Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2019 - Juni 2020 - Kurzfassung

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Kurzfassung

Entwicklung der
Menschenrechtssituation
in Deutschland
Juli 2019 – Juni 2020
Bericht an den Deutschen Bundestag
gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG
Der Bericht                                          Das Institut

Das Deutsche Institut für Menschenrechte legt        Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist
dem Deutschen Bundestag gemäß § 2 Abs. 5             die unabhängige Nationale Menschenrechts­
DIMRG (Gesetz über die Rechtsstellung und            institution Deutschlands (§ 1 DIMR-Gesetz). Es
Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschen-       ist gemäß den Pariser Prinzipien der Vereinten
rechte vom 16. Juli 2015) jährlich einen Bericht     Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den Aufgaben
über die Entwicklung der Menschenrechtssitu-         des Instituts gehören Politikberatung, Menschen-
ation in Deutschland vor. Er wird anlässlich des     rechtsbildung, Information und Dokumentation,
Internationalen Tags der Menschenrechte am           anwendungs­orientierte Forschung zu menschen-
10. Dezember veröffentlicht. Das DIMRG sieht vor,    rechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit
dass der Deutsche Bundestag zum Bericht des          mit internationalen Organisationen. Es wird vom
Instituts Stellung nehmen soll. Der fünfte Bericht   Deutschen Bundestag finanziert. Das Institut
2019/2020 umfasst den Zeitraum 1. Juli 2019          ist zudem mit dem Monitoring der Umsetzung
bis 30. Juni 2020.                                   der UN-Behindertenrechtskonvention und der
                                                     UN-Kinderrechts­konvention betraut worden und
Mit ihrer Anforderung eines jährlichen Berichts      hat hierfür entsprechende Monitoring-Stellen
über die Entwicklung der Menschenrechtssituation     eingerichtet.
in Deutschland machen Bundestag und Bundes-
rat deutlich: Die Menschenrechte aller Menschen      www.institut-fuer-menschenrechte.de
in Deutschland zu achten und zu verwirklichen,
ist eine dauerhafte und sich immer wieder neu
stellende Aufgabe für alle Staatsgewalt. Deshalb
verlangt das Grundgesetz, regelmäßig die men-
schenrechtlichen Auswirkungen von Gesetzen
zu überprüfen und gegebenenfalls durch Gesetz
oder Änderung der Verwaltungspraxis nach-
zusteuern. Zudem können durch politische und
gesellschaft­liche Veränderungen, internationale
und innerstaatliche Entwicklungen sowie wissen-
schaftlichen und technischen Fortschritt neue
Bedrohungen für die Menschenrechte entstehen.
Diese müssen erkannt, analysiert und Lösungen
am Maßstab der Menschenrechte entwickelt wer-
den. Zu beidem – menschenrechtliche Evaluierung
von Gesetzen und Erkennen neuer menschen-
rechtlicher Gefährdungslagen als Grundlage für
politische Gestaltung – will der Menschenrechts-
bericht beitragen.

www.institut-fuer-menschenrechte.de/
menschenrechtsbericht
Inhalt

Einleitung                                                  4

1   Deutschland im Menschen­rechts­schutz­system            5

2   Junge Menschen mit Behinderungen:
    anerkannte Berufsausbildung statt Sonderwege            5

3   Abschiebung und Krankheit: Perspektiven aus der Praxis
    und menschenrecht­liche Verpflichtungen                 7

4   Entwicklungen in Themen der vorherigen
    Menschenrechtsberichte                                  10
4                                                                                            Einleitung

