Geringqualifizierte in Deutschland - niedrige Löhne, prekäre Bedingungen - Bertelsmann Stiftung

 
WEITER LESEN
Geringqualifizierte in Deutschland - niedrige Löhne, prekäre Bedingungen - Bertelsmann Stiftung
Zukunft Soziale Marktwirtschaft

                                           PolicyBrief #2019/05
                                              Katharina Bilaine

       Geringqualifizierte in Deutschland –
       niedrige Löhne, prekäre Bedingungen
Immer mehr Geringqualifizierte in Deutschland sind erwerbstätig, aber sie verdienen geringe Löhne
und arbeiten häufig in prekären Beschäftigungsverhältnissen. Der Blick ins Ausland zeigt, dass eine
hohe Erwerbstätigkeit Geringqualifizierter auch zu besseren Bedingungen möglich ist, vorausgesetzt
     die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik verfügt über entsprechende Instrumente und Mittel.

Der empirische Teil dieses Textes basiert auf der Studie   Jahren als gering qualifiziert, sank ihr Anteil – bedingt
„Geringqualifizierte in Deutschland. Beschäftigung,        durch die Bildungsexpansion der 1960er bis 1990er
Entlohnung und Erwerbsverläufe im Wandel“, die von         Jahre – auf 12 Prozent im Jahr 2016. In Ostdeutsch-
Werner Eichhorst, Paul Marx, Tanja Schmidt, Verena         land ging der Anteil von knapp über 6 Prozent in den
Tobsch, Florian Wozny und Carolin Linckh im Auftrag        1990ern bis in die 2000er auf 3 Prozent zurück und
der Bertelsmann Stiftung verfasst wurde.                   stieg dann bis 2016 wieder auf 6 Prozent. Während
                                                           aber entlang des generellen demographischen Trends
Eine gute Nachricht zu Beginn: Der Anteil gering qua-      das Durchschnittsalter Mittelqualifizierter (Personen
lifizierter Personen an der erwerbsfähigen Bevölkerung     mit einer Berufsausbildung oder Abitur als höchsten
nimmt seit Jahren ab. Als gering qualifiziert gelten,      erreichten Bildungsabschluss) zwischen 1995 und 2016
basierend auf der Internationalen Standardklassifika-      stieg, sank das Durchschnittsalter Geringqualifizierter.
tion von Bildung (ISCED) aus dem Jahr 1997, Personen       Immer noch verlassen zu viele junge Menschen das Bil-
ohne Schulabschluss und Personen mit Haupt- oder           dungssystem ohne Berufsabschluss. Der Frauenanteil
Realschulabschluss als höchsten erreichten Bildungs-       unter den Geringqualifizierten ging in beiden Landes-
grad. Galten, basierend auf Daten des Sozio-oekono-        teilen hingegen zurück: In Ostdeutschland sank er von
mischen Panels (SOEP), 1985 in Westdeutschland noch        72 (1995) auf 48 Prozent (2016), in Westdeutschland
27 Prozent der Bevölkerung im Alter von 25 bis 64          entsprechend von 66 auf 54 Prozent.
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

