Forum für soziale Psychiatrie 2 - 4 November - Kerbe - Forum für soziale Psychiatrie

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Forum für soziale Psychiatrie 2 - 4 November - Kerbe - Forum für soziale Psychiatrie
ISSN 07245165

Kerbe
           Forum für
                                              4
                                                  2015   November
                                                         Dezember

           soziale Psychiatrie                           Januar
                                                         33. Jahrgang

THEMENSCHWERPUNKT

Auf dem Weg zu einem    Die Reform der        Ziele, Hoffnungen und
Bundesteilhabegesetz?   Eingliederungshilfe   Problemfelder
Forum für soziale Psychiatrie 2 - 4 November - Kerbe - Forum für soziale Psychiatrie
I N H A LT K E R B E 4 | 20 15

    3 Editorial

    4		Themenschwerpunkt

        Das Gesetzgebungsverfahren               Was wird aus den Heimen,
      zum Bundesteilhabegesetz                wenn die „Eingliederungshilfe-
      Überblick und Positionierungen.         neu“ kommt?
      Michael Conty, Seite 4                  Lothar Flemming, Seite 31

         Für ein gutes Bundesteilhabe-           Mehr Chancen auf dem
      gesetz                                  Arbeitsmarkt?
      Die Perspektive der Behinderten-        Manfred Becker, Seite 35
      verbände.
      Ottmar Miles-Paul, Seite 9                 Teilhabe am Arbeitsleben
                                              Erfahrungen aus Werkstätten für
         Die Bedeutung der UN-BRK             Menschen mit Behinderung.
      für ein künftiges Bundesteil-           Kerstin Scheinert, Seite 38
      habegesetz.
      Axel Willenberg, Seite 12                  Eingliederungshilfe im
                                              gegliederten System der
         Verfahren der Teilhabeplanung        sozialen Sicherung
      und ein verändertes Verständnis         Wolfgang Faulbaum-Decke,
      von Behinderung                         Reinhold Hohage, Seite 40
      Welche Anforderungen gibt es
      an Bedarfsermittlungsverfahren?            Der neue Pflegebedürftigkeits-
      Petra Gromann, Seite 14                 begriff und die Eingliederungs-
                                              hilfe
         Sozialraum und Personen-             Integrierte Lösungen oder getrennte
      orientierung – (wie) geht das           Entwicklungsstränge?
2     zusammen?                               Klaus Wingenfeld, Seite 44
      Zur Funktionsbestimmung von
      Sozialraumbudgets.                    47 Spectrum
      Frank Früchtel, Seite 18
                                                 Irrwege der psychiatrischen
         Budgets als geeignete                Versorgung und Perspektiven ei-
      Form einer bedarfsgerechten             ner unkonventionellen Psychiatrie
      Leistungsfinanzierung?                  Bruno Hildenbrand, Seite 47
      Wolfgang Bayer, Seite 22
                                            51 Zur Diskussion
         Persönliche Assistenz auf der
      Grundlage eines Persönlichen               Inklusion für Menschen mit
      Budgets                                 psychischen Beeinträchtigungen
      Erfahrungen eines Genesungs-            Eine Neuauflage der Gemeindepsy-
      begleiters.                             chiatrie?
      Werner Walter, Seite 25                 Suitbert Cechura, Seite 51

         Leistungserbringungs- und          54 Nachrichten
      Vertragsrecht im Prozess der
      Reform.                               55 Termine
      Ruth Coester, Seite 27

      Titelfoto: Karl-Heinz Laube/pixelio
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EDITORIAL

Liebe Leserin,                              dazu beitragen, eines der wichtigsten
lieber Leser,                               Reformvorhaben seit der Psychiatrie-
                                            Enquête verständlich und diskutierbar
seit vielen Jahren wird die gesamte         zu machen.
Diskussion um die Weiterentwicklung
der psychiatrischen Versorgung beglei-      Michael Conty gibt zunächst einen
tet von diesem Unsicherheitsfaktor:         Gesamtüberblick über den Stand des
Was wird aus der Eingliederungshilfe?       Gesetzgebungsverfahrens zum Bun-
Einerseits sind damit weit reichende        desteilhabegesetz und die wichtigsten
Hoffnungen verbunden: Es könnten die        Positionierungen in diesem Prozess.
Lernerfahrungen aus mittlerweile reich-     Ottmar Miles-Paul berichtet über die
lich 20 Jahren Umsetzungserprobung          Positionierung der Behindertenverbände
personenzentrierter Unterstützungs-         in dem Beteiligungsprozess, den das
formen endlich auch in der Umgestal-        zuständige Ministerium Mitte 2015 ab-
tung von gesetzlichen Strukturen und        geschlossen hat. Die Beiträge von Axel
Prozessen ihren Niederschlag finden.        Willenberg und Petra Gromann behan-
Und es könnte vielleicht auch gelingen,     deln grundlegende Bezugspunkte jeder
durch eine deutlichere Unterscheidung       Reform, nämlich die Herausforderungen,
von Fachmaßnahme und allem, was mit         die sich aus der UN-Behindertenrechts-
Wohnen und Lebensunterhalt zu tun           konvention und aus der Neufassung des
hat, die Eingliederungshilfe aus der Lo-    Behinderungsbegriffs ergeben. Frank
gik der Sozialhilfe herauszulösen – seit    Früchtel und Wolfgang Bayer befassen
den Tagen der Psychiatrie-Enquête steht     sich mit der Frage, wie Budgetbildungen
das Diktum von Hans-Peter Kitzig im         zu einer flexibleren und bedarfsgerech-
Raum, dass es Rehabilitation in der Psy-    teren Steuerung von Unterstützungsleis-
chiatrie nur um den Preis des Gelöbnis-     tungen führen können; Werner Walter
ses ewiger Armut gibt. Andererseits ste-    kommentiert die Bedeutung des Persön-
hen vielfältige Befürchtungen im Raum,      lichen Budgets aus der Perspektive eines
die Reform könnte angesichts der konti-     Genesungsbegleiters. Lothar Flemming
nuierlichen Steigerung der öffentlichen     stellt die Frage nach den Auswirkun-       3
Ausgaben in der Eingliederungshilfe         gen der beabsichtigten Trennung von
lediglich ein Anlass für ein groß ange-     Fachleistungen und existenzsichernden
legtes Kostendämpfungsprogramm sein         Leistungen auf die Heime. Manfred Be-
– es ist nicht zu verkennen, dass sich      cker sichtet zum Themenbereich Arbeit,
eine starke Triebkraft für die Reform in    welche Aufgaben hier anstehen, Kerstin
der Politik genau aus solchen Motiven       Scheinert ergänzt das aus der Perspek-
speist. Dabei leisten wir uns gerade in     tive einer Werkstatt-Beschäftigten.
der Eingliederungshilfe seit Jahrzehnten
Strukturen, die allein schon durch die      Ein großes Thema der Reform ist die
Zuständigkeitsspaltung zwischen ört-        Hoffnung auf ein verbessertes Zu-
lichem und überörtlichem Sozialhilfe-       sammenwirken der verschiedenen
träger erheblich kostentreibend gewirkt     Sozialleistungsträger bei der Klärung
haben und die noch längst nicht in          „vorrangiger“ und „nachrangiger“ Leis-
allen Bundesländern überwunden sind.        tungen. Wolfgang Faulbaum-Decke und
Die Eingliederungshilfe darf nicht Spiel-   Reinhold Hohage befassen sich mit der
ball im kommunalen Finanzausgleich          Position der Eingliederungshilfe im so-
bleiben – es ist zu hoffen, dass in die-    genannten „gegliederten System“ und
sem Zusammenhang die Politik endlich        Klaus Wingenfeld behandelt speziell den
ihre Hausaufgaben macht im Sinne der        Überschneidungsbereich von Eingliede-
Schaffung rationaler Strukturen.            rungshilfe und Pflege, in dem einerseits
                                            ein neu gefasster Behinderungsbegriff
Die Beiträge dieses Heftes erläutern        und andererseits ein neu gefasster Pfle-
Hintergründe der anstehenden Re-            gebedürftigkeitsbegriff in ihren Auswir-
form, bereiten Zielperspektiven und         kungen auszuloten sind.
mögliche Konfliktpunkte der Reform
für eine breitere sozialpsychiatrische      Wir hoffen, dass dieses Heft das Ver-
Fachöffentlichkeit auf und diskutieren      ständnis und die kritische Begleitung
sie kritisch unter dem Gesichtspunkt        des bevorstehenden Gesetzgebungspro-
der anzustrebenden Wirkungen, der           zesses unterstützt und wünschen in die-
bestehenden Risiken und der möglichen       sem Sinne eine anregende Lektüre!
Nebenwirkungen auf die sozialpsychi-                           Georg Schulte-Kemna
atrischen Praxisfelder. Das Heft will so                     Johannes Peter Petersen
THEMENSCHWERPUNKT