Einleitung
Die Corona-Pandemie stellt Deutschland wie alle      Junge Menschen mit Behinderungen sollten – wie
Staaten der Welt vor Herausforderungen, die in       alle Jugendlichen – nach Abschluss der Schule
ihrer Art und ihren Auswirkungen einzigartig sind.   die Möglichkeit haben, eine Ausbildung in einem
Eine umfassende Darstellung und abschließende        regulären Ausbildungsberuf zu beginnen. Tatsäch-
menschenrechtliche Bewertung des bisherigen          lich absolvieren sie ihre Berufsausbildung aber
Umgangs des Bundes und der Länder mit der            mehrheitlich in „Sonderformen“, mit der Folge,
Pandemie kann der fünfte Bericht über die Men-       dass die Jugendlichen nach einer solchen Ausbil-
schenrechtslage in Deutschland (1. Juli 2019 – 30.   dung nicht den Übergang in den regulären Arbeits-
Juni 2020) naturgemäß nicht leisten. Entgegen        markt schaffen. Die UN-Behindertenrechtskon-
den Hoffnungen vieler bestimmt die zweite Welle      vention verpflichtet den Staat, auf diese Situation
der Corona-Pandemie erneut das politische und        zu reagieren und einen diskriminierungsfreien
gesellschaftliche Leben und es ist nicht absehbar,   Zugang zu beruflicher Bildung für alle Menschen
welche neuen Herausforderungen sich in den kom-      zu gewährleisten.
menden Monaten stellen werden. Der vorliegende
Bericht greift einige dieser Herausforderungen und   Neue Entwicklungen und Erkenntnisse in ausge-
damit verbundene menschenrechtliche Fragen in        wählten Themenbereichen der Vorjahresberichte
seinem Vorwort auf.                                  stellt der Menschenrechtsbericht in seinem letzten
                                                     Teil dar. Zusammen mit den entsprechenden
Das erste Kapitel des Menschenrechtsberichts         Schlusskapiteln der Berichte seit 2016 ergibt sich
stellt die wesentlichen Ergebnisse der menschen-     so ein guter Überblick über die Menschenrechts-
rechtlichen Überprüfungsverfahren zu Deutsch-        lage in Deutschland.
land dar. Eine besondere Rolle nimmt dabei die
Europäische Menschenrechtskonvention ein,            Der Bericht beruht auf verschiedenen Daten-
deren 70. Jahrestag am 4. November 2020 be-          quellen. Teilweise hat das Institut eigene qualita-
gangen wurde.                                        tive Untersuchungen durchgeführt. Ausgewertet
                                                     wurden außerdem öffentlich verfügbare Statis-
Auch wenn der Umgang mit der Corona-Pan-             tiken, Dokumente und Studien, darunter auch
demie zu Recht große politische und öffentliche      Drucksachen des Deutschen Bundestags und der
Aufmerksamkeit genießt, bleiben menschenrecht-       Länderparlamente. Darüber hinaus hat das Institut
liche Herausforderungen in anderen Politikfeldern    mithilfe eines Fragebogens Daten bei den Regie-
bestehen. Der diesjährige Menschenrechtsbericht      rungen der Länder erhoben. An dieser Stelle sei
widmet sich schwerpunktmäßig zwei Themen:            ausdrücklich den einzelnen Ministerien gedankt,
Krankheit und Abschiebung sowie der beruflichen      die sich an der Beantwortung des Fragebogens
Ausbildung von Menschen mit Behinderungen.           beteiligt haben. Wir danken auch allen Interview-
                                                     partner_innen, die uns im Rahmen der Recherche
Erkrankte Menschen dürfen in Deutschland nicht       für den Menschenrechtsbericht Auskunft gegeben
abgeschoben werden, wenn sich dadurch ihr            haben.
Gesundheitszustand gravierend verschlechtert
oder gar ihr Leben gefährdet ist. Eine solche Er-    An den Schwerpunktthemen des diesjährigen
krankung nachzuweisen, ist in erster Linie Auf-      Berichts zeigt sich exemplarisch: Es bleibt eine
gabe der betroffenen Personen – eine Pflicht, der    dauerhafte Aufgabe, die Grund- und Menschen-
diese in vielen Fällen nicht nachkommen können:      rechte von Menschen in verletzlichen Lebenslagen
wegen beschleunigter Asylverfahren, mangelnden       zu schützen und den Bildungszugang für alle so
Zugangs zu Informationen, Sprachmittlung und         sicherzustellen, dass jeder Mensch in Deutsch-
Fachärzt_innen sowie wegen bürokratischer oder       land sein Potenzial voll entfalten kann. Nur wer
finanzieller Hürden. Umso wichtiger ist es, dass     genau hinschaut, kann gute Politik machen. Wir
auch der Staat gründlich prüft, ob ein sogenann-     hoffen, dass die Erkenntnisse und Empfehlungen
tes krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis        des vorliegenden Berichts von Bund und Ländern
vorliegt.                                            aufgegriffen werden.
D EUTSC HL AND IM M E NSC HE N­R E C H TSSC HU TZ SYST EM                                                    5

1 Deutschland im Menschen­                                  Auf diese Situation muss der Staat reagieren,
                                                            da die berufliche Qualifizierung die Weichen für
rechtsschutzsystem                                          den Zugang zum regulären Arbeitsmarkt und zu
                                                            einem selbst gestalteten Leben stellt. Die UN-
Deutschland hat sich im Grundgesetz und durch               Behinderten­rechtskonvention (UN-BRK) ist gel-
die Ratifikation zahlreicher internationaler und            tendes Recht in Deutschland. Daher ist der Staat
europäischer Menschenrechtsverträge zur Einhal-             verpflichtet, das Recht auf diskriminierungsfreien
tung der Grund- und Menschenrechte verpflich-               Zugang zu beruflicher Bildung, wie es im Recht auf
tet. Kapitel 1 des Berichts gibt die wesentlichen           Bildung (Art. 24 UN-BRK) und im Recht auf Arbeit
Entwicklungen vom 1. Juli 2019 bis zum 30. Juni             (Art. 27 UN-BRK), festgeschrieben ist, umzuset-
2020 wieder.                                                zen. Für alle Auszubildenden muss es ein in-
                                                            klusives, reguläres Ausbildungssystem geben,
Im Jahr 2020 jährt sich die Verabschiedung der              wie auch für alle Schüler_innen ein inklusives
Europäischen Menschenrechtskonvention zum                   Schulsystem.
70. Mal. Ihre Meilensteile sind grafisch dargestellt.
                                                            Umfassende Daten zur Frage, wie viele Ju-
Im Zeitraum 1. Juli 2019 bis 30. Juni 2020 legten           gendliche mit Behinderungen eine reguläre
folgende europäische Fachausschüsse ihre Be-                Ausbildung beginnen, liegen nicht vor, da die
wertung zum Umsetzungsstand und ihre Empfeh-                Berufsbildungsstatistik das Merkmal Behinderung
lungen zu Deutschland vor:                                  bisher nicht erfasst. Auch zu den Berufswegen
– Europäische Kommission gegen Rassismus                    ehemaliger Schüler_innen mit einem sonderpäda-
    und Intoleranz                                          gogischem Förderbedarf – darunter viele Jugend-
– Europäischer Ausschuss für Soziale Rechte                 liche mit Behinderungen – ist bisher nur wenig
                                                            geforscht worden. In der Fachdebatte muss daher
Die Beobachtungen und Empfehlungen der je-                  auf andere Statistiken zurückgegriffen werden.
weiligen Fachausschüsse sind in diesem Bericht              Diese zeigen:
zusammengefasst.
                                                            – Etwa 50.000 Jugendliche mit sonderpäda­
                                                              gogischer Förderung schließen jährlich in
                                                              Deutschland die Schule ab. Weniger als zehn
2 Junge Menschen mit                                          Prozent von ihnen beginnen nach der Schul-
                                                              zeit eine betriebliche Ausbildung in einem
Behinderungen:                                                anerkannten Ausbildungsberuf, schätzen Jan
anerkannte Berufsausbildung                                   Jochmaring und Katharina Rathmann anhand
                                                              der verfügbaren Daten und Studien im Jahr
statt Sonderwege                                              2018. Teilweise haben sie zuvor Maßnahmen
                                                              der Berufsvorbereitung durchlaufen.
Die freie Berufswahl und -ausübung bedeutet
selbstbestimmte Lebensgestaltung, soziale Teil-             – Die große Mehrheit der Jugendlichen mit Förder­
habe und ökonomische Gestaltungsmöglichkeit.                  bedarf absolviert nach der Schule zunächst
Einen Beruf auszuüben, der den eigenen Nei-                   eine Maßnahme zur Berufsvorbereitung. Es
gungen und Fähigkeiten entspricht, bleibt vielen              sind etwa 80 bis 90 Prozent, fasst Jan Jochma-
Menschen mit Behinderungen jedoch weiterhin                   ring im Jahr 2019 die vorhandenen Studien zu-
verschlossen. Studien zeigen: Jugendliche mit                 sammen. Diese Maßnahmen zielen zwar darauf
Behinderungen absolvieren ihre Berufsausbil-                  ab, den Jugendlichen den Weg in eine reguläre
dung überwiegend nicht im regulären Ausbil-                   Berufsausbildung zu ebnen, jedoch gelingt
dungssystem. Ihre Ausbildung in „Sonderfor-                   dies in der Regel nicht: Für Jugendliche mit
men“ führt mehrheitlich nicht zu anerkannten                  Förderbedarf schließt sich oftmals keine
Abschlüssen, die einen Übergang in den                        reguläre Berufsausbildung an.
regulären Arbeitsmarkt ermöglichen.
6               J U N G E M E NSC HE N M I T B E H IN DER U N G EN : AN ER K AN N T E B ER U F SAU S B IL DU N G STAT T S O N DERWE GE

