Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2020 - Juni 2021 - Kurzfassung - Deutsches Institut für Menschenrechte
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Kurzfassung Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2020 – Juni 2021 Bericht an den Deutschen Bundestag gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG
Der Bericht Das Institut Das Deutsche Institut für Menschenrechte legt Das Deutsche Institut für Menschenrechte ist dem Deutschen Bundestag gemäß § 2 Abs. 5 die unabhängige Nationale Menschenrechts- DIMRG (Gesetz über die Rechtsstellung und institution Deutschlands (§ 1 DIMR-Gesetz). Es Aufgaben des Deutschen Instituts für Menschen- ist gemäß den Pariser Prinzipien der Vereinten rechte vom 16. Juli 2015) jährlich einen Bericht Nationen akkreditiert (A-Status). Zu den Aufgaben über die Entwicklung der Menschenrechtssitu- des Instituts gehören Politikberatung, Menschen- ation in Deutschland vor. Er wird anlässlich des rechtsbildung, Information und Dokumentation, Internationalen Tags der Menschenrechte am anwendungsorientierte Forschung zu menschen- 10. Dezember veröffentlicht. Das DIMRG sieht vor, rechtlichen Themen sowie die Zusammenarbeit dass der Deutsche Bundestag zum Bericht des mit internationalen Organisationen. Es wird vom Instituts Stellung nehmen soll. Der sechste Bericht Deutschen Bundestag finanziert. Das Institut ist 2020/2021 umfasst den Zeitraum 1. Juli 2020 bis zudem mit dem Monitoring der Umsetzung der 30. Juni 2021. UN-Behindertenrechtskonvention und der UN-Kin- derrechtskonvention betraut worden und hat hier- Mit ihrer Anforderung eines jährlichen Berichts für entsprechende Monitoring-Stellen eingerichtet. über die Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland machen Bundestag und Bundes- www.institut-fuer-menschenrechte.de rat deutlich: Die Menschenrechte aller Menschen in Deutschland zu achten und zu verwirklichen, ist eine dauerhafte und sich immer wieder neu stellende Aufgabe für alle Staatsgewalt. Deshalb verlangt das Grundgesetz, regelmäßig die men- schenrechtlichen Auswirkungen von Gesetzen zu überprüfen und gegebenenfalls durch Gesetz oder Änderung der Verwaltungspraxis nachzusteuern. Zudem können durch politische und gesellschaftli- che Veränderungen, internationale und innerstaat- liche Entwicklungen sowie wissenschaftlichen und technischen Fortschritt neue Bedrohungen für die Menschenrechte entstehen. Diese müssen erkannt, analysiert und Lösungen am Maßstab der Menschenrechte entwickelt werden. Zu beidem – menschenrechtliche Evaluierung von Gesetzen und Erkennen neuer menschenrechtlicher Gefähr- dungslagen als Grundlage für politische Gestal- tung – will der Menschenrechtsbericht beitragen. www.institut-fuer-menschenrechte.de/ menschenrechtsbericht
Inhalt Einleitung 4 1 Deutschland im Menschenrechtsschutzsystem 4 2 Bekämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus – Maßnahmen konsequent umsetzen 5 3 Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz – Deutschland und die EU setzen auf die rechtliche Regulierung für Unternehmen 6 4 Triage – Bundestag muss Diskriminierung gesetzlich verhindern 7 5 Familienzusammenführung von Geflüchteten – rechtlich schwierig und praktisch unmöglich 8 6 Kinderrechte ins Grundgesetz – eine verpasste Chance im Corona-Jahr 9 7 Menschen mit Behinderungen – Wunsch und Wille als menschenrechtliche Grundlage für die rechtliche Betreuung 10 8 Mehr globale Impfgerechtigkeit – eine menschenrechtliche Verpflichtung Deutschlands 11
4 Einleitung Einleitung In seinem sechsten Erscheinungsjahr fokussiert gesellschaftlich marginalisiert sind und deshalb der Menschenrechtsbericht an den Deutschen nicht über die erforderlichen sozialen Ressourcen Bundestag auf sieben Themen, die im Berichtszeit- Macht, Geld oder Anerkennung verfügen, um Ge- raum (01.07.2020–30.06.2021) von hoher men- hör zu finden. Daher greift auch dieser Bericht vor schenrechtlicher Relevanz waren. Dabei stellen wir allem die Lebenssituationen von marginalisierten einerseits Entwicklungen in diesen Themenfeldern Menschen auf. dar, andererseits bewerten wir wichtige politische und gesetzgeberische Maßnahmen menschen- Der demokratische Rechtsstaat ist auf die Ak- rechtlich und formulieren Empfehlungen. Für den zeptanz seiner Institutionen und Verfahren und Bericht wurden öffentlich verfügbare Statistiken, das Vertrauen der Menschen in rechtsstaatliches Dokumente und Studien, darunter auch Drucksa- Handeln angewiesen. Eine stärkere Beteiligung chen des Deutschen Bundestags, sowie Medien- der bislang wenig sicht- und hörbaren Teile der berichte ausgewertet. Bei den Bewertungen und Bevölkerung, gerade auch durch neue Formen und Empfehlungen baut der Bericht auf umfassende Formate, bietet die Chance, die faktenbasierte Studien des Deutschen Instituts für Menschen- und kompromissorientierte Lösungsfindung und rechte auf. damit