ordnung in
Frankreich reflektiert wird. Das Beispiel der Verfassungssymbolik und gerade die
Differenz zwischen Text- und Körperbildern offenbaren einen tiefen Einblick in
die politischen Kämpfe, die den demokratischen Verfassungsstaat geprägt haben
und die sich seit der Revolution über die konstitutionellen Monarchien, die Zwei-
te Republik, das Second Empire und schließlich die Republiken bis hin zu Charles
de Gaulle ikonographisch rekonstruieren lassen. Diese historisch rekonstruierbare
Spannungsgenese verhindert zudem, das für die gegenwärtigen Mediendemokrati-
en beobachtete Phänomen der Personalisierung des Politischen als vollkommen
neu oder gar allein als kulturelle Verfallserscheinung zu beurteilen.18

3.1 Vom Textkörper zur Volksverkörperung
Die republikanische Opposition gegen die Personalisierungssymbolik drückt sich
dort am sichtbarsten aus, wo der Verfassungstext selbst an die Stelle des politi-
schen Körpers eingesetzt wird. Generell besitzt die Schriftsymbolisierung für die
Ikonographie der Revolution ein besonderes Gewicht. Ein Schlüsselmoment
kommt dabei dem Akt der Verschriftlichung des politischen Willens in das konsti-
tutionelle Dokument der Verfassungsurkunde zu. Anders als bei Hobbes soll also
nicht die politische Einheit in Gestalt einer personalisierten Souveränität verkör-
pert werden, sondern gerade der Akt der Schriftwerdung der politischen Ordnung
wird symbolisch besonders verdichtet. Es ist daher kein Zufall, dass gerade das
Bild von Jacques-Louis David Le serment du jeu de paume (1789) an Ikonizität
kaum übertroffen wird: Hier kreuzen sich verschiedene Sinnebenen des revolutio-
nären Ordnungsdenkens, denen erst in der bildlichen Darstellungen eine heraus-
gehobene semantische Intensität verliehen wird. Der ephemere Moment des
Schwurs wird zum Sinnbild der konstitutionellen Verbindlichkeitsstiftung, denn
festgehalten wird die Intention, die im Schwur ausgedrückte Einheit in eine dauer-
hafte Verfassung zu übertragen (Abb. 2).

17 Grimm 1991.
18 Eine Analyse gegenwärtiger Personalisierungstendenzen müsste allerdings zeigen, wie
   sehr sich die Inszenierung von Personen wie Berlusconi, Wilders, Trump und Anderen
   als »Anti-Politiker« von der klassischen Folie staatsmännischer Repräsentation unter-
   scheidet – eine Folie, die dagegen von den neuen Autokraten wie Putin oder Erdogan
   in noch ganz anderer Weise als Identitätsrepräsentation genutzt wird.

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                               Abb. 2: Der Ballhausschwur.

Im Mittelpunkt des Bildes steht der symbolische Kern des Verfassungsgebungspro-
zesses: Die versammelten Repräsentanten der Generalstände schwören einander,
so lange zusammenzubleiben, bis sie eine neue Verfassung verabschiedet haben.
Der politische Wille zur dauerhaften Einheit soll sich auf die Verfassung übertra-
gen, um auch sie auf Dauer zu stellen. Damit verbindet der kollektive Wille die
Form der politischen Ordnung mit ihrer geschriebenen Konstitution und bricht so
mit der arbiträren Herrschaft des personifizierten Souveräns. Das kleine Stück Pa-
pier mit dem Text des Schwurs bildet das symbolische Zentrum des Bildes und
markiert damit eine klare Differenz zur schriftlosen Identitätsinszenierung bei
Hobbes. Wenngleich der Text selbst nicht sichtbar ist, so wird hier doch deutlich
die Wandlung des politischen Willens in das geschriebene Dokument der Verfas-
sung vorweggenommen. Die von den körperlich anwesenden Repräsentanten aus-
gehende ursprüngliche Autorität wird in einen Verfassungstext übertragen, der
den vorübergehenden Augenblick der Verfassungsgebung im Medium der schrift-
lichen Materialisierung transzendiert.
   Dieser Autoritätstransfer kulminiert daher in der Idee eines quasi-sakralen, uni-
versal gerechtfertigten Dokuments und wird zum Ausdruck der neuen Legitimität.
Dieses Bildprogramm setzt sich in der berühmten Darstellung der Déclaration de
droits de l’homme et du citoyen von 1789 fort, die nur noch als von allegorischen
Personen begleiteter Text erscheint. Die Darstellung der Menschen- und Bürger-
rechte in Gestalt mosaischer Gesetzestafeln bildet eines der wirkmächtigsten und
radikalsten Gegenbilder zum Leviathan, weil es mit der zentralen Darstellung des
Gesetzes auch zahlreiche Bindungs- und Verpflichtungsbehauptungen symbolisch