Zu dem speziellen Ausbildungssystem für                           Das betrifft sowohl die Phase der Berufswahl als
Menschen mit Behinderungen gehört die Fach-                       auch die Ausbildung als solche. Vom Institut analy-
praktiker-Ausbildung; aber auch ein Teil des                      sierte Modellprojekte und Studien verdeutlichen:
Übergangssystems ist speziell für Menschen mit
Behinderungen gedacht; auch die außerbetrieb-                     Während der Phase der Berufsorientierung,
lichen Ausbildungsstätten werden oft von Men-                     also noch in der Schule, braucht es Lehrkräfte
schen mit Behinderungen besucht.                                  und Berufsberater_innen, die Jugendliche mit
                                                                  Behinderungen vorurteilsfrei beraten und die
Die beiden für die Berufsausbildung zentralen                     ihnen eine vergleichbare Vielfalt an Berufswahl-
Gesetze – das Berufsbildungsgesetz und die Hand-                  möglichkeiten wie ihren Altersgenoss_innen ohne
werksordnung – sehen vor, dass Schulabgänger_                     Behinderungen anbieten. Dies setzt voraus, dass
innen mit Behinderungen vorrangig in anerkannten                  sich Lehrkräfte mit ausbildungsbezogenen
Berufen ausgebildet werden sollen. Tatsächlich                    Förder- und Unterstützungsmöglichkeiten aus-
geht die Mehrheit einen anderen Weg.                              kennen und externe Beratung – beispielsweise in
                                                                  Form von Inklusionsberater_innen – hinzuziehen
Vor diesem Hintergrund hat sich das D
                                    ­ eutsche                     können. Dazu braucht es die Zusammenarbeit der
Institut für Menschenrechte mit dem Zugang zu                     Schulen mit örtlichen Arbeitsagenturen, Berufs-
anerkannter betrieblicher Ausbildung für Men-                     und Wirtschaftskammern, Innungen, Arbeitgeber-
schen mit Behinderungen beschäftigt. Dabei wird                   verbänden und Gewerkschaften – zum Beispiel bei
einerseits analysiert, welche menschenrechtlichen                 Berufswegekonferenzen.
Verpflichtungen Deutschland hier hat. Darüber
hinaus werden – anhand von wissenschaftlichen                     Junge Menschen mit Behinderungen sollten
Studien und dokumentierten Modellprojekten –                      beispielweise ebenfalls die Möglichkeit haben,
Gelingensbedingungen für die Teilhabe von Men-                    im Rahmen von Betriebspraktika in verschie-
schen mit Behinderungen an regulären betriebli-                   dene Berufsfelder „reinzuschnuppern“. Unter-
chen Ausbildungsgängen analysiert.                                nehmensbefragungen und Pilotprojekte zeigen,
                                                                  dass Unternehmen, die Erfahrungen mit Prakti-
In den letzten Jahren setzten sich verschiedene                   kant_innen oder Beschäftigten mit Behinderungen
bundesweite Initiativen – Zusammenschlüsse aus                    gemacht haben, dann auch häufiger Jugendliche
Bundesministerien, Arbeitnehmer- und Arbeitgeber­                 mit Behinderungen ausbilden. Arbeitsagenturen
verbänden, Unternehmen und Kammern – für eine                     und auch die Kammern sind daher gefordert, eng
inklusive betriebliche Ausbildung ein. Auch der                   mit Schulen zusammenzuarbeiten, um Praktika zu
Deutsche Bundestag hat mit dem „Gesetz zur                        vermitteln.
Modernisierung und Stärkung der beruflichen
Bildung“ sowie dem „Arbeit-von-morgen-                            Phase der Ausbildung: Damit junge Menschen
Gesetz“ in einzelnen Teilaspekten Verbesse-                       mit Behinderungen häufiger den Weg in ein
rungen vorgenommen, beispielsweise um die                         reguläres Ausbildungsverhältnis finden, müssen
Teilzeitausbildung zu flexibilisieren. Nicht zuletzt              die Ausbildungsgänge flexibilisiert werden.
widmen sich auch die Werkstätten für Menschen                     Vereinzelt ist es bereits möglich, eine Ausbildung
mit Behinderungen und die Berufsbildungswerke                     in Teilzeit zu absolvieren. Darüber hinaus sollten
verstärkt dem Übergang in den ersten Arbeits-                     Ausbildungsgänge in Modulen angeboten werden
markt. Über diese ersten Verbesserungen hinaus                    und Teilabschlüsse möglich sein. Verantwortlich
ist jedoch eine Veränderung des Gesamtsys-                        dafür sind die ausbildenden Unternehmen und die
tems hin zu inklusiven Regelstrukturen not-                       Kammern; es braucht dazu aber auch Reformen
wendig. Das setzt unter anderem voraus, dass                      des Berufsbildungsgesetzes, der Handwerksord-
das Merkmal Behinderung im Rahmen der Berufs-                     nung und der Ausbildungsordnungen durch den
bildungsstatistik erhoben wird.                                   Bundes- und die Landesgesetzgeber.