    Das Gesetzgebungsverfahren zum
    Bundesteilhabegesetz
    Überblick und Positionierungen                                 Von Michael Conty

    D
           as Bundesteilhabegesetz kommt    der einvernehmlich festlegt, dass es in
           – man weiß nur noch nicht        dieser Legislaturperiode ein Bundesteil-                      Michael Conty
           sicher, wie und mit welchen      habegesetz geben wird.                                        Diplom-Psychologe,
    Inhalten im Einzelnen. Auch wenn im-                                                                  Geschäftsführer des
    mer wieder Unkenrufe laut werden und    Ziele und Treiber                                             Stiftungsbereichs Be-
                                                                                                          thel.regional der von
    auch echte Gefährdungen im Prozess                                                                    Bodelschwinghsche
    auftreten: Es gibt einen Koalitions-    Mit dem Bundesteilhabegesetz (BTHG)                           Stiftungen Bethel, Vor-
    vertrag zwischen CDU/CSU und SPD1,      soll das deutsche Recht der Ein-                              standsvertreter des BeB
                                            gliederungshilfe im Licht der UN-                             für den Bundesteilha-
                                                                                                          begesetz-Prozess.
                                            Behindertenrechtskonvention (BRK)
     Aus dem Koalitionsvertrag:             weiterentwickelt werden. Damit folgt
                                            die Regierung ihren internationalen
     „Wir werden ein Bundesleistungs-       Verpflichtungen und einem internati-       nachhaltige Reform und um einen
     gesetz für Menschen mit Behin-         onalen Trend, der sich nachhaltig um       grundsätzlichen Perspektivwechsel von
     derung (Bundesteilhabegesetz)          Menschenrechte, Diskriminierungs-          einem defizitorientierten, im Armen-
     erarbeiten. Mit Inkrafttreten dieses   schutz und den Zusammenhalt von            recht verankerten Fürsorge-Ansatz
     Gesetzes wird der Bund zu einer        Gesellschaften dreht. Dieser Trend         zu einem nachteilsausgleichenden,
     Entlastung der Kommunen bei            steht natürlich international wie nati-    personenzentrierten Leistungssystem.
4    der Eingliederungshilfe beitragen.     onal in einer permanenten Spannung         Menschen mit Behinderung oder psy-
     Dabei werden wir die Neuorgani-        zu anderen Trends wie weiterer Öko-        chischer Erkrankung sollen nicht mehr
     sation der Ausgestaltung der Teil-     nomisierung und Globalisierung. Mit        Objekt von Fürsorge sein, sondern ihr
     habe zugunsten der Menschen mit        der BRK ist ein wesentlicher Treiber       Leben mit der notwendigen Unterstüt-
     Behinderung so regeln, dass keine      der Reform identifiziert. Gleichzeitig     zung selbstbestimmt gestalten.
     neue Ausgabendynamik entsteht.“2       geht es um einen finanziellen Las-
                                            tenausgleich zwischen Bund, Ländern        Beteiligung und Zeitplan
     „Wir wollen die Menschen, die          und Kommunen. Verknüpft mit dem
     aufgrund einer wesentlichen Be-        Abschluss der Teilhabegesetzgebung         Ein öffentlich nachvollziehbares, trans-
     hinderung nur eingeschränkte           sollen jährlich fünf Milliarden Euro an    parentes Beteiligungsverfahren, wie es
     Möglichkeiten der Teilhabe am          die Kommunen fließen.                      vom Bundesministerium für Arbeit und
     Leben in der Gemeinschaft haben,                                                  Soziales (BMAS) zum BTHG durch-
     aus dem bisherigen „Fürsorgesys-       Weder die Länder und Sozialhilfeträ-       geführt wird, hat es m. E. noch nicht
     tem“ herausführen und die Einglie-     ger noch die Interessenvertretungen        gegeben. Respekt! Die Interessenvertre-
     derungshilfe zu einem modernen         und Verbände der Menschen mit              tungen und Verbände ebenso wie die
     Teilhaberecht weiterentwickeln.        Behinderung und psychischer Erkran-        Länder, die kommunale Familie und die
     Die Leistungen sollen sich am per-     kung hatten es gegen die Blockade          Sozialleistungsträger sowie wichtige
     sönlichen Bedarf orientieren und       der Bundesregierung in den vergange-       gesellschaftliche Akteure (Arbeitgeber,
     entsprechend einem bundeseinheit-      nen Legislaturperioden vermocht, die       Gewerkschaften) waren von Beginn
     lichen Verfahren personenbezogen       Eingliederungshilfereform auf die po-      einbezogen. Eine „hochrangige Arbeits-
     ermittelt werden. Leistungen sollen    litische Tagesordnung zu heben. Über       gruppe“ hat von Juli 2014 bis April
     nicht länger institutionenzent-        mehrere Jahre hinweg hatte die Kon-        2015 in 9 Sitzungen zu unterschiedli-
     riert, sondern personenzentriert       ferenz der Arbeits- und Sozialminister     chen Fragestellungen in monatlichem
     bereitgestellt werden. Wir werden      hier Impulse gegeben und Hoffnungen        Rhythmus Kernfragen des neuen Rechts
     das Wunsch- und Wahlrecht von          geweckt („ASMK-Prozess“). Parallel         diskutiert. In diesem Prozess konnten
     Menschen mit Behinderungen im          haben die Verbände ihre Anforderun-        die Beteiligten relevante Gesichts-
     Sinne der UN-Behindertenrechts-        gen an eine Reform deutlich gemacht.       punkte einbringen und Vorschläge
     konvention berücksichtigen. Men-       Es ist anzuerkennen, dass die jetzige      machen. Die Themen und die Diskus-
     schen mit Behinderung und ihre         Regierung ihre nationalen und inter-       sionen der AG Bundesteilhabegesetz
     Verbände werden von Anfang an          nationalen Verpflichtungen in diesem       waren jederzeit im Internet nachvoll-
     und kontinuierlich am Gesetzge-        Zusammenhang ernst nimmt und die           ziehbar und der Abschlussbericht zur
     bungsprozess beteiligt.“3              Reform angestoßen hat. Es geht um          ersten Bearbeitungsphase ist seit Som-
                                            ein modernes Teilhaberecht – eine          mer 2015 ebenfalls dort abrufbar.4
Kerbe 4 | 2015 Themenschwerpunkt