den demokratischen Rechtsstaat sicht- und erfahrbar zu machen. So könnten Unzufriedenheit Der Berichtszeitraum war, wie im Vorjahr, stark und damit möglicherweise verbundene Entfrem- durch die Corona-Pandemie geprägt. Der vor- dung überwunden werden. liegende Bericht greift einige der zentralen men- schenrechtlichen Herausforderungen bei der Wir hoffen, dass der neugewählte Bundestag und Bekämpfung der Pandemie auf, beispielsweise die die neue Bundesregierung, aber auch die Länder, Frage der Triage, die Situation von Kindern und die Impulse aus dem Bericht aufgreifen und so Jugendlichen sowie Fragen der globalen Impf- dazu beitragen, dass Deutschland die Menschen- gerechtigkeit. Darüber hinaus befasst sich der rechte schützt und fördert, im Inneren wie in Bericht mit Themen, deren menschenrechtliche seiner Politik nach außen. Brisanz nicht neu ist, sich aber teilweise in Coro- na-Zeiten nochmals verschärft hat. Das betrifft den Umgang mit Rassismus und Rechtsextremis- mus in Deutschland, die Situation von Menschen, 1 Deutschland im Menschen- die unter rechtlicher Betreuung stehen, den Fa- miliennachzug bei Geflüchteten und die Frage der rechtsschutzsystem menschenrechtlichen Sorgfalt in den Lieferketten. Deutschland hat sich im Grundgesetz und durch Menschenrechte geben der Politik verbindliche die Ratifikation zahlreicher internationaler und Orientierung und begrenzen – zur Sicherung europäischer Menschenrechtsverträge zur Ein- von Freiheit und Selbstbestimmung – den staat- haltung der Grund- und Menschenrechte verpflich- lichen Handlungsspielraum. In allen Themen, die tet. Kapitel 1 des Berichts gibt die wesentlichen der diesjährige Bericht aufgreift, wird deutlich, Berichtspflichten Deutschlands (an internationale dass Politik einen differenzierten Blick braucht, Menschenrechtsgremien) vom 1. Juli 2020 bis um menschenrechtliche Handlungsbedarfe zu zum 30. Juni 2021 wieder. identifizieren und zielgenaue Maßnahmen zu entwickeln. Die Perspektiven und die Expertise Im Jahr 2021 jährt sich die Verabschiedung der der Betroffenen sind hierfür besonders wichtig. Genfer Flüchtlingskonvention zum 70. Mal. Ihre Ihnen im politischen Diskurs, gerade auch im Meilensteine sind grafisch dargestellt. Im März Parlament, Raum zu geben und sich sorgfältig 2021 hat Deutschland außerdem die Revidierte mit ihnen auseinanderzusetzen, ist ein Gebot der Europäische Sozialcharta ratifiziert. Menschenrechte und der politischen Klugheit. Das gilt insbesondere für die Anliegen derer, die
BEKÄMPFUNG VON R A SSI SM U S U ND R E CH TSE X TR EMIS MU S 5 2 Bekämpfung von In Reaktion auf die Attentate von Halle (Oktober Rassismus und Rechts 2019) und Hanau (Februar 2020) sowie auf den Mord an dem CDU-Politiker Walter Lübcke (Juni extremismus – Maßnahmen 2019) hat die Bundesregierung Signale gegen konsequent umsetzen Rassismus, Antisemitismus und Rechtsextremis- mus gesetzt. Am 1. Juli 2021 trat das „Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus Immer wieder werden in Deutschland rechtsext- und der Hasskriminalität“ in Kraft. Es soll remistisch und rassistisch motivierte Straftaten Betroffene besser schützen, unter anderem mit gemeldet. Das Dunkelfeld ist hoch, doch in einem Strafverschärfungen und Auskunftssperren im stimmen die Statistiken von Bundeskriminalamt, Melderecht. Am 25. November 2020 hatte die Berichte von Medien und Zivilgesellschaft über- Bundesregierung bereits ein umfassendes, ein: Die Zahlen steigen seit Jahren. Nicht nur ressortübergreifendes Paket mit 89 Maßnah- die Gewalttaten nehmen zu, im öffentlichen men zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und politischen Raum werden rassistische, und Rassismus beschlossen. Das Ziel: mehr antisemitische und rechtsextreme Positionen Bewusstsein für Rassismus und Antisemitismus, zunehmend unverhohlen geäußert. Mit der eine verstärkte Zusammenarbeit zwischen Polizei, Corona-Pandemie sind sie fester Bestandteil von Justiz und Zivilgesellschaft, bessere staatliche Äußerungen im Internet und bei Demonstrationen Strukturen zur Bekämpfung von Rassismus und sogenannter Querdenker geworden. Der Verfas- Ausbau des Opferschutzes. sungsschutz beobachtet inzwischen einige Per- sonen und Gruppierungen aus diesem Spektrum. Teil des Maßnahmenpakets ist eine Studie des Gleichzeitig werden innerhalb von Bundeswehr, Bundesministeriums des Innern zum Polizeialltag. Polizei- und Sicherheitsbehörden immer wieder In der Diskussion um die Studie bestritt der rassistische Aktivitäten wie zum Beispiel polizei- Bundesinnenminister wiederholt, dass es dis- interne rassistische Chatgruppen und Verbindun- kriminierende Polizeikontrollen und institutio- gen zu als rechtsextrem eingeschätzten Gruppen nellen Rassismus bei der Polizei gebe – ent- öffentlich. gegen anderslautenden Berichten von Betroffenen und migrantischen Selbstorganisationen. Deutschland ist grund- und menschenrechtlich dazu verpflichtet, alle Menschen in rechtlicher 2020/2021 hat der Bund zwar einiges zur Be- und tatsächlicher Hinsicht vor rassistischer kämpfung von Rassismus und Rechtsextremismus Diskriminierung zu schützen. Das ergibt sich auf den Weg gebracht, gleichwohl gibt es noch aus der UN-Antirassismus-Konvention (Artikel 2, etliche Lücken. 