Neben anderen Arbeitsmarktgruppen profitierten auch                            im Jahr 1995 auf 37 Prozent im Jahr 2016. Der Anteil der
gering qualifizierte Personen von der positiven Kon-                           Inaktiven fiel im selben Zeitraum von 55 auf 18 Prozent.
junktur am Arbeitsmarkt: In Westdeutschland stieg der                          Dass es sich bei den ostdeutschen Geringqualifizierten
Anteil der erwerbstätigen Geringqualifizierten von 48                          um eine vergleichsweise kleine Gruppe handelt, mag zur
auf 63 Prozent (1985-2016), der Anteil der Inaktiven,                          Erklärung dieser regionalen Besonderheit beitragen.
d. h. der Personen, die dem Arbeitsmarkt nicht zur Ver-
fügung stehen, fiel von 49 auf 24 Prozent. Aber auch                            Der strukturelle Wandel trifft auch
die Arbeitslosenquote stieg von 4 auf 13 Prozent (vgl.                         ­Geringqualifizierte
Abbildung 1). Ein Blick auf die entsprechenden Zahlen
in der Gruppe der Mittelqualifizierten zeigt, dass die                         Der technologische Wandel und globalisierungsbedingte
Erwerbstätigenquote           Geringqualifizierter          trotz     der      Verlagerungen bestimmter Arbeitsschritte oder Tätig-
positiven Entwicklungen vergleichsweise niedrig ist: Die                       keiten ins Ausland führten zu strukturellen Verschie-
Erwerbstätigenquote westdeutscher Mittelqualifizierter                         bungen in den Tätigkeitsfeldern Geringqualifizierter
stieg von 69 auf 82 Prozent (1985-2016).                                       – sie arbeiten heute vermehrt im Dienstleistungssektor.
                                                                               Betrachtet man die zehn wichtigsten Berufsfelder
Eine Längsschnittbetrachtung von 2010 bis 2016 zeigt,                          Geringqualifizierter zwischen 1985 und 2015, so sieht
dass nur wenige Geringqualifizierte durch Weiterqua-                           man eine Zunahme der Verkaufs- und Dienstleistungs-
lifizierung ein höheres Bildungsniveau erreichen. Im                           hilfskräfte sowie der MetallarbeiterInnen und Mecha-
obigen Zeitraum erreichten 3,7 Prozent der Gering-                             nikerInnen (vgl. Abbildung 2). Hingegen hat der Anteil
qualifizierten ein mittleres (3,5 Prozent) bzw. höheres                        der FahrzeugführerInnen und BedienerInnen mobiler
(0,2 Prozent) Qualifikationsniveau.                                            Anlagen sowie von Mineralgewinnungs- und Baube-
                                                                               rufen abgenommen. In diesen Berufen sind häufiger
Höhere Arbeitslosenquoten in Ostdeutschland                                    Mittelqualifizierte vertreten und im Zuge des Struk-
                                                                               turwandels hat sich die allgemeine Arbeitsnachfrage
Auch wenn sich in Ostdeutschland (1995-2016) der                               in ihnen verringert, da das Substituierbarkeitspotential
Anteil der erwerbstätigen Geringqualifizierten mehr als                        durch Technologien in diesen Berufen besonders hoch
verdoppelte (er stieg um 24 Prozentpunkte von 21 auf 45                        ist (Dengler und Matthes 2018). Insofern sind auch wei-
Prozent), ist der Anteil der Arbeitslosen mehr als dreifach                    terhin Auswirkungen auf die Beschäftigungssituation
höher als in Westdeutschland: er stieg von 24 Prozent                          Geringqualifizierter zu erwarten.

  ABBILDUNG 1 Entwicklung der Erwerbsbeteiligung Geringqualifizierter in West- und Ostdeutschland

  In Prozent
                                  WESTDEUTSCHLAND                                                              OSTDEUTSCHLAND
  100                                                                                  100
                                                                                                                           12       15
   90                                                                                    90                                                18
                                                                    22       24
                                                29        25
                                                                                                                   35
   80              39       38        37                                                 80
          49                                                                                             45
   70                                                               13                   70    55
                                                                             13
                                                          16                                                                       37
                                                15                                                                          46             37
   60                                  8                                                 60
                    6        10
   50      4                                                                             50
                                                                                                                   36

   40                                                                                    40              27

                                                                    65       63                 24
   30                                 55        56        58                             30
                   55        52
          48                                                                                                                       48
   20                                                                                    20                                42              45
                                                                                                         28        30
   10                                                                                    10     21

    0                                                                                     0
          1985    1990     1995      2000      2005     2010      2015      2016              1995      2000      2005     2010   2015     2016

  Anmerkung: Mögliche Abweichungen von 100 Prozent sind Rundungen geschuldet.                 inaktiv       arbeitslos      erwerbstätig

  Quelle: SOEP (v33.1), Personen im Alter von 25 bis unter 65 Jahren, gewichtet und hochgerechnet (eigene Berechnungen).