Um die Systemtransformation voranzubringen,                       Zu einem inklusiven Ausbildungssystem gehören
braucht es eine Reihe von Maßnahmen und eine                      auch barrierefreie Arbeits- und Ausbildungs-
bessere Koordination der beteiligten Akteur_innen.                stätten. Bund und Länder sollten unter anderem
A B SCHIEB UN G UND K R A NK H E I T                                                                 7

mit einer Reform der Arbeitsstättenverordnung        3 Abschiebung und Krank-
und der Landesbauordnungen darauf hinwirken,
dass Unternehmen ihre Ausbildungsstätten von
                                                     heit: Perspektiven aus der
vornherein barrierefrei gestalten. Neben baulicher   Praxis und menschenrecht­
Barrierefreiheit braucht es auch Inklusionskom-
petenz in den Betrieben. Die Kammern sollten
                                                     liche Verpflichtungen
im Rahmen ihrer Schulungen die Ausbilder_innen
für den Umgang mit Menschen mit Behinderungen        Erkrankte Menschen dürfen in Deutschland
sensibilisieren.                                     nicht abgeschoben werden, wenn sich da-
                                                     durch ihr Gesundheitszustand gravierend
Und nicht zuletzt sollten Unternehmen, die junge     verschlechtert oder gar ihr Leben gefährdet
Menschen mit Behinderungen ausbilden wol-            ist (sogenanntes krankheitsbedingtes Abschie-
len, gezielt über Fördermöglichkeiten informiert     bungshindernis). Die Behörden müssen zu jedem
werden. Selbst großen Unternehmen fehlt es           Zeitpunkt eine Lebensgefahr für die Betroffenen
häufig an Informationen über die vielfältigen        ausschließen und gegebenenfalls von einer Ab-
Unterstützungsmöglichkeiten. Hier sollten            schiebung absehen. Jeder Zeitpunkt bedeutet: bei
Bund, Länder und Kommunen weiterhin Aufklä-          der Prüfung des Asylantrags durch das Bundes-
rungsarbeit leisten und vor allem in gute Bera-      amt für Migration und Flüchtlinge (BAMF), bei der
tungsstrukturen – beispielsweise eine Beratung       Vorbereitung der Abschiebung durch die Auslän-
aus einer Hand mit festen Ansprechpersonen           derbehörden und während der Abschiebung durch
– investieren.                                       die Landes- und Bundespolizeien. Dies gebieten
                                                     die Grund- und Menschenrechte auf Leben und
Insgesamt müssen institutionelle Akteure, die        körperliche Unversehrtheit sowie das völkerrecht-
unterstützend mit Jugendlichen arbeiten, kon-        liche Verbot der Zurückweisung (Refoulement-Ver-
sequenter von den Jugendlichen und ihren             bot). Diesen menschenrechtlichen Schutzpflichten
spezifischen Bedarfen aus denken. Ziel sollten       gegenüber steht der staatliche Anspruch, eine
Hilfe- und Unterstützungsleistungen sein, die von    Ausreisepflicht möglichst effektiv durchzusetzen.
der „Verschiedenheit aller als Normalität“ ausge-
hen und die vom tatsächlichen Bedarf der betref-     Im Kontext der aktuellen politischen Debatte in
fenden Jugendlichen her gedacht und konzipiert       Deutschland zur Erhöhung der Abschiebungszah-
sind, anstatt als maßnahmenähnliche Struktur, die    len hat der Bundestag 2016 und 2019 die Rege-
sich primär an Finanzierungsarten und abstrakten     lungen zur Abschiebung erkrankter Menschen
Rechtskategorien orientiert.                         verschärft.

Für alle Auszubildenden in Deutschland muss es       Für Asylsuchende und ausreisepflichtige Men-
ein inklusives reguläres Ausbildungssystem geben.    schen, die erkrankt sind, ist es schwer, die
Werden dauerhaft zwei parallele Systeme – ein        gesetzlichen Vorgaben (§ 60a Abs. 2c und 2d
Regel-Ausbildungssystem und ein spezielles Sys-      Aufenthaltsgesetz) zum Nachweis eines krank-
tem für Menschen mit Behinderungen – aufrecht-       heitsbedingten Abschiebungshindernisses zu
erhalten, ist das mit den menschenrechtlichen        erfüllen. Die zuständigen Behörden berufen sich
Verpflichtungen Deutschlands nicht vereinbar.        regelmäßig auf diese Nachweispflichten und las-
                                                     sen oft Anhaltspunkte für eine relevante Erkran-
                                                     kung außer Acht. Das führt teilweise dazu, dass
                                                     Menschen abgeschoben werden, die aufgrund
                                                     ihres Gesundheitszustands nicht hätten abgescho-
                                                     ben werden dürfen. Liegt eine schwerwiegende
                                                     Erkrankung vor, muss das BAMF im Asylverfahren
                                                     zudem prüfen, ob die Krankheit im Herkunftsland
                                                     behandelt werden kann und die betroffene Person
                                                     tatsächlich Zugang zu dieser Behandlung hat.
8                                                                             A bschiebung und Krankheit