5 a und b), der Europäischen Menschenrechtskon- vention (Artikel 14) und dem Grundgesetz (Artikel Daher empfiehlt das Institut Bund und Län- 3 Absatz 3 Satz 1). dern unter anderem, – Rechtsvorschriften wie § 22 Absatz 1 a Bun- Europäische und internationale Menschen- despolizeigesetz zu streichen, die rassistischen rechtsgremien haben Deutschland wiederholt Polizeikontrollen Vorschub leisten, aufgefordert, rassistisch und antisemitisch – Beschwerde- und Anlaufstellen für Betroffene motivierte Straftaten wirksam zu verfolgen von rassistischer Polizeipraxis einzurichten, und Präventionsmaßnahmen umzusetzen, – die Empfehlungen der unabhängigen Kommis- zuletzt die Europäische Kommission gegen Rassis- sion Antiziganismus (Juni 2021) umzusetzen, mus und Intoleranz (ECRI) im März 2020. ECRI – den Begriff „Rasse“ im Grundgesetz durch monierte unter anderem, dass deutsche Ermitt- „rassistische Diskriminierung“ zu ersetzen, lungs- und Justizbehörden rassistische und anti- – in der Aus-, Fort- und Weiterbildung von Justiz semitische Tatmotive nur unzureichend berück- und Polizei Menschenrechtsbildung zum Quer- sichtigen, dass es Betroffenen von rechter Gewalt schnittsthema zu machen. an Vertrauen zur Polizei fehlt und es nicht genug Beratungsstellen für sie gibt.
6 L IEF ER K ET T ENS O RG FALTS PF L ICH T EN GE S E T Z 3 Das Lieferketten der Monitoring-Bericht zum NAP: Weniger als 20 sorgfaltspflichtengesetz Prozent der in Deutschland ansässigen und über- prüften Unternehmen setzen ihre Sorgfaltspflich- – Deutschland und die EU ten um. Nach langen und kontroversen Debatten setzen auf die rechtliche verabschiedete der Bundestag am 11. Juni 2021 das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz Regulierung für Unternehmen (LkSG) – ein politischer Kompromiss. Die Sklaverei gilt als abgeschafft, Zwangsarbeit ist Das LkSG enthält Teile, die gut gelungen sind, verboten, doch in der modernen Wirtschaftswelt wie das Verfahren für die behördliche Durch- arbeiten immer noch Erwachsene und Kinder teils setzung, die Möglichkeit, Bußgelder zu verhän- unter ausbeuterischen und gesundheitsgefähr- gen, und die Geltung für Unternehmen aus dem denden Bedingungen – auch bei der Herstellung Ausland mit Niederlassung in Deutschland. In von Produkten für den deutschen Markt. In den anderen Teilen genügt das Gesetz den UN-Leit- globalen Liefer- und Wertschöpfungsketten prinzipien nicht: Es umfasst zunächst nur große verletzen Unternehmen, deren Tochterfirmen und damit zu wenige Unternehmen. Es reicht nicht und Zulieferer, aber auch Investoren, immer überall in die Tiefe der Liefer- und Wertschöp- wieder Menschenrechte. Dabei geht es häufig fungsketten. Es schafft keine zusätzliche zivilrecht- um soziale Rechte aus dem UN-Sozialpakt, wie liche Haftung, erweitert nicht den Zugang zum das Recht auf einen angemessenen Lohn (Artikel Recht für Betroffene von Menschenrechtsverlet- 7 a), das Recht auf sichere und gesunde Arbeits- zungen und verbessert damit nicht deren Chance bedingungen (Artikel 7 b) oder das Recht auf auf Schadensersatz. körperliche und geistige Gesundheit (Artikel 12). Hinzu kommt die Frage der Kinderarbeit (ILO-Über- Unterm Strich zeichnet sich ein Paradigmen- einkommen Nr. 182). wechsel ab, und zwar nicht nur in Deutsch- land. Auch die Europäische Union arbeitet an Wer ist verantwortlich für die Wahrung der einer rechtlichen Regulierung der menschen- Menschenrechte in der Wirtschaft? Die UN-Leit- rechtlichen Sorgfaltspflichten. Die Vorschläge des prinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte EU-Parlaments sind weitreichend: Unternehmen, beschreiben zum einen die Sorgfaltspflichten die ihren Sorgfaltspflichten nicht nachkommen, von Unternehmen. Laut Leitprinzip 11 sollen könnten künftig auch zivilrechtlich haften. Auch wirtschaftliche Akteure durch ihre Tätigkeiten strafrechtliche Folgen sind nicht ausgeschlossen. die Menschenrechte anderer nicht beeinträch- tigen und negativen menschenrechtlichen Aus- Das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz tritt am wirkungen begegnen. Zum anderen werden die 1. Januar 2023 für Unternehmen in Kraft. Dann Staaten – in den Produktions- ebenso wie in den wird es nicht nur darauf ankommen, wie Un- Abnehmerländern – in die Pflicht genommen. Für ternehmen es umsetzen, sondern auch darauf, Deutschland bedeutet das: Der Bund muss wie das Bundesamt für Wirtschaft und Aus- sicherstellen, dass deutsche Unternehmen die fuhrkontrolle es kontrolliert und durchsetzt. Menschenrechte achten, und er hat dafür zu sorgen, dass Betroffene im Falle einer Men- Das Institut empfiehlt der Bundesregierung, schenrechtsverletzung Abhilfe erhalten. – die Umsetzung des LkGS eng zu begleiten und unabhängig zu evaluieren, Was die Verantwortlichkeiten von Unternehmen – eine Erweiterung der Sorgfaltspflichten gemäß konkret bedeuten, wie weit sie reichen, was auch den UN-Leitprinzipien zu prüfen, kleine und mittlere Unternehmen machen können – sich in der EU für eine einheitliche Regulierung und müssen – darüber wird in Deutschland seit einzusetzen, die über Großunternehmen hin- Jahren debattiert. Der Nationale Aktionsplan ausgeht, sowie die Hürden beim Zugang zum Wirtschaft und Menschenrechte (NAP) von Recht für Betroffene abbaut. 