Expertiseforschung im Sport - Norbert Hagemann, Maike Tietjens & Bernd Strauß

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Expertiseforschung im Sport
Norbert Hagemann, Maike Tietjens & Bernd Strauß

1. Einleitung

Sportliche Höchstleistungen faszinieren die Massen. Schon in der griechischen An-
tike begeisterten sportliche Wettkämpfe viele Zuschauer und auch heute kann ein
unglaubliches Medieninteresse festgestellt werden, wenn über Olympische Spiele,
Weltmeisterschaften oder Bundesligaspiele berichtet wird. Dabei sind es insbeson-
dere die atemberaubenden Leistungen der Ausnahmeathletinnen und -athleten wie
Michael Jordan, Steffi Graf, Ronaldinho, Katharina Witt oder Tiger Woods, die
bewundert werden. Während der 70er und Anfang der 80er Jahre wurde das
herausragende Können der Spitzenathletinnen und -athleten im Wesentlichen auf die
Leistungsfähigkeit der physiologischen Mechanismen bzw. Merkmale zurückgeführt
(Starkes, Helsen & Jack, 2001). Eine entsprechende körperliche Konstitution und
austrainierte Organsysteme gelten auch heute noch als wesentliche Kriterien für
sportliche Spitzenleistungen. Aber für eine effektive Steuerung des menschlichen
Körpers in sportlichen Situationen sind allerdings hochangepasste psychische
Kontroll- und Regulationsmechanismen notwendig. Die enorme Bedeutung von
hochspezialisierten psychologischen bzw. kognitiven Fertigkeiten für die sportliche
Höchstleistung wird erst seit ca. drei Jahrzehnten verstärkt diskutiert und
systematisch untersucht. Dies geschieht insbesondere in einem relativ neuen
Forschungsgebiet innerhalb der (kognitiven) Psychologie, der Expertiseforschung.
Diese befasst sich insbesondere mit den kognitiven Bedingungen und Ursachen von
herausragenden menschlichen Leistungen. Dabei werden Personen in ganz unter-
schiedlichen Domänen wie z. B. Musik, Kunst, Physik, Medizin und Sport
untersucht. Auf vielen dieser Gebiete lassen sich leicht Personen finden, die dauer-
haft und scheinbar fast ohne Anstrengung herausragende Leistungen vollbringen.
Der Sport bietet aufgrund des unterschiedlichen, aber in der Regel klar definierten
Anforderungsprofils der Sportarten und des strukturierten Leistungssportsystems ein
ideales Anwendungsfeld für die Erforschung von Expertenleistungen.
   Die Faszination für dieses Forschungsfeld drückt sich auch in der Anzahl an wis-
senschaftlichen Veröffentlichungen aus. Gerade in den letzten beiden Jahrzehnten
gab es immer wieder Sammelbände und Übersichtsartikel, die die Ergebnisse der
Expertiseforschung im Allgemeinen (z. B. Chi, Glaser & Farr, 1988; Ericsson, 1996;
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     Ericsson, Charness, Feltovich & Hoffman, in press; Ericsson & Smith, 1991b) oder
     bezogen auf sportliche Expertise zusammenfassen (Janelle & Hillman, 2003; Mun-
     zert, 1995; Starkes & Allard, 1993; Starkes & Ericsson, 2003; Starkes, Helsen &
     Jack, 2001).
        Das steigende Forschungsinteresse in den letzten Jahrzehnten lässt sich auch gut
     anhand der Veröffentlichungsstatistik in psychologischen Datenbanken belegen. Bei-
     spielsweise ergab unsere Recherche nach dem Begriff „Expertise“ in der Datenbank
     PsycINFO der American Psychological Association für alle Publikationsarten in den
     letzten 40 Jahren eine stark ansteigende Publikationsrate (vgl. Abbildung 1).

                       3000

                       2500
x

                       2000
Anzahl der Dokumente

                       1500

                       1000

                       500

                         0
                              bis 1964 1965 bis   1970 bis   1975 bis   1980 bis   1985 bis   1990 bis   1995 bis   2001 bis
                                         1969       1974       1979       1984       1989      1994        1999      2005
                                                                        Zeitraum

     Abbildung 1: Anzahl der registrierten Dokumente für die Recherche nach dem Begriff „Expertise“ in
     der Datenbank PsycINFO für unterschiedliche Zeiträume.

