Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2020 - Juni 2021 - Kurzfassung - Deutsches Institut für Menschenrechte

Die Seite wird erstellt Linus Walter
 
WEITER LESEN
Kurzfassung

Entwicklung der
Menschenrechtssituation
in Deutschland
Juli 2020 – Juni 2021
Bericht an den Deutschen Bundestag
gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG
Der Bericht                                           Das Institut

Das Deutsche Institut für Menschenrechte legt         Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist
dem Deutschen Bundestag gemäß § 2 Abs. 5              die unabhängige Nationale Menschenrechts-
DIMRG (Gesetz über die Rechtsstellung und             institution Deutschlands (§ 1 DIMR-Gesetz). Es
Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschen-        ist gemäß den Pariser Prinzipien der Vereinten
rechte vom 16. Juli 2015) jährlich einen Bericht      Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den Aufgaben
über die Entwicklung der Menschenrechtssitu-          des Instituts gehören Politikberatung, Menschen-
ation in Deutschland vor. Er wird anlässlich des      rechtsbildung, Information und Dokumentation,
Internationalen Tags der Menschenrechte am            anwendungsorientierte Forschung zu menschen-
10. Dezember veröffentlicht. Das DIMRG sieht vor,     rechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit
dass der Deutsche Bundestag zum Bericht des           mit internationalen Organisationen. Es wird vom
Instituts Stellung nehmen soll. Der sechste Bericht   Deutschen Bundestag finanziert. Das Institut ist
2020/2021 umfasst den Zeitraum 1. Juli 2020 bis       zudem mit dem Monitoring der Umsetzung der
30. Juni 2021.                                        UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kin-
                                                      derrechtskonvention betraut worden und hat hier-
Mit ihrer Anforderung eines jährlichen Berichts       für entsprechende Monitoring-Stellen eingerichtet.
über die Entwicklung der Menschenrechtssituation
in Deutschland machen Bundestag und Bundes-           www.institut-fuer-menschenrechte.de
rat deutlich: Die Menschenrechte aller Menschen
in Deutschland zu achten und zu verwirklichen,
ist eine dauerhafte und sich immer wieder neu
stellende Aufgabe für alle Staatsgewalt. Deshalb
verlangt das Grundgesetz, regelmäßig die men-
schenrechtlichen Auswirkungen von Gesetzen zu
überprüfen und gegebenenfalls durch Gesetz oder
Änderung der Verwaltungspraxis nachzusteuern.
Zudem können durch politische und gesellschaftli-
che Veränderungen, internationale und innerstaat-
liche Entwicklungen sowie wissenschaftlichen
und technischen Fortschritt neue Bedrohungen
für die Menschenrechte entstehen. Diese müssen
erkannt, analysiert und Lösungen am Maßstab der
Menschenrechte entwickelt werden. Zu beidem
– menschenrechtliche Evaluierung von Gesetzen
und Erkennen neuer menschenrechtlicher Gefähr-
dungslagen als Grundlage für politische Gestal-
tung – will der Menschenrechtsbericht beitragen.

www.institut-fuer-menschenrechte.de/
menschenrechtsbericht
Inhalt

Einleitung   4

1   Deutschland im Menschen­rechts­schutz­system                 4

2   Bekämpfung von ­Rassismus und Rechts­extremismus –
    Maßnahmen konsequent umsetzen                                5

3    Das Lieferketten­sorgfaltspflichtengesetz –
    Deutschland und die EU setzen auf die rechtliche
    ­Regulierung für Unternehmen                                 6

4   Triage – Bundestag muss Diskriminierung gesetzlich
    verhindern                                                   7

5   Familienzusammen­führung von Geflüchteten –
    rechtlich schwierig und praktisch unmöglich                  8

6   Kinderrechte ins Grund­gesetz –
    eine verpasste Chance im Corona-Jahr                         9

7   Menschen mit Behinderungen – Wunsch und ­Wille als
    menschenrechtliche Grundlage für die rechtliche Betreuung    10

8   Mehr globale Impfgerechtigkeit –
    eine menschenrechtliche Verpflichtung Deutschlands           11
4                                                                                              Einleitung

