Expertiseforschung im Sport - Norbert Hagemann, Maike Tietjens & Bernd Strauß
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Expertiseforschung im Sport Norbert Hagemann, Maike Tietjens & Bernd Strauß 1. Einleitung Sportliche Höchstleistungen faszinieren die Massen. Schon in der griechischen An- tike begeisterten sportliche Wettkämpfe viele Zuschauer und auch heute kann ein unglaubliches Medieninteresse festgestellt werden, wenn über Olympische Spiele, Weltmeisterschaften oder Bundesligaspiele berichtet wird. Dabei sind es insbeson- dere die atemberaubenden Leistungen der Ausnahmeathletinnen und -athleten wie Michael Jordan, Steffi Graf, Ronaldinho, Katharina Witt oder Tiger Woods, die bewundert werden. Während der 70er und Anfang der 80er Jahre wurde das herausragende Können der Spitzenathletinnen und -athleten im Wesentlichen auf die Leistungsfähigkeit der physiologischen Mechanismen bzw. Merkmale zurückgeführt (Starkes, Helsen & Jack, 2001). Eine entsprechende körperliche Konstitution und austrainierte Organsysteme gelten auch heute noch als wesentliche Kriterien für sportliche Spitzenleistungen. Aber für eine effektive Steuerung des menschlichen Körpers in sportlichen Situationen sind allerdings hochangepasste psychische Kontroll- und Regulationsmechanismen notwendig. Die enorme Bedeutung von hochspezialisierten psychologischen bzw. kognitiven Fertigkeiten für die sportliche Höchstleistung wird erst seit ca. drei Jahrzehnten verstärkt diskutiert und systematisch untersucht. Dies geschieht insbesondere in einem relativ neuen Forschungsgebiet innerhalb der (kognitiven) Psychologie, der Expertiseforschung. Diese befasst sich insbesondere mit den kognitiven Bedingungen und Ursachen von herausragenden menschlichen Leistungen. Dabei werden Personen in ganz unter- schiedlichen Domänen wie z. B. Musik, Kunst, Physik, Medizin und Sport untersucht. Auf vielen dieser Gebiete lassen sich leicht Personen finden, die dauer- haft und scheinbar fast ohne Anstrengung herausragende Leistungen vollbringen. Der Sport bietet aufgrund des unterschiedlichen, aber in der Regel klar definierten Anforderungsprofils der Sportarten und des strukturierten Leistungssportsystems ein ideales Anwendungsfeld für die Erforschung von Expertenleistungen. Die Faszination für dieses Forschungsfeld drückt sich auch in der Anzahl an wis- senschaftlichen Veröffentlichungen aus. Gerade in den letzten beiden Jahrzehnten gab es immer wieder Sammelbände und Übersichtsartikel, die die Ergebnisse der Expertiseforschung im Allgemeinen (z. B. Chi, Glaser & Farr, 1988; Ericsson, 1996;
8 Norbert Hagemann, Maike Tietjens und Bernd Strauß Ericsson, Charness, Feltovich & Hoffman, in press; Ericsson & Smith, 1991b) oder bezogen auf sportliche Expertise zusammenfassen (Janelle & Hillman, 2003; Mun- zert, 1995; Starkes & Allard, 1993; Starkes & Ericsson, 2003; Starkes, Helsen & Jack, 2001). Das steigende Forschungsinteresse in den letzten Jahrzehnten lässt sich auch gut anhand der Veröffentlichungsstatistik in psychologischen Datenbanken belegen. Bei- spielsweise ergab unsere Recherche nach dem Begriff „Expertise“ in der Datenbank PsycINFO der American Psychological Association für alle Publikationsarten in den letzten 40 Jahren eine stark ansteigende Publikationsrate (vgl. Abbildung 1). 3000 2500 x 2000 Anzahl der Dokumente 1500 1000 500 0 bis 1964 1965 bis 1970 bis 1975 bis 1980 bis 1985 bis 1990 bis 1995 bis 2001 bis 1969 1974 1979 1984 1989 1994 1999 2005 Zeitraum Abbildung 1: Anzahl der registrierten Dokumente für die Recherche nach dem Begriff „Expertise“ in der Datenbank PsycINFO für unterschiedliche Zeiträume. In diesem Buch wird von international führenden Wissenschaftlerinnen und Wis- senschaftlern zusammengetragen und diskutiert, was Expertinnen und Experten im Sport auszeichnet und welche Mechanismen herausragenden sportlichen Leistungen zugrunde liegen. Dabei wird der Blick über den klassischen Bereich der kognitiven und motorisch orientierten Expertiseforschung erweitert, indem beispielsweise auf motivationale Aspekte, Aspekte der Selbstwirksamkeit und auf die Expertise in Gruppen eingegangen wird.