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zum Ausdruck bringt, die sich von der Bildstrategie des Leviathan grundsätzlich
unterscheiden: An die Stelle der freiwilligen Unterwerfung unter die Fremdbin-
dung des Souveräns tritt die politische und rechtliche Gestalt der Selbstbindung
des Gesetzgebers, an den die Erklärung adressiert ist.19
  Damit wird das Bild des personalisierten politischen Körpers gebrochen und of-
feriert eine andere Möglichkeit, politische Einheit in Bilder zu fassen. Die Mittel,
die Verbindlichkeit des Rechts auch durchsetzen zu können, sind gleichwohl im-
mer noch präsent, aber die Eigenschaften der dargestellten Bindungen haben sich
gewandelt. Es sind nicht mehr die Ketten, mit denen Hobbes – die republikani-
sche Tradition ironisierend und die Freiheits- durch Sklavereisymbolik ersetzend –
die Gesetze verglichen hatte, und die hier nur noch als Zeichen der überwundenen
Sklaverei zitiert werden. Stattdessen stehen sehr viel fragilere Bindungen mit ande-
ren Merkmalen im Mittelpunkt – geflochtene Girlanden als Hinweis auf die eben-
so künstliche wie natürliche bürgerliche Verbindung, der Ouroboros als Zeichen
der Rückbindung an den Gründungsakt, die Fasces als Verbindung der Individuen
zu einer politisch handlungsmächtigen Gemeinschaft. Diese Assoziationsikono-
graphie steht daher den republikanischen Bindungen eines Ambrogio Lorenzetti
näher als den eiserenen Ketten des Gesetzes.20
  Während der ersten Phase der Revolution bis 1793 illustrieren zahlreiche Bei-
spiele, wie der Verfassungstext die monarchische Personalisierung des Ancien Re-
gime nach und nach ersetzt.21 Dieser Prozess vollzieht sich nicht als plötzlicher
Bruch, sondern eher graduell, schrittweise. Die Verfassung von 1791 kann durch-
aus noch zusammen mit dem Monarchen dargestellt werden, auch wenn die Be-
deutung des Letzteren zugunsten der Verfassung auf ein untergeordnetes Bildele-
ment geschrumpft ist. Während im Ancien Regime die Gesetze eine Funktion des
königlichen Körpers bildeten, so verkehrt sich diese Relation nun in ihr Gegenteil:
Der König wird zur symbolischen Funktion der Verfassung, sein politischer Kör-
per wird nicht mehr durch die Gnade Gottes konstituiert, sondern durch den Text
der Verfassung und den dort detaillierten rechtlichen Normierungen seiner Macht.
Die Macht der Verfassung erhält auch in der Ikonographie eine immer stärkere
Autonomie gegenüber der königlichen und kann ihr als allegorisch verkörperter
Text in Gestalt der Freiheitsgöttin selbst gegenübertreten. Dieses Szenario wandelt
sich nach der Enthauptung Ludwig XVI. zu einer klaren ikonischen Hegemonie
des Verfassungstextes.
  Nach dem erzwungenen Abtritt des Königs treten allerdings bald neue Formen
personaler Verkörperung in die Symbolisierungskämpfe der Revolution ein, um
die mit der Revolution aufgeworfene Frage nach der Verkörperung des Volkes
und seiner Souveränität zu entscheiden. Gerade der jakobinische Diskurs schafft

19 Dazu ausführlich Schulz 2009.
20 Zur Diskussion der komplexen Ikonographie Lorenzettis vgl. Skinner 2002; zum Ver-
   gleich der unterschiedlichen Verpflichtungslogiken bei Lorenzetti und Hobbes vgl.
   Münkler 1994, S. 58: Hobbes konzentriert sich auf die Durchsetzung des Rechts, Lo-
   renzetti auf seine Grundlegung.
21 Vgl. die Beispiele bei Reichardt 2007.