2016 setzte zunächst auf die Freiwilligkeit von Unternehmen. Doch im Februar 2021 zeigte
TRIAGE 7 4 Triage – Bundestag muss Lebenszeiterwartung und Gebrechlichkeit wesent- Diskriminierung gesetzlich lich häufiger betroffen sind als andere Personen. verhindern Bei der Triage geht es um scheinbar objektiv be- stimmbare Erfolgsaussichten; letztlich steht aber Während der Corona-Pandemie gerieten die die Bewertung von Leben im Raum. Die Aufrech- Intensivstationen in Deutschland mehrfach an ihre nung von Menschenleben gegen Menschen- Grenzen. Am 16. April 2021 beispielsweise waren leben ist mit der Würde des Menschen nach nur noch zwölf Prozent der Intensivbetten frei. Wer Artikel 1 Absatz 1 Grundgesetz unvereinbar wird wie behandelt, wenn die Intensivstationen und deshalb verfassungswidrig. Selbst ein ab- überfüllt sind? Nach welchen Kriterien wird ent- sehbarer Tod oder eine kurze Lebensdauer sind schieden, wenn Zeit, Personal oder Material wie kein Grund, einen Menschen zugunsten eines Beatmungsgeräte knapp sind? Mit Fragen dieser anderen zu opfern. Art waren Ärzt_innen konfrontiert, hatten dafür aber nur rechtlich unverbindliche Empfehlungen Das ist auch der Kern einer Verfassungsbe- von Fachverbänden zur Hand. Der Bundestag schwerde, die mit Stand Oktober 2021 vor dem lehnt es – trotz verschiedentlicher Befassun- Bundesverfassungsgericht anhängig ist. Die Be- gen – bisher ab, ein Gesetzgebungsverfahren schwerdeführenden befürchten, aufgrund ihrer Be- zur Triage einzuleiten. einträchtigungen oder ihres höheren Lebensalters medizinisch schlechter behandelt oder gar von Schon vor der Corona-Pandemie stießen einer lebensrettenden Behandlung ausgeschlos- Menschen mit Behinderungen auf strukturel- sen zu werden, weil statistisch gesehen bei ihnen le Hürden beim Zugang zu gesundheitlichen die Erfolgsaussichten einer intensivmedizinischen Diensten und Einrichtungen, wie etwa un- Behandlung schlechter seien. Ihre Beschwerde zugängliche Ausstattung und Räumlichkeiten, – richtet sich gegen den Gesetzgeber, der bisher obwohl Deutschland als Vertragsstaat der UN-Be- keine Vorgaben für eine Triage-Situation gemacht hindertenrechtskonvention (UN-BRK) verpflichtet hat. Auf Anfrage des Gerichts reichte das Institut ist, Menschen mit Behinderungen einen gleich- eine menschenrechtliche Stellungnahme in dem berechtigen Zugang zu medizinischer Versorgung Verfahren ein. zu gewähren. Infolge der knappen Ressourcen in der Pandemie haben die Barrieren und Benachtei- Der Bundesgesetzgeber hat die Pflicht, die ligungen für diese Personen noch zugenommen. Triage-Frage zu regeln: Deutschland braucht Internationale Menschenrechtsgremien for- menschen- und verfassungsrechtlich begründete dern deswegen nachdrücklich, lebensrettende Prinzipien als Grundlage für Priorisierungsent- Maßnahmen für Menschen mit Behinderungen scheidungen der Ärzteschaft. und Ältere sicherzustellen. Das Institut empfiehlt dem Bundesgesetzgeber, In Deutschland entscheiden Ärzt_innen in einer – Aspekte festzulegen, die für die Patient_innen- Triage-Situation anhand unverbindlicher Empfeh- auswahl keine Rolle spielen dürfen – zum Bei- lungen der medizinischen Fachgesellschaften. spiel noch zu erwartende Lebenszeit, Lebens- Doch: Diese Empfehlungen stehen nicht im qualität, Leistungen für die Gesellschaft oder Einklang mit den Grund- und Menschen- Alter, rechten – insbesondere nicht mit den Artikeln 5 – Entscheidungskriterien zu formulieren, die (Gleichberechtigung und Nichtdiskriminierung), 10 die grundlegenden Wertentscheidungen (Recht auf Leben), 11 (Gefahrensituation und hu- des Grundgesetzes achten und dem Dis- manitäre Notlagen) und 25 (Recht auf Gesundheit) kriminierungsschutz im Sinne der UN-BRK der UN-BRK. Speziell die Kriterien der Deutschen entsprechen, Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und – betroffene Disziplinen und Interessenvertretun- Notfallmedizin (DIVI) stellen für Menschen mit Be- gen, unter anderem von Menschen mit Behin- hinderungen und ältere Menschen eine mittelbare derungen und Älteren, bei der Entwicklung aller Diskriminierung dar, da sie von den DIVI-Kriterien gesetzlichen Triage-Regelungen einzubeziehen.