Expertiseforschung im Sport 9 2. Gegenstand der Expertiseforschung Als Expertin bzw. Experten bezeichnet man eine Person, die dauerhaft, also nicht zufällig und nicht nur ein einziges Mal, herausragende Leistungen erbringt (Posner, 1988). Auf den Sport übertragen bezieht sich dieser Begriff auf Personen, die „auf Basis langer Übungs- und Trainingsprozesse in ihrer Sportart, besondere, überdurch- schnittliche Leistungen erzielen“ (Munzert, 1995, S. 123). Diese Definition folgt einer differenzialpsychologischen Betrachtungsweise, bei der die Leistung einer Per- son in Relation zu einer Bezugsgruppe betrachtet wird. Bei der deskriptiven Betrachtung dieser Personen kann über verschiedene Do- mänen hinweg ein wesentliches Merkmal von Expertinnen- und Expertenleistun- gen immer wieder gefunden werden: Die langfristige und systematische Beschäfti- gung mit dem Gegenstand. Durch diverse retrospektive Befragungen konnte ermittelt werden, dass mindestens 10 Jahre oder 10.000 Trainingsstunden notwendig sind, um nationale oder internationale Spitzenleistungen zu vollbringen. Dieser Zeitraum wur- de schon von Simon und Chase (1973) für das Erreichen des Niveaus eines Groß- meisters im Schach geschätzt: “There appears not to be on record any case (inluding Bobby Fischer) where a person has reached grandmaster level with less than about a decade’s intense preoccupation with the game. We would estimate, very roughly, that a master has spent perhaps 10,000 to 50,000 hours staring at chess positions, and a Class A player 1,000 to 5,000 hours” (S. 402). Die enorme Bedeutung der Übungszeit für das Erreichen von Spitzenleistungen konnte auch im Sport mehrfach bestätigt werden (z. B. Helsen, Starkes & Hodges, 1998; Starkes, Deakin, Allard, Hodges & Hayes, 1996). Das alleinige Wissen über die notwendige Übungsdauer ist unbefriedigend und unzureichend, wenn menschliche Höchstleistungen erklärt werden sollen. Dies macht die Faszination der Expertiseforschung auch nicht aus. Das eigentliche Ziel der Ex- pertiseforschung ist es vielmehr zu ermitteln, wie sich Personen an die Anforderun- gen der jeweiligen Sportarten anpassen bzw. welche Mechanismen bei diesen Übungsprozessen erworben werden. 3. Entwicklungslinien der Expertiseforschung Die Doktorarbeit des Holländers Adriaan de Groot wird oft als Ausgangspunkt der Expertiseforschung genannt. De Groot (1965) untersuchte in der Zeit von 1938 bis 1943 unterschiedlich qualifizierte Schachspieler. In einigen quantitativen Maßen des Problemlöseprozesses (Anzahl der durchdachten Züge, Geschwindigkeit der Suche)
10 Norbert Hagemann, Maike Tietjens und Bernd Strauß unterscheiden sich Schachgroßmeister nicht wesentlich von Durchschnittsspielern. Unterschiede konnte de Groot in einer Aufgabe finden, bei denen die Schachspieler unbekannte Schachpositionen nach einer kurzen Präsentation von wenigen Sekunden nachstellen mussten. Hier zeigt sich, dass nur die Schachgroßmeister in der Lage waren, die Schachkonstellationen nahezu perfekt wiederzugeben. Simon und Chase (1973) entwickelten diese Aufgabe weiter und führten eine zusätzliche Bedingung ein. Die Schachspieler mussten Konstellationen nachstellen, bei denen die Schachfiguren zufällig auf dem Schachbrett verteilt worden sind. Hier zeigt sich, dass die Schachexperten nur einen Vorteil hatten, wenn tatsächlich ge- spielte Schachkonstellationen präsentiert worden waren. Simon und Chase (1973) entwickeln vor dem Hintergrund des Informationsverarbeitungsparadigmas und der begrenzten Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses eine Expertisetheorie, die die her- ausragenden Leistungen im Schach mit einer umfangreichen Wissensbasis im Lang- zeitgedächtnis erklärt. Dabei sind die bedeutungshaltigen Informationen (Schach- konstellationen) als Chunks im Langzeitgedächtnis gespeichert. Sie konnten zeigen, dass herausragende Schachspieler mehr