Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2019 - Juni 2020 - Kurzfassung
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Kurzfassung Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2019 – Juni 2020 Bericht an den Deutschen Bundestag gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG
Der Bericht Das Institut Das Deutsche Institut für Menschenrechte legt Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist dem Deutschen Bundestag gemäß § 2 Abs. 5 die unabhängige Nationale Menschenrechts DIMRG (Gesetz über die Rechtsstellung und institution Deutschlands (§ 1 DIMR-Gesetz). Es Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschen- ist gemäß den Pariser Prinzipien der Vereinten rechte vom 16. Juli 2015) jährlich einen Bericht Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den Aufgaben über die Entwicklung der Menschenrechtssitu- des Instituts gehören Politikberatung, Menschen- ation in Deutschland vor. Er wird anlässlich des rechtsbildung, Information und Dokumentation, Internationalen Tags der Menschenrechte am anwendungsorientierte Forschung zu menschen- 10. Dezember veröffentlicht. Das DIMRG sieht vor, rechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit dass der Deutsche Bundestag zum Bericht des mit internationalen Organisationen. Es wird vom Instituts Stellung nehmen soll. Der fünfte Bericht Deutschen Bundestag finanziert. Das Institut 2019/2020 umfasst den Zeitraum 1. Juli 2019 ist zudem mit dem Monitoring der Umsetzung bis 30. Juni 2020. der UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kinderrechtskonvention betraut worden und Mit ihrer Anforderung eines jährlichen Berichts hat hierfür entsprechende Monitoring-Stellen über die Entwicklung der Menschenrechtssituation eingerichtet. in Deutschland machen Bundestag und Bundes- rat deutlich: Die Menschenrechte aller Menschen www.institut-fuer-menschenrechte.de in Deutschland zu achten und zu verwirklichen, ist eine dauerhafte und sich immer wieder neu stellende Aufgabe für alle Staatsgewalt. Deshalb verlangt das Grundgesetz, regelmäßig die men- schenrechtlichen Auswirkungen von Gesetzen zu überprüfen und gegebenenfalls durch Gesetz oder Änderung der Verwaltungspraxis nach- zusteuern. Zudem können durch politische und gesellschaftliche Veränderungen, internationale und innerstaatliche Entwicklungen sowie wissen- schaftlichen und technischen Fortschritt neue Bedrohungen für die Menschenrechte entstehen. Diese müssen erkannt, analysiert und Lösungen am Maßstab der Menschenrechte entwickelt wer- den. Zu beidem – menschenrechtliche Evaluierung von Gesetzen und Erkennen neuer menschen- rechtlicher Gefährdungslagen als Grundlage für politische Gestaltung – will der Menschenrechts- bericht beitragen. www.institut-fuer-menschenrechte.de/ menschenrechtsbericht
Inhalt Einleitung 4 1 Deutschland im Menschenrechtsschutzsystem 5 2 Junge Menschen mit Behinderungen: anerkannte Berufsausbildung statt Sonderwege 5 3 Abschiebung und Krankheit: Perspektiven aus der Praxis und menschenrechtliche Verpflichtungen 7 4 Entwicklungen in Themen der vorherigen Menschenrechtsberichte 10
4 Einleitung Einleitung Die Corona-Pandemie stellt Deutschland wie alle Junge Menschen mit Behinderungen sollten – wie Staaten der Welt vor Herausforderungen, die in alle Jugendlichen – nach Abschluss der Schule ihrer Art und ihren Auswirkungen einzigartig sind. die Möglichkeit haben, eine Ausbildung in einem Eine umfassende Darstellung und abschließende regulären Ausbildungsberuf zu beginnen. Tatsäch- menschenrechtliche Bewertung des bisherigen lich absolvieren sie ihre Berufsausbildung aber Umgangs des Bundes und der Länder mit der mehrheitlich in „Sonderformen“, mit der Folge, Pandemie kann der fünfte Bericht über die Men- dass die Jugendlichen nach einer solchen Ausbil- schenrechtslage in Deutschland (1. Juli 2019 – 30. dung nicht den Übergang in den regulären Arbeits- Juni 2020) naturgemäß nicht leisten. Entgegen markt schaffen. Die UN-Behindertenrechtskon- den Hoffnungen vieler bestimmt die zweite Welle vention verpflichtet den Staat, auf diese Situation der Corona-Pandemie erneut das politische und zu reagieren und einen diskriminierungsfreien gesellschaftliche Leben und es ist nicht absehbar, Zugang zu beruflicher Bildung für alle Menschen welche neuen Herausforderungen sich in den kom- zu gewährleisten. menden Monaten stellen werden. Der vorliegende Bericht greift einige dieser Herausforderungen und Neue Entwicklungen und Erkenntnisse in ausge- damit verbundene menschenrechtliche Fragen in wählten Themenbereichen der Vorjahresberichte seinem Vorwort auf. stellt der Menschenrechtsbericht in seinem letzten Teil dar. Zusammen mit den entsprechenden Das erste Kapitel des Menschenrechtsberichts Schlusskapiteln der Berichte seit 2016 ergibt sich stellt die wesentlichen Ergebnisse der menschen- so ein guter Überblick über die Menschenrechts- rechtlichen Überprüfungsverfahren zu Deutsch- lage in Deutschland. land dar. Eine besondere Rolle nimmt dabei die Europäische Menschenrechtskonvention ein, Der Bericht beruht auf verschiedenen Daten- deren 70. Jahrestag am 4. November 2020 be- quellen. Teilweise hat das Institut eigene qualita- gangen wurde. tive Untersuchungen durchgeführt. Ausgewertet wurden außerdem öffentlich verfügbare Statis- Auch wenn der Umgang mit der Corona-Pan- tiken, Dokumente und Studien, darunter auch demie zu Recht große politische und öffentliche Drucksachen