        In diesem Buch wird von international führenden Wissenschaftlerinnen und Wis-
     senschaftlern zusammengetragen und diskutiert, was Expertinnen und Experten im
     Sport auszeichnet und welche Mechanismen herausragenden sportlichen Leistungen
     zugrunde liegen. Dabei wird der Blick über den klassischen Bereich der kognitiven
     und motorisch orientierten Expertiseforschung erweitert, indem beispielsweise auf
     motivationale Aspekte, Aspekte der Selbstwirksamkeit und auf die Expertise in
     Gruppen eingegangen wird.
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2. Gegenstand der Expertiseforschung

Als Expertin bzw. Experten bezeichnet man eine Person, die dauerhaft, also nicht
zufällig und nicht nur ein einziges Mal, herausragende Leistungen erbringt (Posner,
1988). Auf den Sport übertragen bezieht sich dieser Begriff auf Personen, die „auf
Basis langer Übungs- und Trainingsprozesse in ihrer Sportart, besondere, überdurch-
schnittliche Leistungen erzielen“ (Munzert, 1995, S. 123). Diese Definition folgt
einer differenzialpsychologischen Betrachtungsweise, bei der die Leistung einer Per-
son in Relation zu einer Bezugsgruppe betrachtet wird.
   Bei der deskriptiven Betrachtung dieser Personen kann  über verschiedene Do-
mänen hinweg  ein wesentliches Merkmal von Expertinnen- und Expertenleistun-
gen immer wieder gefunden werden: Die langfristige und systematische Beschäfti-
gung mit dem Gegenstand. Durch diverse retrospektive Befragungen konnte ermittelt
werden, dass mindestens 10 Jahre oder 10.000 Trainingsstunden notwendig sind, um
nationale oder internationale Spitzenleistungen zu vollbringen. Dieser Zeitraum wur-
de schon von Simon und Chase (1973) für das Erreichen des Niveaus eines Groß-
meisters im Schach geschätzt: “There appears not to be on record any case (inluding
Bobby Fischer) where a person has reached grandmaster level with less than about a
decade’s intense preoccupation with the game. We would estimate, very roughly,
that a master has spent perhaps 10,000 to 50,000 hours staring at chess positions, and
a Class A player 1,000 to 5,000 hours” (S. 402). Die enorme Bedeutung der
Übungszeit für das Erreichen von Spitzenleistungen konnte auch im Sport mehrfach
bestätigt werden (z. B. Helsen, Starkes & Hodges, 1998; Starkes, Deakin, Allard,
Hodges & Hayes, 1996).
   Das alleinige Wissen über die notwendige Übungsdauer ist unbefriedigend und
unzureichend, wenn menschliche Höchstleistungen erklärt werden sollen. Dies macht
die Faszination der Expertiseforschung auch nicht aus. Das eigentliche Ziel der Ex-
pertiseforschung ist es vielmehr zu ermitteln, wie sich Personen an die Anforderun-
gen der jeweiligen Sportarten anpassen bzw. welche Mechanismen bei diesen
Übungsprozessen erworben werden.