Informationen (Schachfiguren) in einem Chunk enkodieren können. Herausragende Gedächtnisleistungen sind auch Gegenstand der Skilled Memory- Theory von Chase und Ericsson (1981). Sie waren daran interessiert, wie sich das herausragende Gedächtnis von Expertinnen und Experten entwickelt und wie Exper- tinnen und Experten diese Gedächtnisstrukturen nutzen. Um dies zu erreichen, führ- ten sie langfristige Trainingsstudien durch. Sie konnten beispielsweise bei einem Probanden (S. F.) zeigen, der über 2 Jahre und 250 Stunden das Wiedergeben von zufälligen Zahlenabfolgen trainierte, dass es für eine durchschnittliche Person möglich ist, bis zu 80 Ziffern zu memorisieren (bei 1 Ziffer pro Sekunde). Chase und Ericsson (1981) konnten so demonstrieren, dass durch bedeutungshaltige Strukturie- rung und Entwicklung einer hierarchischen Abrufstruktur die Grenzen des Arbeits- speichers deutlich überwunden werden können. Ericsson und Smith (1991a) kritisieren diese Einschränkung auf rein wissenspsy- chologische Mechanismen und entwickeln ein deskriptives und induktives Rahmen- konzept, mit dem die zugrunde liegenden Mechanismen der Expertinnen und Ex- perten in unterschiedlichen Domänen ermittelt werden können. Mit diesem Rahmen- konzept dem Expert-Performance-Approach sollen die unterschiedlichen kogni- tiven, aber auch physiologischen Mechanismen bestimmt werden. Zur Analyse von Expertenleistungen schlagen Ericsson und Smith (1991a) drei Phasen vor. Zuerst sollen repräsentative Aufgaben unter Laborbedingungen entwickelt werden, die die wesentliche Komponente der Expertenleistung erfassen. Dadurch sollen dann in ei- ner zweiten Phase die zugrunde liegenden erworbenen Mechanismen identifiziert
Expertiseforschung im Sport 11 werden, die die Expertenleistung in der Laboraufgabe bestimmen. In der letzten Phase sollen dann die Tätigkeiten und Trainingsformen ermittelt werden, die zur An- eignung und Entwicklung dieser Mechanismen führen. Dieser Ansatz wurde in der letzten Zeit verstärkt diskutiert und beispielsweise von Williams und Ericsson (2005) auf die Ermittlung von perzeptiv-kognitiven Mecha- nismen zur Erklärung von Höchstleistungen übertragen. Trotz der weiten Verbrei- tung gibt es auch Kritik an dem Expert-Performance-Approach und dem assoziierten Konzept des deliberate practice (z. B. Abernethy, Farrow & Berry, 2003). Bei dieser Kritik geht es im Wesentlichen um eine zu starke Ausrichtung auf kognitive Komponenten und die Vernachlässigung von genetischen Faktoren für das Erreichen von sportlicher Höchstleistung. 4. Das Konzept des deliberate practice Die Frage, ob die herausragenden Leistungen das Produkt von genetischen Dispo- sitionen oder umweltbedingten Einflüssen sind, wurde schon immer kontrovers diskutiert und wird wohl auch in Zukunft kontrovers diskutiert werden (z. B. Howe, Davidson & Sloboda, 1998). Nach der Vorstellung von Ericsson, Krampe und Tesch- Römer (1993) sind herausragende menschliche Leistungen das Produkt von umfangreichen langjährigen Übungsprozessen und Dispositionen bzw. Talent besit- zen so gut wie keine Bedeutung. Diese Position stellt eine Extremposition bei der Erklärung von Expertenleistungen dar und wird deshalb häufig kritisiert (vgl. Aber- nethy, Farrow & Berry, 2003; Singer, 1999). Die Annahmen von Ericsson et al. (1993) basieren auf retrospektiven Untersuchungen an Musikern (Violinisten und Klavierspieler). Bei der Analyse konnten sie eine bestimmte Art der Übung identifi- zieren, die im direkten Verhältnis zum erreichten Leistungsniveau steht (deliberate practice oder zielorientiertes Training). Deliberate practice zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: 1) es soll zur Leistungssteigerung eingesetzt werden, 2) es ist für die jeweilige Domäne relevant, 3) es muss mit einem bestimmten Einsatz durchgeführt werden und 4) es ist im We- sentlichen nicht angenehm (Abernethy, Farrow & Berry, 2003). Im Sport wurde die- ses Konzept erstmals von Starkes, Deakin, Allard, Hodges und Hayes (1996) über- prüft (vgl. Ward, Hodges, Williams & Starkes, 2004). Sie konnten zwar auch die 10- Jahres Regel bestätigen (nicht aber die 10.000 Stunden Regel), aber fanden keinen Hinweis, dass die relevante Übung alleine durchgeführt und als nicht angenehm („inherently enjoyable“) bezeichnet werden muss. Auch Helsen, Starkes und Hodges (1998) konnte in den Mannschaftssportarten Fußball und Feldhockey zeigen, dass die
