Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez

Die Seite wird erstellt Richard Seidl
 
WEITER LESEN
Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez
KUNSTFORUM International Bd. 268 Juni–Juli 2020

          Gegenwartsbefreiung Malerei
Tendenzen im 21. Jahrhundert
Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez
POLITISCHE MALEREI

     Redner, Statements
       und Gesichter

     Was wird gezeigt? Und wie oft? Wer macht die Presse-
     titel? Wer steht am Rednerpult? Und welche Gesich-
     ter bleiben einem Publikum verborgen? Gegenwärtige
     politische Malerei verdeutlicht das ökonomische Sys-
     tem von medialer Aufmerksamkeit. Denn um an politi-
     scher Kraft zu gewinnen, braucht ein Thema oder eine
     Stimme die Öffentlichkeit, die Bühne und das Bild. Die
     hier vorgestellten Maler*innen provozieren und befra-
     gen diese gesellschaftliche und politische Macht-
     struktur von Aufmerksamkeit. Natürlich wissen sie
     auch, dass ihr Akt der Malerei, also die Darstellung
     von etwas oder jemandem auf ihrer Leinwand, der
     gleichen Rechnung entstammt. Auch damit spielen
     sie bewusst.                             Larissa Kikol

       Christine WANG
       Tatjana DOLL
       Vincent VALDEZ
       Caroline WALKER

74
Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez
Christine Wang, Harry, 2018, Acryl auf
Leinwand, 121,92 × 121,92 cm, Foto: Simon
Vogel, Courtesy: Christine Wang und Galerie
Nagel Draxler, Berlin / Köln / München

75
Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez
oben: Christine Wang, Congratulations,
                                                             2019, Acryl auf Leinwand, 121,70 × 152 cm,
                                                             Foto: Wilfried Petzi, Courtesy: Christine
                                                             Wang und Galerie Nagel Draxler, Berlin /
                                                             Köln / München
                                                             unten: Christine Wang, Girlfriend, 2019,
                                                             Acryl auf Leinwand, 151,90 × 182,50 cm,
                                                             Foto: Wilfried Petzi, Courtesy: Christine
                                                             Wang und Galerie Nagel Draxler, Berlin /
                                                             Köln / München
Christine Wang, Foto: Taylor Johnson

CHRISTINE WANG
* 1985 Washington D.C., USA

„Leonardo DiCaprio ist schon ihr Fan – Greta erobert Holly-
wood“ (Bild, 03.11.2019) „Es ist eine Ehre gewesen, Zeit mit Greta
zu verbringen“ (Stuttgarter-Zeitung.de, 05.11.2019) „Im Privatjet
zum Klimagipfel auf Sizilien – Wie Promis wie Prinz Harry,
Leonardo DiCaprio und Obama die Welt retten wollen – und
bei der Anreise schon scheitern“ (jetzt.de, 03.08.2019). „Leo
DiCaprio auf 500-Millionen-Yacht zur WM“ (Welt.de, 14.06.2014)
„114 Privatjets zu Klimagipfel – 864 Tonnen Kohlendioxid
für den Klimaschutz“ (Frankfurter Allgemeine, 07.08.2019)
„Leonardo DiCaprio stellt seinen neuesten Klimawandel-Film
vor“ (utopia.de, 24.05.2019).
    Die Liste an Schlagzeilen, die Leonardo DiCaprio und den
Klimawandel, bzw. den Klimaschutz betreffen, ließe sich scheinbar
unendlich fortsetzen. Die amerikanische Malerin Christine
Wang adoptiert Pressetitel und mediale Bilder, auch solche, die
die Vorherrschaft von Weißen symbolisieren, und setzt das
Thema ‚Heuchelei‘ in den Mittelpunkt. Sie behauptet dabei nicht,
die Wahrheit zu kennen, ihr geht es auch nicht um Leonardo
DiCaprio selbst, sondern um das widersprüchliche Handeln eines
jeden Menschen. Dies gilt übrigens auch für sie selbst und die
Kunstwelt, die für internationale Ausstellungen Unmengen
an Werke nach Übersee transportieren lassen und das meistens
nicht gerade umweltfreundlich. (LK)
www.christinetienwang.com

76                      Gegenwartsbefreiung Malerei – Politische Malerei
Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez
77   Christine Wang
Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez
Tatjana Doll, Foto: Sebastian M. Kretzschmar