8 Familienzusammenführung von Geflüchteten 5 Familienzusammenführung flüchteten. Nach deutschem Recht haben Min- von Geflüchteten – recht- derjährige keinen Anspruch darauf, mit ihren Eltern zu ihrer Schwester oder ihrem Bruder lich schwierig und praktisch nachzuziehen. Einen Nachzug von Geschwistern unmöglich erlauben die Behörden nur bei einer „außerge- wöhnliche[n] Härte“. Darüber hinaus muss die_der in Deutschland lebende Schutzberechtigte nach- Viele Geflüchtete müssen ihre minderjährigen weisen, dass es für die Familie ausreichenden Kinder oder ihre_n Ehepartner_in zunächst Wohnraum gibt und der Lebensunterhalt gesichert zurücklassen. Für den Familiennachzug nach ist – Voraussetzungen, die in der Regel unmöglich Deutschland gibt es jedoch hohe rechtliche und zu erfüllen sind. Die Folge: Eltern stehen vor der praktische Hürden. Das hat weitreichende Folgen: Entscheidung, entweder ihre Kinder im Herkunfts- Die Trennung und das teils jahrelange Warten land oder im Erstaufnahmeland zurückzulassen, auf die Familie führt bei den Geflüchteten zu auf den Nachzug zum in Deutschland lebenden Perspektivlosigkeit und Verzweiflung, insbe- Kind zu verzichten und dieses alleinzulassen oder sondere bei Minderjährigen. sich aufzuteilen. Aus Berichten der Anwaltschaft und Fachverbän- Eine Besonderheit in Deutschland ist die ge- de wird deutlich: Anträge auf Familiennachzug setzliche Kontingentierung von 1.000 Visa pro werden oft abgelehnt. Die Zahl der Ablehnungen Monat für den Familiennachzug zu subsidiär wird bisher allerdings nicht statistisch erfasst. Schutzberechtigten. Dieses Kontingent wird (seit Das Recht auf Familie ist jedoch grund- und der Einführung im August 2018) weder ausge- menschenrechtlich verbrieft (Art. 6 GG und schöpft, noch auf die Folgemonate übertragen. Ein Art. 8 EMRK). Sind Minderjährige betroffen, ist Grund für die geringen Zahlen sind laut Anwält_in- gemäß UN-Kinderrechtskonvention (Art. 3 Abs. nen auch hier intransparente, langwierige, büro- 1) das Kindeswohl vorrangig zu beachten und kratische Verfahren. Das Institut kritisiert, dass die Familieneinheit zu wahren. Das bekräftigte beim Familiennachzug anerkannte Flüchtlinge eine Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts und subsidiär Schutzberechtigte unterschiedlich vom Dezember 2020. In dem Fall ging es um den behandelt werden. Auch subsidiär Schutzberech- Nachzug der Ehefrau und des vierjährigen Kindes tigten ist eine Rückkehr in ihr Herkunftsland und zu dem in Deutschland als subsidiär Schutzbe- ein gemeinsames Familienleben dort meist auf rechtigter anerkannten Ehemann und Vater. Das absehbare Zeit nicht zumutbar. Gericht entschied zugunsten der Familie. Um die grund- und menschenrechtlichen Ver- Ein Nachzug von Eltern zu ihren geflüchteten pflichtungen Deutschlands zu erfüllen, emp- Kindern in Deutschland scheitert oft an den fiehlt das Institut: langwierigen und komplizierten Visaverfahren. – Der Bundestag sollte die Kontingentierung Nach bisheriger Praxis erlischt der Anspruch auf der Visa für den Familiennachzug zu subsidiär Familiennachzug, wenn das als Flüchtling an- Schutzberechtigten aufheben und den Ge- erkannte Kind vor Erteilung der Einreisevisa der schwisternachzug explizit und vergleichbar zum Eltern volljährig wird. Das Institut betont, dass Elternnachzug regeln. der Nachzugsanspruch nicht von der Länge der – Solange der Geschwisternachzug im Aufent- Verfahren abhängig sein darf. Zur Frage des haltsrecht nicht geregelt ist, sollten die Länder Elternnachzugs ist mit Stand Oktober 2021 ein die Ausländerbehörden per Erlass anweisen, im Verfahren am Europäischen Gerichtshofs anhän- Rahmen der Zustimmung zu Visaanträgen von gig. Dieser muss nun entscheiden, inwieweit die der Wohnraumerfordernis und der Sicherung deutsche Regelung den europarechtlichen Vorga- des Lebensunterhalts abzusehen. Liegt kein ben entspricht. Ländererlass vor, sollten die Ausländerbehör- den im Rahmen ihres Ermessens von selbigem Praktisch unmöglich ist der Nachzug von Ge- absehen. schwistern zu unbegleiteten minderjährigen Ge-