des Deutschen Bundestags und der Aufmerksamkeit genießt, bleiben menschenrecht- Länderparlamente. Darüber hinaus hat das Institut liche Herausforderungen in anderen Politikfeldern mithilfe eines Fragebogens Daten bei den Regie- bestehen. Der diesjährige Menschenrechtsbericht rungen der Länder erhoben. An dieser Stelle sei widmet sich schwerpunktmäßig zwei Themen: ausdrücklich den einzelnen Ministerien gedankt, Krankheit und Abschiebung sowie der beruflichen die sich an der Beantwortung des Fragebogens Ausbildung von Menschen mit Behinderungen. beteiligt haben. Wir danken auch allen Interview- partner_innen, die uns im Rahmen der Recherche Erkrankte Menschen dürfen in Deutschland nicht für den Menschenrechtsbericht Auskunft gegeben abgeschoben werden, wenn sich dadurch ihr haben. Gesundheitszustand gravierend verschlechtert oder gar ihr Leben gefährdet ist. Eine solche Er- An den Schwerpunktthemen des diesjährigen krankung nachzuweisen, ist in erster Linie Auf- Berichts zeigt sich exemplarisch: Es bleibt eine gabe der betroffenen Personen – eine Pflicht, der dauerhafte Aufgabe, die Grund- und Menschen- diese in vielen Fällen nicht nachkommen können: rechte von Menschen in verletzlichen Lebenslagen wegen beschleunigter Asylverfahren, mangelnden zu schützen und den Bildungszugang für alle so Zugangs zu Informationen, Sprachmittlung und sicherzustellen, dass jeder Mensch in Deutsch- Fachärzt_innen sowie wegen bürokratischer oder land sein Potenzial voll entfalten kann. Nur wer finanzieller Hürden. Umso wichtiger ist es, dass genau hinschaut, kann gute Politik machen. Wir auch der Staat gründlich prüft, ob ein sogenann- hoffen, dass die Erkenntnisse und Empfehlungen tes krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis des vorliegenden Berichts von Bund und Ländern vorliegt. aufgegriffen werden.
D EUTSC HL AND IM M E NSC HE NR E C H TSSC HU TZ SYST EM 5 1 Deutschland im Menschen Auf diese Situation muss der Staat reagieren, da die berufliche Qualifizierung die Weichen für rechtsschutzsystem den Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und zu einem selbst gestalteten Leben stellt. Die UN- Deutschland hat sich im Grundgesetz und durch Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) ist gel- die Ratifikation zahlreicher internationaler und tendes Recht in Deutschland. Daher ist der Staat europäischer Menschenrechtsverträge zur Einhal- verpflichtet, das Recht auf diskriminierungsfreien tung der Grund- und Menschenrechte verpflich- Zugang zu beruflicher Bildung, wie es im Recht auf tet. Kapitel 1 des Berichts gibt die wesentlichen Bildung (Art. 24 UN-BRK) und im Recht auf Arbeit Entwicklungen vom 1. Juli 2019 bis zum 30. Juni (Art. 27 UN-BRK), festgeschrieben ist, umzuset- 2020 wieder. zen. Für alle Auszubildenden muss es ein in- klusives, reguläres Ausbildungssystem geben, Im Jahr 2020 jährt sich die Verabschiedung der wie auch für alle Schüler_innen ein inklusives Europäischen Menschenrechtskonvention zum Schulsystem. 70. Mal. Ihre Meilensteile sind grafisch dargestellt. Umfassende Daten zur Frage, wie viele Ju- Im Zeitraum 1. Juli 2019 bis 30. Juni 2020 legten gendliche mit Behinderungen eine reguläre folgende europäische Fachausschüsse ihre Be- Ausbildung beginnen, liegen nicht vor, da die wertung zum Umsetzungsstand und ihre Empfeh- Berufsbildungsstatistik das Merkmal Behinderung lungen zu Deutschland vor: bisher nicht erfasst. Auch zu den Berufswegen – Europäische Kommission gegen Rassismus ehemaliger Schüler_innen mit einem sonderpäda- und Intoleranz gogischem Förderbedarf – darunter viele Jugend- – Europäischer Ausschuss für Soziale Rechte liche mit Behinderungen – ist bisher nur wenig geforscht worden. In der Fachdebatte muss daher Die Beobachtungen und Empfehlungen der je- auf andere Statistiken zurückgegriffen werden. weiligen Fachausschüsse sind in diesem Bericht Diese zeigen: zusammengefasst. – Etwa 50.000 Jugendliche mit sonderpäda gogischer Förderung schließen jährlich in Deutschland die Schule ab. Weniger als zehn 2 Junge Menschen mit Prozent von ihnen beginnen nach der Schul- zeit eine betriebliche Ausbildung in einem Behinderungen: anerkannten Ausbildungsberuf, schätzen Jan anerkannte Berufsausbildung Jochmaring und Katharina Rathmann anhand der verfügbaren Daten und Studien im Jahr statt Sonderwege 2018. Teilweise haben sie zuvor Maßnahmen der Berufsvorbereitung durchlaufen. Die freie Berufswahl und -ausübung bedeutet selbstbestimmte Lebensgestaltung, soziale Teil- – Die große Mehrheit der Jugendlichen mit Förder habe und ökonomische Gestaltungsmöglichkeit. bedarf absolviert nach der Schule zunächst Einen Beruf auszuüben, der den eigenen Nei- eine Maßnahme zur Berufsvorbereitung. Es gungen und Fähigkeiten entspricht, bleibt vielen sind etwa 80 bis 90 Prozent, fasst Jan Jochma- Menschen mit Behinderungen jedoch weiterhin ring im Jahr 2019 die vorhandenen Studien zu- verschlossen. Studien zeigen: Jugendliche mit sammen. Diese Maßnahmen zielen zwar darauf Behinderungen absolvieren ihre Berufsausbil- ab, den Jugendlichen den Weg in eine reguläre dung überwiegend nicht im regulären Ausbil- Berufsausbildung zu ebnen, jedoch gelingt dungssystem. Ihre Ausbildung in „Sonderfor- dies in der Regel nicht: Für Jugendliche mit men“ führt mehrheitlich nicht zu anerkannten Förderbedarf schließt sich oftmals keine Abschlüssen, die einen Übergang in den reguläre Berufsausbildung an. regulären Arbeitsmarkt ermöglichen.