TATJANA DOLL
* 1970 Steinfurt

„Im Westen Nichts Neues […] – Das Motiv der          2017, wieso malt Frau Frauen, als malten noch
Malerei selbst ist eine der unendlich vielen         immer Maler in den Ateliers das Aktmodell
Reproduktionen der Malerei Guernica. Picasso,        vor der Hingabe? Sicherlich flattern aber noch
der für die Weltausstellung statt Der Maler und      genug gedruckte Vorlagen, wieso? Weshalb
das Modell die Malereierfindung einer analo-          gedruckte Vorlagen, die möglicherweise zum
gen Situation, ein Opus entworfen hat, in dem        Wichsen gut sind, in den Malzustand über-
er den Keller und den Angriff von oben in            führen? Das habe ich nicht richtig verstanden,
die verschiedenen Bildfiguren gelegt hat. Ich         deswegen malen Frauen Frauen. […]“ S. 97
male diese Malerei insgesamt sieben Mal nach,
von oben, denn die Bildtafeln liegen auf dem         „RIP Rest in Peace, Raster Image Processor […]
Fußboden. Ich stelle eine auf, um den schwe-         Der RIP transportiert den Menschen zurück
ren Lack niederregnen zu lassen. […]“ S. 50          in meine Malerei […] Die RIPs sind die Idee,
                                                     den Menschen in einer Bedienungsanleitung
„Terrorismus – Dieser Begriff taucht nur             für Empfindungen wiederzufinden […].“ S. 79 f
deshalb hier auf, weil ich mit der Gewalt von
Zeichen arbeite. […]“ S. 92                          Aus: Tatjana Doll, Siehe F, Free Speech Zones –
                                                     Tatjana Doll, Un*Geordnete Notizen, Verbrecher
                                                     Verlag, 2019
„Woman – ‚Woman‘ ist ein eigenes Kapitel
                                                     www.tatjanadoll.de
innerhalb der Malereien und bezieht sich auf
de Koonings Serie Women, die bei mir zu einer
eigenen Serie, und den RIPs zugeordnet wird.
Eine Dokumentation zu ‚Woman‘ ist kein
Gender-Auftrag von mir, sondern sammelt
schlicht Bilder von Frauen, die ich male. […]

78                   Gegenwartsbefreiung Malerei – Politische Malerei
Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez
Tatjana Doll, RIP_Venus of Willendorf, 2009,
300 × 200 cm, Lack auf Leinwand, Foto:
Bernd Borchardt, Courtesy: Galerie Gebr.
Lehmann, Dresden

79                       Tatjana Doll
Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez
Insgesamt malte Tatjana Doll Picassos
Guernica sieben Mal nach. Hier Nr. 2: Tatjana Doll,
RIP_Im Westen nichts Neues II, 2009,
300 × 650 cm, vierteilig, Lack auf Leinwand,
Foto: Bernd Borchardt, Courtesy: Galerie
Gebr. Lehmann, Dresden

80                        Gegenwartsbefreiung Malerei – Politische Malerei
Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez
81   Tatjana Doll
Gegenwartsbefreiung Malerei - Tendenzen im 21. Jahrhundert - Vincent Valdez
Vincent Valdez, Courtesy: der Künstler

VINCENT VALDEZ
* 1977 San Antonio, USA

Der zum Islam übergetretene Box- und Medienstar Muhammad
Ali engagierte sich lautstark für die Emanzipationsbewegung
der Afroamerikaner. Auf seiner Beerdigung 2016 sprachen unter-
anderem Dr. Kevin Cosby, Rabbi Michael Lerner, Imam Zaid
Shakir, Bill Clinton und Attallah Shabazz, Tochter von Malcolm X,
als Trauerredner. Die Werkserie Dream Baby Dream (The Beginning
is near Part II) von Vincent Valdez portraitiert die Redner hinter
dem Pult, umgeben von Blumenarrangements. In Öl auf Papier
malte Valdez diese politischen Historiengemälde, die Zeugnisse
des Geschehens liefern. War die politische Malerei im 20. Jahrhun-
dert davon geprägt, dass Künstler Schicksale und Geschehnisse
in ihre eigene, ästhetische Künstlerbildsprache übersetzten und
dafür beispielsweise wilde, abstrakte oder konzeptuelle Formen
fanden, kehrt bei Valdez die naturalistische Malweise zurück.
Fotorealistisch hält er die Beerdigung als politisches Ereignis fest.
Nicht nur in aktuellen Debatten über Rassismus, Diskriminierung
und Demokratie geht es schließlich auch darum, wer gehört wird,
also wer hinter das Rednerpult eingeladen wird und wer nicht.
So war es naheliegend, dass Muhammad Ali seine Beerdigung
akribisch Jahre im Voraus plante und Valdez den Ereignissen ohne
gestische Verfremdung treu blieb.
    Ein weiteres Hauptwerk von Valdez ist The Beginning is near
(Part I). Es zeigt im schwarz-weißen Großformat eine Gruppe
Ku-Klux-Klan-Anhänger. Von zentraler Bedeutung ist auch hier
wieder der Naturalismus. Nachdem Philip Guston KKK-Figuren
durch seinen gewohnten, teils comicartigen Malstil transformierte,
braucht das 21. Jahrhundert und die Flut an digitalen Nachrichten
und Fake News auf dem Smartphone wieder eine Malerei, die
nicht übersetzt, sondern eine deutliche Sprache spricht. (LK)
www.vincentvaldezstudio.com