Verlässliche Zahlen, wie viele Menschen mit            hundert bis weit über tausend Euro kosten, abhän-
einer schwerwiegenden Erkrankung abgeschoben           gig vom Zeitaufwand. Die Hürden treffen diejeni-
werden beziehungsweise in wie vielen Fällen die        gen besonders hart, die in der Abschiebungshaft
Ausländerbehörden aus medizinischen Gründen            sitzen oder in AnkER-Zentren beziehungsweise
von einer Abschiebung absehen, gibt es nicht.          anderen entlegenen Massenunterkünften leben.
Teile der Politik und der Medien unterstellen          Um einen Arzttermin oder eine Sprachmittlung zu
immer wieder, dass Ausreisepflichtige Krankheiten      bekommen, braucht es nicht selten die Unterstüt-
vortäuschen. Dafür gibt es keine verlässliche Da-      zung von Ehrenamtlichen oder Vereinen.
tengrundlage. Im Gegenteil: Die wenigen öffentlich
verfügbaren Zahlen lassen diesen Schluss nicht zu.      Auch Ärzt_innen berichten in den Interviews
                                                       von der Schwierigkeit, diese Nachweise aus-
Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat das       zustellen: Es brauche viel Zusatzwissen für die
Spannungsfeld Abschiebung und Krankheit – kon-         ­Erstellung der gesetzlich geforderten Nachweise;
kret: krankheitsbedingte Abschiebungshindernisse        es werde als undurchsichtig und teilweise willkür-
– in den Fokus genommen. Aus rechtlicher Sicht          lich wahrgenommen, nach welchen Kriterien die
wird analysiert, welche Anforderungen sich aus den      Behörden ärztliche Nachweise (nicht) anerkennen.
Grund- und Menschenrechten für die Abschiebung          Insbesondere bei psychischen Erkrankungen
kranker Menschen ergeben. Der empirische Teil           seien Ablehnungen oft nicht nachvollziehbar,
untersucht, wie in der Praxis krankheitsbedingte        so die interviewten Praktiker_innen.
Abschiebungshindernisse nachgewiesen, geprüft
und bewertet werden. Dafür hat das Institut 24         Das Institut weist darauf hin, dass die Darlegungs­
Interviews geführt mit Vertreter_innen des BAMF        pflicht der Betroffenen die Behörden nicht von
sowie der Bundes- und Landespolizei, der Ärzte­        ihrer Pflicht zur Sachaufklärung entbindet. Die
schaft, der Anwaltschaft, von psychosozialen           Mitarbeiter_innen im BAMF und in den Ausländer-
Beratungsstellen und der Abschiebungsbeobach-          behörden sollten mithilfe interner Anwendungs-
tung. Außerdem wurden Daten bei den zuständi-          hinweise stärker dazu verpflichtet werden, weitere
gen Behörden der Bundesländer abgefragt und            nicht unmittelbar offensichtliche Anhaltspunkte
öffentlich verfügbare Statistiken ausgewertet.         für ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis
                                                       zu berücksichtigen; beispielsweise frühere Klinik­
Nachweispflichten: Zunächst einmal obliegt es          aufenthalte oder das Verhalten der betroffenen
den Betroffenen, das BAMF oder die Ausländer­          Person in der Anhörung. Auch sollten Entschei-
behörde über eine Krankheit zu informieren,            der_innen bei der Bewertung von medizinischen
die gegen eine Abschiebung sprechen könnte             Nachweisen oder anderen Anhaltspunkten für eine
(Darlegungspflicht). Die Betroffenen brauchen          schwerwiegende Erkrankung verpflichtet sein,
eine sogenannte qualifizierte ärztliche Bescheini-     fachärztlichen Rat hinzuzuziehen.
gung. Diese muss bestimmten gesetzlich festge-
legten Anforderungen genügen und den Behörden          Besteht eine Ausreisepflicht, bereitet die zu-
vorgelegt werden, um eine Erkrankung nachzuwei-        ständige Ausländerbehörde die Abschiebung ins
sen. Die Behörde ihrerseits ist verpflichtet, diesem   Herkunftsland vor. Wenn es Anhaltspunkte für
Sachverhalt nachzugehen und ihn weiter aufzuklä-       eine Erkrankung gibt, muss die Ausländer­
ren (Sachaufklärungspflicht).                          behörde Vorkehrungen treffen, beispielsweise
                                                       die Reisefähigkeit prüfen, Medikamente mitgeben
In der Praxis scheitern die Menschen daran             und die ärztliche Versorgung während und direkt
aus folgenden Gründen: beschleunigte Asyl-             im Anschluss an die Abschiebung sicherstellen.
verfahren, mangelnde Informationen, fehlende           Im Zweifel ist die Abschiebung auszusetzen.
Sprachmittlung, Mangel an Fachärzt_innen,              Die Ausländerbehörde ist grund- und menschen-
der gesetzlich eingeschränkte Zugang zum Ge-           rechtlich dazu verpflichtet, darauf zu achten, dass
sundheitssystem (Asylbewerberleistungsgesetz)          direkt vor, während und nach der Abschiebung
sowie finanzielle Hürden. So kann ein ausführ-         keine Lebensgefahr für die Betroffenen droht und
liches Gutachten, welches für den Nachweis psy-        sich ihr Gesundheitszustand nicht gravierend
chischer Erkrankungen häufig nötig ist, mehrere        verschlechtert.
Abschiebung und Krankheit                                                                               9