6 J U N G E M E NSC HE N M I T B E H IN DER U N G EN : AN ER K AN N T E B ER U F SAU S B IL DU N G STAT T S O N DERWE GE Zu dem speziellen Ausbildungssystem für Das betrifft sowohl die Phase der Berufswahl als Menschen mit Behinderungen gehört die Fach- auch die Ausbildung als solche. Vom Institut analy- praktiker-Ausbildung; aber auch ein Teil des sierte Modellprojekte und Studien verdeutlichen: Übergangssystems ist speziell für Menschen mit Behinderungen gedacht; auch die außerbetrieb- Während der Phase der Berufsorientierung, lichen Ausbildungsstätten werden oft von Men- also noch in der Schule, braucht es Lehrkräfte schen mit Behinderungen besucht. und Berufsberater_innen, die Jugendliche mit Behinderungen vorurteilsfrei beraten und die Die beiden für die Berufsausbildung zentralen ihnen eine vergleichbare Vielfalt an Berufswahl- Gesetze – das Berufsbildungsgesetz und die Hand- möglichkeiten wie ihren Altersgenoss_innen ohne werksordnung – sehen vor, dass Schulabgänger_ Behinderungen anbieten. Dies setzt voraus, dass innen mit Behinderungen vorrangig in anerkannten sich Lehrkräfte mit ausbildungsbezogenen Berufen ausgebildet werden sollen. Tatsächlich Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten aus- geht die Mehrheit einen anderen Weg. kennen und externe Beratung – beispielsweise in Form von Inklusionsberater_innen – hinzuziehen Vor diesem Hintergrund hat sich das D eutsche können. Dazu braucht es die Zusammenarbeit der Institut für Menschenrechte mit dem Zugang zu Schulen mit örtlichen Arbeitsagenturen, Berufs- anerkannter betrieblicher Ausbildung für Men- und Wirtschaftskammern, Innungen, Arbeitgeber- schen mit Behinderungen beschäftigt. Dabei wird verbänden und Gewerkschaften – zum Beispiel bei einerseits analysiert, welche menschenrechtlichen Berufswegekonferenzen. Verpflichtungen Deutschland hier hat. Darüber hinaus werden – anhand von wissenschaftlichen Junge Menschen mit Behinderungen sollten Studien und dokumentierten Modellprojekten – beispielweise ebenfalls die Möglichkeit haben, Gelingensbedingungen für die Teilhabe von Men- im Rahmen von Betriebspraktika in verschie- schen mit Behinderungen an regulären betriebli- dene Berufsfelder „reinzuschnuppern“. Unter- chen Ausbildungsgängen analysiert. nehmensbefragungen und Pilotprojekte zeigen, dass Unternehmen, die Erfahrungen mit Prakti- In den letzten Jahren setzten sich verschiedene kant_innen oder Beschäftigten mit Behinderungen bundesweite Initiativen – Zusammenschlüsse aus gemacht haben, dann auch häufiger Jugendliche Bundesministerien, Arbeitnehmer- und Arbeitgeber mit Behinderungen ausbilden. Arbeitsagenturen verbänden, Unternehmen und Kammern – für eine und auch die Kammern sind daher gefordert, eng inklusive betriebliche Ausbildung ein. Auch der mit Schulen zusammenzuarbeiten, um Praktika zu Deutsche Bundestag hat mit dem „Gesetz zur vermitteln. Modernisierung und Stärkung der beruflichen Bildung“ sowie dem „Arbeit-von-morgen- Phase der Ausbildung: Damit junge Menschen Gesetz“ in einzelnen Teilaspekten Verbesse- mit Behinderungen häufiger den Weg in ein rungen vorgenommen, beispielsweise um die reguläres Ausbildungsverhältnis finden, müssen Teilzeitausbildung zu flexibilisieren. Nicht zuletzt die Ausbildungsgänge flexibilisiert werden. widmen sich auch die Werkstätten für Menschen Vereinzelt ist es bereits möglich, eine Ausbildung mit Behinderungen und die Berufsbildungswerke in Teilzeit zu absolvieren. Darüber hinaus sollten verstärkt dem Übergang in den ersten Arbeits- Ausbildungsgänge in Modulen angeboten werden markt. Über diese ersten Verbesserungen hinaus und Teilabschlüsse möglich sein. Verantwortlich ist jedoch eine Veränderung des Gesamtsys- dafür sind die ausbildenden Unternehmen und die tems hin zu inklusiven Regelstrukturen not- Kammern; es braucht dazu aber auch Reformen wendig. Das setzt unter anderem voraus, dass des Berufsbildungsgesetzes, der Handwerksord- das Merkmal Behinderung im Rahmen der Berufs- nung und der Ausbildungsordnungen durch den bildungsstatistik erhoben wird. Bundes- und die Landesgesetzgeber. Um die Systemtransformation voranzubringen, Zu einem inklusiven Ausbildungssystem gehören braucht es eine Reihe von Maßnahmen und eine auch barrierefreie Arbeits- und Ausbildungs- bessere Koordination der beteiligten Akteur_innen. stätten. Bund und Länder sollten unter anderem