Derzeit finden seitens des BMAS noch      bestehende Recht hat die Entwick-          sundheitsproblem als eine Eigenschaft
weitere Konsultationen mit den Län-       lung der Eingliederungshilfen in ihrer     einer Person steht im Mittelpunkt, son-
dern und den Kommunalverbänden            Vielfalt ermöglicht und damit auch         dern ihre Möglichkeit bzw. Hinderung
statt und auch mit den Verbänden der      der Vielfalt der Bedarfslagen unter        durch verschiedene Barrieren an allen
Menschen mit Behinderung gibt es          den jeweilig leitenden Paradigmen          Errungenschaften ihrer Gesellschaft
weiteren Austausch. Gleichzeitig arbei-   zu entsprechen versucht. Wenn heute        nach eigenem Willen teilzuhaben und
tet das BMAS an einem Referentenent-      ernsthaft über Modernisierung des          ein selbstbestimmtes Leben in der Ge-
wurf für das neue Gesetz, der für Ende    Teilhaberechts geredet wird, müssen        meinde aller Bürgerinnen und Bürger
2015 erwartet wird. Nach abschließen-     bislang erfolgreiche und unverzichtbare    zu führen.
der Abstimmung mit den anderen Bun-       Prinzipien fortbestehen. Dazu gehören
desministerien wird der Regierungsent-    das Prinzip der Bedarfsdeckung, die        Selbstkritisch ist zu fragen, inwieweit
wurf voraussichtlich im Frühjahr 2016     Verpflichtung zur Individualisierung       (Fach-)Verbände, Einrichtungen und
dem Bundestag vorgelegt. Spätestens       der Leistungen, die Fixierung der          Mitarbeitende dies bereits wirklich
dann hat vorrangig die Politik und        Wunsch- und Wahlmöglichkeiten der          in ihr Denken aufgenommen haben.
nicht mehr das vorbereitende Minis-       Leistungsberechtigten im Gesetz und        Da wird doch zu gern und unkritisch
terium das Sagen. Getreu dem Grund-       schließlich die Entwicklungsoffenheit      noch vom „Menschen mit seelischer
satz, dass noch kein Gesetzentwurf        und Anpassungsfähigkeit der zukünfti-      Behinderung“ gesprochen (und noch
das Parlament so verlassen hat, wie er    gen Teilhabeleistungen (→ offener Leis-    die beste Ausrede ist: „Das ist doch
hineingegangen ist, ist auch klar, dass   tungskatalog).                             der heutige Gesetzesstand!“), als sei
sich hier weitere Einflussmöglichkeiten                                              die psychische Erkrankung und damit
durch Gespräche mit Politikerinnen        Eine ganz neue Grundlage                   letztlich die Person verantwortlich für
und Politikern und Parteien ergeben.                                                 ihre Behinderungserfahrungen. Dass
Das ist nicht nur eine Aufgabe für        Wie grundsätzlich anders allerdings        Menschen mit psychischen Beeinträch-
Verbandsvertreter im fernen Berlin, das   das neue Recht sein wird, wird ins-        tigungen sich heute einstellungsmäßi-
ist auch eine lokale Aufgabe: Einrich-    besondere daran deutlich, dass der         gen, rechtlichen und materiellen Barri-
tungen und Interessengruppen müssen       „Grundbaustein“, nämlich die Defini-       eren hinsichtlich ihrer Teilhabechancen
das Gespräch mit den Bundestagsab-        tion von Behinderung (und damit auch       gegenübersehen, ist nicht „normal“
geordneten vor Ort suchen. Abhängig       der Zugang zu den neuen Leistungen)        – und es ist nach der BRK Aufgabe der
davon, wie aufwändig die Abstimmung       eine gänzlich neue und einheitliche        Gesellschaft, diese Barrieren (z. B.durch
zwischen Bundestag und den Bundes-        Fassung erfahren wird. An vielen Stel-     persönliche Unterstützung) abzubauen        5
ländern im Bundesrat wird, wird die       len im deutschen (Sozial-)Recht finden     bzw. Nachteilsausgleiche zu schaffen.
endgültige Verabschiedung in der zwei-    sich heute unterschiedliche Fassungen      Wenn Behinderung so verstanden wird,
ten Jahreshälften 2016 erwartet, damit    des Begriffs von Behinderung. Zudem        dann kann eine fortdauernde Psychose
das BTHG 2017 in Kraft treten kann.       ist der derzeitige Behinderungsbegriff     nicht mehr als alleiniges Leistungs-
                                          in der Eingliederungshilfe veraltet und    zugangskriterium gelten. Aber wie
Prinzipientreue                           weitgehend defizitorientiert. „…er de-     werden vorhandene Teilhabeeinschrän-
                                          finiert sich u. a. über die Abweichung     kungen als Wechselwirkung von Barri-
Die Reform des Teilhaberechts ist ein     der individuellen Funktion, Fähigkeit      eren und personenbezogenen Faktoren
ehrgeiziges Vorhaben, das viele Verän-    oder Gesundheit vom für das Lebens-        in subjektiv bedeutsamen Bereichen als
derungen für die Menschen mit Behin-      alter eines Menschen typischen, als        Maß für die notwendigen Unterstüt-
derung, die Sozialleistungsträger und     normal angesehenen Zustand. Er be-         zungsleistungen zukünftig bundesein-
die Dienste und Einrichtungen mit sich    zieht nur unzulänglich gesellschaftliche   heitlich quantifiziert? Diese Frage muss
bringen wird. Fachlich geht es darum,     Veränderungen sowie das gewandelte         im Zuge des Gesetzgebungsverfahrens
die Position der Leistungsberechtigten    Rollenverständnis von Menschen mit         beantwortet werden.
im Unterstützungssystem zu stärken.       Behinderungen ein.“5
Seitens des Bundesverbandes evange-                                                  Der allgemeine Behinderungsbegriff im
lische Behindertenhilfe (BeB) haben       Die bestehenden gesetzlichen Bestim-       SGB IX (und für alle weiteren gesetzli-
wir deshalb dieses Reformbemühen          mungen orientieren sich noch immer         chen Regelungen in Deutschland) muss
stets unterstützt und tun dies auch       am überholten medizinischen Modell         zukünftig der UN-BRK entsprechen
weiterhin, weil auch wir ein moder-       und am Verständnis von Behinderung         und in seiner Operationalisierung an
nes Teilhaberecht wollen, das der BRK     als Krankheitsfolge. Eine zeitgemäße       das Modell der ICF angepasst sein. Er
entspricht, Schwächen der heutigen        Bezugnahme auf die BRK als men-            könnte folgendermaßen kodifiziert wer-
Eingliederungshilfe (insbesondere im      schenrechtliche Grundlage und auf          den: „Menschen mit Behinderungen im
Zusammenspiel mit Leistungen aus an-      die Operationalisierung i. S. des bio-     Sinne dieses Gesetzes sind Menschen,
deren Sozialleistungssystemen) behebt     psycho-sozialen Modells funktionaler       die langfristige körperliche, seelische,
und einen wirklichen Nachteilsaus-        Gesundheit und Behinderung der WHO6        geistige oder Sinnesbeeinträchtigun-
gleich (→ Unabhängigkeit von Einkom-      findet sich bisher nicht. Es sind aber     gen7 haben, welche sie in Wechselwir-
men und Vermögen) zur Grundlage hat.      die Einschränkungen der Teilhabe und       kung mit einstellungs- und umwelt-
                                          Begrenzungen des Einbezogenseins           bedingten Barrieren an der gleichbe-
Dabei ist das Recht der Eingliederungs-   in relevante Lebenssituationen bzw.        rechtigten Teilhabe an der Gesellschaft
hilfe ja nicht schlecht, aber eben im     Lebensbereiche, die eine Behinderung       hindern können. Als langfristig gilt
Lichte der BRK reformbedürftig. Das       ausmachen. Nicht das individuelle Ge-      ein Zeitraum, der mit hoher Wahr-
Kerbe 4 | 2015 Them enschwerpunkt