Kinderrechte ins Grundgesetz 9 6 Kinderrechte ins Grund sich viele junge Menschen von den politischen Ver- gesetz – eine verpasste antwortungsträger_innen übergangen fühlten und ihre Interessen nicht vertreten sahen. Chance im Corona-Jahr Besonders hart trafen die Corona-Maßnahmen Schulen und Kitas geschlossen, kein Kontakt oder zum Beispiel Kinder aus armutsbetroffenen gar Spielen mit Gleichaltrigen, kein Sport und kei- Haushalten und geflüchtete Kinder in Erstauf- ne soziale Teilhabe, (zu) wenig Unterstützung beim nahme- und Gemeinschaftsunterkünften. Der digitalen Lernen, (zu) wenig Schutz vor häuslicher gleichberechtigte Zugang zum Recht auf Bildung Gewalt – welche langfristigen Folgen die Corona- war teils stark eingeschränkt. Anschaffungen von Pandemie für Kinder und Jugendliche haben wird, Computern mussten teilweise mittels Klagen er- ist noch nicht absehbar. Außer Frage steht aber: stritten werden. In den Unterkünften für Geflüch- In Zeiten von Corona spielten Kinder und Ju- tete fiel die Unterstützung durch Ehrenamtliche gendliche in politischen Entscheidungsprozes- vorübergehend weg, es fehlten ruhige Lernorte sen kaum eine Rolle. Sie wurden nicht berück- und Online-Angebote konnte mangels digitaler sichtigt, nicht gehört, geschweige denn beteiligt. Infrastruktur nicht immer wahrgenommen werden. Dabei wird in Deutschland schon lange über die Verankerung der Kinderrechte im Grund- Anfang 2021 – fast 30 Jahre nach Inkraft- gesetz und ihre Umsetzung gemäß UN-Kinder- treten der UN-Kinderrechtskonvention in rechtskonvention (UN-KRK) diskutiert. Deutschland – legte die Große Koalition erst- mals einen Entwurf zur Aufnahme der Kinder- Deutschland ist seit 1992 zur Umsetzung der rechte ins Grundgesetz vor. Bei Politiker_innen UN-KRK verpflichtet. Die Konvention begründet anderer Parteien, Kinderrechtsexpert_innen, Schutz-, Förder- und Beteiligungsrechte wie bei- Rechtswissenschaftler_innen und in der Zivilge- spielsweise das Recht auf Schutz vor Gewalt, das sellschaft, etwa beim Deutschen Kinderhilfswerk, Recht auf Bildung oder das Recht auf Beteiligung beim Deutschen Kinderschutzbund, bei UNICEF an Freizeit, am kulturellen und künstlerischen Le- Deutschland, stieß der Entwurf aus unterschied- ben. Die UN-KRK ist auch in Deutschland gelten- lichen Gründen auf breite Kritik. Einig waren sich des Recht und gilt im Rang eines Bundesgesetzes. die Kritiker_innen darin, dass der Entwurf im Ver- Der UN-Ausschuss für die Rechte des Kindes gleich zur aktuellen Rechtslage einen Rückschritt empfiehlt Deutschland, der UN-KRK Vorrang darstellte. Nach einem langen und zähen Prozess vor dem einfachen Recht zu verschaffen und wurde deutlich, dass sich im Bundestag keine die Kinderrechte im Grundgesetz zu veran- Zwei-Drittel-Mehrheit für den Regierungsentwurf kern. Damit würden die Belange von Kindern und finden ließ. Jugendlichen gewichtiger, deutlich besser wahrge- nommen und Menschen unter 18 Jahren erhielten Das Institut sieht weiterhin großen Nachbes- Gehör bei politischen Entscheidungen. serungsbedarf bei der Verankerung und Ver- wirklichung der Kinderrechte in Deutschland In der Corona-Pandemie zeigte sich aber, dass und empfiehlt daher, der Staat Kinder und Jugendliche nach wie vor – rasch einen neuen Gesetzentwurf zur Veranke- nicht angemessen als Träger eigener Rechte wahr- rung der Kinderrechte im Grundgesetz vorzule- nimmt. Politische Akteur_innen sahen in Kindern gen, der nicht hinter europäischen und inter- und Jugendlichen eher „Treiber der Pandemie“ als nationalen Vorgaben zurückbleibt und der die Personen mit Rechten, denen Gehör geschenkt Rechtsposition von Kindern signifikant stärkt, werden muss. Im Krisenstab der Bundesregie- – Kinder und Jugendliche am Prozess zur Erarbei- rung wurden Vertreter_innen von Kindern und tung des Gesetzes zu beteiligen. Jugendlichen erstmals nach mehreren Mona- ten der Pandemie gehört. Wenig verwunderlich ist daher das Ergebnis einer bundesweiten Erhe- bung der Universitäten Frankfurt und Hildesheim in Kooperation mit der Bertelsmann Stiftung, wonach