3. Entwicklungslinien der Expertiseforschung

Die Doktorarbeit des Holländers Adriaan de Groot wird oft als Ausgangspunkt der
Expertiseforschung genannt. De Groot (1965) untersuchte in der Zeit von 1938 bis
1943 unterschiedlich qualifizierte Schachspieler. In einigen quantitativen Maßen des
Problemlöseprozesses (Anzahl der durchdachten Züge, Geschwindigkeit der Suche)
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unterscheiden sich Schachgroßmeister nicht wesentlich von Durchschnittsspielern.
Unterschiede konnte de Groot in einer Aufgabe finden, bei denen die Schachspieler
unbekannte Schachpositionen nach einer kurzen Präsentation von wenigen Sekunden
nachstellen mussten. Hier zeigt sich, dass nur die Schachgroßmeister in der Lage
waren, die Schachkonstellationen nahezu perfekt wiederzugeben.
   Simon und Chase (1973) entwickelten diese Aufgabe weiter und führten eine
zusätzliche Bedingung ein. Die Schachspieler mussten Konstellationen nachstellen,
bei denen die Schachfiguren zufällig auf dem Schachbrett verteilt worden sind. Hier
zeigt sich, dass die Schachexperten nur einen Vorteil hatten, wenn tatsächlich ge-
spielte Schachkonstellationen präsentiert worden waren. Simon und Chase (1973)
entwickeln vor dem Hintergrund des Informationsverarbeitungsparadigmas und der
begrenzten Kapazität des Kurzzeitgedächtnisses eine Expertisetheorie, die die her-
ausragenden Leistungen im Schach mit einer umfangreichen Wissensbasis im Lang-
zeitgedächtnis erklärt. Dabei sind die bedeutungshaltigen Informationen (Schach-
konstellationen) als Chunks im Langzeitgedächtnis gespeichert. Sie konnten zeigen,
dass herausragende Schachspieler mehr Informationen (Schachfiguren) in einem
Chunk enkodieren können.
   Herausragende Gedächtnisleistungen sind auch Gegenstand der Skilled Memory-
Theory von Chase und Ericsson (1981). Sie waren daran interessiert, wie sich das
herausragende Gedächtnis von Expertinnen und Experten entwickelt und wie Exper-
tinnen und Experten diese Gedächtnisstrukturen nutzen. Um dies zu erreichen, führ-
ten sie langfristige Trainingsstudien durch. Sie konnten beispielsweise bei einem
Probanden (S. F.) zeigen, der über 2 Jahre und 250 Stunden das Wiedergeben von
zufälligen Zahlenabfolgen trainierte, dass es für eine durchschnittliche Person
möglich ist, bis zu 80 Ziffern zu memorisieren (bei 1 Ziffer pro Sekunde). Chase und
Ericsson (1981) konnten so demonstrieren, dass durch bedeutungshaltige Strukturie-
rung und Entwicklung einer hierarchischen Abrufstruktur die Grenzen des Arbeits-
speichers deutlich überwunden werden können.
   Ericsson und Smith (1991a) kritisieren diese Einschränkung auf rein wissenspsy-
chologische Mechanismen und entwickeln ein deskriptives und induktives Rahmen-
konzept, mit dem die zugrunde liegenden Mechanismen der Expertinnen und Ex-
perten in unterschiedlichen Domänen ermittelt werden können. Mit diesem Rahmen-
konzept  dem Expert-Performance-Approach  sollen die unterschiedlichen kogni-
tiven, aber auch physiologischen Mechanismen bestimmt werden. Zur Analyse von
Expertenleistungen schlagen Ericsson und Smith (1991a) drei Phasen vor. Zuerst
sollen repräsentative Aufgaben unter Laborbedingungen entwickelt werden, die die
wesentliche Komponente der Expertenleistung erfassen. Dadurch sollen dann in ei-
ner zweiten Phase die zugrunde liegenden erworbenen Mechanismen identifiziert
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werden, die die Expertenleistung in der Laboraufgabe bestimmen. In der letzten
Phase sollen dann die Tätigkeiten und Trainingsformen ermittelt werden, die zur An-
eignung und Entwicklung dieser Mechanismen führen.
   Dieser Ansatz wurde in der letzten Zeit verstärkt diskutiert und beispielsweise von
Williams und Ericsson (2005) auf die Ermittlung von perzeptiv-kognitiven Mecha-
nismen zur Erklärung von Höchstleistungen übertragen. Trotz der weiten Verbrei-
tung gibt es auch Kritik an dem Expert-Performance-Approach und dem assoziierten
Konzept des deliberate practice (z. B. Abernethy, Farrow & Berry, 2003). Bei dieser
Kritik geht es im Wesentlichen um eine zu starke Ausrichtung auf kognitive
Komponenten und die Vernachlässigung von genetischen Faktoren für das Erreichen
von sportlicher Höchstleistung.