    scheinlichkeit länger als sechs Monate     heitliches Verfahren mit Rechts- und       dersetzung zwischen Bund (zukünftig
    andauert.“ Aber es ist eine zweite, prä-   Unterstützungssicherheit für die Leis-     zuständig für die Grundsicherung) und
    zisierende Stufe notwendig, die klärt,     tungsberechtigten und um eine wis-         Ländern/Teilhabeleistungsträger (zu-
    wer zukünftig Zugang zu den Leis-          senschaftlich fundierte Konvergenz der     künftig zuständig für die Teilhabeleis-
    tungen zur Teilhabe haben soll. Heute      verwendeten Instrumente hinsichtlich       tungen). Sichergestellt werden müssen
    ist das die Frage, ob eine „wesentliche    einer konsequenten Orientierung an         • die Ermittlung und Feststellung des
    Behinderung“ vorliegt oder droht.          BRK und ICF.                               gesamten individuellen Bedarfs inklu-
                                                                                          sive aller behinderungsbedingten Auf-
    Der zukünftig leistungsberechtigte Per-    Das Verfahren zur Feststellung des         wendungen,
    sonenkreis ist gekennzeichnet durch        Unterstützungsbedarfs muss trägerüber-     • eine rechtssichere Zuordnung von
    das Erfordernis eines personellen/tech-    greifend unter Einschluss der existenz-    Bedarfen nach Existenzsicherung und
    nischen Unterstützungsbedarfs in sub-      sichernden Leistungen alle im Einzelfall   Teilhabe,
    jektiv relevanten Aktivitäts- und Teil-    notwendigen Leistungen ermitteln. Ins-     • die Verhinderung von Leistungslü-
    habebereichen8. Und hier gibt es einen     besondere in dieser kritischen Phase der   cken (dies gilt insbesondere für behin-
    ernsthaften Konfliktpunkt: Während         Hilfebedarfsermittlung und -feststellung   derungsspezifische Mehraufwendungen
    die Fachverbände die Berücksichtigung      und der Leistungsbescheidung zur per-      im Bereich der existenzsichernden Leis-
    aller ICF-Aktivitäts- und Teilhabereiche   sonenzentrierten Leistungsgestaltung       tungen, die weiterhin bedarfsdeckend
    fordern, gibt es Stimmen, die z. B.„Ler-   müssen Menschen mit Behinderung            erbracht werden müssen) und
    nen und Wissensanwendung“ nur für          eine nur ihren Interessen verpflichtete,   • die Finanzierung der gesamten be-
    Kinder und Jugendliche einbeziehen         parteiliche Beratung, Begleitung und       hinderungsbedingten Aufwendungen
    wollen und „Allgemeine Aufgaben und        Unterstützung in Anspruch nehmen           bei betreuten Wohnformen (inklusive
    Anforderungen“, „Kommunikation“,           können, die aufsuchende Hilfe und per-     Personal-, Sach-, Overhead- und Inves-
    „Interpersonelle Interaktionen und         sönliche Begleitung etwa zu Hilfeplan-     titionskosten der Leistungserbringer).
    Beziehungen“, „Bedeutende Lebensbe-        konferenzen ausdrücklich einschließt.
    reiche“ und „Gemeinschafts-, soziales      Dies ist eine Forderung, die von den       Menschen mit seelischer Behinde-
    und staatsbürgerliches Leben“ bei der      Interessenvertretungs- und Fachverbän-     rung sind typischerweise Mitglieder
    Feststellung der „Wesentlichkeit“ einer    den nachdrücklich erhoben wurde. Dies      der Gesetzlichen Kranken- und der
    Bedarfslage nicht einbeziehen wol-         ist ein Beitrag, die Stellung des Leis-    Sozialen Pflegeversicherung. Gerade
    len. Was dies für psychisch Erkrankte      tungsberechtigten im sozialrechtlichen     diese Leistungen, ebenso wie die zur
6   bedeuten würde, liegt auf der Hand.        Dreieck zu stärken. Es ist mittlerweile    medizinischen Rehabilitation und zur
    Beispielsweise die von ihnen erlebten      nach Äußerungen von Frau Nahles er-        Teilhabe am Arbeitsleben, müssen mit
    spezifischen und häufig nicht sichtba-     kennbar, dass ein Beratungsanspruch        den Leistungen zur Teilhabe reibungs-
    ren kommunikativen Barrieren gerieten      berücksichtigt werden wird.                los ineinandergreifen. Derzeit ist die
    damit aus dem Blick. Wesentliche Pro-                                                 Zugänglichkeit zu diesen Leistungen
    blembereiche der Lebenswirklichkeit        Personenzentrierung und                    im stationären Kontext stark einge-
    blieben beim Zugang und der Zumes-         Leistungen aus einer Hand                  schränkt. Unabhängig vom Ort des
    sung von Leistungen unberücksichtigt.                                                 Aufenthaltes muss der Bezug ambulan-
                                               Ein Schlagwort in der Diskussion um        ter Sachleistungen aus allen Systemen
    Trägerübergreifende Hilfe-                 das BTHG ist „Person(en)zentrierung“.      möglich sein. Derzeit ist allerdings
    bedarfsermittlung und partei-              Dabei verstehen die einen hierunter nur    (noch?) nicht zu erkennen, dass eine
    liche Beratung                             die Trennung der Existenzsicherenden       integrierte Ausgestaltung von Leistun-
                                               Leistungen von den Teilhabeleistun-        gen dieser unterschiedlichen Gesetzbü-
    Es kann nicht sein, dass für den Zu-       gen im stationären Kontext. Das ist        cher im Rahmen eines weiterentwickel-
    gang zu Teilhabeleistungen in Flens-       ohne Zweifel ein wesentlicher Aspekt,      ten Persönlichen Budgets die strengen
    burg ein anderes Verfahren Anwen-          aber nicht alles. Wenn der Einbezug        leistungsrechtlichen Rahmenvorgaben
    dung findet als in München, und dass       insbesondere der Leistungen der Sozi-      personenzentriert überwinden kann.
    in Dortmund andere Maßstäbe gelten         alen Pflegeversicherung (SGB XI) und
    als in Dresden. Es ist bekannt, dass       Krankenversicherung (SGB V) nicht          Dabei ist die sozialleistungsträger-
    bundesweit über 70 Verfahren im Ein-       gelingt, also keine wirkliche personen-    übergreifende Anlage und Gestaltung
    satz sind und im Bereich Teilhabe am       zentrierte Anschlussfähigkeit der unter-   gerade für Menschen mit langfristiger
    Arbeitsleben über 470 Verfahren (BAR-      schiedlichen Systeme entsteht, werden      psychischer Erkrankung von überra-
    Forschungsprojekt) und Instrumente.        Leistungen (wie) aus einer Hand kaum       gender Bedeutung. Aber im Gegenteil,
                                               möglich werden.                            die Abgrenzung der Leistungsberei-
    Die Verbände der Menschen mit Behin-                                                  che wird großgeschrieben, wenn auch
    derung haben gemeinsam ein in den          Die neu entstehende Schnittstelle zwi-     erfreulich ist, dass der vorgesehene
    Augen vieler Fachleute beachtliches        schen Existenzsichernden Leistungen        kategorischen Leistungsausschluss von
    Papier zur zukünftigen bundeseinheit-      (Grundsicherung) und den Teilhabe-         Eingliederungshilfe beziehenden Per-
    lichen Gestaltung eines partizipativen     leistungen für den stationären Kontext     sonen aus dem Regierungsentwurf für
    Verfahrens zur Feststellung des Un-        wird nicht ohne Schwierigkeiten für die    die Pflegereform (zunächst?) wieder
    terstützungsbedarfs und zu den hierzu      über 190.000 Menschen bleiben, die         herausgenommen wurde.
    verwendet Instrumenten vorgelegt9.         heute entsprechende Leistungen bezie-
    Dabei geht es um ein bundesein-            hen. Es gibt jetzt schon eine Auseinan-    Das Sachleistungsprinzip soll auch
Kerbe 4 | 2015 Themenschwerpunkt