12 Norbert Hagemann, Maike Tietjens und Bernd Strauß Athletinnen und Athleten mindestens 10 Jahre aktiv trainiert haben müssen, um nati- onales bzw. internationales Leistungsniveau zu erreichen. In diesen Untersuchungen konnte aber auch gezeigt werden, dass der tatsächlich notwendige Zeitumfang (Stun- denanzahl) als auch die Art der förderlichen Übung stark von der jeweiligen Sportart abhängt und unabhängig vom empfundenen Vergnügen ist (vgl. auch Deakin & Cobley, 2003; Ward, Hodges, Williams & Starkes, 2004). 5. Aktuelle Entwicklungen und die Konzeption des Buches Neben den theoretischen Implikationen inspirierten die Studien von Ericsson auch andere Forscherinnen und Forscher, die retrospektive Methode anzuwenden und sich mit der sportlichen Vergangenheit von Hochleistungssportlerinnen und -sportlern zu beschäftigen. Durch dieses methodische Vorgehen ist es möglich, Bedingungen und sportspezifische Übungsformen zu identifizieren, die mit sportmotorischen Spitzen- leistungen in Verbindung stehen (Côté, Ericsson & Law, 2005). Es könnte beispiels- weise genutzt werden, um Fragen nach der besten Förderung in unterschiedlichen Altersklassen zu untersuchen. So würde die Theorie des deliberate practice durch den monotonen Zusammenhang zwischen dieser Form des Trainings und dem Leis- tungsniveau eine frühe Spezialisierung nahe legen. Dagegen spricht die häufig prak- tizierte breite Grundausbildung in vielen Sportarten. Auch zeigen einige retrospek- tive Untersuchungen, dass zumindest in den Spielsportarten Erfahrung in verschie- denen Sportarten (Baker, Côté & Abernethy, 2003) und ein „deliberate play“ zu Beginn der sportlichen Karriere (Côté, 1999) leistungsfördernde Effekte hat. Neben retrospektiven Methoden dominieren weiterhin Experten-Novizen-Studien mit einer kognitiven Ausrichtung die Forschungsaktivitäten der Expertiseforschung. Hierbei wird zurzeit verstärkt versucht, ökologisch valide Testsituationen zu entwi- ckeln, um dabei möglichst online die zugrunde liegenden Mechanismen der Exper- tenleistung zu bestimmen. Für den perzeptiv-kognitiven Bereich beschreiben Willi- ams und Ericsson (2005) fünf Methoden, mit denen man detailliert die Mechanismen der sportlichen Expertise bestimmen kann: a) Blickbewegungsregistrierungen, b) Verschließungstechniken des Stimulusmaterials (und Reduktion auf point-light dis- plays), c) biomechanische Analysen des Stimulusmaterials, d) psychophysische Mes- sungen (EEG, ERP) und e) Interviewtechniken. Die sehr kognitive Ausrichtung dieses Forschungsbereichs wird seit einiger Zeit ergänzt durch Berücksichtigung weiterer psychischer Faktoren, die einen Beitrag zur Erklärung von sportlichen Höchstleistungen versprechen. Hierzu zählen insbeson- dere die Konstrukte Emotionen, Motivation und Selbstwirksamkeit. Dieses Buch