Seite 2
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

                                                                                                            Mindestlohn dazu führen konnte,
  ABBILDUNG 2 Entwicklung der wichtigsten Berufe Geringqualifizierter                                       die Löhne Geringqualifizierter über
              in Deutschland 2000, 2005, 2010 und 2015                                                      einen längeren Zeitraum steigen zu
  In Prozent
                                                                                                            lassen, kann mit den verwendeten
  100                                                       Verkaufs- und
                                                            Dienstleistungshilfskräfte
                                                                                                            Daten nicht geklärt werden (vgl.
   90     15         15        15                                                                           Abbildung 3).
                                           20               Hilfsarbeiter in Landwirtschaft,
                                                            Fischerei, Bergbau, Baugewerbe
   80                 9          9                          Büroangestellte
          12                                                ohne Kundenkontakt                              Während in Westdeutschland 2016
                                           11
   70                10        10                           personenbezogene                                31 Prozent der Gering- und 15
           8                                                Dienstleistungsberufe und
                                            8
   60                 9          9                          Sicherheitsbedienstete                          Prozent      der    Mittelqualifizierten
           8
                                            8               Modelle, Verkäufer und                          im      Niedriglohnsektor        arbeite-
   50      7          8          8                          Vorführer
                                            8                                                               ten, waren es in Ostdeutschland
           7          7          7                          Fahrzeugführer und Bediener
   40                                       7               mobiler Anlagen                                 79 Prozent der Gering- und 40
           8          7          7                          Maschinenbediener und Montierer
                      4          4          6                                                               Prozent      der    Mittelqualifizierten.
   30      4                                                Metallarbeiter, Mechaniker und
           6          6          6          6                                                               Die Differenz zwischen den Grup-
                                                            verwandte Berufe
                                            4
   20                                                       Mineralgewinnungs- und Bauberufe                pen ist in Ostdeutschland somit
                                                            sonstige
          23         24        24          21                                                               bedeutend größer. Für die Defi-
   10
                                                         Anmerkung:                                         nition des Niedriglohns wird der
    0                                                    Mögliche Abweichungen von 100
          2000       2005      2010        2015          Prozent sind Rundungen geschuldet.                 gesamtwirtschaftliche Medianlohn
                                                                                                            zugrunde gelegt und keine regio-
  Quelle: Mikrozensus, Personen im Alter von 25 bis unter 65 Jahren,                                        nalen Vergleichslöhne. Das regi-
  gewichtet und hochgerechnet (eigene Berechnungen).
                                                                                                            onale Lohngefälle zwischen den
                                                                                                            Landesteilen ist weiterhin groß,
                                                                                                            was zur Erklärung des großen
Niedrige Löhne für Geringqualifizierte                                           Niedriglohnsektors in Ostdeutschland beiträgt: 2017
                                                                                 lag der durchschnittliche Bruttomonatsverdienst (ohne
Im Gegensatz zur positiv zu bewertenden Zunahme                                  Sonderzahlungen) Beschäftigter im produzierenden
der Beschäftigung, konnte die Lohnentwicklung gering                             Gewerbe und Dienstleistungsbereich in Westdeutsch-
qualifizierter Erwerbstätiger nicht mithalten. Seit den                          land und Berlin bei 3.394 €, in Ostdeutschland betrug
1990er     Jahren         nahm       der
Anteil der im Niedriglohn-
sektor beschäftigten Gering-                      ABBILDUNG 3 Anteil der Geringverdienenden unter den Gering- und
qualifizierten zu [als niedrig                                Mittelqualifizierten in Ost- und Westdeutschland 1985 bis 2016
gilt ein Bruttostundenlohn,                       100
                                                           In Prozent
der unterhalb von 2/3 des
                                                                   Geringqualifizierte Ost                    Geringqualifizierte West
Medians        des    gesamtwirt-                                  Mittelqualifizierte Ost                    Mittelqualifizierte West
                                                   80
schaftlichen Bruttostunden-
lohns liegt – im Jahr 2014
waren das laut Datenreport                         60
(2018) 10 €]. Erst die Ein-
führung        des   Mindestlohns
                                                   40
stoppte den Trend, dass die
Bruttostundenlöhne           Mittel-
qualifizierter stärker stiegen                     20
als die Geringqualifizierter,
sodass sich 2016 ein leichter
                                                    0
Rückgang des Anteils gering                                1985          1990            1995       2000          2005         2010      2015 2016
qualifizierter Personen mit
                                                  Geringverdienende: Bruttostundenlohn bis zu 2/3 des Medians der Bruttostundenlöhne.
niedrigem Lohn zeigte. Ob es
                                                  Quelle: SOEP (v33.1), Personen im Alter von 25 bis unter 65 Jahren,
sich dabei um einen einmali-
                                                  gewichtet und hochgerechnet (eigene Berechnungen).
gen Effekt handelte oder der