weiterhin Grundlage des Leistungsge-      Teilhabeplanung                            zweiten WG-Bewohner teilen kann.
schehens sein. Hierzu zählt auch ein zu                                              Aber schauen wir einmal genauer hin:
einer individuell-personenbezogenen       Wir haben gute Erfahrungen mit einer       „Pooling“ kommt aus dem Bereich der
Komplexleistung weiterentwickeltes        verbindlichen regionalen Teilhabe-         prinzipiell nicht bedarfsdeckenden
Persönliches Budget, das bei entspre-     planung, die alle relevanten lokalen       Teilkasko-Pflegeversicherung. Dort
chend nutzerfreundlicher Gestaltung       Akteure (insbesondere Behinderten-         ist „Pooling“ ein Instrument, bei dem
manche personenzentrierte Lösung          und Psychiatriebeiräte, Menschen mit       durch das Zusammenführen von Leis-
ermöglichen kann. Leistungsberech-        Behinderung und Psychiatrieerfahrene       tungsansprüchen mehrerer Personen
tigten, die bislang im Heimstatus         und ihre Vertretungsorganisationen, lo-    ein „Mehr“ an Leistung für alle entste-
betreut werden, wird also voraus-         kale Politik und Verwaltung, Leistungs-    hen kann. Die Pflegebedürftigen ma-
sichtlich zugemutet werden, sich wie      träger und Dienste und Einrichtungen)      chen in gewisser Weise ein Geschäft.
alle anderen Bürgerinnen und Bürger       einbezieht, das soziale Netz lokal ko-     Im Bereich der Eingliederungshilfe-neu
den Schwächen unseres gegliederten        ordiniert und auf einander abstimmt.       geht es um personenzentrierte, bedarfs-
Sozialleistungssystems zu stellen. Na-    Diese Zusammenarbeit trägt weiter als      deckende Leistungen in jedem Einzel-
türlich geht dies mit dem Erfordernis     einseitige Festlegungen von Sozialleis-    fall. Ob also „gepoolt“ wird und wie
einher, die Zunahme an Schnittstellen     tungsträgern im Sinne einer von ihnen      und ob hier der Sozialleistungsträger
personenzentriert, also in jedem Ein-     geforderten einseitigen Bedarfsplanung,    aus der von ihm so empfundenen „per-
zelfall zu überbrücken und aus den        die dem Verdacht von Rationierungs-        sonenzentrierten Falle“ herauskommt,
Schnittstellen Nahtstellen zu machen,     bemühungen unterliegt. Es ist wider-       ist doch wohl zukünftig mit dem Leis-
indem unter anderem ein zuständiger       sprüchlich „Bedarfe planen“ zu wollen      tungsberechtigten abzustimmen und
Sozialleistungsträger federführend für    – es geht doch um die Sicherung von        kann nicht einseitig vom Leistungsträ-
alle anderen einbezogenen gegenüber       umfassender Teilhabe mit Maßnahmen,        ger entschieden werden.
dem Leistungsberechtigten agiert und      die den je unterschiedlichen individuel-
die Bewilligung und Auskehrung der        len Bedarfslagen entsprechen.              Man kann sich auch auf den Stand-
Leistungen dadurch faktisch aus einer                                                punkt stellen, dass es sich bei dieser
Hand erfolgt.                             Pauschalierung                             Fallgestaltung doch wohl eher um eine
                                                                                     typische fallübergreifende Leistung
Aber auch Diensten und Einrichtungen      Die Sozialhilfeträger plädieren da-        handelt, die den Rahmen der strengen
wird absehbar einiges zugemutet. Na-      für, erweiterte Möglichkeiten für die      Personenzentrierung sprengt. Wenn
türlich werden mit dem Systemwandel       Pauschalierung von Leistungen vor-         der Dienst oder die Wohngruppe fall-      7
bestehende Leistungs- und Vergütungs-     zusehen. Diese Überlegungen sind           übergreifend mit einem Nachtdienst
regelungen im stationären Bereich         nicht grundsätzlich unvernünftig. Alle     ausgestattet wird, würde man dies
abgelöst und alle Grundlagen (Bundes-     Fachleute haben hierzu Vorstellungen       natürlich bei einer sachgerechten Hil-
empfehlungen, Landesrahmenvertrag,        bzw. können diese entwickeln. Aber         febedarfsermittlung als kontextuelle
einrichtungsindividuelle Vergütungen)     es kommt wohl sehr auf die Art und         Umwelteigenschaft bei der Bemessung
neu verhandelt werden müssen. Dabei       Weise an, was und wie pauschaliert         der individuellen Unterstützungsleis-
ist davon auszugehen, dass der Spar-      wird und wer entscheidet, ob eine pau-     tungen berücksichtigen. Leistungen zur
wille bei den Sozialleistungsträgern      schalierte Leistung genutzt wird. Auf      Teilhabe können auch zukünftig nicht
ungebrochen ist.                          jeden Fall kommt zuerst die Bedarfs-       nur fallbezogen und personenorientiert,
                                          feststellung und dann die Beurteilung      sondern auch fallübergreifend sein,
Leben in der Gesellschaft                 durch den Leistungsberechtigten, ob        allerdings bleibt es dem Wunsch- und
                                          ein pauschaliertes Leistungsangebot        Wahlrecht überlassen, wo, wie und mit
Personenzentrierung ist die eine Seite    ausreichend die Bedarfslage deckt. Und     wem Menschen leben wollen. Wie groß
der Münze, auf deren Rückseite Le-        eins muss klar sein: der Leistungsbe-      allerdings bezogen auf diese Praxis-
benswelt- und Sozialraumorientierung      rechtigte muss entscheiden, ob er eine     konstellation die Verführung sein wird,
geprägt ist. Wenn die Leistungen der      Sachleistung, ein Persönliches Budget      aus Wirtschaftlichkeitsgründen gleich
Eingliederungshilfe-neu zukünftig         oder eine pauschalierte Geldleistung       mehrere Menschen mit nächtlichem
Schritt um Schritt nachhaltig perso-      in Anspruch nehmen will - dies kann        Hilfebedarf zusammenzubringen, also
nenzentrierter werden sollen, muss        nicht in der Befugnis des Leistungsträ-    wieder homogenisierte Wohnangebote
im Zuge der Bundesgesetzgebung            gers liegen.                               zu schaffen und Art. 19 BRK („Selbst-
Einvernehmen mit den Bundesländern                                                   bestimmte Lebensführung und Einbe-
und Kommunen hergestellt werden,          Von den Sozialhilfeträgern wird u. a.      ziehung in die Gesellschaft“) hintanzu-
dass verbindliche Regeln geschaffen       „Pooling“ vorgeschlagen. Hier geht         stellen, werden wir sehen...
werden und auch Mittel zur Verfü-         es um die gemeinsame Nutzung von
gung stehen, fallübergreifende und        Betreuungsressourcen durch mehrere         Dienste und Einrichtungen im
fallunabhängige Maßnahmen zur             Leistungsberechtigte. Das ist im Kern      Fokus
Kultivierung der Sozialräume und zur      ein ziemlich „stationärer“ Gedanke. Es
Senkung von Teilhabebarrieren treffen     ist am Beispiel unmittelbar einsichtig,    Im Zuge der Diskussion um das neue
zu können. Ob dies durch die Bun-         dass jemand der in einer gemein-           Teilhaberecht werden von den Sozi-
desebene stimuliert gelingt? Der Wille    schaftsbezogenen Gruppenwohnform           alleistungsträgern neue Kontroll- und
scheint vorhanden, aber es wird wohl      lebt, sich möglicherweise seine nächt-     Sanktionsrechte gefordert, ohne dass
schwer werden.                            liche Unterstützungskraft mit einem        die bislang zu Verfügung stehenden In-
Kerbe 4 | 2015 Them enschwerpunkt