4. Das Konzept des deliberate practice

    Die Frage, ob die herausragenden Leistungen das Produkt von genetischen Dispo-
sitionen oder umweltbedingten Einflüssen sind, wurde schon immer kontrovers
diskutiert und wird wohl auch in Zukunft kontrovers diskutiert werden (z. B. Howe,
Davidson & Sloboda, 1998). Nach der Vorstellung von Ericsson, Krampe und Tesch-
Römer (1993) sind herausragende menschliche Leistungen das Produkt von
umfangreichen langjährigen Übungsprozessen und Dispositionen bzw. Talent besit-
zen so gut wie keine Bedeutung. Diese Position stellt eine Extremposition bei der
Erklärung von Expertenleistungen dar und wird deshalb häufig kritisiert (vgl. Aber-
nethy, Farrow & Berry, 2003; Singer, 1999). Die Annahmen von Ericsson et al.
(1993) basieren auf retrospektiven Untersuchungen an Musikern (Violinisten und
Klavierspieler). Bei der Analyse konnten sie eine bestimmte Art der Übung identifi-
zieren, die im direkten Verhältnis zum erreichten Leistungsniveau steht (deliberate
practice oder zielorientiertes Training).
    Deliberate practice zeichnet sich durch folgende Eigenschaften aus: 1) es soll zur
Leistungssteigerung eingesetzt werden, 2) es ist für die jeweilige Domäne relevant,
3) es muss mit einem bestimmten Einsatz durchgeführt werden und 4) es ist im We-
sentlichen nicht angenehm (Abernethy, Farrow & Berry, 2003). Im Sport wurde die-
ses Konzept erstmals von Starkes, Deakin, Allard, Hodges und Hayes (1996) über-
prüft (vgl. Ward, Hodges, Williams & Starkes, 2004). Sie konnten zwar auch die 10-
Jahres Regel bestätigen (nicht aber die 10.000 Stunden Regel), aber fanden keinen
Hinweis, dass die relevante Übung alleine durchgeführt und als nicht angenehm
(„inherently enjoyable“) bezeichnet werden muss. Auch Helsen, Starkes und Hodges
(1998) konnte in den Mannschaftssportarten Fußball und Feldhockey zeigen, dass die
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Athletinnen und Athleten mindestens 10 Jahre aktiv trainiert haben müssen, um nati-
onales bzw. internationales Leistungsniveau zu erreichen. In diesen Untersuchungen
konnte aber auch gezeigt werden, dass der tatsächlich notwendige Zeitumfang (Stun-
denanzahl) als auch die Art der förderlichen Übung stark von der jeweiligen Sportart
abhängt und unabhängig vom empfundenen Vergnügen ist (vgl. auch Deakin &
Cobley, 2003; Ward, Hodges, Williams & Starkes, 2004).