A B SCHIEB UN G UND K R A NK H E I T 7 mit einer Reform der Arbeitsstättenverordnung 3 Abschiebung und Krank- und der Landesbauordnungen darauf hinwirken, dass Unternehmen ihre Ausbildungsstätten von heit: Perspektiven aus der vornherein barrierefrei gestalten. Neben baulicher Praxis und menschenrecht Barrierefreiheit braucht es auch Inklusionskom- petenz in den Betrieben. Die Kammern sollten liche Verpflichtungen im Rahmen ihrer Schulungen die Ausbilder_innen für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen Erkrankte Menschen dürfen in Deutschland sensibilisieren. nicht abgeschoben werden, wenn sich da- durch ihr Gesundheitszustand gravierend Und nicht zuletzt sollten Unternehmen, die junge verschlechtert oder gar ihr Leben gefährdet Menschen mit Behinderungen ausbilden wol- ist (sogenanntes krankheitsbedingtes Abschie- len, gezielt über Fördermöglichkeiten informiert bungshindernis). Die Behörden müssen zu jedem werden. Selbst großen Unternehmen fehlt es Zeitpunkt eine Lebensgefahr für die Betroffenen häufig an Informationen über die vielfältigen ausschließen und gegebenenfalls von einer Ab- Unterstützungsmöglichkeiten. Hier sollten schiebung absehen. Jeder Zeitpunkt bedeutet: bei Bund, Länder und Kommunen weiterhin Aufklä- der Prüfung des Asylantrags durch das Bundes- rungsarbeit leisten und vor allem in gute Bera- amt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), bei der tungsstrukturen – beispielsweise eine Beratung Vorbereitung der Abschiebung durch die Auslän- aus einer Hand mit festen Ansprechpersonen derbehörden und während der Abschiebung durch – investieren. die Landes- und Bundespolizeien. Dies gebieten die Grund- und Menschenrechte auf Leben und Insgesamt müssen institutionelle Akteure, die körperliche Unversehrtheit sowie das völkerrecht- unterstützend mit Jugendlichen arbeiten, kon- liche Verbot der Zurückweisung (Refoulement-Ver- sequenter von den Jugendlichen und ihren bot). Diesen menschenrechtlichen Schutzpflichten spezifischen Bedarfen aus denken. Ziel sollten gegenüber steht der staatliche Anspruch, eine Hilfe- und Unterstützungsleistungen sein, die von Ausreisepflicht möglichst effektiv durchzusetzen. der „Verschiedenheit aller als Normalität“ ausge- hen und die vom tatsächlichen Bedarf der betref- Im Kontext der aktuellen politischen Debatte in fenden Jugendlichen her gedacht und konzipiert Deutschland zur Erhöhung der Abschiebungszah- sind, anstatt als maßnahmenähnliche Struktur, die len hat der Bundestag 2016 und 2019 die Rege- sich primär an Finanzierungsarten und abstrakten lungen zur Abschiebung erkrankter Menschen Rechtskategorien orientiert. verschärft. Für alle Auszubildenden in Deutschland muss es Für Asylsuchende und ausreisepflichtige Men- ein inklusives reguläres Ausbildungssystem geben. schen, die erkrankt sind, ist es schwer, die Werden dauerhaft zwei parallele Systeme – ein gesetzlichen Vorgaben (§ 60a Abs. 2c und 2d Regel-Ausbildungssystem und ein spezielles Sys- Aufenthaltsgesetz) zum Nachweis eines krank- tem für Menschen mit Behinderungen – aufrecht- heitsbedingten Abschiebungshindernisses zu erhalten, ist das mit den menschenrechtlichen erfüllen. Die zuständigen Behörden berufen sich Verpflichtungen Deutschlands nicht vereinbar. regelmäßig auf diese Nachweispflichten und las- sen oft Anhaltspunkte für eine relevante Erkran- kung außer Acht. Das führt teilweise dazu, dass Menschen abgeschoben werden, die aufgrund ihres Gesundheitszustands nicht hätten abgescho- ben werden dürfen. Liegt eine schwerwiegende Erkrankung vor, muss das BAMF im Asylverfahren zudem prüfen, ob die Krankheit im Herkunftsland behandelt werden kann und die betroffene Person tatsächlich Zugang zu dieser Behandlung hat.