10 R ECH T L ICH E B ET R EUUNG 7 Menschen mit Behinde- fahren nur unter engen Voraussetzungen von einer rungen – Wunsch und Wille persönlichen Anhörung abgesehen werden kann. als menschenrechtliche Laut UN-BRK soll Wunsch und Wille der betreu- Grundlage für die rechtliche ten Person ausschlaggebend für das Handeln der Betreuer_innen sein. Mit der Reform des Betreuung Betreuungsrechts wurde der Begriff des „Wohls“ – bisher leitender Grundsatz – abgeschafft. Die be- 2021 wurde in Deutschland das Betreuungs- troffene Person soll besser informiert und stärker recht grundlegend reformiert. Es regelt den eingebunden, Pflichtwidrigkeiten von Betreuer_in- Fall, dass eine Person Unterstützung bei der nen besser erkannt und sanktioniert werden. Das Wahrnehmung ihrer rechtlichen Angelegenheiten neue Gesetz soll die Grundlage dafür schaffen, benötigt. Gesetzliche Voraussetzung ist dabei, dass Betreuung nur im absolut nötigen Maß dass die Person aufgrund einer Krankheit oder angeordnet wird (Erforderlichkeitsgrundsatz). Beeinträchtigung hierbei Unterstützungsbedarf Dazu wurde der Grundsatz „Unterstützen vor Ver- hat und dieser nicht durch andere Hilfen gedeckt treten“ gestärkt. Der Grundsatz von Wunsch und werden kann. Die Reform zielt darauf ab, das Wille gilt aber auch nach dem neuen Gesetz nicht Selbstbestimmungsrecht zu stärken, indem ausnahmslos. Unter bestimmten Bedingungen ist Wille und Wünsche der betroffenen Person un- die Bestellung einer rechtlichen Betreuung gegen bedingt zu berücksichtigen sind. den natürlichen Willen der betroffenen Person weiterhin möglich. Es wurden zudem die Rechts- Die UN-Behindertenrechtskonvention (UN- grundlagen zu Zwangsmaßnahmen, wie eine BRK) steht für ein System der unterstützten Unterbringung oder eine ärztliche Behandlung Entscheidungsfindung. In Deutschland ist die gegen den Willen, beibehalten. UN-BRK seit 2009 geltendes Recht, das alle staatlichen Stellen umsetzen müssen. Das um- Insgesamt ist die Reform des Betreuungs- fasst das Recht der informierten und freiwilligen rechts ein Schritt zu mehr Selbstbestimmung. Einwilligung in medizinische Behandlungen (Art. Als weitere Schritte empfiehlt das Institut 25 UN-BRK: Recht auf Gesundheit), das Recht auf unter anderem: Schutz vor Freiheitsentzug aufgrund einer Beein- – Bund und Länder sollten – um Betreuungen trächtigung (Art. 14 UN-BRK: Freiheit und Sicher- zu vermeiden - „andere Hilfen“ (§ 1814 Abs. 3 heit der Person) oder das Recht zu entscheiden, Nr. 2 BGB n.F., §§ 5, 8 BtOG) und Leistungen wo und mit wem ich wohne (Art. 19 UN-BRK: wie Schuldner_innenberatung oder ambulantes Selbstbestimmte Lebensführung und Inklusion in betreutes Wohnen ausbauen. die Gemeinschaft). – Bund und Länder sollten Maßnahmen ergreifen, um die zwangsweise Unterbringung oder frei- Die Kontaktbeschränkungen in der Corona-Pande- heitsentziehende Maßnahmen aufgrund einer mie haben auch viele Betreuungsverhältnisse stark Beeinträchtigung abzuschaffen. belastet. Damit Betreuer_innen ihre gesetzlichen – Auf kommunaler Ebene sollten Informations- Aufgaben wahrnehmen können, ist der persön- und Empowerment-Schulungen sowohl für liche Kontakt unverzichtbar, doch in der Pandemie Menschen mit Unterstützungsbedarf als auch war dieser erschwert, teilweise sogar unmöglich. für Akteur_innen des Betreuungswesens an- Erst im Laufe der Pandemie, nämlich bei der geboten werden. Novellierung des Infektionsschutzgesetzes im – Das Bundesjustizministerium und die Landes- November 2020, berücksichtigte der Gesetz- justizministerien müssen, ebenso wie Betreu- geber, dass ein Mindestmaß an sozialem ungsbehörden und Kliniken, sicherstellen, dass Kontakt möglich sein muss. In betreuungs- eine umfassende statistische Datengrundlage gerichtlichen Verfahren wurde insbesondere die zur Verfügung steht. persönliche Anhörung problematisiert. Im Oktober – Die Bundesregierung sollte eine bundesweite 2020 bekräftigte der Bundesgerichtshof, dass Fachstelle für Unterstützte Entscheidungsfin- auch in Pandemiezeiten in einem Betreuungsver- dung einrichten.