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die Situation eines double bind, indem er einerseits auf die Verfassung als einen
heiligen Text referiert – mit den Worten Saint Justs als »heiliges Bild der Frei-
heit«,22 einen sakralisierten Text in Analogie zu den mosaischen Gesetzestafeln
ohne die Person des Mose –,23 andererseits aber die politische Bindungssemantik
wieder repersonalisiert und durch starke Körperbilder verstärkt, die sich durch
eine unmittelbare Einheit des Volkes mit sich selbst und ohne weitere Hinweise
auf die ermöglichenden Prozeduren und Institutionen in Gestalt eines corpus mys-
ticum offenbart. Das jakobinische Phantasma der Unmittelbarkeit ist gleichwohl
nicht mehr an die Schrift der Verfassung gebunden, sondern vollzieht sich im ge-
sprochenen Wort als prätendierte Einheit des Redners mit seinem Publikum.24Mit
der Verdrängung des konstitutionellen Schriftmediums bereitet die Radikalisie-
rung der Revolution die Wiederkehr des verdrängten Körpers vor: Mit Napoleon
kehrt der Herrscher machtvoll zurück auf die politische Bühne und geht eine iko-
nologische Synthese mit der neuen demokratischen Legitimitätsvorstellung ein.
Der Glaube an den transzendenten Charakter der schriftlichen Verfassung weicht
einer Repersonalisierung des Politischen. Die von Jacques-Louis David im Bild in-
szenierte Krönungszeremonie (Le sacre de Napoléon, 1806) zeigt die Selbstkrö-
nung Napoleons 1804 und markiert einen klaren ikonographischen Bruch mit der
revolutionären Verfassungsverehrung25 – eine schriftliche Verfassung oder auch
nur ein Gesetz ist in der auf die Person des neuen Herrschers konzentrierten Dar-
stellung nicht mehr vorhanden. Doch auch wenn diese Machtinszenierung auf den
ersten Blick wie eine Rückkehr zu traditionellen Formen monarchischer Souverä-
nität erscheint, so könnte das visuelle Narrativ des die Revolution zu ihrem Ende
bringenden, sich selbst krönenden Kaisers davon doch nicht weiter entfernt sein.
Als «homme-peuple«26 inkarniert Napoleon die neue Legitimität des demokrati-
schen Souveräns und invisibilisiert durch die akklamierte Einheit mit dem Volk
den Verfassungstext.

3.2 Auf den Leib geschrieben: Der Monarch als konstitutionelle Fiktion
Erst nach dem Ende des Kaiserreiches kehrt die Verfassung auf die Bühne der
symbolischen Repräsentation zurück. Die restaurierte Monarchie unter Ludwig
XVIII. sieht sich angesichts der erschütterten Grundlagen monarchischer Herr-
schaft zu einem geltungssichernden Zugeständnis an den liberalen Konstitutiona-
lismus gezwungen. Die Verfassungscharta von 1814 wird im Gestus eines königli-
chen Geschenks den Untertanen oktroyiert und steht noch deutlich im Schatten

22 Saint-Just 1976, S. 190.
23 Siehe beispielsweise den Druck La Constitution Républicaine, semblable aux tables de
   Moyse, sort du sein de la Montagne au milieu de la foudre et des éclairs von Louis-
   Jean Allais (http://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv 1b8411961f [Zugriff vom 5.4.2017],
   abgebildet bei Reichardt 2007).
24 Jaume 1989.
25 Schröer 2010.
26 Rosanvallon 2000, S. 193.

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Verfassungsbilder: Text und Körper in der Ikonographie des demokratischen Verfassungsstaats 81

des Monarchen. Es wird jedoch sehr schnell klar, dass die monarchistische Reprä-
sentation des politischen Körpers ihre Grundlage verloren hat (Abb. 3).

                                      Abb. 3: Le roi et la charte.

Der Körper des Königs ist für den Geltungsanspruch legitimer Macht nicht länger
hinreichend. Sein Bildnis wird buchstäblich vom Text der Verfassung überschrie-
ben. Diese Überlagerung von Schrift und Körper wird in der postrevolutionären
Epoche nicht mehr hintergehbar. Der reaktionäre Versuch von Karl X., die Charta
zugunsten einer neoabsolutistischen Herrschaftspraxis zu suspendieren, schlägt
fehl, weil die zunehmende Deutungsmacht des Konstitutionalismus eine Emanzi-
pation des Monarchen vom Verfassungstext nicht mehr zulässt.
   Die zeitgenössische Karikatur Karl X. demonstriert diese Situation in zweierlei
Hinsicht: Zum einen trampelt der Monarch erzürnt auf der Verfassung und den
Symbolen des Rechts herum. Zum anderen aber entspringt der König buchstäb-
lich dem Verfassungstext – sein Versuch, sich von diesem literarischen Ursprung
zu befreien muss fehlschlagen. Als König existiert er nicht anders denn als konsti-
tutionelle Schöpfung. Der Inhaber von Macht und Autorität aus royalem Eigen-
recht hat sich in einen fiktionalen Charakter verwandelt, eine Schöpfung des Au-
tors der Verfassung. Nicht der König verkörpert die Verfassung, sondern der Ver-
fassungstext verleiht ihm erst seinen politischen Körper und damit seine Existenz.