8 A bschiebung und Krankheit Verlässliche Zahlen, wie viele Menschen mit hundert bis weit über tausend Euro kosten, abhän- einer schwerwiegenden Erkrankung abgeschoben gig vom Zeitaufwand. Die Hürden treffen diejeni- werden beziehungsweise in wie vielen Fällen die gen besonders hart, die in der Abschiebungshaft Ausländerbehörden aus medizinischen Gründen sitzen oder in AnkER-Zentren beziehungsweise von einer Abschiebung absehen, gibt es nicht. anderen entlegenen Massenunterkünften leben. Teile der Politik und der Medien unterstellen Um einen Arzttermin oder eine Sprachmittlung zu immer wieder, dass Ausreisepflichtige Krankheiten bekommen, braucht es nicht selten die Unterstüt- vortäuschen. Dafür gibt es keine verlässliche Da- zung von Ehrenamtlichen oder Vereinen. tengrundlage. Im Gegenteil: Die wenigen öffentlich verfügbaren Zahlen lassen diesen Schluss nicht zu. Auch Ärzt_innen berichten in den Interviews von der Schwierigkeit, diese Nachweise aus- Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat das zustellen: Es brauche viel Zusatzwissen für die Spannungsfeld Abschiebung und Krankheit – kon- Erstellung der gesetzlich geforderten Nachweise; kret: krankheitsbedingte Abschiebungshindernisse es werde als undurchsichtig und teilweise willkür- – in den Fokus genommen. Aus rechtlicher Sicht lich wahrgenommen, nach welchen Kriterien die wird analysiert, welche Anforderungen sich aus den Behörden ärztliche Nachweise (nicht) anerkennen. Grund- und Menschenrechten für die Abschiebung Insbesondere bei psychischen Erkrankungen kranker Menschen ergeben. Der empirische Teil seien Ablehnungen oft nicht nachvollziehbar, untersucht, wie in der Praxis krankheitsbedingte so die interviewten Praktiker_innen. Abschiebungshindernisse nachgewiesen, geprüft und bewertet werden. Dafür hat das Institut 24 Das Institut weist darauf hin, dass die Darlegungs Interviews geführt mit Vertreter_innen des BAMF pflicht der Betroffenen die Behörden nicht von sowie der Bundes- und Landespolizei, der Ärzte ihrer Pflicht zur Sachaufklärung entbindet. Die schaft, der Anwaltschaft, von psychosozialen Mitarbeiter_innen im BAMF und in den Ausländer- Beratungsstellen und der Abschiebungsbeobach- behörden sollten mithilfe interner Anwendungs- tung. Außerdem wurden Daten bei den zuständi- hinweise stärker dazu verpflichtet werden, weitere gen Behörden der Bundesländer abgefragt und nicht unmittelbar offensichtliche Anhaltspunkte öffentlich verfügbare Statistiken ausgewertet. für ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis zu berücksichtigen; beispielsweise frühere Klinik Nachweispflichten: Zunächst einmal obliegt es aufenthalte oder das Verhalten der betroffenen den Betroffenen, das BAMF oder die Ausländer Person in der Anhörung. Auch sollten Entschei- behörde über eine Krankheit zu informieren, der_innen bei der Bewertung von medizinischen die gegen eine Abschiebung sprechen könnte Nachweisen oder anderen Anhaltspunkten für eine (Darlegungspflicht). Die Betroffenen brauchen schwerwiegende Erkrankung verpflichtet sein, eine sogenannte qualifizierte ärztliche Bescheini- fachärztlichen Rat hinzuzuziehen. gung. Diese muss bestimmten gesetzlich festge- legten Anforderungen genügen und den Behörden Besteht eine Ausreisepflicht, bereitet die zu- vorgelegt werden, um eine Erkrankung nachzuwei- ständige Ausländerbehörde die Abschiebung ins sen. Die Behörde ihrerseits ist verpflichtet, diesem Herkunftsland vor. Wenn es Anhaltspunkte für Sachverhalt nachzugehen und ihn weiter aufzuklä- eine Erkrankung gibt, muss die Ausländer ren (Sachaufklärungspflicht). behörde Vorkehrungen treffen, beispielsweise die Reisefähigkeit prüfen, Medikamente mitgeben In der Praxis scheitern die Menschen daran und die ärztliche Versorgung während und direkt aus folgenden Gründen: beschleunigte Asyl- im Anschluss an die Abschiebung sicherstellen. verfahren, mangelnde Informationen, fehlende Im Zweifel ist die Abschiebung auszusetzen. Sprachmittlung, Mangel an Fachärzt_innen, Die Ausländerbehörde ist grund- und menschen- der gesetzlich eingeschränkte Zugang zum Ge- rechtlich dazu verpflichtet, darauf zu achten, dass sundheitssystem (Asylbewerberleistungsgesetz) direkt vor, während und nach der Abschiebung sowie finanzielle Hürden. So kann ein ausführ- keine Lebensgefahr für die Betroffenen droht und liches Gutachten, welches für den Nachweis psy- sich ihr Gesundheitszustand nicht gravierend chischer Erkrankungen häufig nötig ist, mehrere verschlechtert.