Einleitung
In seinem sechsten Erscheinungsjahr fokussiert         gesellschaftlich marginalisiert sind und deshalb
der Menschenrechtsbericht an den Deutschen             nicht über die erforderlichen sozialen Ressourcen
Bundestag auf sieben Themen, die im Berichtszeit-      Macht, Geld oder Anerkennung verfügen, um Ge-
raum (01.07.2020–30.06.2021) von hoher men-            hör zu finden. Daher greift auch dieser Bericht vor
schenrechtlicher Relevanz waren. Dabei stellen wir     allem die Lebenssituationen von marginalisierten
einerseits Entwicklungen in diesen Themenfeldern       Menschen auf.
dar, andererseits bewerten wir wichtige politische
und gesetzgeberische Maßnahmen menschen-               Der demokratische Rechtsstaat ist auf die Ak-
rechtlich und formulieren Empfehlungen. Für den        zeptanz seiner Institutionen und Verfahren und
Bericht wurden öffentlich verfügbare Statistiken,      das Vertrauen der Menschen in rechtsstaatliches
Dokumente und Studien, darunter auch Drucksa-          Handeln angewiesen. Eine stärkere Beteiligung
chen des Deutschen Bundestags, sowie Medien-           der bislang wenig sicht- und hörbaren Teile der
berichte ausgewertet. Bei den Bewertungen und          Bevölkerung, gerade auch durch neue Formen und
Empfehlungen baut der Bericht auf umfassende           Formate, bietet die Chance, die faktenbasierte
Studien des Deutschen Instituts für Menschen-          und kompromissorientierte Lösungsfindung und
rechte auf.                                            damit den demokratischen Rechtsstaat sicht- und
                                                       erfahrbar zu machen. So könnten Unzufriedenheit
Der Berichtszeitraum war, wie im Vorjahr, stark        und damit möglicherweise verbundene Entfrem-
durch die Corona-Pandemie geprägt. Der vor-            dung überwunden werden.
liegende Bericht greift einige der zentralen men-
schenrechtlichen Herausforderungen bei der             Wir hoffen, dass der neugewählte Bundestag und
Bekämpfung der Pandemie auf, beispielsweise die        die neue Bundesregierung, aber auch die Länder,
Frage der Triage, die Situation von Kindern und        die Impulse aus dem Bericht aufgreifen und so
­Jugendlichen sowie Fragen der globalen Impf-          dazu beitragen, dass Deutschland die Menschen-
 gerechtigkeit. Darüber hinaus befasst sich der        rechte schützt und fördert, im Inneren wie in
 Bericht mit Themen, deren menschenrechtliche          seiner Politik nach außen.
 Brisanz nicht neu ist, sich aber teilweise in Coro-
 na-Zeiten nochmals verschärft hat. Das betrifft
 den Umgang mit Rassismus und Rechtsextremis-
 mus in Deutschland, die Situation von Menschen,       1 Deutschland im Menschen-
 die unter rechtlicher Betreuung stehen, den Fa-
 miliennachzug bei Geflüchteten und die Frage der
                                                       rechtsschutzsystem
 menschenrechtlichen Sorgfalt in den Lieferketten.
                                                       Deutschland hat sich im Grundgesetz und durch
Menschenrechte geben der Politik verbindliche          die Ratifikation zahlreicher internationaler und
Orientierung und begrenzen – zur Sicherung             europäischer Menschenrechtsverträge zur Ein-
von Freiheit und Selbstbestimmung – den staat-         haltung der Grund- und Menschenrechte verpflich-
lichen Handlungsspielraum. In allen Themen, die        tet. Kapitel 1 des Berichts gibt die wesentlichen
der diesjährige Bericht aufgreift, wird deutlich,      Berichtspflichten Deutschlands (an internationale
dass Politik einen differenzierten Blick braucht,      Menschenrechtsgremien) vom 1. Juli 2020 bis
um menschenrechtliche Handlungsbedarfe zu              zum 30. Juni 2021 wieder.
identifizieren und zielgenaue Maßnahmen zu
entwickeln. Die Perspektiven und die Expertise         Im Jahr 2021 jährt sich die Verabschiedung der
der Betroffenen sind hierfür besonders wichtig.        Genfer Flüchtlingskonvention zum 70. Mal. Ihre
Ihnen im politischen Diskurs, gerade auch im           Meilensteine sind grafisch dargestellt. Im März
Parlament, Raum zu geben und sich sorgfältig           2021 hat Deutschland außerdem die Revidierte
mit ihnen auseinanderzusetzen, ist ein Gebot der       Europäische Sozialcharta ratifiziert.
Menschenrechte und der politischen Klugheit.
Das gilt insbesondere für die Anliegen derer, die
BEKÄMPFUNG VON R A SSI SM U S U ND R E CH TSE X TR EMIS MU S                                                     5