Expertiseforschung im Sport 13 greift genau diese Trends auf und versucht einen breiten Überblick über die theoreti- schen Konzepte und empirischen Befunde der zugrunde liegenden Mechanismen von Expertinnen und Experten im Sport zu vermitteln. Zu Beginn des Buches kommt eine der einflussreichsten Persönlichkeiten zu Wort, die durch seine Arbeiten die Forschungsaktivitäten der Expertiseforschung erheblich geprägt hat: K. Anders Ericsson. Er beschreibt zusammen mit Norbert Ha- gemann den Expert-Performance-Approach und wie er zur Analyse von sportlichen Höchstleistungen genutzt werden kann. Außerdem wird ausführlich auf das Konzept des deliberate practice eingegangen. Hier wird die Position vertreten, dass außergewöhnliche Leistungen nicht durch angeborene Eigenschaften erzielt werden, sondern wesentlich durch komplexe kognitive Mechanismen vermittelt werden, die über einen langen Zeitraum erworben werden. Dieses Argument diskutieren Christopher M. Janelle, Stephen A. Coombes, Ro- bert N. Singer und Aaron R. Duley kritisch und thematisieren den Zusammenhang zwischen Übung/Umwelt und genetische Disposition/Talent für die Entwicklung von sportlichen Spitzenleistungen. Hier werden die Befunde zusammengetragen, die Hinweise auf den Einfluss von genetischer Veranlagung geben. Es wird die Position vertreten, dass je günstiger die genetische Veranlagung ist, desto eher wird enga- giertes und zielorientiertes Training einer Sportlerin bzw. einem Sportler dazu ver- helfen, Spitzenleistungen zu vollbringen. Damian Farrow und Bruce Abernethy geben einen umfassenden Überblick über die Merkmale einer Wahrnehmungsexpertise. Insbesondere in den Sportspielen müs- sen viele visuelle Informationen in kürzester Zeit verarbeitet werden. Sie zeigen auf, welche Methoden für die Analyse der Informationsaufnahme zur Verfügung stehen und wie die Informationen für ein Wahrnehmungstraining genutzt werden können. In vielen Sportarten werden von den beteiligten Personen (Athletinnen und Ath- leten, Trainerinnen und Trainer, Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter) kontinuier- lich Entscheidungen getroffen. Dabei treffen Expertinnen und Experten meistens die besseren Entscheidungen. Markus Raab und Torsten Reimer verbinden elegant die zwei bisher recht unverbundenen Forschungsstränge der sportlichen Expertisefor- schung und der sportlichen Entscheidungsforschung. Sie gehen dabei auf die Unter- scheidung von intuitiven und deliberativen Entscheidungsprozessen ein und versu- chen daraus eine Perspektive aufzuzeigen, wie die Akzentuierung eines Entschei- dungstrainings den Weg zum Experten oder zur Expertin möglicherweise beschleu- nigen kann. Gershon Tenenbaum und David N. Sacks bringen einen weiteren wichtigen Faktor in die Diskussion um sportliche Spitzenleistungen ein. Die effektive Regulation der Intensität und Art der Emotionen scheint eine weitere Schlüsselvariable für sportli-
14 Norbert Hagemann, Maike Tietjens und Bernd Strauß che Spitzenleistungen zu sein. Sie präsentieren eine Übersicht über die gängigsten Konzepte und Theorien über Emotionen und Leistungen im Sport und diskutieren die Frage, wie Emotionen die Athletinnen und Athleten im Training und im Wettkampf beeinflussen. Ein weiterer wichtiger Faktor für die Entstehung einer Expertise wird im nächsten Kapitel behandelt. Gerade vor dem Hintergrund der notwendigen Übungsdauer für das Erreichen von internationalen Spitzenleistungen stellt sich die Frage, wie es die Athletinnen und Athleten schaffen, das Training über diesen langen Zeitraum auf- recht zu erhalten. Jürgen Beckmann und Anne-Marie Elbe diskutieren ausführlich die Bedeutung der Motivation. Sie stellen heraus, dass insbesondere die sportspezifische Leistungsmotivation, die Handlungskontrolle und volitionale Fertigkeiten für das Erreichen von Spitzenleistungen bedeutsam sind. In dem nächsten Kapitel geben Sian L. Beilock und Deborah L. Feltz einen de- taillierten Überblick über die Theorie zur Selbstwirksamkeit und diskutieren Unter- schiede in den Selbstwirksamkeitsüberzeugungen von Experten und Nicht-Experten. Hierbei zeigt sich die enorme Bedeutung der Selbstwirksamkeit bzw. der Glaube einer Person daran, eine bestimmte Aufgabe erfolgreich bewältigen zu können, für hervorragende Leistungen im Sport. Der Großteil der Expertiseforschung konzentriert sich auf die Expertise von Indi- vidualsportlerinnen und -sportler. Albert V. Carron, Steven