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                                         Abb. 4: Karl X.

Nach der Revolution von 1830 setzt sich diese Entwicklung in der Juli-Monarchie
fort: Ein vergleichender Blick auf die Darstellung der Staatsoberhäupter in den
konstitutionellen Monarchien Frankreichs verdeutlicht die Entwicklung sehr ein-
drücklich (Abb. 5). Das offizielle Porträt Ludwig XVIII. führt kaum merklich
aber doch sichtbar eine neue Begründung seiner Legitimität in die politische Herr-
schaftsikonographie ein. Die traditionellen Regalien stützen sich auf die geschrie-
bene Verfassung, die für den Betrachter nahezu verborgen bleibt. Im Bildnis
Louis-Philippes wird die Verfassung bereits sehr viel präsenter und behauptet, in
Leder gebunden, mehr Gewicht als ihre Vorgängerin (Abb. 6). Nach der Revoluti-
on von 1848 wird Louis Napoleon Bonaparte schließlich vom König zum Präsi-
denten der Zweiten Republik degradiert und schrumpft zu einer bloßen Illustrati-
on des Verfassungstextes (Abb. 7). Jedoch scheitert der Versuch der Entpersonali-
sierung politischer Souveränität erneut: Nach dem Volksreferendum wird er zum
Kaiser Napoleon III. gewählt und streift seine lästigen konstitutionellen Bindun-
gen ab (Abb. 8). Mit der Rückkehr des Körpers ohne Text verschwindet die Ver-
fassung wieder aus der politischen Ikonologie und macht den Weg frei für eine
Reminiszenz an den Absolutismus Ludwig XIV. und seine symbolische Inszenie-
rung.

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Verfassungsbilder: Text und Körper in der Ikonographie des demokratischen Verfassungsstaats 83

Abb. 5: Louis XVIII.                                         Abb. 6: Louis-Philippe.

Abb. 7: Louis Napoleon Bonaparte.                            Abb. 8: Napoleon III.

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4. Gezähmte Körper: Der Staatspräsident als erster Bürger

Mit der Dritten Republik setzt eine erneute Transformation ein: Die offiziellen
Portraits der Präsidenten, deren politische Machtposition gegenüber dem Parlament
nunmehr rein repräsentativ ist, übernehmen einerseits ikonische Elemente der
konstitutionellen Monarchie und ändern dabei doch gänzlich ihre Bildfunktion: An
die Stelle farbiger Ölgemälde treten mit Adolphe Thiers eine Reihe von sich stark
ähnelnden Schwarzweißphotographien, deren prosaischer Realismus sich zum einen
vom monarchischen Inszenierungsgestus durch bürgerliche Nüchternheit abhebt.
Zugleich unterstreichen sie aber durch das moderne Medium der Photographie den
fortschrittlichen Charakter der neuen Ordnung und kontrastieren die positivisti-
schen, wissenschaftsgläubigen Leitideen des republikanischen Rationalismus gegen
die historische Tradition und ihre feudale Ornamenthaftigkeit.
  Erst mit der Gründung der V. Republik und dem starken Präsidenten Charles de
Gaulle kehrt auch die Verfassung in die politische Ikonologie zurück, nachdem sie
auch in der IV. Republik kaum eine symbolische Rolle gespielt hatte. In einem der
ersten Beispiele für den Einsatz von Farbphotographie bei einem offiziellen Por-
trät steht auch de Gaulle mit der Wahl dieses Mediums für technischen Fortschritt
und Modernität – zugleich aber ahmt der Bildgestus die Pose traditioneller mon-
archischer Herrscherbilder nach (Abb. 9).

                                Abb. 9: Charles de Gaulle.