5. Aktuelle Entwicklungen und die Konzeption des Buches

Neben den theoretischen Implikationen inspirierten die Studien von Ericsson auch
andere Forscherinnen und Forscher, die retrospektive Methode anzuwenden und sich
mit der sportlichen Vergangenheit von Hochleistungssportlerinnen und -sportlern zu
beschäftigen. Durch dieses methodische Vorgehen ist es möglich, Bedingungen und
sportspezifische Übungsformen zu identifizieren, die mit sportmotorischen Spitzen-
leistungen in Verbindung stehen (Côté, Ericsson & Law, 2005). Es könnte beispiels-
weise genutzt werden, um Fragen nach der besten Förderung in unterschiedlichen
Altersklassen zu untersuchen. So würde die Theorie des deliberate practice durch
den monotonen Zusammenhang zwischen dieser Form des Trainings und dem Leis-
tungsniveau eine frühe Spezialisierung nahe legen. Dagegen spricht die häufig prak-
tizierte breite Grundausbildung in vielen Sportarten. Auch zeigen einige retrospek-
tive Untersuchungen, dass zumindest in den Spielsportarten Erfahrung in verschie-
denen Sportarten (Baker, Côté & Abernethy, 2003) und ein „deliberate play“ zu
Beginn der sportlichen Karriere (Côté, 1999) leistungsfördernde Effekte hat.
    Neben retrospektiven Methoden dominieren weiterhin Experten-Novizen-Studien
mit einer kognitiven Ausrichtung die Forschungsaktivitäten der Expertiseforschung.
Hierbei wird zurzeit verstärkt versucht, ökologisch valide Testsituationen zu entwi-
ckeln, um dabei möglichst online die zugrunde liegenden Mechanismen der Exper-
tenleistung zu bestimmen. Für den perzeptiv-kognitiven Bereich beschreiben Willi-
ams und Ericsson (2005) fünf Methoden, mit denen man detailliert die Mechanismen
der sportlichen Expertise bestimmen kann: a) Blickbewegungsregistrierungen, b)
Verschließungstechniken des Stimulusmaterials (und Reduktion auf point-light dis-
plays), c) biomechanische Analysen des Stimulusmaterials, d) psychophysische Mes-
sungen (EEG, ERP) und e) Interviewtechniken.
    Die sehr kognitive Ausrichtung dieses Forschungsbereichs wird seit einiger Zeit
ergänzt durch Berücksichtigung weiterer psychischer Faktoren, die einen Beitrag zur
Erklärung von sportlichen Höchstleistungen versprechen. Hierzu zählen insbeson-
dere die Konstrukte Emotionen, Motivation und Selbstwirksamkeit. Dieses Buch
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greift genau diese Trends auf und versucht einen breiten Überblick über die theoreti-
schen Konzepte und empirischen Befunde der zugrunde liegenden Mechanismen von
Expertinnen und Experten im Sport zu vermitteln.
   Zu Beginn des Buches kommt eine der einflussreichsten Persönlichkeiten zu
Wort, die durch seine Arbeiten die Forschungsaktivitäten der Expertiseforschung
erheblich geprägt hat: K. Anders Ericsson. Er beschreibt zusammen mit Norbert Ha-
gemann den Expert-Performance-Approach und wie er zur Analyse von sportlichen
Höchstleistungen genutzt werden kann. Außerdem wird ausführlich auf das Konzept
des deliberate practice eingegangen. Hier wird die Position vertreten, dass
außergewöhnliche Leistungen nicht durch angeborene Eigenschaften erzielt werden,
sondern wesentlich durch komplexe kognitive Mechanismen vermittelt werden, die
über einen langen Zeitraum erworben werden.
   Dieses Argument diskutieren Christopher M. Janelle, Stephen A. Coombes, Ro-
bert N. Singer und Aaron R. Duley kritisch und thematisieren den Zusammenhang
zwischen Übung/Umwelt und genetische Disposition/Talent für die Entwicklung von
sportlichen Spitzenleistungen. Hier werden die Befunde zusammengetragen, die
Hinweise auf den Einfluss von genetischer Veranlagung geben. Es wird die Position
vertreten, dass je günstiger die genetische Veranlagung ist, desto eher wird enga-
giertes und zielorientiertes Training einer Sportlerin bzw. einem Sportler dazu ver-
helfen, Spitzenleistungen zu vollbringen.
   Damian Farrow und Bruce Abernethy geben einen umfassenden Überblick über
die Merkmale einer Wahrnehmungsexpertise. Insbesondere in den Sportspielen müs-
sen viele visuelle Informationen in kürzester Zeit verarbeitet werden. Sie zeigen auf,
welche Methoden für die Analyse der Informationsaufnahme zur Verfügung stehen
und wie die Informationen für ein Wahrnehmungstraining genutzt werden können.
   In vielen Sportarten werden von den beteiligten Personen (Athletinnen und Ath-
leten, Trainerinnen und Trainer, Schiedsrichterinnen und Schiedsrichter) kontinuier-
lich Entscheidungen getroffen. Dabei treffen Expertinnen und Experten meistens die
besseren Entscheidungen. Markus Raab und Torsten Reimer verbinden elegant die
zwei bisher recht unverbundenen Forschungsstränge der sportlichen Expertisefor-
schung und der sportlichen Entscheidungsforschung. Sie gehen dabei auf die Unter-
scheidung von intuitiven und deliberativen Entscheidungsprozessen ein und versu-
chen daraus eine Perspektive aufzuzeigen, wie die Akzentuierung eines Entschei-
dungstrainings den Weg zum Experten oder zur Expertin möglicherweise beschleu-
nigen kann.
   Gershon Tenenbaum und David N. Sacks bringen einen weiteren wichtigen Faktor
in die Diskussion um sportliche Spitzenleistungen ein. Die effektive Regulation der
Intensität und Art der Emotionen scheint eine weitere Schlüsselvariable für sportli-
14                                  Norbert Hagemann, Maike Tietjens und Bernd Strauß