82                       Gegenwartsbefreiung Malerei – Politische Malerei
Vincent Valdez, The Beginning Is Near,
Chapter II: Dream Baby Dream,
Öl auf Papier, je 182,88 × 106,68 cm, 2018,
© Courtesy: der Künstler

83                         Vincent Valdez
oben: Vincent Valdez, The Beginning Is
Near, Chapter II: Dream Baby Dream,
Öl auf Papier, 182,88 ×106,68 cm, 2018,
© Courtesy: der Künstler
unten: Vincent Valdez, The Beginning Is
Near, Chapter I: The City, Öl auf Leinwand,
(Trash panel) 94 × 90 Zoll, (Main Panel)
360 × 74 Zoll, 2015 – 2016, Sammlung:
The Blanton Museum of Art, University
of Texas at Austin

          84                        Gegenwartsbefreiung Malerei – Politische Malerei
85   Vincent Valdez
Caroline Walker, Foto: Peter Mallet

CAROLINE WALKER
* 1982 Dunfermline, Schottland

„Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft       schottische Künstlerin Caroline Walker sich
ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier       nicht auf diese Schrift bezieht, stehen ihre
und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und       Portraits im zeitlosen Bezug zur Situation der
Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz,          Arbeiterklassen. Sie malt Reinigungsfrauen in
Unterdrücker und Unterdrückte standen               Hotels, Küchenhilfen, Näherinnen, Arbeiterin-
in stetem Gegensatz zueinander, führten einen       nen in Nagelstudios oder Frisörinnen, bei
ununterbrochenen, bald versteckten, bald            der repetitiven Verrichtung ihrer Dienst-
offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit        leistung. Walkers gestisch realistische Malweise
einer revolutionären Umgestaltung der ganzen        bringt nicht nur eine wirkungsstarke Atmo-
Gesellschaft endete oder mit dem gemein-            sphäre dieser Arbeits- und somit auch Lebens-
samen Untergang der kämpfenden Klassen.             räume mit sich, sondern erneuert das Genre
[…] Die aus dem Untergang der feudalen              des Proletarier-Portraits im 21. Jahrhundert. (LK)
Gesellschaft hervorgegangene moderne bürger-
liche Gesellschaft hat die Klassengegensätze        www.carolinewalker.org
nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen,
neue Bedingungen der Unterdrückung, neue
Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der
alten gesetzt.“ So steht es im Manifest der
Kommunistischen Partei von Karl Marx und
Friedrich Engels geschrieben. Obwohl die

86                       Gegenwartsbefreiung Malerei – Politische Malerei
Caroline Walker, Corridor, 3rd Floor,
2018, Öl auf Leinwand, 210 × 155 cm,
Courtesy: die Künstlerin und GRIMM
Amsterdam | New York

87                        Caroline Walker
oben: Caroline Walker, Morning Meeting,
2018, Öl auf Leinwand, 166 × 216 cm,
Courtesy: die Künstlerin und GRIMM
Amsterdam | New York

rechts: Caroline Walker, Bathroom,
Room 608, 2018, Öl auf Leinwand,
45 × 36 cm, Courtesy: die Künstlerin und
GRIMM Amsterdam | New York

88                       Gegenwartsbefreiung Malerei – Politische Malerei
89   Caroline Walker
Sie können auch lesen