2 Bekämpfung von                                               In Reaktion auf die Attentate von Halle (Oktober
­Rassismus und Rechts­                                         2019) und Hanau (Februar 2020) sowie auf den
                                                               Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke (Juni
 extremismus – Maßnahmen                                       2019) hat die Bundesregierung Signale gegen
 konsequent umsetzen                                           Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremis-
                                                               mus gesetzt. Am 1. Juli 2021 trat das „Gesetz
                                                               zur Bekämpfung des Rechtsextremismus
Immer wieder werden in Deutschland rechtsext-                  und der Hasskriminalität“ in Kraft. Es soll
remistisch und rassistisch motivierte Straftaten               Betroffene ­besser schützen, unter anderem mit
gemeldet. Das Dunkelfeld ist hoch, doch in einem               Strafverschärfungen und Auskunftssperren im
stimmen die Statistiken von Bundeskriminalamt,                 Melderecht. Am 25. November 2020 hatte die
Berichte von Medien und Zivilgesellschaft über-                Bundesregierung bereits ein umfassendes,
ein: Die Zahlen steigen seit Jahren. Nicht nur                 ressortübergreifendes Paket mit 89 Maßnah-
die Gewalttaten nehmen zu, im öffentlichen                     men zur Bekämpfung von Rechtsextremismus
und politischen Raum werden rassistische,                      und Rassismus beschlossen. Das Ziel: mehr
antisemitische und rechtsextreme Positionen                    Bewusstsein für Rassismus und Antisemitismus,
zunehmend unverhohlen geäußert. Mit der                        eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Polizei,
Corona-Pandemie sind sie fester Bestandteil von                Justiz und Zivilgesellschaft, bessere staatliche
Äußerungen im Internet und bei Demonstrationen                 Strukturen zur Bekämpfung von Rassismus und
sogenannter Querdenker geworden. Der Verfas-                   Ausbau des Opferschutzes.
sungsschutz beobachtet inzwischen einige Per-
sonen und Gruppierungen aus diesem Spektrum.                   Teil des Maßnahmenpakets ist eine Studie des
Gleichzeitig werden innerhalb von Bundeswehr,                  Bundesministeriums des Innern zum Polizeialltag.
Polizei- und Sicherheitsbehörden immer wieder                  In der Diskussion um die Studie bestritt der
rassistische Aktivitäten wie zum Beispiel polizei-             Bundesinnenminister wiederholt, dass es dis-
interne rassistische Chatgruppen und Verbindun-                kriminierende Polizeikontrollen und institutio-
gen zu als rechtsextrem eingeschätzten Gruppen                 nellen Rassismus bei der Polizei gebe – ent-
öffentlich.                                                    gegen anderslautenden Berichten von Betroffenen
                                                               und migrantischen Selbstorganisationen.
Deutschland ist grund- und menschenrechtlich
dazu verpflichtet, alle Menschen in rechtlicher                2020/2021 hat der Bund zwar einiges zur Be-
und tatsächlicher Hinsicht vor rassistischer                   kämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus
Diskriminierung zu schützen. Das ergibt sich                   auf den Weg gebracht, gleichwohl gibt es noch
aus der UN-Antirassismus-Konvention (Artikel 2,                etliche Lücken.
5 a und b), der Europäischen Menschenrechtskon-
vention (Artikel 14) und dem Grundgesetz (Artikel              Daher empfiehlt das Institut Bund und Län-
3 Absatz 3 Satz 1).                                            dern unter anderem,
                                                               – Rechtsvorschriften wie § 22 Absatz 1 a Bun-
Europäische und internationale Menschen-                          despolizeigesetz zu streichen, die rassistischen
rechtsgremien haben Deutschland wiederholt                        Polizeikontrollen Vorschub leisten,
aufgefordert, rassistisch und antisemitisch                    – Beschwerde- und Anlaufstellen für Betroffene
motivierte Straftaten wirksam zu verfolgen                        von rassistischer Polizeipraxis einzurichten,
und Präventionsmaßnahmen umzusetzen,                           – die Empfehlungen der unabhängigen Kommis-
zuletzt die Europäische Kommission gegen Rassis-                  sion Antiziganismus (Juni 2021) umzusetzen,
mus und Intoleranz (ECRI) im März 2020. ECRI                   – den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz durch
monierte unter anderem, dass deutsche Ermitt-                     ­„rassistische Diskriminierung“ zu ersetzen,
lungs- und Justizbehörden rassistische und anti-               – in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Justiz
semitische Tatmotive nur unzureichend berück-                      und Polizei Menschenrechtsbildung zum Quer-
sichtigen, dass es Betroffenen von rechter Gewalt                  schnittsthema zu machen.
an Vertrauen zur Polizei fehlt und es nicht genug
Beratungsstellen für sie gibt.
6                                                                 L IEF ER K ET T EN­S O RG FALTS PF L ICH T EN GE S E T Z

3 Das Lieferketten­                                    der Monitoring-Bericht zum NAP: Weniger als 20
sorgfaltspflichtengesetz                               Prozent der in Deutschland ansässigen und über-
                                                       prüften Unternehmen setzen ihre Sorgfaltspflich-
– Deutschland und die EU                               ten um. Nach langen und kontroversen Debatten
setzen auf die rechtliche                              verabschiedete der Bundestag am 11. Juni
                                                       2021 das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz
­Regulierung für Unternehmen                           (LkSG) – ein politischer Kompromiss.

Die Sklaverei gilt als abgeschafft, Zwangsarbeit ist   Das LkSG enthält Teile, die gut gelungen sind,
verboten, doch in der modernen Wirtschaftswelt         wie das Verfahren für die behördliche Durch-
arbeiten immer noch Erwachsene und Kinder teils        setzung, die Möglichkeit, Bußgelder zu verhän-
unter ausbeuterischen und gesundheitsgefähr-           gen, und die Geltung für Unternehmen aus dem
denden Bedingungen – auch bei der Herstellung          Ausland mit Niederlassung in Deutschland. In
von Produkten für den deutschen Markt. In den          anderen Teilen genügt das Gesetz den UN-Leit-
globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten              prinzipien nicht: Es umfasst zunächst nur große
verletzen Unternehmen, deren Tochterfirmen             und damit zu wenige Unternehmen. Es reicht nicht
und Zulieferer, aber auch Investoren, immer            überall in die Tiefe der Liefer- und Wertschöp-
wieder Menschenrechte. Dabei geht es häufig            fungsketten. Es schafft keine zusätzliche zivilrecht-
um soziale Rechte aus dem UN-Sozialpakt, wie           liche Haftung, erweitert nicht den Zugang zum
das Recht auf einen angemessenen Lohn (Artikel         Recht für Betroffene von Menschenrechtsverlet-
7 a), das Recht auf sichere und gesunde Arbeits-       zungen und verbessert damit nicht deren Chance
bedingungen (Artikel 7 b) oder das Recht auf           auf Schadensersatz.
körperliche und geistige Gesundheit (Artikel 12).
Hinzu kommt die Frage der Kinderarbeit (ILO-Über-      Unterm Strich zeichnet sich ein Paradigmen-
einkommen Nr. 182).                                    wechsel ab, und zwar nicht nur in Deutsch-
                                                       land. Auch die Europäische Union arbeitet an
Wer ist verantwortlich für die Wahrung der             einer rechtlichen Regulierung der menschen-
Menschenrechte in der Wirtschaft? Die UN-Leit-         rechtlichen Sorgfaltspflichten. Die Vorschläge des
prinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte           EU-Parlaments sind weitreichend: Unternehmen,
beschreiben zum einen die Sorgfaltspflichten           die ihren Sorgfaltspflichten nicht nachkommen,
von Unternehmen. Laut Leitprinzip 11 sollen            könnten künftig auch zivilrechtlich haften. Auch
wirtschaftliche Akteure durch ihre Tätigkeiten         strafrechtliche Folgen sind nicht ausgeschlossen.
die Menschenrechte anderer nicht beeinträch-
tigen und negativen menschenrechtlichen Aus-           Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt am
wirkungen begegnen. Zum anderen werden die             1. Januar 2023 für Unternehmen in Kraft. Dann
Staaten – in den Produktions- ebenso wie in den        wird es nicht nur darauf ankommen, wie Un-
Abnehmerländern – in die Pflicht genommen. Für         ternehmen es umsetzen, sondern auch darauf,
Deutschland bedeutet das: Der Bund muss                wie das Bundesamt für Wirtschaft und Aus-
sicherstellen, dass deutsche Unternehmen die           fuhrkontrolle es kontrolliert und durchsetzt.
Menschenrechte achten, und er hat dafür zu
sorgen, dass Betroffene im Falle einer Men-            Das Institut empfiehlt der Bundesregierung,
schenrechtsverletzung Abhilfe erhalten.                – die Umsetzung des LkGS eng zu begleiten und
                                                         unabhängig zu evaluieren,
Was die Verantwortlichkeiten von Unternehmen           – eine Erweiterung der Sorgfaltspflichten gemäß
konkret bedeuten, wie weit sie reichen, was auch         den UN-Leitprinzipien zu prüfen,
kleine und mittlere Unternehmen machen können          – sich in der EU für eine einheitliche Regulierung
und müssen – darüber wird in Deutschland seit            einzusetzen, die über Großunternehmen hin-
Jahren debattiert. Der Nationale Aktionsplan             ausgeht, sowie die Hürden beim Zugang zum
Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) von                  Recht für Betroffene abbaut.
2016 setzte zunächst auf die Freiwilligkeit
von Unternehmen. Doch im Februar 2021 zeigte
TRIAGE                                                                                                    7