Die Verfassung fungiert hier wiederum als Differenzmarkierung, mit der die sym-
bolische Funktion einer Dezentrierung des politischen Herrscherkörpers erfüllt

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Verfassungsbilder: Text und Körper in der Ikonographie des demokratischen Verfassungsstaats 85

wird. Die Visualisierung des Verfassungstextes zusammen mit dem Körper des
Präsidenten macht die heute banal erscheinende, aber vor dem historischen Hin-
tergrund politischer Herrschaftssymbolik keineswegs selbstverständliche Tatsache
anschaulich, dass die Verfassung und der Präsident nicht in einem Körper aufge-
hen, sondern voneinander in mehrfacher Hinsicht unterschieden werden müssen.
Der biologische Körper ist nicht identisch dem politischen Körper, sondern wird
durch den Rechtstext der Verfassung artifiziell vermittelt. Gerade angesichts der
Doppelrolle de Gaulles als Verfassungsgeber und als gewähltes Staatsoberhaupt
innerhalb der konstituierten Gewalt ist diese Differenz bedeutsam.
  Ein bemerkenswertes Detail der Darstellung liegt darin verborgen, dass es sich bei
der Verfassung nicht um das einzige abgebildete Buch handelt. Der vergleichsweise
dünne Lederband mit der Verfassung ruht auf einem wesentlich umfangreicheren
Werk: Es handelt sich dabei um eine Ausgabe von Jules Renault La Légion d’Hon-
neur (1931), die keineswegs zufällig von de Gaulle ausgewählt worden ist. Der
Prachtband über die französische Ehrenlegion symbolisiert die Anwesenheit dessen,
der in der de Gaulleschen Inszenierung einerseits überpräsent, andererseits jedoch
nicht unmittelbar sichtbar ist. Schlägt man den Band auf, so ist auf den ersten Seiten
der Gründer der Ehrenlegion in zwei Faksimiles abgebildet (Abb. 10).27

                                           Abb. 10: Napoleon.

27 Renault 1931, 1: Planche 1: Bonaparte, premier Consul Créateur de la Légion d’Hon-
   neur, peint par Yvon; Renault 1931, Planche 2: Napoléon Ier, en costume du Sacre,
   Gravé par B.T. d’après le tableau de David; Planche 3: Armes d’Honneur, Fusils et sab-
   res d’honneur (Musée de la Légion d’honneur).

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Diese versteckte Präsenz Napoleons, ein als Schrift camoufliertes Bild im Bild, er-
klärt aber noch nicht die Wahl der Ehrenlegion: Die Legion verweist nicht nur auf
ihren Gründer, sondern repräsentiert auch die Leitidee des Gemeinwohls, den tu-
gendhaften Bürger, der sich um den Erhalt und die Verteidigung der Verfassung
verdient gemacht hat (Abb. 11). Daher sind auch die Machtmittel zum Schutz der
Verfassung gegen ihre Feinde visuell präsent. Direkt nach den ersten Bildertafeln
mit den Napoleonporträts zeigen die folgenden Tafeln verschiedene »armes
d’honneur« aus der Sammlung des Museums der Ehrenlegion.28 Anders als im Le-
viathan erscheinen in der Inszenierung de Gaulles die Instrumente der Durchset-
zungs- und Verfügungsmacht nicht allein als Mittel des Souveräns zum Erhalt der
Rechtsgeltung. Vielmehr wird diese »invisibilisierte Machtreserve«29 hier auch als
ein republikanischer Topos sichtbar, der die Tugend in traditioneller Hinsicht sehr
konkret als Fähigkeit präsentiert, das Gemeinwesen notfalls auch gegen Angriffe
verteidigen und schützen zu können. Bis zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts
und auch darüber hinaus waren die Orden der Ehrenlegion in überwiegender
Zahl den Angehörigen des Militärs vorbehalten – die verdeckte Präsenz dieser
Waffen koppelt die Geltung des Verfassungstextes von de Gaulle nicht nur an die
Rolle der charismatischen Gründerfigur, des législateurs, sondern erweitert das
Bildprogramm auch um die soziomoralischen Voraussetzungen, die nach der
Gründung zum dauerhaften Erhalt der Verfassung notwendig sind.

                                Abb. 11: Armes d’honneur.

28 Renault 1931, Planche 3: Armes d’honneur: Fusils et sabres d’honneur (Musée de la
   Légion d’honneur); Planche 4: Trompette d’honneur, grenade d’honneur, pistolets
   d’honneur, crosse de fusil d’honneur (Musée de la Légion d’honneur).
29 Münkler 1995.