R. Bray und Mark A. Eys unternehmen den Versuch, die grundlegenden Charakteristika von Gruppenexpertise in Sportmannschaften umfassend zu beschreiben. Sie diskutieren fünf wesentliche Komponenten, die einen möglichen Erklärungswert für Spitzenleistungen von Sportmannschaften haben: die Stabilität der Mannschaftszusammensetzung, die Ko- häsion, die kollektive Wirksamkeit, die Rollenwirksamkeit und das effektive Coa- ching. Für das Erlangen einer sportlichen Expertise müssen unzweifelhaft motorische Lernprozesse stattfinden. Zwar wird in der Expertiseforschung die Bedeutung von umfangreichen Übungsprozessen immer wieder betont, aber es existieren kaum Un- tersuchungen aus dem Expertisebereich, die die effektiven Übungsbedingungen ge- nauer analysieren. Jörn Munzert und Heiko Maurer widmen sich dieser Aufgabe und geben einen umfassenden Überblick der theoretischen Modellvorstellungen und über die empirischen Befunde über die Merkmale von erfolgreichen motorischen Lern- prozessen. Dabei gehen sie insbesondere auf das Vermitteln von Sollwert-Vorstel- lungen (Demonstration), die Gabe von Feedback zur Fehlerkorrektur sowie der Iden- tifikation wesentlicher Übungsbedingungen ein. Mit der gezielten Beeinflussung bestimmter psychischer Prozesse beschäftigt sich das Kapitel von Michael Kellmann und Heiner Langenkamp. Sie geben einen Über-
Expertiseforschung im Sport 15 blick über die wichtigsten psychologischen Trainingsformen, mit denen Informati- onsverarbeitungsprozesse und Handlungsabläufe optimiert werden können. Psycho- logisches Training muss gezielt geplant und in den individuellen Trainingsplan integ- riert werden. Sie gehen dabei intensiv auf Entspannungsverfahren, Vorstellungsre- gulation und Selbstgesprächsregulation ein. Den Abschluss des Buches bildet der Beitrag von Dorothee Alfermann. Sportliche Spitzenleistungen können auf höchstem Niveau allgemein nur über einen begrenzten Zeitraum aufrechterhalten werden. Dorothee Alfermann stellt sich die Frage, was nach der aktiven Wettkampfzeit folgt und inwieweit Sportlerinnen und Sportler ihre erlangte Expertise für die Zeit nach dem Leistungssport nutzen können. Sie stellt heraus, dass eine rechtzeitige Planung des Karriereendes zu einem vergleichsweise sanften und problemlosen Karriereübergang führen kann. Literatur Abernethy, B., Farrow, D. & Berry, J. (2003). Contraints and issues in the develop- ment of a general theory of experts perceptual-motor performance. In J. L. Starkes & K. A. Ericsson (Eds.), Expert performance in sport (pp. 349-369). Champaingn, IL: Human Kinetics. Baker, J., Côté, J. & Abernethy, B. (2003). Sport-specific practice and the develop- ment of expert decision-making in team ball sports. Journal of Applied Sport Psychology, 15, 12-25. Chase, W. G. & Ericsson, K. A. (1981). Skilled memory. In J. R. Anderson (Ed.), Cognitive skills and their acquisition (pp. 141-189). Hillsdale, NJ: Erlbaum. Chi, M. T. H., Glaser, R. & Farr, M. J. (Eds.). (1988). The nature of expertise. Hills- dale, NJ: Erlbaum. Côté, J. (1999). The influence of the family in the development of talent in sports. The Sport Psychologist, 13, 395-417. Côté, J., Ericsson, K. A. & Law, M. P. (2005). Tracing the development of athletes using retrospective interview methods: A proposed interview and validation procedure for reported information. Journal of Applied Sport Psychology, 17, 1-19. de Groot, A. D. (1965). Thought and choice in chess. The Hague: Mouton. Deakin, J. M. & Cobley, S. (2003). A search for deliberate practice: An examination of the practice environments in figure skating and volleyball. In J. L. Starkes & K. A. Ericsson (Eds.), Expert performance in sports (pp. 115-135). Cham- paign, IL: Human Kinetics. Ericsson, K. A. (Ed.). (1996). The road to excellence: The acquisition of expert per- formance in the arts and sciences, sports, and games. Mahwah, NJ: Erlbaum.