4 Triage – Bundestag muss                             Lebenszeiterwartung und Gebrechlichkeit wesent-
Diskriminierung gesetzlich                            lich häufiger betroffen sind als andere Personen.

verhindern                                            Bei der Triage geht es um scheinbar objektiv be-
                                                      stimmbare Erfolgsaussichten; letztlich steht aber
Während der Corona-Pandemie gerieten die              die Bewertung von Leben im Raum. Die Aufrech-
Intensivstationen in Deutschland mehrfach an ihre     nung von Menschenleben gegen Menschen-
Grenzen. Am 16. April 2021 beispielsweise waren       leben ist mit der Würde des Menschen nach
nur noch zwölf Prozent der Intensivbetten frei. Wer   Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar
wird wie behandelt, wenn die Intensivstationen        und deshalb verfassungswidrig. Selbst ein ab-
überfüllt sind? Nach welchen Kriterien wird ent-      sehbarer Tod oder eine kurze Lebensdauer sind
schieden, wenn Zeit, Personal oder Material wie       kein Grund, einen Menschen zugunsten eines
Beatmungsgeräte knapp sind? Mit Fragen dieser         anderen zu opfern.
Art waren Ärzt_innen konfrontiert, hatten dafür
aber nur rechtlich unverbindliche Empfehlungen        Das ist auch der Kern einer Verfassungsbe-
von Fachverbänden zur Hand. Der Bundestag             schwerde, die mit Stand Oktober 2021 vor dem
lehnt es – trotz verschiedentlicher Befassun-         Bundesverfassungsgericht anhängig ist. Die Be-
gen – bisher ab, ein Gesetzgebungsverfahren           schwerdeführenden befürchten, aufgrund ihrer Be-
zur Triage einzuleiten.                               einträchtigungen oder ihres höheren Lebensalters
                                                      medizinisch schlechter behandelt oder gar von
Schon vor der Corona-Pandemie stießen                 einer lebensrettenden Behandlung ausgeschlos-
Menschen mit Behinderungen auf strukturel-            sen zu werden, weil statistisch gesehen bei ihnen
le Hürden beim Zugang zu gesundheitlichen             die Erfolgsaussichten einer intensivmedizinischen
Diensten und Einrichtungen, wie etwa un-              Behandlung schlechter seien. Ihre Beschwerde
zugängliche Ausstattung und Räumlichkeiten, –         richtet sich gegen den Gesetzgeber, der bisher
obwohl Deutschland als Vertragsstaat der UN-Be-       keine Vorgaben für eine Triage-Situation gemacht
hindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet       hat. Auf Anfrage des Gerichts reichte das Institut
ist, Menschen mit Behinderungen einen gleich-         eine menschenrechtliche Stellungnahme in dem
berechtigen Zugang zu medizinischer Versorgung        Verfahren ein.
zu gewähren. Infolge der knappen Ressourcen in
der Pandemie haben die Barrieren und Benachtei-       Der Bundesgesetzgeber hat die Pflicht, die
ligungen für diese Personen noch zugenommen.          Triage-Frage zu regeln: Deutschland braucht
Internationale Menschenrechtsgremien for-             menschen- und verfassungsrechtlich begründete
dern deswegen nachdrücklich, lebensrettende           Prinzipien als Grundlage für Priorisierungsent-
Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen              scheidungen der Ärzteschaft.
und Ältere sicherzustellen.
                                                      Das Institut empfiehlt dem Bundesgesetzgeber,
In Deutschland entscheiden Ärzt_innen in einer        – Aspekte festzulegen, die für die Patient_innen-
Triage-Situation anhand unverbindlicher Empfeh-         auswahl keine Rolle spielen dürfen – zum Bei-
lungen der medizinischen Fachgesellschaften.            spiel noch zu erwartende Lebenszeit, Lebens-
Doch: Diese Empfehlungen stehen nicht im                qualität, Leistungen für die Gesellschaft oder
Einklang mit den Grund- und Menschen-                   Alter,
rechten – insbesondere nicht mit den Artikeln 5       – Entscheidungskriterien zu formulieren, die
(Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung), 10       die grundlegenden Wertentscheidungen
(Recht auf Leben), 11 (Gefahrensituation und hu-        des Grundgesetzes achten und dem Dis-
manitäre Notlagen) und 25 (Recht auf Gesundheit)        kriminierungsschutz im Sinne der UN-BRK
der UN-BRK. Speziell die Kriterien der Deutschen        entsprechen,
Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und      – betroffene Disziplinen und Interessenvertretun-
Notfallmedizin (DIVI) stellen für Menschen mit Be-      gen, unter anderem von Menschen mit Behin-
hinderungen und ältere Menschen eine mittelbare         derungen und Älteren, bei der Entwicklung aller
Diskriminierung dar, da sie von den DIVI-Kriterien      gesetzlichen Triage-Regelungen einzubeziehen.
8                                                       Familienzusammen­führung von Geflüchteten