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Verfassungsbilder: Text und Körper in der Ikonographie des demokratischen Verfassungsstaats 87

5. De Gaulle: Sinn und Fehlschlag eines politischen Symbols?

Durch die Verbindung divergierender Traditionslinien des Politischen – Bonapar-
tismus, konstitutionelle Monarchie und Republikanismus – ist es in der V. Repu-
blik unter de Gaulle gelungen, diese heterogenen Elemente politischer Erfahrun-
gen zu einer stabilen Synthese zu formen und, in den Worten Maurice Duvergers,
die paradoxe Ordnung einer »Monarchie républicaine« hervorzubringen.30 Auch
wenn eines der Schlüsselelemente dieses republikanischen Regimes in der plebiszi-
tär gestärkten Exekutivgewalt auf Kosten der parlamentarischen Macht lag, so ist
doch de Gaulle keineswegs mit dem staatlichen Leviathan gleichzusetzen, wie ihn
Carl Schmitt im Geiste des Dezisionismus und des politischen Existenzialismus in-
terpretierte – von der damit verbundenen politischen Theologie des »Katechon«
ganz zu schweigen.31
   Trotz aller Sakralisierungstendenz seiner Person, seiner charismatischen Perfor-
manz und seiner allegorischen Identifizierung mit der französischen Nation, die
wie ein Lehrbuchbeispiel dem Rousseauschen Kapitel über den Gesetzgeber ge-
horchen, schlug de Gaulle doch im Gegensatz zu Schmitt in der Frage, welche
Ordnungsvorstellung in seiner Person des charismatischen Führers zu verkörpern
seien, eine gänzlich andere Richtung ein. De Gaulle ist keine Inkarnation reiner
Souveränität, die ohne Beschränkung in einem normativen Vakuum operiert.
Selbst im Moment der Verfassungsgebung verbleibt er im symbolischen Rahmen
der hegemonialen französischen Tradition, in der die Nation immer schon durch
ihre inhaltlichen Referenzen auf die Menschen- und Bürgerrechte und die Volks-
souveränität konstitutiert ist.32
   Als Gründer der V. Republik war de Gaulle zwar mit einer Notstandsgewalt
ausgestattet, die in der Folge des Algerienkriegs zur Überwindung der Staatskrise
geboten schien. Zugleich aber sah er sich gebunden an «une certain idée de la
France« (de Gaulle 1954), die eine von Schmitt imaginierte radikalisierte pouvoir
constituant gerade ausschloss. 33 In Folge des Moments, in dem sich de Gaulle an-
gesichts des Mai 1968 nicht mehr im Einklang mit der nationalen volonté généra-
le sah, verzichtete er schließlich ein Jahr später nach dem Verlust eines inhaltlich
kaum bedeutenden Referendums auf sein Amt. Genau in diesem Sinne ist de
Gaulle nicht mit dem Leviathan als fehlgeschlagenem Symbol im Sinne Schmitts
zu verwechseln. Die mit ihm verbundene Staatssymbolik ist gerade durch den Ein-
schluss einer Differenz geprägt, die den politischen Körper mit dem Verfassungs-
gesetz verbindet. Dem body politic wird so ein Text eingeschrieben, der sich zu-
gleich von dem Repräsentativkörper des Präsidenten unterscheidet – damit ist eine
fundamental andere Ordnungsentscheidung getroffen, als sie mit dem leeren exis-

30   Duverger 1974.
31   So aber in der Folge Schmitts Mohler 1963.
32   Schulz 2004.
33   Schmitt 1928a, S. 140.

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tentiellen Pathos souveräner Einheit oder gar dem Identitätsanspruch eines im
Körper des Führers inkarnierten Rechts behauptet wird.34
  Gleichwohl ist der Topos der Souveränitätsverkörperung jenseits konstitutionel-
ler Schriftlichkeit in der Ikonographie de Gaulles nicht abwesend. Auch hier kön-
nen Parallelen zur Bildpolitik Napoleons gezogen werden (Abb. 12).

                    Abb. 12: Jacques-Louis Davids Napoleon.

Beide Bilder enthalten neben den Personendarstellungen ein programmatisches
Narrativ vom Verhältnis des Rechts zu den Mitteln seiner Durchsetzung. De
Gaulle verbindet seine Verfassung nicht nur mit seiner eigenen charismatischen
Person, sondern deutet auch auf den normativen Rahmen der Nation, der sich seit
der Revolution fest mit einer Reihe rechtlicher Prinzipien verbunden hat. Sein Ver-
weis auf die Ehrenlegion hebt die Genealogie der meritokratischen Republik her-
vor und deutet auf die wichtige Funktion der Tugend, sowohl im engeren Sinne
der militärischen Tapferkeit als auch das Engagement der bürgerlichen Eliten für
das Gemeinwohl, auf die es gleichermaßen für den Erhalt der Verfassung an-
kommt. Das Bildnis Napoleons ist in dieser Hinsicht sehr viel explizierter: Die
bildliche Kombination des Schwertes mit dem Text des Code civil unterstreicht
deutlich die eigene Mission des großen Gesetzgebers, der die innere, zivilrechtliche
Verfasstheit der Nation dauerhaft an den eigenen Namen zu binden versucht.
Aber es ist ein weiteres Element enthalten, das noch mehr über die symbolisierten
Souveräne aussagt. Für Schmitt lag der Kern der politischen Konstruktion von