    strumente (→ Prüfungsvereinbarungen)      Zuverdienstmöglicheit – zu platzieren,     Schlussbemerkung
    genutzt worden wären. Es geht hierbei     ist derzeit noch offen. Psychisch er-
    wohl um eine leistungsträgerseitige       krankte Menschen haben ein hohes           Das wesentliche Risiko für diese Re-
    „Aufrüstung“, nicht um eine Verbes-       Risiko, dauerhaft aus der Arbeitswelt      form besteht in der Frage, ob es ge-
    serung der Hilfe. Wie eine einseitige     ausgegrenzt zu werden. Nicht umsonst       lingt, das Zusammenspiel der verschie-
    Kürzung des Einrichtungsentgelts als      steigen die Aufnahmezahlen in die          denen Sozialleistungsträger wirklich
    „minderschwere Maßnahme“ gegen-           WfbM unaufhörlich. Erforderlich ist        verbindlich und personenzentriert zu
    über einer Kündigung bei Vertrags-        deshalb die grundsätzliche Bereitstel-     gestalten und damit die speziellen Lo-
    verstößen zu einer Verbesserung der       lung eines kompetenten Fachdienstes,       giken der einzelnen Sozialleistungssys-
    Leistungen für die Leistungsberech-       der den Prozess der Teilhabeplanung        teme partiell zu überwinden. Das Maß
    tigten führen kann, hat auch noch         im Bereich Arbeit, Ausbildung und          ist nun mal der einzelne Mensch, seine
    niemand erklären können. Dienste und      Umschulung systematisch begleitet          eigenwillige und selbstbestimmte Le-
    Einrichtungen scheuen keine Kontrolle,    und koordiniert. Häufig benötigen          bensgestaltung mit allen Teilhabemög-
    befürchten aber, dass diese Diskussion    psychisch erkrankte Menschen Zeit          lichen und den notwendigen, maßge-
    verdeckt, dass die nicht vorhandene       und eine Orientierungsphase. Dazu ist      schneiderten Unterstützungsleistungen.
    Schiedsstellenfähigkeit der Leistungs-    ein niedrigschwelliges Programm mit        Ich denke, Fortschritt an diesem Punkt
    vereinbarungen und die faktisch vie-      prozessbegleitendem Assessmentver-         wird ein wesentliches Kriterium für
    lerorts nicht vorhandene Einbeziehung     fahren zu konzipieren, in dem die in-      den Erfolg der Reform für Menschen
    tariflicher Vergütungen bei der Ent-      dividuelle Belastungsfähigkeit erprobt     mit Behinderung und ihre Vertrauens-
    geltfestlegung den Dienstleistungsbe-     und wiedergewonnen werden kann,            personen sein – dies gilt auch für die
    reich Teilhabe weiter nachhaltig schä-    sodass schließlich konkrete Schritte zur   evangelische Behindertenhilfe und So-
    digen und absehbar zu einer weiter        Förderung der beruflichen Teilhabe ge-     zialpsychiatrie.
    fortschreitenden Tarifabkehr führen       gangen werden, die nicht zwangsläufig
    werden. Das kann nun wirklich kein        in die WfbM führen.                        Wenn ich bei allen Unwägbarkeiten
    Reformziel sein – zumal für ein sozial-                                              heute, im August 2015, einen Tipp
    demokratisch geführtes Ministerium.       … und das Geld?                            abgeben sollte, was wahrscheinlich
                                                                                         kommt, würde ich sagen:
    Einkommen und Vermögen                    Mit dem erfolgreichen Abschluss der        • Neuer Behinderungsbegriff
                                              Reform verknüpft sind die fünf Bun-        • Einheitliches Verfahren zur Bedarfs-
8   Teilhabeleistungen für Menschen mit       desmilliarden, die jährlich der Entlas-    feststellung mit uneinheitlichen Instru-
    Behinderung müssen als Nachteils-         tung der Kommunen dienen sollen.           menten
    ausgleich zukünftig unabhängig vom        Viele hatten die nachvollziehbare          • Plurale Beratung
    jeweiligen Einkommen und Vermögen         Hoffnung, durch Bindung der Mittel         • Trennung von Existenzsichernden
    erbracht werden. Hiervon unberührt        an die Reform würde mehr Geld ins          Leistungen und Teilhabeleistungen
    bleibt natürlich die Heranziehung         System kommen, der Druck der Sozi-         • Mehr Schnittstellen
    des Einkommens und Vermögens im           alhilfeträger auf die Dienste und Ein-     • Anhebung der Einkommens- und
    Zusammenhang existenzsichernder           richtungen nachlassen und die Qualität     Vermögensgrenzen
    Leistungen (Grundsicherung). Die Dis-     sozialer Dienstleistungen gesichert        • Weiterentwicklungen im Bereich der
    kussion hat ergeben, dass es in diesem    werden. Notwendige neue Leistungen         Teilhabe am Arbeitsleben
    Bereich voraussichtlich erste positive    schienen manchen in Reichweite. Der        • „Nachschärfung“ der Bestimmungen
    Schritte geben wird. Eine vollständige    Koalitionsvertrag sowie die Vertre-        zum Zusammenwirken (SGB IX).
    Aufhebung wird vom Ministerium der-       ter von Ministerien, Ländern und der
    zeit nicht für möglich erachtet.          kommunalen Familie sprechen da
                                              allerdings eine andere Sprache. Gleich-
    Teilhabe am Arbeitsleben                  wohl gehören die reformbedingten           Anmerkungen
                                              neuen Kosten für den Verzicht auf die      1 Zusammenstellung aller einschlägigen
    Es zeichnet sich ab, dass das „Budget     Heranziehung von Einkommen und             Passagen www.teilhabegesetz.org/media/
                                                                                         Ottmars_Dateien/131127_Koalitionsvertr_Zu-
    für Arbeit“ im Sinne des Supported        Vermögen und für den neuen sys-            sammenfassung.pdf
    Employment mit dauerhaftem Min-           tembedingten Beratungs- und Koor-
                                                                                         2 www.bundesregierung.de/Content/DE/_
    derleistungsausgleich bundesweit          dinationsaufwand nicht in den Block        Anlagen/2013/2013-12-17-koalitionsvertrag.
    eingeführt werden wird. Das wäre ein      einer „neuen Kostendynamik durch           pdf?_blp=p S. 94
    echter Gewinn für psychisch erkrankte     Leistungsausweitung“. Erfreulich ist       3 ebenda. S. 110
    Menschen. Auch zielgruppenadäquate        aus Sicht der Ökonomen jedenfalls,         4 http://www.gemeinsam-einfach-machen.
    Nischenarbeitsplätze bei „anderen         dass der Anteil der Eingliederungshil-     de/BRK/DE/StdS/Bundesteilhabegesetz/bun-
    Anbietern“ (d. h. nicht in der WfbM)      fekosten am Sozialbudget zurückgeht        desteilhabegesetz_node.html
    scheinen erreichbar, auch wenn die        und der Anteil an den Gesamtausga-         5 http://www.gemeinsam-einfach-machen.
    Rahmenbedingungen hierfür noch            ben der öffentlichen Hand mittlerweile     de/BRK/DE/StdS/Bundesteilhabegesetz/2_Sit-
                                                                                         zung/2_sitzung_ap_zu_top1.pdf?__
    sorgfältig zu klären sind.                stagniert. Dies und die derzeitige gute
                                                                                         blob=publicationFile am 05.07.2015 , S. 1
                                              wirtschaftliche Situation in Deutsch-
                                                                                         6 http://www.dimdi.de/dynamic/de/klassi/
    Ob es allerdings gelingt, auch die        land müsste den Spielraum für eine         downloadcenter/icf/endfassung/icf_endfas-
    zwingend notwendigen niedrig-             solide Teilhabereform, die ihren Namen     sung-2005-10-01.pdf?action=Ich akzeptiere
    schwelligen Angebote – auch mit           auch verdient, ermöglichen.                am 05.07.2015, S. 23 ff.
Kerbe 4 | 2015 Themenschwerpunkt

7 Beeinträchtigung ist die Auswirkung der auf   und Rechnen); Allgemeine Aufgaben und            (z. B.Eltern-Kind-Beziehungen, Sexual-
einer gesundheitlichen Schädigung beru-         Anforderungen (z. B.tägliche Routine durch-      beziehungen, informelle Beziehungen);
henden Einschränkung einer körperlichen         führen wie Tagesstrukturierung, Umgang           Bedeutende Lebensbereiche (z. B.Erziehung,
Funktion, geistigen Fähigkeit, seelischen       mit Stress); Kommunikation (z. B.Sprechen,       Bildung, Arbeit); Gemeinschafts-, soziales
Gesundheit oder Sinneswahrnehmung im            Hören, Körpersprache); Mobilität (z. B.Körper-   und staatsbürgerliches Leben (z. B.Freizeit,
Wechselverhältnis zu üblichen Anforderungen     position verändern, Gegenstände tragen,          Kultur, Politik).
(in Anlehnung an den Vorschlag des Forums       Gehen und Fortbewegen); Selbstversorgung         9 http://www.diefachverbaende.de/stellung-
behinderter Juristinnen und Juristen).          (z. B.Körperpflege, Toilettenbenutzung, sich     nahmen/
8 Aktivitäts- und Teilhabebereiche nach der     kleiden); [Teilhabe:] Häusliches Leben (z. B.
ICF: [Aktivitäten:] Lernen und Wissensanwen-    Einkaufen, Kochen, Wäsche waschen); Inter-
dung (z. B.elementares Lernen wie Schreiben     personelle Interaktionen und Beziehungen

Für ein gutes Bundesteilhabegesetz
Die Perspektive der Behindertenverbände                                                          Von Ottmar Miles-Paul

      „Für ein gutes Bundesteilhabegesetz“, so lautet der Titel
      einer Kampagne, die von einer Reihe von Behindertenver-                                                         Ottmar Miles-Paul
                                                                                                                      Der Publizist ist seh-
      bänden im Juni 2013 gestartet und mittlerweile von über 40                                                      und hörbehindert und
      Organisationen unterstützt wird. Die Kampagne greift eine                                                       seit 30 Jahren in der
                                                                                                                      Behindertenpolitik
      schon seit über 40 Jahre währende Diskussion um die Re-                                                         engagiert. Koordinator
                                                                                                                      der Kampagne für ein
      form der Eingliederungshilfe auf, die nun in die Zielgerade                                                     gutes Bundesteilhabe-     9
      zu gehen scheint. Für den Herbst dieses Jahres hat das Bun-                                                     gesetz.
      desministerium für Arbeit und Soziales einen Gesetzentwurf
      für ein Bundesteilhabegesetz angekündigt. Dieses soll dann
      vom Deutschen Bundestag und Bundesrat nach den Plänen
      der Regierungskoalition Mitte 2016 verabschiedet werden. So
      könnte das neue Gesetz zum 1. Januar 2017 in Kraft treten.
      Ein Bericht über die Hintergründe und konkreten Baustellen
      bei der anstehenden Gesetzesreform.