G LOBALE IMPFGER E CH TI G K E I T 11 8 Mehr globale sation die Plattform COVAX (Covid-19 Vaccines Impfgerechtigkeit – eine Global Access) ins Leben. Die Plattform sollte Impfdosen aus einer Hand beschaffen und sie menschenrechtliche gleichberechtigt verteilen. Deutschland und Verpflichtung Deutschlands andere EU-Länder unterstützten COVAX verbal und mit Finanzmitteln, bestellten aber gleich- zeitig die Impfstoffe für die eigene Bevölke- Entwicklung, Herstellung und Zulassung von Impf- rung direkt und vorab bei den Pharmaunter- stoffen gegen COVID-19 sind maßgeblich für die nehmen. So blieb es letzten Endes lediglich eine Bewältigung der Corona-Pandemie. Von den Impf- Plattform, die mit Finanzierungsbeiträgen und stoffen jedoch kommt in zu vielen Ländern Impfdosenspenden aus dem Globalen Norden zu wenig an. Bis August 2021 wurden in den Impfungen im Globalen Süden organisierte. reichsten Ländern der Welt fast 75 Prozent der weltweit verfügbaren Impfdosen verimpft; in den Daneben gab es Programme für Technologie- ärmsten Ländern der Welt nur 2,7 Prozent. Diese transfer sowie Vorschläge für die Gewährung ungerechte Verteilung der Impfstoffe führt nicht von Lizenzen und die Aussetzung von Patenten. nur zu einer gesundheitlichen, ökonomischen und Die Staaten, die sich Impfdosen durch Vorbestel- sozialen Bedrohung für Menschen in den ärmeren lungen sicherten, wären durchaus in der Lage Ländern. Sie wird auch zur weltweiten Bedrohung, gewesen, die Pharmaunternehmen darauf zu denn ohne hohe Impfquoten weltweit wird sich die verpflichten. Die USA, bislang eherner Verfechter Pandemie nicht eindämmen lassen. des Patentschutzes, schlossen sich im Mai 2021 einem entsprechenden Vorschlag von Indien und Die globale Impfgerechtigkeit ist nicht nur gesund- Südafrika an; die EU-Kommission blieb in Fra- heitspolitisch geboten, die Vertragsstaaten des gen der Patentfreigabe verhalten, ebenso die UN-Sozialpakts sind dazu auch menschenrechtlich Bundesregierung. verpflichtet (Art. 12 UN-Sozialpakt). Der UN-So- zialpakt verpflichtet Länder wie Deutschland Globale Impfgerechtigkeit bedeutet: den weltwei- auch, andere Staaten bei der Gewährleistung ten Zugang zu Impfungen sicherzustellen. Dieser des Rechts auf Gesundheit zu unterstützen kann nicht durch Wohltätigkeit auf Basis von Über- (sogenanntes Kooperationsgebot, Art. 2 Abs. schussspenden oder Entwicklungshilfe erreicht 1), hier: den gleichberechtigten Zugang zu werden. Der Zugang zu Impfstoffen gegen eine Impfstoffen in anderen Ländern voranzubrin- tödliche Krankheit ist Teil des international an- gen. Nicht zuletzt sind auch Pharma-Unternehmen erkannten universellen Rechts auf Gesundheit. in der menschenrechtlichen Verantwortung, Impf- stoffe herzustellen, die für alle Menschen zugäng- Das Institut empfiehlt der Bundesregierung lich sind. daher unter anderem, – keine Impfstoffe zu beschaffen, ohne auch Doch statt Drittstaaten bei der Beschaffung von Regelungen zur freiwilligen Patentweitergabe Impfstoffen oder der Technologie zu ihrer Herstel- zu vereinbaren, lung zu unterstützen, schlossen Länder mit hohem – im Rahmen der EU alle Möglichkeiten für eine Einkommen schon früh Vorverträge mit den Phar- kurz-, mittel- und langfristige Erhöhung der maunternehmen. Ende Sommer 2020 hatten unter Produktion von Impfdosen und ihrer gerechten anderen die EU, Großbritannien und Kanada über Verteilung auszuschöpfen, inklusive Zwangs solche Verträge mehr Impfdosen bestellt, als für lizensierungen und Patentfreigaben, ihre Bevölkerung nötig war. Länder mit mittleren – „überbestellte“ Impfdosen an COVAX zu spen- oder niedrigen Einkommen waren gar nicht in der den und nicht, wie bereits geschehen, nach Lage, vergleichbare Vorbestellungen zu tätigen. geopolitischen Erwägungen im Globalen Süden selbst zu verteilen, Um den gesundheitspolitisch und menschenrecht- – unabhängig von der Corona-Pandemie die lich gebotenen weltweiten Zugang zu Impfungen Gesundheitssysteme in Ländern mit niedrigen sicherzustellen, rief die Weltgesundheitsorgani- Einkommen zu stärken.
Impressum HERAUSGEBER Deutsches Institut für Menschenrechte Zimmerstraße 26/27 | 10969 Berlin Entwicklung der Menschenrechtssituation in Deutschland Juli 2020 – Juni 2021 Tel.: 030 259 359 - 0 | Fax: 030 259 359 - 59 Bericht an den Deutschen Bundestag gemäß § 2 Absatz 5 DIMRG info@institut-fuer-menschenrechte.de www.institut-fuer-menschenrechte.de Twitter: @DIMR_Berlin BERICHT AN DEN DEUTSCHEN B UNDESTAG Die Langfassung dieses Berichts können Sie KURZFASSUNG | DEZEMBER 2021 online als PDF-Dokument abrufen: www.institut-fuer-menschenrechte.de/ GESTALTUNG menschenrechtsbericht2021 MedienMélange: Kommunikation! BERICHT AN DEN DEUTSCHEN BUNDESTAG | LIZENZ DEZEMBER 2021 creativecommons.org/licenses/ ISSN 2511-1566 (Print) by-nc-nd/4.0/deed.de ISSN 2567-5893 (PDF)
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