Abschiebung und Krankheit 9 Aus den Interviews mit Ärzt_innen und Abschiebe- Das Institut begrüßt in diesem Zusammenhang, beobachtung wird deutlich: In der Praxis gibt es dass es an vier Flughäfen (Düsseldorf, Hamburg, große Unterschiede bei der Prüfung der Reise Berlin-Brandenburg, Frankfurt am Main) bereits fähigkeit. Ob beispielsweise überhaupt eigene eine unabhängige Abschiebungsbeobachtung ärztliche Untersuchungen durch die Behörde in gibt. Sie hat die Aufgabe, die Praxis von Abschie- Auftrag gegeben werden oder wer und in welchem bungen von der Ankunft der Betroffenen am Umfang prüft, wird unterschiedlich gehandhabt. Flughafen bis zum Abflug zu beobachten. Sie kann Bei der konkreten Ausgestaltung der Abschiebung nicht aktiv in Abschiebungen eingreifen, vermit- (beispielsweise Anzahl und Fachrichtung der telt aber im Einzelfall zwischen den staatlichen Ärzt_innen, die die Abschiebung begleiten) lassen Akteuren und den von der Abschiebung Betroffe- die Berichte der Interviewpartner_innen sowie nen. Wünschenswert wäre, die Überwachung von nationaler (Nationale Stelle zur Verhütung von Abschiebungen, die von der europäischen Rück- Folter) und europäischer (Europäischer Ausschuss führungsrichtlinie vorgeschrieben ist, auf weitere zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder Flughäfen und Vollzugsschritte – wie die erniedrigender Behandlung oder Strafe, Europa- Zuführung und den Flug – auszudehnen und rat ) Menschenrechtsgremien Zweifel daran, ob ihr unabhängiges Mandat zu stärken. stets eine angemessene ärztliche Versorgung während des Abschiebevorgangs gewährleis- Bund und Länder sollten die Praxisberichte tet ist und ob die Ärzt_innen immer unabhän- (Interviews, Fachverbände) zum Anlass nehmen, gig handeln. gesetzliche und behördliche Regelungen bezüglich krankheitsbedingter Abschiebungshindernisse Während des Abschiebevorgangs – also bei zu überarbeiten. Die Länder sollten verbindliche der Abholung (Zuführung), am Flughafen und Vorgaben schaffen, damit die Ausgestaltung während des Fluges – müssen die beteiligten der Abschiebung durch die Ausländerbehörden Behörden (Ausländerbehörde sowie Landes- und menschenrechtskonform und diskriminierungsfrei Bundespolizei) die Grund- und Menschenrechte abläuft. Die Darlegungslast von kranken Geflüch- der Betroffenen wahren. Dazu gehört das Recht teten darf nicht dazu führen, dass die Behörden auf körperliche Unversehrtheit – die Behörden ihrerseits die Sachaufklärungspflicht vernachläs- sind verpflichtet, eine Abschiebung abzubrechen, sigen. Um den Asylsuchenden den Zugang zum wenn eine gravierende Gesundheitsverschlechte- Recht und zu Informationen zu erleichtern, emp- rung vorliegt. Ein besonders sensibler Bereich sind fiehlt das Institut, eine flächendeckende, vom Abschiebungen von Menschen aus der statio- BAMF unabhängige Verfahrensberatung durch nären Behandlung eines Krankenhauses oder Wohlfahrtsverbände einzurichten. einer Psychiatrie. Sie sind stets ein schwerer Eingriff in die Rechte der Betroffenen, sodass Die Erkenntnisse aus der Praxis sind ernstzu das Institut dringend empfiehlt, von Abschiebun- nehmende Indizien, dass die gesetzlichen gen aus Kliniken insgesamt abzusehen. Nachweispflichten in § 60a Abs. 2c und 2d Aufenthaltsgesetz in der jetzigen Form ver Um Anzeichen für eine Verschlechterung des fassungsrechtlich bedenklich sind und durch Gesundheitszustands zu erkennen, müssen die den Bundestag abgeändert werden sollten. involvierten Polizeibeamt_innen medizinisch relevante Informationen über die Betroffenen haben und sich mit diesen sprachlich verständi- gen können. Aus den Praxisberichten wird jedoch deutlich, dass es hier immer wieder zu Problemen kommt; ebenso dass Personen, die abgeschoben werden sollen, nur unter sehr erschwerten Bedingungen Zugang zu Anwält_innen haben. Der effektive Rechtsschutz ist so nicht umfassend gewährleistet.
10 E ntwicklungen in Themen der vorherigen M enschenrechtsberichte 4 Entwicklungen in tungsangebote fehlten, eine medizinische Versor- gung könne nicht gewährleistet werden, in vielen Themen der vorherigen Unterkünften sei eine enge Belegung nach wie vor Menschenrechtsberichte an der Tagesordnung. Abschließend werden die Entwicklungen in vier Erfreulich ist, dass ab dem Jahr 2022 bundes- Themengebieten vorgestellt, die bereits in den weit Daten zum Ausmaß von Wohnungslosig- Vorjahren beleuchtet wurden. keit in Deutschland erhoben werden (Woh- nungslosenberichterstattungsgesetz). Bisher gab es lediglich Schätzungen. Die gewonnenen Daten Wohnungslosigkeit werden es erstmals ermöglichen, verlässliche Aussagen zu einer Teilgruppe der Wohnungslo- Die kommunale Unterbringung wohnungsloser sen in Deutschland zu treffen, also zu Personen, Menschen und ihr Recht auf eine angemessene die durch die Kommunen oder Einrichtungen der Unterkunft waren ein Schwerpunktthema im Be- Wohnungslosenhilfe untergebracht sind. Erfreulich richt von 2019. Mehrere zehntausend wohnungs- ist, dass nun durch die „ergänzende Berichterstat- lose Menschen werden durch die Kommunen vor- tung“ auch Erkenntnisse zu jenen Wohnungslosen übergehend untergebracht. Vor dem Hintergrund, generiert werden, die bisher nicht