D
        ie Bundesregierung wird er-             Regierungskonstellation gerade an der            bringt diese Regelung auch mit sich,
        sucht, bis zum 31. Dezember             Macht war, nicht viel Grundsätzliches            dass ein Teil des Einkommens ange-
        1973 den Entwurf eines Leis-            verändert. Die Eingliederungshilfe für           rechnet wird, wenn man Hilfen in An-
tungsgesetzes für Behinderte vorzule-           behinderte Menschen ist beispiels-               spruch nimmt. Diese Ungerechtigkeit
gen mit der Zielsetzung, das Leistungs-         weise immer noch im Sozialhilferecht             wurde auch vom UN-Fachausschuss
recht für Behinderte aus dem Bundes-            verankert. Dies bedeutet u. a., dass             zur UN-Behindertenrechtskonvention
sozialhilfegesetz herauszunehmen und            behinderte Menschen nach wie vor arm             bei der Staatenprüfung Deutschlands
die vorgesehenen Leistungen unabhän-            gemacht und arm gehalten werden.                 in Sachen Umsetzung der UN-Behin-
gig von Einkommens- und Vermögens-              Denn sie dürfen nicht mehr als 2600              dertenrechtskonvention kritisiert. Sie
verhältnissen der Betroffenen und ihrer         Euro sparen, wenn sie die nötigen                ist einer von mehreren Punkten der
Familien zu gewähren.“ Diesen Antrag            Hilfen in Anspruch nehmen. Darüber               gegenwärtigen Diskussion um das Bun-
hat die Bundestagsfraktion der CDU/             hinaus werden auch ihre PartnerInnen             desteilhabegesetz.
CSU bereits am 11. Mai 1973 in den              in die Haftung genommen, sodass man
Deutschen Bundestag eingebracht. Das            zusammen nur 3.214 Euro ansparen                 Während vonseiten des Bundesminis-
ist schon über 40 Jahre her und zeigt,          darf. Besonders bedrückend ist es für            teriums für Arbeit und Soziales zwar
wie zäh die Diskussion für die Reform           behinderte Menschen, wenn ihre Eltern            erkannt wurde, dass die derzeitige
der Eingliederungshilfe in Deutschland          noch herangezogen werden und ihre                Regelung reformbedürftig ist, gehen
in den letzten Jahrzehnten verlaufen            Einkommens- und Vermögensver-                    die Meinungen über die Art und Weise
ist. Denn bisher hat sich, egal welche          hältnisse offen legen müssen. Zudem              dieser Reform derzeit noch weit aus-
Kerbe 4 | 2015 Them enschwerpunkt

     einander. Ob es am Ende nur eine          Frühjahr 2015 entschieden, eine ver-       Arbeit orientieren, wie es bereits in
     Anhebung der derzeitigen Beträge im       einbarte Entlastung der Kommunen in        Rheinland-Pfalz und Niedersachsen
     Hinblick auf die Anrechnung des Ein-      Größenordnung von fünf Milliarden          seit einigen Jahren praktiziert wird.
     kommens und Vermögens gibt, wie es        Euro nicht, wie ursprünglich geplant,      Grundgedanke ist dabei, dass das
     vom Ministerium derzeit geplant ist       im Bereich der Eingliederungshilfe zu      Geld, das für die Beschäftigung eines
     oder ob es gelingt, eine vollständige     realisieren. Das erschwert                                 behinderten Menschen
     Abschaffung der Anrechnung des Ein-       die politische Diskus-       Umschwung von                 in einer Werkstatt für
     kommens und Vermögens zu erreichen,       sion um eine mögliche        aussondernden                 behinderte Menschen
     dürfte entscheidend von der Lobby         Leistungsausweitung          Systemen hin zu               eingesetzt wird, für
     und den Aktivitäten der verschiedenen     im Bereich der Einglie-      inklusiven Angeboten          eine alternative sozial-
     Akteure abhängen. Constantin Grosch,      derungshilfe natürlich       mitten in der Gemeinde        versicherungspflichtige
     ein Jurastudent aus Hameln hat hierzu     erheblich. Während An-                                     und tarifgebundene
     beispielsweise eine „Petition für ein     bieter von Leistungen für behinderte       Beschäftigung auf dem allgemeinen
     Recht auf Sparen und ein gutes Teil-      Menschen weniger Interesse an einem        Arbeitsmarkt in Form eines langfristi-
     habegesetz“ gestartet, die mittlerweile   Bundesteilhabegeld zeigen, weil dies u.    gen Lohnkostenzuschusses eingesetzt
     von über 185.000 UnterzeichnerInnen       a. einen KundInnenverlust zur Folge        werden kann. Dies könnte einigen
     unterstützt wird1.                        haben könnte, ist diese Diskussion für     behinderten Menschen statt einer Be-
                                               behinderte Menschen nach wie vor           schäftigung in der Werkstatt mit einem
     Grundsätzlich geht es auch um die         sehr wichtig. Die Erfahrungen mit dem      derzeitigen Durchschnittslohn von ca.
     Frage, ob die Regelungen für die Un-      Blindengeld zeigen beispielsweise, wie     185 Euro im Monat und fehlenden
     terstützung behinderter Menschen end- wichtig es ist, einen möglichst unbü-          Arbeitnehmerrechten die Tür für eine
     lich aus der Sozialhilfe herausgelöst     rokratischen Nachteilsausgleich für die    Beschäftigung auf dem allgemeinen
     und im Sozialgesetzbuch IX verankert      behinderungsbedingten Mehraufwen-          Arbeitsmarkt mit einem anständigen
     werden. Hierfür gibt es derzeit einige    dungen und nötigen Hilfen zu haben.        Tariflohn öffnen.
     positive Signale vonsei-                                  Deshalb wird auch ein
     ten des Bundesministeri-     Debatte um das               bundeseinheitliches        In diesem Zusammenhang wird auch
     ums für Arbeit und So-       Bundesteilhabegeld           Blindengeld im Rahmen      diskutiert, dass auch andere Arbeitge-
     ziales, jedoch steht noch                                 des Bundesteilhabege-      ber Angebote für behinderte Menschen
     in den Sternen, wie diese Regelungen      setzes3 gefordert. Die Verbände gehör-     zu den Bedingungen machen können,
10   am Ende genau aussehen und welchen        loser Menschen sind hier ebenfalls sehr die der Beschäftigung in der Werkstatt
     Effekt sie für behinderte Menschen ha-    aktiv.                                     für behinderte Menschen vergleichbar
     ben werden.                                                                          sind. Dies würde zwar nicht unbedingt
                                               Da viele der derzeitigen Regelungen        zu mehr Lohn für die behinderten Be-
     Ein Punkt, an dem sich die Geister der    für behinderte Menschen noch vom           schäftigten, aber zu mehr Inklusion
     verschiedenen Akteure noch erheblich      alten Geist der Aussonderung in Son-       und damit verbunden auch zu mehr
     scheiden, ist das Bundesteilhabegeld,     dereinrichtungen geprägt sind, wird        Chancen auf eine zukünftige tarif-
     das als Nachteilsausgleich eingeführt     ferner gefordert, dass das neue Bun-       gebundene Beschäftigung im Betrieb
     werden könnte. Eine Reihe von Behin-      desteilhabegesetz endlich die Inklusion    bieten. Vereine könnten beispielsweise
     dertenverbänden fordern, dass mit dem in den Mittelpunkt stellt und hierfür          auch ein solches Angebot machen.
     neuen Gesetz ein bedarfsdeckender         entsprechende Regelungen schafft.          Hier wird derzeit jedoch noch disku-
     und bundeseinheitlicher Nachteils-        Die Empfehlungen des UN-Fachaus-           tiert, welche Qualitätskriterien hierfür
     ausgleich in Form eines Bundesteil-       schusses zur UN-Behin-                                     nötig sind, wobei zu
     habegeldes für behinderte Menschen        dertenrechtskonvention       Hilfe am Bedarf und           befürchten ist, dass die
     geschaffen wird, das nicht auf das Ein- sind davon geprägt, dass       den Interessen der            Lobby der Werkstätten
     kommen und Vermögen angerechnet           Deutschland endlich          behinderten Menschen          versucht, diese mög-
     werden darf. Hierfür gab es vonseiten     den Umschwung von            ausrichten                    lichst hoch anzusetzen,
     der Arbeits- und Sozialministerkonfe-     aussondernden Syste-                                       um die Konkurrenz
     renz der Länder einen Vorschlag, der      men wie Sonderschulen, Heimen und          gering zu halten. Unstrittig ist, dass
     vor allem denjenigen zu Gute kommen       Werkstätten für behinderte Menschen        es sowohl beim Budget für Arbeit als
     würde, die bei einem Bundesteilhabe-      hin zu inklusiven Angeboten mitten         auch bei einer vergleichbaren Beschäf-
     geld in Höhe von etwa 660 Euro nicht      in der Gemeinde herbeiführt. Deshalb       tigung außerhalb von Werkstätten ein
     mehr auf ergänzende Hilfen aus der        ist es wichtig, dass im Bundesteilha-      Recht auf Rückkehr in die Werkstatt
     Eingliederungshilfe angewiesen sind.      begesetz verankert wird, dass die Un-      für die Betroffenen geben muss, wenn
     Das Forum behinderter Juristinnen         terstützungsleistungen für behinderte      es auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt
     und Juristen schlägt in seinem Gesetz-    Menschen am Prinzip der Inklusion          nicht klappt. Dies ist m. E. für sich
     entwurf2 für ein Gesetz zur Sozialen      ausgerichtet werden. Alternativen zu       schon ein wichtiges Qualitätskriterium,
     Teilhabe demgegenüber eine Staffelung Werkstätten für behinderte Menschen            das von den Betroffenen selbst gesteu-
     der Beträge und eine Nichtanrechnung      müssen gefördert werden.                   ert werden kann, sodass keine weiteren
     auf andere Leistungen und auf das                                                    bürokratischen Hürden aufgebaut wer-
     Einkommen und Vermögen vor.               Unstrittig scheint dabei mittlerweile      den müssen. Auch hierzu wird es in
                                               die bundesweite Einführung von Re-         den nächsten Monaten sicherlich noch
     Die Bundesregierung hat sich im           gelungen, die sich am Budget für           einige Diskussionen geben.
Kerbe 4 | 2015 Themenschwerpunkt