16 Norbert Hagemann, Maike Tietjens und Bernd Strauß Ericsson, K. A., Charness, N., Feltovich, P. J. & Hoffman, R. R. (in press). The Cambridge handbook of expertise and expert performance. Cambridge, NY: Cambridge University Press. Ericsson, K. A., Krampe, R. T. & Tesch-Römer, C. (1993). The role of deliberate practice in the acquisition of expert performance. Psychological Review, 100, 363-406. Ericsson, K. A. & Smith, J. (1991a). Prospects and limits of the empirical study of expertise: An introduction. In K. A. Ericsson & J. Smith (Eds.), Toward a general theory of expertise: Prospects and limits (pp. 1-38). Cambridge, England: Cambridge University Press. Ericsson, K. A. & Smith, J. (Eds.). (1991b). Toward a general theory of expertise: Prospects and limits. Cambridge, NY: Cambridge University Press. Helsen, W. F., Starkes, J. L. & Hodges, N. J. (1998). Team sports and the theory of deliberate practice. Journal of Sport & Exercise Psychology, 20, 12-34. Howe, M. J. A., Davidson, J. W. & Sloboda, J. A. (1998). Innate talents: Reality or myth. Behavioral & Brain Sciences, 21, 399-442. Janelle, C. M. & Hillman, C. H. (2003). Expert Performance in Sport: Current Per- spectives and Critical Issues. In J. L. Starkes & K. A. Ericsson (Eds.), Expert performance in sports (pp. 19-48). Champaign, IL: Human Kinetics. Munzert, J. (1995). Expertise im Sport. psychologie und sport, 2, 122-131. Posner, M. I. (1988). Introduction: What is it to be an expert? In M. T. H. Chi, R. Glaser & M. J. Farr (Eds.), The nature of expertise (pp. xxix-xxxvi). Cam- bridge: Cambridge University Press. Simon, H. A. & Chase, W. G. (1973). Skill in chess. American Scientist, 61, 394- 403. Singer, R. N. (1999). Determining Sport Expertise: from genes to supremes. Interna- tional Journal of Psychology, 30, 117-150. Starkes, J. L. & Allard, F. (Eds.). (1993). Cognitive issues in motor expertise. Am- sterdam: North-Holland. Starkes, J. L., Deakin, J. M., Allard, F., Hodges, N. J. & Hayes, A. (1996). Deliberate practice in sports: what is it anyway? In K. A. Ericsson (Ed.), The road to ex- cellence: the acquisition of expert performance in the arts and sciences, sports, and games (pp. 81-105). Mahwah, NJ: Erlbaum. Starkes, J. L. & Ericsson, K. A. (Eds.). (2003). Expert performance in sport. Cham- paign, IL: Human Kinetics. Starkes, J. L., Helsen, W. F. & Jack, R. (2001). Expert performance in sport and dance. In R. N. Singer, H. A. Hausenblas & C. M. Janelle (Eds.), Handbook of sport psychology (pp. 174-201). New York: Wiley. Ward, P., Hodges, N. J., Williams, A. M. & Starkes, J. (2004). Deliberate practice and expert performance. In A. M. Williams & N. J. Hodges (Eds.), Skill ac- quisition in sport (pp. 231-258). London: Routledge. Williams, A. M. & Ericsson, K. A. (2005). Perceptual-cognitive expertise in sport: Some considerations when applying the expert performance approach. Hu- man Movement Science, 24, 287-307.
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