durch die neue dass diese Menschen nicht selten über mehre Statistik erfasst sind, insbesondere zu Menschen, Jahre in der kommunalen Unterbringung leben, die auf der Straße leben oder vorübergehend bei sind die durch die Rechtsprechung definierten Freund_innen / Bekannten untergekommen sind. Mindeststandards nicht mehr mit dem Recht auf angemessenes Wohnen (Art. 11 UN-Sozialpakt) vereinbar. Zugang zu Bildung für geflüchtete Kinder Im aktuellen Berichtszeitraum (1. Juli 2019 – 30. Juni 2020), dessen zweite Hälfte maßgeblich Das Recht eines jeden Kindes auf Bildung (Artikel durch die Corona-Pandemie geprägt war, zielten 28 und 29 UN-Kinderrechtskonvention) wird für einige politische Maßnahmen darauf ab, Woh- viele geflüchtete Kinder, die in Erstaufnahmeein- nungslosigkeit zu vermeiden. So beschloss der richtungen und Gemeinschaftsunterkünften leben, Bundestag einen vorübergehenden Kündigungs- nach wie vor nicht ausreichend gewährleistet. Für ausschluss für zahlungsunfähige Mieter_innen, die Kinder vergehen oft Monate, bis sie in eine das heißt, ihnen konnte für den Zeitraum vom Kita oder Schule gehen können. 1. April bis 30. Juni 2020 nicht wegen ausgefalle- ner Mietzahlungen aufgrund der COVID-19-Pan- Zwar haben geflüchtete Kinder in Erstaufnahme- demie gekündigt werden. Weiterhin wurde die einrichtungen – wie alle Kinder in Deutschland Beantragung von SGB II-Leistungen vereinfacht, – mit Vollendung des ersten Lebensjahrs einen um Menschen mit wenig oder keinem Einkommen gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz. Bis auf zu unterstützen. das Saarland setzen alle anderen Bundesländer diesen Rechtsanspruch nicht um. Die anderen 15 Kommunen schufen teilweise zusätzliche Unter- Länder stellen sich auf den Standpunkt, dass der bringungsmöglichkeiten für bereits wohnungslose Rechtsanspruch erst mit der Zuweisung zu einer Menschen, um die Belegungsdichte in den Notun- Kommune beginnt – was zu mehrmonatigen Ver- terkünften zu reduzieren oder um die Quarantäne zögerungen führt. von infizierten Personen zu ermöglichen. Die Fach- verbände der Wohnungslosenhilfe kritisieren, dass Auch den Schuleintritt für geflüchtete Kinder in – auch in Anbetracht des Winters 2020/2021 – Erstaufnahmeeinrichtungen regeln die Bundes- die verabschiedeten Maßnahmen bei Weitem länder unterschiedlich; überwiegend beginnt die nicht ausreichen, um wohnungslose Menschen Regelbeschulung erst, nachdem die Kinder und angemessen vor einer Ansteckung mit dem Jugendlichen einer Kommune zugeteilt wurden. neuartigen Corona-Virus zu schützen: Bera- Einzig in Berlin, Bremen, Hamburg, dem Saarland
Entwicklungen in Themen der vorherigen Menschenrechtsberichte 11 und Schleswig-Holstein gilt die Schulpflicht für aus den „Politischen Grundsätzen“ weder bei geflüchtete Kinder sofort. Gemäß EU-Aufnahme- den genehmigten Ausfuhren an Staaten in Richtlinie (Artikel 14 Absatz 2) darf die maximale der Militärkoalition noch bei der temporären Frist bis zur Gewährung von Bildungsangeboten Zurückhaltung bereits genehmigter Ausfuhren für geflüchtete Kinder drei Monate betragen – in in diese Staaten eine handlungsleitende Rolle der Praxis kann es auch länger dauern. gespielt zu haben. So genehmigte die Bundes- regierung Rüstungsexporte in mehrere Staaten, In der Folge sind die Bildungschancen geflüch die sich an der Militärkoalition im Jemenkonflikt teter Kinder davon abhängig, in welchem beteiligen – trotz einer anderslautenden Selbst Bundesland sie untergebracht sind. Das wider- verpflichtung im Koalitionsvertrag. spricht dem Recht auf Nichtdiskriminierung (Artikel 2 UN-KRK). Der seit November 2018 bis einschließlich 31. Dezember 2020 geltende deutsche Exportstopp Zudem wurde im Berichtszeitraum eine Verpflich- nach Saudi-Arabien war im Dezember 2019 tung der Länder normiert, bei der Unterbringung erstmals Gegenstand eines Gerichtsverfah- von Asylsuchenden geeignete Schutzmaßnahmen rens. Geklagt hatte Rheinmetall (MAN) Military für Frauen und schutzbedürftige Personen – also Vehicles. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am auch Kinder – zu ergreifen (§ 44 Abs. 2a Asylge- Main gab dem Unternehmen in erster Instanz setz), zum Beispiel verbindliche Gewaltschutzkon- Recht und hob die entsprechenden Bescheide, die zepte in den Unterkünften zu verabschieden. Auch die Ausfuhr der Güter trotz vorliegender Genehmi- hier gibt es bisher kein einheitliches Schutzniveau gung außer Kraft gesetzt hatten, wegen unzurei- in den Bundesländern. chender Begründung auf. Die Bundesregierung hat gegen das Urteil Berufung eingelegt. Die Corona-Pandemie hat die Bildungschancen von geflüchteten Kindern in Deutschland noch Der Konflikt im Jemen bleibt trotz vielfältiger einmal verringert: In Erstaufnahmeeinrichtun- Anstrengungen und Abkommen ungelöst; die gen und Gemeinschaftsunterkünften lebende humanitäre Notlage der Bevölkerung wurde durch Schulkinder verfügen häufig nicht über die die COVID-19-Pandemie noch einmal verschärft. technische Infrastruktur, um an digitalen Bislang ist kein interner oder externer Akteur für Bildungsangeboten teilzunehmen; sie befinden seine unmittelbare oder mittelbare militärische sich in einer beengten Lernumgebung