Die Türen für ein Leben „Daheim           setzes ist daher außerordentlich positiv   und Inklusion für sie ist. Dies gilt vor
statt im Heim“, also mitten in der        zu bewerten, denn behinderte Men-          allem im Prozess der parlamentari-
Gemeinde gezielt zu öffnen, ist eine      schen und ihre Verbände wurden in          schen Beratung, denn am Ende müssen
weitere Herausforderung, an die uns       dieser Legislaturperiode von Anfang        die Bundestagsabgeordneten im Bun-
die UN-Behindertenrechtskonvention        an und konsequent in die Beratun-          destag und die LändervertreterInnen
erinnert. Deshalb haben viele die         gen mit einbezogen. So waren einige        im Bundesrat die Hand für das hof-
Hoffnung, dass mit der Schaffung          Verbände behinderter Menschen und          fentlich gut werdende Gesetz heben.
des Bundesteilhabegesetzes auch die       die Bundesbehindertenbeauftragte gut       Die Chance, dieses Mal wirklich eine
Nutzung Persönlicher Budgets und          einbezogen in der Arbeitsgruppe Bun-       längst überfällige Reform in der Be-
Persönlicher Assistenz                                    desteilhabegesetz, die     hindertenhilfe zu erreichen, muss also
in den unterschiedlichen     Konsequente Betei-           von Juli 2014 bis April    genutzt werden, denn was uns dabei
Bereichen erleichtert und ligung behinderter              2015 fast monatlich        nicht gelingt, könnte dann evtl. wieder
gefördert wird. Unter        Menschen und ihrer           im Bundesministerium       über 40 Jahre dauern, bis es erreicht
dem Stichwort der perso- Verbände im Prozess der          für Arbeit und Soziales    wird.
nenzentrierten Hilfen soll Gesetzgebung                   tagte und die unter-
die Orientierung an den                                   schiedlichen Bereiche
Angeboten und Rahmenbedingungen           einer möglichen Reform intensiv dis-
der Einrichtungen für behinderte Men-     kutierte. Das Forum behinderter Juris-     Anmerkungen
schen überwunden und die Hilfe am         tInnen, das bereits im Mai 2013 einen      1 Informationen zur „Kampagne für ein gutes
Bedarf und den Interessen der behin-      umfassenden Gesetzesentwurf für ein        Bundesteilhabegesetz“ gibt’s im Internet
                                                                                     unter www.teilhabegesetz.org; die Petition
derten Menschen ausgerichtet werden.      Gesetz zur Sozialen Teilhabe formuliert    findet sich hier: http://kampagne.teilhabe-
Dies ist eine große Baustelle, weil es in hatte, wurde ebenfalls immer wieder        gesetz.org
den einzelnen Bundesländern derzeit       in ExpertInnengespräche einbezogen.        2 Link zum Gesetzentwurf des Forums behin-
sehr unterschiedliche Ansätze für eine    Zudem informiert das Bundesministe-        derter Juristinnen und Juristen: http://www.
individuelle Teilhabeplanung und die      rium für Arbeit und Soziales intensiv      teilhabegesetz.org//media//Ottmars_Datei-
Nutzung Persönlicher Budgets gibt.        über die Ergebnisse der Arbeitsgruppe      en/140117_GST.pdf
Spannend dürfte in dieser Diskussion      Bundesteilhabegesetz auf seiner Inter-     3 Link zur Kampagne für ein bundeseinheit-
sein, ob die Interessen behinderter       netseite4.                                 liches Blindengeld:
                                                                                     http://www.dbsv.org/dbsv/aufgaben-und-
Menschen im Gezerre zwischen den                                                     themen/blindengeld/
Interessen der Kostenträger und der       Dass bei der Schaffung des Bundesteil-     4 http://www.gemeinsam-einfach-machen.         11
Leistungserbringer nicht zu kurz kom-     habegesetzes nicht nur Friede, Freude,     de/BRK/DE/StdS/Bundesteilhabegesetz/bun-
men. Deshalb ist es auch hier nötig,      Eierkuchen herrscht, sondern es auch       desteilhabegesetz_node.html
dass sich behinderte Menschen selbst      entscheidend um die Verfolgung viel-
und ihre Verbände in diese nicht un-      fältiger, zum Teil sehr unterschied-
komplizierte Diskussion einklinken.       licher Eigeninteressen verschiedener
Denn wenn wirklich personenzentriert      Akteure geht, wurde im bisherigen
gedacht und unterstützt werden soll,      Prozess jedoch auch deutlich. Die
dann geht das nicht ohne die behin-       Kommunen haben beispielsweise
derten Menschen selbst. Dies gilt es      durchgesetzt, dass die vom Bund ur-
in den weiteren Diskussionen klar zu      sprünglich im Rahmen der Reform der
machen.                                   Eingliederungshilfe versprochenen fünf
                                          Milliarden Euro erst einmal für Investi-
Dieser Ansatz führt auch zu einer         tionen und andere Bereiche eingesetzt
der Kernforderungen für den Gesetz-       werden. Die Betreiber von Einrichtun-
gebungsprozess der Kampagne für           gen und Werkstätten und so manche
ein gutes Bundesteilhabegesetz und        Behindertenverbände, die selbst solche
der Verbände behinderter Menschen:        Einrichtungen betreiben, haben zum
nämlich eine konsequente Beteiligung      Teil ihre eigene Agenda zum Erhalt
behinderter Menschen und ihrer Ver-       ihrer bestehenden Strukturen und da-
bände im Prozess der Gesetzgebung.        mit verbunden ihrer Einnahme- und
Getreu dem mittlerweile auch im Koa-      Einflussquellen. Und die einzelnen
litionsvertrag von CDU, SPD und CSU       Behindertengruppen haben trotz einer
verankerten Motto „Nichts über uns        weitgehenden Absprache und Einigung
ohne uns“ müssen behinderte Men-          im Deutschen Behindertenrat zum Teil
schen und ihre Verbände bei der Ent-      ganz unterschiedliche Schwerpunkte
wicklung des Gesetzes und dann auch       bei der Gesetzesreform.
bei den Umsetzungsprozessen in den
Bundesländern konsequent von An-          Deshalb ist es wichtig, dass sich im
fang an mit einbezogen werden.            weiteren Prozess noch mehr behin-
                                          derte Menschen selbst zu Wort melden
Der bisherige Beteiligungsprozess für     und deutlich machen, wie wichtig die
die Schaffung des Bundesteilhabege-       Selbstbestimmung, Gleichberechtigung
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