5 Familienzusammen­führung                          flüchteten. Nach deutschem Recht haben Min-
von Geflüchteten – recht-                           derjährige keinen Anspruch darauf, mit ihren
                                                    Eltern zu ihrer Schwester oder ihrem Bruder
lich schwierig und praktisch                        nachzuziehen. Einen Nachzug von Geschwistern
unmöglich                                           erlauben die Behörden nur bei einer „außerge-
                                                    wöhnliche[n] Härte“. Darüber hinaus muss die_der
                                                    in Deutschland lebende Schutzberechtigte nach-
Viele Geflüchtete müssen ihre minderjährigen        weisen, dass es für die Familie ausreichenden
­Kinder oder ihre_n Ehepartner_in zunächst          Wohnraum gibt und der Lebensunterhalt gesichert
 zurücklassen. Für den Familiennachzug nach         ist – Voraussetzungen, die in der Regel unmöglich
 Deutschland gibt es jedoch hohe rechtliche und     zu erfüllen sind. Die Folge: Eltern stehen vor der
 praktische Hürden. Das hat weitreichende Folgen:   Entscheidung, entweder ihre Kinder im Herkunfts-
 Die Trennung und das teils jahrelange Warten       land oder im Erstaufnahmeland zurückzulassen,
 auf die Familie führt bei den Geflüchteten zu      auf den Nachzug zum in Deutschland lebenden
 Perspektivlosigkeit und Verzweiflung, insbe-       Kind zu verzichten und dieses alleinzulassen oder
 sondere bei Minderjährigen.                        sich aufzuteilen.

Aus Berichten der Anwaltschaft und Fachverbän-      Eine Besonderheit in Deutschland ist die ge-
de wird deutlich: Anträge auf Familiennachzug       setzliche Kontingentierung von 1.000 Visa pro
werden oft abgelehnt. Die Zahl der Ablehnungen      Monat für den Familiennachzug zu subsidiär
wird bisher allerdings nicht statistisch erfasst.   Schutzberechtigten. Dieses Kontingent wird (seit
Das Recht auf Familie ist jedoch grund- und         der Einführung im August 2018) weder ausge-
menschenrechtlich verbrieft (Art. 6 GG und          schöpft, noch auf die Folgemonate übertragen. Ein
Art. 8 EMRK). Sind Minderjährige betroffen, ist     Grund für die geringen Zahlen sind laut Anwält_in-
gemäß UN-Kinderrechtskonvention (Art. 3 Abs.        nen auch hier intransparente, langwierige, büro-
1) das Kindeswohl vorrangig zu beachten und         kratische Verfahren. Das Institut kritisiert, dass
die Familieneinheit zu wahren. Das bekräftigte      beim Familiennachzug anerkannte Flüchtlinge
eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts     und subsidiär Schutzberechtigte unterschiedlich
vom Dezember 2020. In dem Fall ging es um den       behandelt werden. Auch subsidiär Schutzberech-
Nachzug der Ehefrau und des vierjährigen Kindes     tigten ist eine Rückkehr in ihr Herkunftsland und
zu dem in Deutschland als subsidiär Schutzbe-       ein gemeinsames Familienleben dort meist auf
rechtigter anerkannten Ehemann und Vater. Das       absehbare Zeit nicht zumutbar.
Gericht entschied zugunsten der Familie.
                                                    Um die grund- und menschenrechtlichen Ver-
Ein Nachzug von Eltern zu ihren geflüchteten        pflichtungen Deutschlands zu erfüllen, emp-
Kindern in Deutschland scheitert oft an den         fiehlt das Institut:
langwierigen und komplizierten Visaverfahren.       – Der Bundestag sollte die Kontingentierung
Nach bisheriger Praxis erlischt der Anspruch auf        der Visa für den Familiennachzug zu subsidiär
Familiennachzug, wenn das als Flüchtling an-            Schutzberechtigten aufheben und den Ge-
erkannte Kind vor Erteilung der Einreisevisa der        schwisternachzug explizit und vergleichbar zum
Eltern volljährig wird. Das Institut betont, dass       Elternnachzug regeln.
der Nachzugsanspruch nicht von der Länge der        – Solange der Geschwisternachzug im Aufent-
Verfahren abhängig sein darf. Zur Frage des             haltsrecht nicht geregelt ist, sollten die Länder
Elternnachzugs ist mit Stand Oktober 2021 ein           die Ausländerbehörden per Erlass anweisen, im
Verfahren am Europäischen Gerichtshofs anhän-           Rahmen der Zustimmung zu Visaanträgen von
gig. Dieser muss nun entscheiden, inwieweit die         der Wohnraumerfordernis und der Sicherung
deutsche Regelung den europarechtlichen Vorga-          des Lebensunterhalts abzusehen. Liegt kein
ben entspricht.                                         Ländererlass vor, sollten die Ausländerbehör-
                                                        den im Rahmen ihres Ermessens von selbigem
Praktisch unmöglich ist der Nachzug von Ge-             absehen.
schwistern zu unbegleiteten minderjährigen Ge-
Kinderrechte ins Grund­gesetz                                                                              9