Aus den Interviews mit Ärzt_innen und Abschiebe-      Das Institut begrüßt in diesem Zusammenhang,
beobachtung wird deutlich: In der Praxis gibt es      dass es an vier Flughäfen (Düsseldorf, Hamburg,
große Unterschiede bei der Prüfung der Reise­         Berlin-Brandenburg, Frankfurt am Main) bereits
fähigkeit. Ob beispielsweise überhaupt eigene         eine unabhängige Abschiebungsbeobachtung
ärztliche Untersuchungen durch die Behörde in         gibt. Sie hat die Aufgabe, die Praxis von Abschie-
Auftrag gegeben werden oder wer und in welchem        bungen von der Ankunft der Betroffenen am
Umfang prüft, wird unterschiedlich gehandhabt.        Flughafen bis zum Abflug zu beobachten. Sie kann
Bei der konkreten Ausgestaltung der Abschiebung       nicht aktiv in Abschiebungen eingreifen, vermit-
(beispielsweise Anzahl und Fachrichtung der           telt aber im Einzelfall zwischen den staatlichen
Ärzt_innen, die die Abschiebung begleiten) lassen     Akteuren und den von der Abschiebung Betroffe-
die Berichte der Interviewpartner_innen sowie         nen. Wünschenswert wäre, die Überwachung von
nationaler (Nationale Stelle zur Verhütung von        Abschiebungen, die von der europäischen Rück-
Folter) und europäischer (Europäischer Ausschuss      führungsrichtlinie vorgeschrieben ist, auf ­weitere
zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder      Flughäfen und Vollzugsschritte – wie die
erniedrigender Behandlung oder Strafe, Europa-        Zuführung und den Flug – auszudehnen und
rat ) Menschenrechtsgremien Zweifel daran, ob         ihr unabhängiges Mandat zu stärken.
stets eine angemessene ärztliche Versorgung
während des Abschiebevorgangs gewährleis-             Bund und Länder sollten die Praxisberichte
tet ist und ob die Ärzt_innen immer unabhän-          (Interviews, Fachverbände) zum Anlass nehmen,
gig handeln.                                          gesetzliche und behördliche Regelungen bezüglich
                                                      krankheitsbedingter Abschiebungshindernisse
Während des Abschiebevorgangs – also bei              zu überarbeiten. Die Länder sollten verbindliche
der Abholung (Zuführung), am Flughafen und            Vorgaben schaffen, damit die Ausgestaltung
während des Fluges – müssen die beteiligten           der Abschiebung durch die Ausländerbehörden
Behörden (Ausländerbehörde sowie Landes- und          menschenrechtskonform und diskriminierungsfrei
Bundespolizei) die Grund- und Menschenrechte          abläuft. Die Darlegungslast von kranken Geflüch-
der Betroffenen wahren. Dazu gehört das Recht         teten darf nicht dazu führen, dass die Behörden
auf körperliche Unversehrtheit – die Behörden         ihrerseits die Sachaufklärungspflicht vernachläs-
sind verpflichtet, eine Abschiebung abzubrechen,      sigen. Um den Asylsuchenden den Zugang zum
wenn eine gravierende Gesundheitsverschlechte-        Recht und zu Informationen zu erleichtern, emp-
rung vorliegt. Ein besonders sensibler Bereich sind   fiehlt das Institut, eine flächendeckende, vom
Abschiebungen von Menschen aus der statio-            BAMF unabhängige Verfahrensberatung durch
nären Behandlung eines Krankenhauses oder             Wohlfahrtsverbände einzurichten.
einer Psychiatrie. Sie sind stets ein schwerer
Eingriff in die Rechte der Betroffenen, sodass        Die Erkenntnisse aus der Praxis sind ernstzu­
das Institut dringend empfiehlt, von Abschiebun-      nehmende Indizien, dass die gesetzlichen
gen aus Kliniken insgesamt abzusehen.                 Nachweispflichten in § 60a Abs. 2c und 2d
                                                      Aufenthaltsgesetz in der jetzigen Form ver­
Um Anzeichen für eine Verschlechterung des            fassungsrechtlich bedenklich sind und durch
Gesundheitszustands zu erkennen, müssen die           den Bundestag abgeändert werden sollten.
involvierten Polizeibeamt_innen medizinisch
relevante Informationen über die Betroffenen
haben und sich mit diesen sprachlich verständi-
gen können. Aus den Praxisberichten wird jedoch
deutlich, dass es hier immer wieder zu Problemen
kommt; ebenso dass Personen, die abgeschoben
werden sollen, nur unter sehr erschwerten
Bedingungen Zugang zu Anwält_innen haben.
Der effektive Rechtsschutz ist so nicht umfassend
gewährleistet.
10                                  E ntwicklungen in Themen der vorherigen M enschenrechtsberichte

4 Entwicklungen in                                    tungsangebote fehlten, eine medizinische Versor-
                                                      gung könne nicht gewährleistet werden, in vielen
Themen der vorherigen                                 Unterkünften sei eine enge Belegung nach wie vor
Menschenrechtsberichte                                an der Tagesordnung.