und unter- Beteiligung am Konflikt zur Rechenschaft gezogen stützende Angebote wie Hausaufgabenhilfe wur- worden. Daher fordert das vom UN-Sicherheitsrat den während der Kontaktbeschränkungen stark eingesetzte Expertengremium zum Jemen eine reduziert oder sogar eingestellt. Überstellung des Jemenkonflikts an den Internati- onalen Strafgerichtshof. Rüstungsexporte Wirtschaft und Menschenrechte Die deutsche Genehmigungspraxis von Rüstungs- exporten war ein Schwerpunktthema im Bericht Seit seiner Verabschiedung im Dezember 2016 2018. Das Institut untersuchte am Beispiel von ist der Nationale Aktionsplan Wirtschaft und Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen Menschenrechte (NAP) Bestandteil des Menschen- Emiraten, die am Konflikt im Jemen beteiligt sind, rechtsberichts. Der NAP legt dar, wie Deutschland ob die Waffenexporte in diese Länder mit Geneh- seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen im migung der Bundesregierung den „Politischen Kontext der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Grundsätzen für den Export von Kriegswaffen und Menschenrechte nachkommen will. Er befindet sonstigen Rüstungsgütern“ entsprechen. sich im vierten und letzten Umsetzungsjahr. Auch im jetzigen Berichtszeitraum scheinen die Im Berichtszeitraum war die NAP-Umsetzung Bestimmungen zu Menschenrechtslage und stark durch die Prüfung geprägt, ob und Einhaltung des humanitären Völkerrechts in welchem Ausmaß Unternehmen ihrer
12 E ntwicklungen in Themen der vorherigen M enschenrechtsberichte menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht nach- Menschenrechtsverletzungen bei der Rohstoffbe- kommen. Laut NAP sollte bis 2020 von den in schaffung zu verhindern. Darüber hinaus trat im Deutschland ansässigen Unternehmen mit mehr Mai 2020 das Gesetz zur Durchführung der als 500 Arbeitnehmer_innen mindestens die Hälfte EU-Konfliktmineralienverordnung in Kraft. Ziel Maßnahmen zur menschenrechtlichen Sorgfalts- der Verordnung ist es, dass Unternehmen, die in pflicht ergriffen haben. Der im Sommer 2020 der EU ansässig sind, über den Import von be- vorgestellte Monitoringbericht kam allerdings stimmten Rohstoffen nicht zur Finanzierung von il- zum Ergebnis, dass gerade einmal jedes fünfte legalen bewaffneten Gruppen in den Abbauländern Unternehmen diese Vorgabe erfüllt. Der NAP und beitragen. Allerdings mangelt es dem Gesetz an auch der Koalitionsvertrag sehen in einem solchen einem Sanktionsmechanismus für Unternehmen, Fall eine entsprechende gesetzliche Regelung, ein die nicht mit der nötigen menschenrechtlichen sogenanntes Lieferkettengesetz, vor – erste Eck- Sorgfalt agieren. punkte dazu wurden vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales und vom Bundesministerium Nicht zuletzt wurden im Berichtszeitraum erste für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick- Maßnahmen zum bisher vernachlässigten lung (BMZ) bereits erarbeitet. Thema Beschwerdemöglichkeiten ergriffen – dabei geht es um Personen, die sich durch ein Darüber hinaus gab es im Berichtszeitraum Ent- deutsches Unternehmen im Ausland in ihren wicklungen in verschiedenen Branchen: Die Rechten verletzt sehen: Das Bundesministe- Automobilindustrie startete einen Branchendia- rium für Justiz und Verbraucherschutz fördert log, um gemeinsam menschenrechtlichen Heraus- ein Forschungsvorhaben zu alternativen Streit- forderungen in der Wertschöpfungs- und Liefer- beilegungsmechanismen und veröffentlichte kette zu begegnen; bezüglich der Textilindustrie eine Broschüre über den Zugang zu Recht und präsentierte das BMZ im September 2019 den Gerichten bei Menschenrechtsverletzungen im Grünen Knopf, das erste staatliche Siegel für Verantwortungsbereich von Unternehmen. Es ist nachhaltige Textilien. zu bedauern, dass die Broschüre nicht über eine Auflistung der Rechtsschutzmöglichkeiten hin- Auf politisch-regulativer und auf gesetzlicher ausgeht. Der Zugang zu Abhilfe für Betroffene ist Ebene gab es zwei Entwicklungen: Im Januar weiterhin ein großes nationales, europäisches und 2020 hat die Bundesregierung ihre Rohstoff- internationales Problem und bedauerlicherweise strategie novelliert. Zu begrüßen ist, dass sie auch eines der „Schlusslichter“ in der deutschen sich auf die UN-Leitprinzipien und den NAP stützt. NAP-Umsetzung. Allerdings sind keine Maßnahmen enthalten, um
Impressum HERAUSGEBER Deutsches Institut für Menschenrechte Zimmerstraße 26/27 | 10969 Berlin Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2019 – Juni 2020 Tel.: 030 259 359 - 0 | Fax: 030 259 359 - 59 Bericht an den Deutschen Bundestag gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG info@institut-fuer-menschenrechte.de www.institut-fuer-menschenrechte.de Twitter: @DIMR_Berlin BERICHT AN DEN DEUTSCHEN B UNDESTAG Die Langfassung dieses Berichts können Sie KURZFASSUNG | DEZEMBER 2020 online als PDF-Dokument abrufen: www.institut-fuer-menschenrechte.de/ GESTALTUNG menschenrechtsbericht2020 MedienMélange: Kommunikation! BERICHT AN DEN DEUTSCHEN BUNDESTAG | LIZENZ DEZEMBER 2020 creativecommons.org/licenses/by-nc- ISSN 2511-1566 (Print) nd/4.0/deed.de ISSN 2567-5893 (PDF)
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