6 Kinderrechte ins Grund­                             sich viele junge Menschen von den politischen Ver-
gesetz – eine verpasste                               antwortungsträger_innen übergangen fühlten und
                                                      ihre Interessen nicht vertreten sahen.
Chance im Corona-Jahr
                                                      Besonders hart trafen die Corona-Maßnahmen
Schulen und Kitas geschlossen, kein Kontakt oder      zum Beispiel Kinder aus armutsbetroffenen
gar Spielen mit Gleichaltrigen, kein Sport und kei-   Haushalten und geflüchtete Kinder in Erstauf-
ne soziale Teilhabe, (zu) wenig Unterstützung beim    nahme- und Gemeinschaftsunterkünften. Der
digitalen Lernen, (zu) wenig Schutz vor häuslicher    gleichberechtigte Zugang zum Recht auf Bildung
Gewalt – welche langfristigen Folgen die Corona-      war teils stark eingeschränkt. Anschaffungen von
Pandemie für Kinder und Jugendliche haben wird,       Computern mussten teilweise mittels Klagen er-
ist noch nicht absehbar. Außer Frage steht aber:      stritten werden. In den Unterkünften für Geflüch-
In Zeiten von Corona spielten Kinder und Ju-          tete fiel die Unterstützung durch Ehrenamtliche
gendliche in politischen Entscheidungsprozes-         vorübergehend weg, es fehlten ruhige Lernorte
sen kaum eine Rolle. Sie wurden nicht berück-         und Online-Angebote konnte mangels digitaler
sichtigt, nicht gehört, geschweige denn beteiligt.    Infrastruktur nicht immer wahrgenommen werden.
Dabei wird in Deutschland schon lange über
die Verankerung der Kinderrechte im Grund-            Anfang 2021 – fast 30 Jahre nach Inkraft-
gesetz und ihre Umsetzung gemäß UN-Kinder-            treten der UN-Kinderrechtskonvention in
rechtskonvention (UN-KRK) diskutiert.                 Deutschland – legte die Große Koalition erst-
                                                      mals einen Entwurf zur Aufnahme der Kinder-
Deutschland ist seit 1992 zur Umsetzung der           rechte ins Grundgesetz vor. Bei Politiker_innen
UN-KRK verpflichtet. Die Konvention begründet         anderer Parteien, Kinderrechtsexpert_innen,
Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte wie bei-      Rechtswissenschaftler_innen und in der Zivilge-
spielsweise das Recht auf Schutz vor Gewalt, das      sellschaft, etwa beim Deutschen Kinderhilfswerk,
Recht auf Bildung oder das Recht auf Beteiligung      beim Deutschen Kinderschutzbund, bei UNICEF
an Freizeit, am kulturellen und künstlerischen Le-    Deutschland, stieß der Entwurf aus unterschied-
ben. Die UN-KRK ist auch in Deutschland gelten-       lichen Gründen auf breite Kritik. Einig waren sich
des Recht und gilt im Rang eines Bundesgesetzes.      die Kritiker_innen darin, dass der Entwurf im Ver-
Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes            gleich zur aktuellen Rechtslage einen Rückschritt
empfiehlt Deutschland, der UN-KRK Vorrang             darstellte. Nach einem langen und zähen Prozess
vor dem einfachen Recht zu verschaffen und            wurde deutlich, dass sich im Bundestag keine
die Kinderrechte im Grundgesetz zu veran-             Zwei-Drittel-Mehrheit für den Regierungsentwurf
kern. Damit würden die Belange von Kindern und        finden ließ.
Jugendlichen gewichtiger, deutlich besser wahrge-
nommen und Menschen unter 18 Jahren erhielten         Das Institut sieht weiterhin großen Nachbes-
Gehör bei politischen Entscheidungen.                 serungsbedarf bei der Verankerung und Ver-
                                                      wirklichung der Kinderrechte in Deutschland
In der Corona-Pandemie zeigte sich aber, dass         und empfiehlt daher,
der Staat Kinder und Jugendliche nach wie vor         – rasch einen neuen Gesetzentwurf zur Veranke-
nicht angemessen als Träger eigener Rechte wahr-         rung der Kinderrechte im Grundgesetz vorzule-
nimmt. Politische Akteur_innen sahen in Kindern          gen, der nicht hinter europäischen und inter-
und Jugendlichen eher „Treiber der Pandemie“ als         nationalen Vorgaben zurückbleibt und der die
Personen mit Rechten, denen Gehör geschenkt              Rechtsposition von Kindern signifikant stärkt,
werden muss. Im Krisenstab der Bundesregie-           – Kinder und Jugendliche am Prozess zur Erarbei-
rung wurden Vertreter_innen von Kindern und              tung des Gesetzes zu beteiligen.
Jugendlichen erstmals nach mehreren Mona-
ten der Pandemie gehört. Wenig verwunderlich
ist daher das Ergebnis einer bundesweiten Erhe-
bung der Universitäten Frankfurt und Hildesheim in
Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung, wonach
10                                                                              R ECH T L ICH E B ET R EUUNG

7 Menschen mit Behinde-                             fahren nur unter engen Voraussetzungen von einer
rungen – Wunsch und ­Wille                          persönlichen Anhörung abgesehen werden kann.