che Spitzenleistungen zu sein. Sie präsentieren eine Übersicht über die gängigsten
Konzepte und Theorien über Emotionen und Leistungen im Sport und diskutieren die
Frage, wie Emotionen die Athletinnen und Athleten im Training und im Wettkampf
beeinflussen.
    Ein weiterer wichtiger Faktor für die Entstehung einer Expertise wird im nächsten
Kapitel behandelt. Gerade vor dem Hintergrund der notwendigen Übungsdauer für
das Erreichen von internationalen Spitzenleistungen stellt sich die Frage, wie es die
Athletinnen und Athleten schaffen, das Training über diesen langen Zeitraum auf-
recht zu erhalten. Jürgen Beckmann und Anne-Marie Elbe diskutieren ausführlich die
Bedeutung der Motivation. Sie stellen heraus, dass insbesondere die sportspezifische
Leistungsmotivation, die Handlungskontrolle und volitionale Fertigkeiten für das
Erreichen von Spitzenleistungen bedeutsam sind.
    In dem nächsten Kapitel geben Sian L. Beilock und Deborah L. Feltz einen de-
taillierten Überblick über die Theorie zur Selbstwirksamkeit und diskutieren Unter-
schiede in den Selbstwirksamkeitsüberzeugungen von Experten und Nicht-Experten.
Hierbei zeigt sich die enorme Bedeutung der Selbstwirksamkeit bzw. der Glaube
einer Person daran, eine bestimmte Aufgabe erfolgreich bewältigen zu können, für
hervorragende Leistungen im Sport.
    Der Großteil der Expertiseforschung konzentriert sich auf die Expertise von Indi-
vidualsportlerinnen und -sportler. Albert V. Carron, Steven R. Bray und Mark A. Eys
unternehmen den Versuch, die grundlegenden Charakteristika von Gruppenexpertise
in Sportmannschaften umfassend zu beschreiben. Sie diskutieren fünf wesentliche
Komponenten, die einen möglichen Erklärungswert für Spitzenleistungen von
Sportmannschaften haben: die Stabilität der Mannschaftszusammensetzung, die Ko-
häsion, die kollektive Wirksamkeit, die Rollenwirksamkeit und das effektive Coa-
ching.
    Für das Erlangen einer sportlichen Expertise müssen unzweifelhaft motorische
Lernprozesse stattfinden. Zwar wird in der Expertiseforschung die Bedeutung von
umfangreichen Übungsprozessen immer wieder betont, aber es existieren kaum Un-
tersuchungen aus dem Expertisebereich, die die effektiven Übungsbedingungen ge-
nauer analysieren. Jörn Munzert und Heiko Maurer widmen sich dieser Aufgabe und
geben einen umfassenden Überblick der theoretischen Modellvorstellungen und über
die empirischen Befunde über die Merkmale von erfolgreichen motorischen Lern-
prozessen. Dabei gehen sie insbesondere auf das Vermitteln von Sollwert-Vorstel-
lungen (Demonstration), die Gabe von Feedback zur Fehlerkorrektur sowie der Iden-
tifikation wesentlicher Übungsbedingungen ein.
    Mit der gezielten Beeinflussung bestimmter psychischer Prozesse beschäftigt sich
das Kapitel von Michael Kellmann und Heiner Langenkamp. Sie geben einen Über-
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blick über die wichtigsten psychologischen Trainingsformen, mit denen Informati-
onsverarbeitungsprozesse und Handlungsabläufe optimiert werden können. Psycho-
logisches Training muss gezielt geplant und in den individuellen Trainingsplan integ-
riert werden. Sie gehen dabei intensiv auf Entspannungsverfahren, Vorstellungsre-
gulation und Selbstgesprächsregulation ein.
   Den Abschluss des Buches bildet der Beitrag von Dorothee Alfermann. Sportliche
Spitzenleistungen können auf höchstem Niveau allgemein nur über einen begrenzten
Zeitraum aufrechterhalten werden. Dorothee Alfermann stellt sich die Frage, was
nach der aktiven Wettkampfzeit folgt und inwieweit Sportlerinnen und Sportler ihre
erlangte Expertise für die Zeit nach dem Leistungssport nutzen können. Sie stellt
heraus, dass eine rechtzeitige Planung des Karriereendes zu einem vergleichsweise
sanften und problemlosen Karriereübergang führen kann.

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