34 Ders. 1934.

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Verfassungsbilder: Text und Körper in der Ikonographie des demokratischen Verfassungsstaats 89

Hobbes im Transfer des cartesianischen Bildes des mechanischen Menschen auf
den Staat als großen Menschen, der seine Seele vom souveränen Herrscher einge-
haucht bekommt.35 Besteht also möglicherweise auf dieser visuellen Ebene doch
noch eine verborgene Verbindung zwischen De Gaulle und dem Leviathan?
  Im Frontispiz des Leviathan ist das geschriebene Recht abwesend, dagegen do-
minieren die Machtmittel, mit denen der souveräne Staat seinen Herrschaftsan-
spruch auch durchzusetzen vermag. Das geschriebene Gesetz ist also gerade des-
halb nicht sichtbar, weil der Souverän das Recht in seiner faktischen Durchset-
zungsfähigkeit bereits verkörpert. Am Beispiel des französischen Konstitutionalis-
mus konnte dagegen die Vielfalt der konkurrierenden Staatsbilder aufgezeigt wer-
den, die sich durch die symbolische Präsenz der geschriebenen Verfassung und der
verpflichtenden Bindung des Herrschers vom Leviathan unterscheiden. Die Macht
der dargestellten Person bleibt somit immer auch eine Funktion des ebenfalls
sichtbar dargestellten Gesetzes, das nicht mit der physiognomischen Konstitution
des Staatskörpers zusammenfällt, sondern eine permanente normative Differenz
markiert. Die Staatsbildnisse de Gaulles und Napoleons sind demnach visuelle Pa-
radoxierungen: Sie präsentieren die unmögliche Gleichzeitigkeit des Gesetzgebers
mit der Souveränität des Rechtes. Was systematisch nicht gesagt werden kann,
wird daher gleichwohl visuell zeigbar: eine Verfassung, die Körper und Text zu-
gleich ist und in der personales Charisma mit der Rationalitätsanmutung des ge-
schriebenen Wortes eine geltungsstabilisierende Synthese eingeht.
  Auch wenn die Mittel der Rechtsdurchsetzung in der Ikonographie des demo-
kratischen Verfassungsstaates dagegen in den Hintergrund rücken, so sind sie
aber dennoch nicht vollkommen verschwunden. Die Verfassung basiert somit
nicht allein auf der Rationalität des geschrieben Wortes. In beiden Bildern bleibt
Hobbes’ genuine Idee politischer Robotik36 unterschwellig präsent. Im Falle Na-
poleons bildet die große Standuhr im Hintergrund ein cartesianisches Schlüssel-
symbol und verweist auf die Perfektion mechanischer Kräfteverhältnisse, die den
Staat zur rationalen Maschine aufwertet.37 Napoleon kann in diesem Sinn sehr
viel mehr als Verkörperung dieser politischen Maschine gesehen werden als sein
visuelles Gegenstück de Gaulle – aber auch hier ist zumindest ex post eine Spiege-
lung des Leviathans wahrnehmbar. Die Symbolik der Souveränität im nuklearen
Zeitalter des 20. Jahrhunderts geht noch einen Schritt weiter als die post-revolu-
tionäre mechanistische Rationalitätsbehauptung und transformiert den symboli-
schen Körper des Präsidenten nach dem Tod seines natürlichen Körpers in einen
politischen Cyborg:38 Die charismatische Repräsentation des politischen Körpers
findet dort ihre Fortsetzung, wo die Durchsetzungsmittel des staatlichen Rechts-
anspruches im globalen Kontext neu definiert werden (Abb. 13). Der moderne
nuklear getriebene Flugzeugträger ist wie kaum eine andere militärische Waffen-

35   Ders. 1982, S. 48 u. 59.
36   Bates 2012.
37   Stollberg-Rilinger 1986.
38   Bates 2012.

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gattung seit dem Zweiten Weltkrieg weitaus mehr als nur ein militärisches Werk-
zeug, sondern mindestens ebenso sehr ein Symbol globaler Supermacht. Die 1994
gebaute und seit 2001 in Dienst gestellte Charles de Gaulle steht so als sichtbares
Zeichen militärischer Machtansprüche für den Körper des Präsidenten, der als
Souveränitätsbehauptung damit auch nach dem biologischen Tod des Gründer-
körpers fortlebt.39

                     Abb. 13: Flugzeugträger Charles de Gaulle.