als menschenrechtliche                              Laut UN-BRK soll Wunsch und Wille der betreu-
Grundlage für die rechtliche                        ten Person ausschlaggebend für das Handeln
                                                    der Betreuer_innen sein. Mit der Reform des
Betreuung                                           Betreuungsrechts wurde der Begriff des „Wohls“
                                                    – bisher leitender Grundsatz – abgeschafft. Die be-
2021 wurde in Deutschland das Betreuungs-           troffene Person soll besser informiert und stärker
recht grundlegend reformiert. Es regelt den         eingebunden, Pflichtwidrigkeiten von Betreuer_in-
Fall, dass eine Person Unterstützung bei der        nen besser erkannt und sanktioniert werden. Das
Wahrnehmung ihrer rechtlichen Angelegenheiten       neue Gesetz soll die Grundlage dafür schaffen,
benötigt. Gesetzliche Voraussetzung ist dabei,      dass Betreuung nur im absolut nötigen Maß
dass die Person aufgrund einer Krankheit oder       angeordnet wird (Erforderlichkeitsgrundsatz).
Beeinträchtigung hierbei Unterstützungsbedarf       Dazu wurde der Grundsatz „Unterstützen vor Ver-
hat und dieser nicht durch andere Hilfen gedeckt    treten“ gestärkt. Der Grundsatz von Wunsch und
werden kann. Die Reform zielt darauf ab, das        Wille gilt aber auch nach dem neuen Gesetz nicht
Selbst­bestimmungsrecht zu stärken, indem           ausnahmslos. Unter bestimmten Bedingungen ist
Wille und Wünsche der betroffenen Person un-        die Bestellung einer rechtlichen Betreuung gegen
bedingt zu berücksichtigen sind.                    den natürlichen Willen der betroffenen Person
                                                    weiterhin möglich. Es wurden zudem die Rechts-
Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN-             grundlagen zu Zwangsmaßnahmen, wie eine
BRK) steht für ein System der unterstützten         Unterbringung oder eine ärztliche Behandlung
Entscheidungsfindung. In Deutschland ist die        gegen den ­Willen, beibehalten.
UN-BRK seit 2009 geltendes Recht, das alle
staatlichen Stellen umsetzen müssen. Das um-        Insgesamt ist die Reform des Betreuungs-
fasst das Recht der informierten und freiwilligen   rechts ein Schritt zu mehr Selbstbestimmung.
Einwilligung in medizinische Behandlungen (Art.     Als weitere Schritte empfiehlt das Institut
25 UN-BRK: Recht auf Gesundheit), das Recht auf     unter anderem:
Schutz vor Freiheitsentzug aufgrund einer Beein-    – Bund und Länder sollten – um Betreuungen
trächtigung (Art. 14 UN-BRK: Freiheit und Sicher-      zu vermeiden - „andere Hilfen“ (§ 1814 Abs. 3
heit der Person) oder das Recht zu entscheiden,        Nr. 2 BGB n.F., §§ 5, 8 BtOG) und Leistungen
wo und mit wem ich wohne (Art. 19 UN-BRK:              wie Schuldner_innenberatung oder ambulantes
Selbstbestimmte Lebensführung und Inklusion in         betreutes Wohnen ausbauen.
die Gemeinschaft).                                  – Bund und Länder sollten Maßnahmen ergreifen,
                                                       um die zwangsweise Unterbringung oder frei-
Die Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pande-         heitsentziehende Maßnahmen aufgrund einer
mie haben auch viele Betreuungsverhältnisse stark      Beeinträchtigung abzuschaffen.
belastet. Damit Betreuer_innen ihre gesetzlichen    – Auf kommunaler Ebene sollten Informations-
Aufgaben wahrnehmen können, ist der persön-            und Empowerment-Schulungen sowohl für
liche Kontakt unverzichtbar, doch in der Pandemie      Menschen mit Unterstützungsbedarf als auch
war dieser erschwert, teilweise sogar unmöglich.       für Akteur_innen des Betreuungswesens an-
Erst im Laufe der Pandemie, nämlich bei der            geboten werden.
Novellierung des Infektionsschutzgesetzes im        – Das Bundesjustizministerium und die Landes-
November 2020, berücksichtigte der Gesetz-             justizministerien müssen, ebenso wie Betreu-
geber, dass ein Mindestmaß an sozialem                 ungsbehörden und Kliniken, sicherstellen, dass
Kontakt möglich sein muss. In betreuungs-              eine umfassende statistische Datengrundlage
gerichtlichen Verfahren wurde insbesondere die         zur Verfügung steht.
persönliche Anhörung problematisiert. Im Oktober    – Die Bundesregierung sollte eine bundesweite
2020 bekräftigte der Bundesgerichtshof, dass           Fachstelle für Unterstützte Entscheidungsfin-
auch in Pandemiezeiten in einem Betreuungsver-         dung einrichten.
G LOBALE IMPFGER E CH TI G K E I T                                                                    11