Abschließend werden die Entwicklungen in vier         Erfreulich ist, dass ab dem Jahr 2022 bundes-
Themengebieten vorgestellt, die bereits in den        weit Daten zum Ausmaß von Wohnungslosig-
Vorjahren beleuchtet wurden.                          keit in Deutschland erhoben werden (Woh-
                                                      nungslosenberichterstattungsgesetz). Bisher gab
                                                      es lediglich Schätzungen. Die gewonnenen Daten
Wohnungslosigkeit                                     werden es erstmals ermöglichen, verlässliche
                                                      Aussagen zu einer Teilgruppe der Wohnungslo-
Die kommunale Unterbringung wohnungsloser             sen in Deutschland zu treffen, also zu Personen,
Menschen und ihr Recht auf eine angemessene           die durch die Kommunen oder Einrichtungen der
Unterkunft waren ein Schwerpunktthema im Be-          Wohnungslosenhilfe untergebracht sind. Erfreulich
richt von 2019. Mehrere zehntausend wohnungs-         ist, dass nun durch die „ergänzende Berichterstat-
lose Menschen werden durch die Kommunen vor-          tung“ auch Erkenntnisse zu jenen Wohnungslosen
übergehend untergebracht. Vor dem Hintergrund,        generiert werden, die bisher nicht durch die neue
dass diese Menschen nicht selten über mehre           Statistik erfasst sind, insbesondere zu Menschen,
Jahre in der kommunalen Unterbringung leben,          die auf der Straße leben oder vorübergehend bei
sind die durch die Rechtsprechung definierten         Freund_innen / Bekannten untergekommen sind.
Mindeststandards nicht mehr mit dem Recht auf
angemessenes Wohnen (Art. 11 UN-Sozialpakt)
vereinbar.                                            Zugang zu Bildung für geflüchtete
                                                      Kinder
Im aktuellen Berichtszeitraum (1. Juli 2019 – 30.
Juni 2020), dessen zweite Hälfte maßgeblich           Das Recht eines jeden Kindes auf Bildung (Artikel
durch die Corona-Pandemie geprägt war, zielten        28 und 29 UN-Kinderrechtskonvention) wird für
­einige politische Maßnahmen darauf ab, Woh-          viele geflüchtete Kinder, die in Erstaufnahmeein-
 nungslosigkeit zu vermeiden. So beschloss der        richtungen und Gemeinschaftsunterkünften leben,
 Bundestag einen vorübergehenden Kündigungs-          nach wie vor nicht ausreichend gewährleistet. Für
 ausschluss für zahlungsunfähige Mieter_innen,        die Kinder vergehen oft Monate, bis sie in eine
 das heißt, ihnen konnte für den Zeitraum vom         Kita oder Schule gehen können.
 1. April bis 30. Juni 2020 nicht wegen ausgefalle-
 ner Mietzahlungen aufgrund der COVID-19-Pan-         Zwar haben geflüchtete Kinder in Erstaufnahme-
 demie gekündigt werden. Weiterhin wurde die          einrichtungen – wie alle Kinder in Deutschland
 Beantragung von SGB II-Leistungen vereinfacht,       – mit Vollendung des ersten Lebensjahrs einen
 um Menschen mit wenig oder keinem Einkommen          gesetzlichen Anspruch auf einen Kitaplatz. Bis auf
 zu unterstützen.                                     das Saarland setzen alle anderen Bundesländer
                                                      diesen Rechtsanspruch nicht um. Die anderen 15
Kommunen schufen teilweise zusätzliche Unter-         Länder stellen sich auf den Standpunkt, dass der
bringungsmöglichkeiten für bereits wohnungslose       Rechtsanspruch erst mit der Zuweisung zu einer
Menschen, um die Belegungsdichte in den Notun-        Kommune beginnt – was zu mehrmonatigen Ver-
terkünften zu reduzieren oder um die Quarantäne       zögerungen führt.
von infizierten Personen zu ermöglichen. Die Fach-
verbände der Wohnungslosenhilfe kritisieren, dass     Auch den Schuleintritt für geflüchtete Kinder in
– auch in Anbetracht des Winters 2020/2021 –          Erstaufnahmeeinrichtungen regeln die Bundes-
die verabschiedeten Maßnahmen bei Weitem              länder unterschiedlich; überwiegend beginnt die
nicht ausreichen, um wohnungslose Menschen            Regelbeschulung erst, nachdem die Kinder und
angemessen vor einer Ansteckung mit dem               Jugendlichen einer Kommune zugeteilt wurden.
neuartigen Corona-­Virus zu schützen: Bera-           Einzig in Berlin, Bremen, Hamburg, dem Saarland
Entwicklungen in Themen der vorherigen Menschenrechtsberichte                                          11

und Schleswig-Holstein gilt die Schulpflicht für      aus den „Politischen Grundsätzen“ weder bei
geflüchtete Kinder sofort. Gemäß EU-Aufnahme-         den genehmigten Ausfuhren an Staaten in
Richtlinie (Artikel 14 Absatz 2) darf die maximale    der Militärkoalition noch bei der temporären
Frist bis zur Gewährung von Bildungsangeboten         Zurückhaltung bereits genehmigter Ausfuhren
für geflüchtete Kinder drei Monate betragen – in      in diese Staaten eine handlungsleitende Rolle
der Praxis kann es auch länger dauern.                gespielt zu haben. So genehmigte die Bundes-
                                                      regierung Rüstungsexporte in mehrere Staaten,
In der Folge sind die Bildungschancen geflüch­        die sich an der Militärkoalition im Jemenkonflikt
teter Kinder davon abhängig, in welchem               beteiligen – trotz einer anderslautenden Selbst­
Bundesland sie untergebracht sind. Das wider-         verpflichtung im Koalitionsvertrag.
spricht dem Recht auf Nichtdiskriminierung
(Artikel 2 UN-KRK).                                   Der seit November 2018 bis einschließlich 31.
                                                      Dezember 2020 geltende deutsche Exportstopp
Zudem wurde im Berichtszeitraum eine Verpflich-       nach Saudi-Arabien war im Dezember 2019
tung der Länder normiert, bei der Unterbringung       erstmals Gegenstand eines Gerichtsverfah-
von Asylsuchenden geeignete Schutzmaßnahmen           rens. Geklagt hatte Rheinmetall (MAN) Military
für Frauen und schutzbedürftige Personen – also       Vehicles. Das Verwaltungsgericht Frankfurt am
auch Kinder – zu ergreifen (§ 44 Abs. 2a Asylge-      Main gab dem Unternehmen in erster Instanz
setz), zum Beispiel verbindliche Gewaltschutzkon-     Recht und hob die entsprechenden Bescheide, die
zepte in den Unterkünften zu verabschieden. Auch      die Ausfuhr der Güter trotz vorliegender Genehmi-
hier gibt es bisher kein einheitliches Schutzniveau   gung außer Kraft gesetzt hatten, wegen unzurei-
in den Bundesländern.                                 chender Begründung auf. Die Bundesregierung hat
                                                      gegen das Urteil Berufung eingelegt.
Die Corona-Pandemie hat die Bildungschancen
von geflüchteten Kindern in Deutschland noch          Der Konflikt im Jemen bleibt trotz vielfältiger
einmal verringert: In Erstaufnahmeeinrichtun-         Anstrengungen und Abkommen ungelöst; die
gen und Gemeinschaftsunterkünften lebende             humanitäre Notlage der Bevölkerung wurde durch
Schulkinder verfügen häufig nicht über die            die COVID-19-Pandemie noch einmal verschärft.
technische Infrastruktur, um an digitalen             Bislang ist kein interner oder externer Akteur für
Bildungsangeboten teilzunehmen; sie befinden          seine unmittelbare oder mittelbare militärische
sich in einer beengten Lernumgebung und unter-        Beteiligung am Konflikt zur Rechenschaft gezogen
stützende Angebote wie Hausaufgabenhilfe wur-         worden. Daher fordert das vom UN-Sicherheitsrat
den während der Kontaktbeschränkungen stark           eingesetzte Expertengremium zum Jemen eine
reduziert oder sogar eingestellt.                     Überstellung des Jemenkonflikts an den Internati-
                                                      onalen Strafgerichtshof.