In der ikonologischen Tradition des »schwimmenden Souveräns«40 präsentiert
diese personalisierte Maschinerie die Mittel zur Rechtsdurchsetzung und damit
zum Erhalt der politischen Ordnung in einem weitaus umfangreicheren und ge-
waltigeren Sinn als Hobbes Leviathan. Diese hochkomplexe cartesianische Kriegs-
maschine ist Sinnbild eines globalisierten Leviathans, entworfen als Machtinstru-
ment für die geostrategischen See- und Lufträume jenseits des Nationalstaates,
und zugleich zur symbolischen Durchsetzung des Anspruches auf souveräne
Machtfülle im eigenen Land. Wenn Präsident François Hollande nach den verhee-
renden Terroranschlägen in Paris vom November 2015 seine traditionelle Neu-
jahrsansprache auf der vor der französischen Küste kreuzenden Charles de Gaulle
hält und den Flugzeugträger anschließend in den Persischen Golf zum Kampfein-
satz gegen den Islamischen Staat entsendet, dann halten sich die instrumentelle

39 Das Schiff wurde 1986 vom Staatspräsidenten François Mitterand in Auftrag gegeben
   und sollte ursprünglich den Namen Richelieu tragen – wie bislang alle Flaggschiffe der
   französischen Kriegsmarine. Nach der Verschiebung der Machtverhältnisse wurde es
   1987 von Premierminister Jacques Chirac in Charles de Gaulle umbenannt.
40 Bredekamp 2014.

                                  https://doi.org/10.5771/9783845285405-70
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Verfassungsbilder: Text und Körper in der Ikonographie des demokratischen Verfassungsstaats 91

militärische Logik und der symbolische Heilungsversuch des in seiner Souveräni-
tät beschädigten politischen Körpers mindestens die Waage.
  Das Problem aller politischen Symbole jedoch besteht darin, dass sie die ihnen
aufgegebene Bedeutungsstiftung nicht immer erfolgreich leisten – Symbole können
fehlschlagen. So sind Souveränitätsansprüche in der Tat vornehmlich symbolisch
verfasste Machtansprüche und müssen stets durch einen konstanten Fluss von Bil-
dern beglaubigt werden. Doch auch wenn politische Macht durch Symbole dauer-
haft gefestigt werden kann, so lässt sich doch kein Symbol im absoluten Sinne von
politischer Macht beherrschen.41 Angesichts der Tatsache, dass der Bau der
Charles de Gaulle mehrfach aufgrund unzureichender finanzieller Mittel gestoppt
werden musste und sie zudem über die meiste Zeit nach der Fertigstellung wegen
technischer Defekte nicht einsatzfähig war,42 ist dieser Flugzeugträger nicht zu-
letzt ein anschauliches Beispiel dafür, wie der Versuch der Transzendierung des
Präsidentenkörpers durch die Kontinuierung des politischen Körpers der Republik
durchaus nicht-intendierte Bedeutungen anzunehmen vermag und zum »Schiff-
bruch mit Zuschauer« mutiert.43

Literaturverzeichnis
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De Gaulle, Charles 1954. Mémoires de guerre, Bd. 1. Paris: Plon.

41 Um seinen vermeintlichen Sieg im Irak-Krieg in Szene zu setzen, wählte der damalige
   amerikanische Präsident George W. Bush 2003 die USS Abraham Lincoln für seine
   »mission accomplished«-Rede aus – der Präsident, der einen Krieg beendet hatte, ohne
   ihn selbst begonnen zu haben wird so zur symbolischen Kommunikation eines anderen
   Präsidenten in Dienst genommen, der einen Krieg begonnen hat, ohne ihn wirklich zu
   beenden. Zugleich kann man darin auch den hilflosen Versuch erkennen, die entfessel-
   te Maschinerie militärischer Souveränität wieder an ihren »commander in chief« zu-
   rückzubinden.
42 Der Bau eines für den sinnvollen militärischen Einsatz notwendigen Schwesterschiffes
   wurde unter Nikolas Sarkozy zwar vorangetrieben, aber 2009 aufgrund des nicht vor-
   handenen Budgets endgültig aufgegeben.
43 Blumenberg 1997.

Leviathan, 46. Jg., Sonderbandhttps://doi.org/10.5771/9783845285405-70
                               34/2018
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