8 Mehr globale                                        sation die Plattform COVAX (Covid-19 Vaccines
Impfgerechtigkeit – eine                              Global Access) ins Leben. Die Plattform sollte
                                                      Impfdosen aus einer Hand beschaffen und sie
menschenrechtliche                                    gleichberechtigt verteilen. Deutschland und
Verpflichtung Deutschlands                            andere EU-Länder unterstützten COVAX verbal
                                                      und mit Finanzmitteln, bestellten aber gleich-
                                                      zeitig die Impfstoffe für die eigene Bevölke-
Entwicklung, Herstellung und Zulassung von Impf-      rung direkt und vorab bei den Pharmaunter-
stoffen gegen COVID-19 sind maßgeblich für die        nehmen. So blieb es letzten Endes lediglich eine
Bewältigung der Corona-Pandemie. Von den Impf-        Plattform, die mit Finanzierungsbeiträgen und
stoffen jedoch kommt in zu vielen Ländern             Impfdosenspenden aus dem Globalen Norden
zu wenig an. Bis August 2021 wurden in den            Impfungen im Globalen Süden organisierte.
reichsten Ländern der Welt fast 75 Prozent der
weltweit verfügbaren Impfdosen verimpft; in den       Daneben gab es Programme für Technologie-
ärmsten Ländern der Welt nur 2,7 Prozent. Diese       transfer sowie Vorschläge für die Gewährung
ungerechte Verteilung der Impfstoffe führt nicht      von Lizenzen und die Aussetzung von Patenten.
nur zu einer gesundheitlichen, ökonomischen und       Die Staaten, die sich Impfdosen durch Vorbestel-
sozialen Bedrohung für Menschen in den ärmeren        lungen sicherten, wären durchaus in der Lage
Ländern. Sie wird auch zur weltweiten Bedrohung,      gewesen, die Pharmaunternehmen darauf zu
denn ohne hohe Impfquoten weltweit wird sich die      verpflichten. Die USA, bislang eherner Verfechter
Pandemie nicht eindämmen lassen.                      des Patentschutzes, schlossen sich im Mai 2021
                                                      einem entsprechenden Vorschlag von Indien und
Die globale Impfgerechtigkeit ist nicht nur gesund-   Südafrika an; die EU-Kommission blieb in Fra-
heitspolitisch geboten, die Vertragsstaaten des       gen der Patentfreigabe verhalten, ebenso die
UN-Sozialpakts sind dazu auch menschenrechtlich       Bundesregierung.
verpflichtet (Art. 12 UN-Sozialpakt). Der UN-So-
zialpakt verpflichtet Länder wie Deutschland          Globale Impfgerechtigkeit bedeutet: den weltwei-
auch, andere Staaten bei der Gewährleistung           ten Zugang zu Impfungen sicherzustellen. Dieser
des Rechts auf Gesundheit zu unterstützen             kann nicht durch Wohltätigkeit auf Basis von Über-
(sogenanntes Kooperationsgebot, Art. 2 Abs.           schussspenden oder Entwicklungshilfe erreicht
1), hier: den gleichberechtigten Zugang zu            werden. Der Zugang zu Impfstoffen gegen eine
Impfstoffen in anderen Ländern voranzubrin-           tödliche Krankheit ist Teil des international an-
gen. Nicht zuletzt sind auch Pharma-Unternehmen       erkannten universellen Rechts auf Gesundheit.
in der menschenrechtlichen Verantwortung, Impf-
stoffe herzustellen, die für alle Menschen zugäng-    Das Institut empfiehlt der Bundesregierung
lich sind.                                            daher unter anderem,
                                                      – keine Impfstoffe zu beschaffen, ohne auch
Doch statt Drittstaaten bei der Beschaffung von         Regelungen zur freiwilligen Patentweitergabe
Impfstoffen oder der Technologie zu ihrer Herstel-      zu vereinbaren,
lung zu unterstützen, schlossen Länder mit hohem      – im Rahmen der EU alle Möglichkeiten für eine
Einkommen schon früh Vorverträge mit den Phar-          kurz-, mittel- und langfristige Erhöhung der
maunternehmen. Ende Sommer 2020 hatten unter            Produktion von Impfdosen und ihrer gerechten
anderen die EU, Großbritannien und Kanada über          Verteilung auszuschöpfen, inklusive Zwangs­
solche Verträge mehr Impfdosen bestellt, als für        lizensierungen und Patentfreigaben,
ihre Bevölkerung nötig war. Länder mit mittleren      – „überbestellte“ Impfdosen an COVAX zu spen-
oder niedrigen Einkommen waren gar nicht in der         den und nicht, wie bereits geschehen, nach
Lage, vergleichbare Vorbestellungen zu tätigen.         geopolitischen Erwägungen im Globalen Süden
                                                        selbst zu verteilen,
Um den gesundheitspolitisch und menschenrecht-        – unabhängig von der Corona-Pandemie die
lich gebotenen weltweiten Zugang zu Impfungen           Gesundheitssysteme in Ländern mit niedrigen
sicherzustellen, rief die Weltgesundheitsorgani-        Einkommen zu stärken.
Impressum

HERAUSGEBER
Deutsches Institut für Menschenrechte
Zimmerstraße 26/27 | 10969 Berlin               Entwicklung der
                                                Menschenrechtssituation
                                                in Deutschland
                                                Juli 2020 – Juni 2021

Tel.: 030 259 359 - 0 | Fax: 030 259 359 - 59   Bericht an den Deutschen Bundestag
                                                gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG

info@institut-fuer-menschenrechte.de
www.institut-fuer-menschenrechte.de
Twitter: @DIMR_Berlin

BERICHT AN DEN DEUTSCHEN B
                         ­ UNDESTAG             Die Langfassung dieses Berichts können Sie
KURZFASSUNG | ­DEZEMBER 2021                    online als PDF-Dokument abrufen:
                                                www.institut-fuer-menschenrechte.de/
GESTALTUNG                                      menschenrechtsbericht2021
MedienMélange: Kommunikation!
                                                BERICHT AN DEN DEUTSCHEN BUNDESTAG |
LIZENZ                                          DEZEMBER 2021
creativecommons.org/licenses/                   ISSN 2511-1566 (Print)
by-nc-nd/4.0/deed.de                            ISSN 2567-5893 (PDF)
Deutsches Institut für Menschenrechte

Zimmerstraße 26/27
10969 Berlin

www.institut-fuer-menschenrechte.de
Sie können auch lesen