Rüstungsexporte
                                                      Wirtschaft und Menschenrechte
Die deutsche Genehmigungspraxis von Rüstungs-
exporten war ein Schwerpunktthema im Bericht          Seit seiner Verabschiedung im Dezember 2016
2018. Das Institut untersuchte am Beispiel von        ist der Nationale Aktionsplan Wirtschaft und
Saudi-Arabien und den Vereinigten Arabischen          Menschenrechte (NAP) Bestandteil des Menschen-
Emiraten, die am Konflikt im Jemen beteiligt sind,    rechtsberichts. Der NAP legt dar, wie Deutschland
ob die Waffenexporte in diese Länder mit Geneh-       seinen menschenrechtlichen Verpflichtungen im
migung der Bundesregierung den „Politischen           Kontext der UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und
Grundsätzen für den Export von Kriegswaffen und       Menschenrechte nachkommen will. Er befindet
sonstigen Rüstungsgütern“ entsprechen.                sich im vierten und letzten Umsetzungsjahr.

Auch im jetzigen Berichtszeitraum scheinen die        Im Berichtszeitraum war die NAP-­Umsetzung
Bestimmungen zu Menschenrechtslage und                stark durch die Prüfung geprägt, ob und
Einhaltung des humanitären Völkerrechts               in welchem Ausmaß Unternehmen ihrer
12                                 E ntwicklungen in Themen der vorherigen M enschenrechtsberichte

menschenrechtlichen Sorgfaltspflicht nach-           Menschenrechtsverletzungen bei der Rohstoffbe-
kommen. Laut NAP sollte bis 2020 von den in          schaffung zu verhindern. Darüber hinaus trat im
Deutschland ansässigen Unternehmen mit mehr          Mai 2020 das Gesetz zur Durchführung der
als 500 Arbeitnehmer_innen mindestens die Hälfte     EU-Konfliktmineralienverordnung in Kraft. Ziel
Maßnahmen zur menschenrechtlichen Sorgfalts-         der Verordnung ist es, dass Unternehmen, die in
pflicht ergriffen haben. Der im Sommer 2020          der EU ansässig sind, über den Import von be-
vorgestellte Monitoringbericht kam allerdings        stimmten Rohstoffen nicht zur Finanzierung von il-
zum Ergebnis, dass gerade einmal jedes fünfte        legalen bewaffneten Gruppen in den Abbauländern
Unternehmen diese Vorgabe erfüllt. Der NAP und       beitragen. Allerdings mangelt es dem Gesetz an
auch der Koalitionsvertrag sehen in einem solchen    einem Sanktionsmechanismus für Unternehmen,
Fall eine entsprechende gesetzliche Regelung, ein    die nicht mit der nötigen menschenrechtlichen
sogenanntes Lieferkettengesetz, vor – erste Eck-     Sorgfalt agieren.
punkte dazu wurden vom Bundesministerium für
Arbeit und Soziales und vom Bundesministerium        Nicht zuletzt wurden im Berichtszeitraum erste
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwick-      Maßnahmen zum bisher vernachlässigten
lung (BMZ) bereits erarbeitet.                       ­Thema Beschwerdemöglichkeiten ergriffen
                                                      – dabei geht es um Personen, die sich durch ein
Darüber hinaus gab es im Berichtszeitraum Ent-        deutsches Unternehmen im Ausland in ihren
wicklungen in verschiedenen Branchen: Die             Rechten verletzt sehen: Das Bundesministe-
Automobilindustrie startete einen Branchendia-        rium für Justiz und Verbraucherschutz fördert
log, um gemeinsam menschenrechtlichen Heraus-         ein Forschungsvorhaben zu alternativen Streit-
forderungen in der Wertschöpfungs- und Liefer-        beilegungsmechanismen und veröffentlichte
kette zu begegnen; bezüglich der Textil­industrie     eine Broschüre über den Zugang zu Recht und
präsentierte das BMZ im September 2019 den            Gerichten bei Menschenrechtsverletzungen im
Grünen Knopf, das erste staatliche Siegel für         Verantwortungsbereich von Unternehmen. Es ist
nachhaltige Textilien.                                zu bedauern, dass die Broschüre nicht über eine
                                                      Auflistung der Rechtsschutzmöglichkeiten hin-
Auf politisch-regulativer und auf gesetzlicher        ausgeht. Der Zugang zu Abhilfe für Betroffene ist
Ebene gab es zwei Entwicklungen: Im Januar            weiterhin ein großes nationales, europäisches und
2020 hat die Bundesregierung ihre Rohstoff-           internationales Problem und bedauerlicherweise
strategie novelliert. Zu begrüßen ist, dass sie       auch eines der „Schlusslichter“ in der deutschen
sich auf die UN-Leitprinzipien und den NAP stützt.    NAP-Umsetzung.
Allerdings sind keine Maßnahmen enthalten, um
Impressum

HERAUSGEBER
Deutsches Institut für Menschenrechte
Zimmerstraße 26/27 | 10969 Berlin               Entwicklung der
                                                Menschenrechtssituation
                                                in Deutschland
                                                Juli 2019 – Juni 2020

Tel.: 030 259 359 - 0 | Fax: 030 259 359 - 59   Bericht an den Deutschen Bundestag
                                                gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG

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Twitter: @DIMR_Berlin

BERICHT AN DEN DEUTSCHEN B
                         ­ UNDESTAG             Die Langfassung dieses Berichts können Sie
KURZFASSUNG | ­DEZEMBER 2020                    online als PDF-Dokument abrufen:
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LIZENZ                                          DEZEMBER 2020
creativecommons.org/licenses/by-nc-             ISSN 2511-1566 (Print)
nd/4.0/deed.de                                  ISSN 2567-5893 (PDF)
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