Seite 3
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

er 2.985 € (Datenreport 2018). Dies soll allerdings nicht                       Die Zunahmen der Erwerbsbeteiligung Geringqualifi-
darüber hinwegtäuschen, dass, verdeutlicht durch die                            zierter verlief also insbesondere über solche atypischen
Gegenüberstellung mit den Mittelqualifizierten, ein                             Beschäftigungsformen.             Diese     Entwicklungen        sind
Großteil der vergleichsweise kleinen Gruppe ostdeut-                            kein Spezifikum Geringqualifizierter, sondern waren
scher Geringqualifizierter niedrige Löhne erhält.                               ähnlich auch in der Gruppe der Mittelqualifizierten zu
                                                                                beobachten: geringfügige und marginale Beschäftigung
                                                                                stieg in Westdeutschland von 1985 bis 2016, wenn auch
Zunahme prekärer                                                                auf einem geringeren Niveau (von 4 auf 8 Prozent). Der
                                                                                Anteil der Vollzeitbeschäftigung sank von 49 Prozent
Beschäftigungsverhältnisse                                                      (1985) auf 47 Prozent (2016) leicht.

Das     positive    Bild    der      vermehrten       Beschäftigung             Vergleichsweise viele der in unbefristeter Teilzeit
Geringqualifizierter trübt sich weiter ein, lenkt man                           beschäftigten Geringqualifizierten würden gerne mehr
den Blick auf die individuelle Situation dieser Perso-                          arbeiten: Während 2016 25 Prozent der in unbefristeter
nen. Ihre vermehrte Teilnahme am Arbeitsmarkt ging                              Teilzeit beschäftigten Mittelqualifizierten mehr arbei-
mit vergleichsweise häufiger Beschäftigung in atypi-                            ten wollten (im Durchschnitt wollten sie 8 Stunden
schen Vertragsformen (d. h. marginaler/geringfügiger                            mehr arbeiten), so waren es 39 Prozent der Geringqua-
Beschäftigung mit weniger als 20 Wochenstunden oder                             lifizierten. Im Durchschnitt wollen sie 13 Stunden mehr
Befristung und Zeitarbeit) einher.                                              arbeiten.

In Westdeutschland lag der Anteil der Geringqualifi-
zierten in unbefristeten Vollzeitstellen mit kleineren                          Vermehrt turbulente Erwerbsverläufe
Auf- und Abwärts-Bewegungen seit 1985 bei rund 30
Prozent. Stark zugenommen hat hingegen der Anteil                               Eine       Längsschnittanalyse         individueller        Beschäfti-
von Befristung und Zeitarbeit (von 3 Prozent im Jahr                            gungsverläufe aller ArbeitnehmerInnen im Zeitverlauf
1985 auf 10 Prozent im Jahr 2016) sowie von marginaler                          zeigt,      dass   Erwerbsverläufe          insgesamt       instabiler
und geringfügiger Beschäftigung (vgl. Abbildung 4).                             wurden und das Normalarbeitsverhältnis (d. h. eine

  ABBILDUNG 4 Entwicklung der Beschäftigungsarten Geringqualifizierter in Westdeutschland 1985 bis 2016

  In Prozent

  100
                                                                                                       nicht erwerbstätig
   90
                                                                                                       selbstständig
                                                               42         35         37
   80                                     45        44
                    45                                                                                 marginale oder geringfügige Beschäftigung
          50                   48
   70
                                                                                                       Befristung/Zeitarbeit
                                                                           3           3
   60                                                           3          9                           unbefristete Teilzeitbeschäftigung
                     4                    4          3                               10
                                3                               9
   50                                                9                                                 unbefristete Vollzeitbeschäftigung
           4         6          6         8                               12
                     3                                          8                    10
           6                    3         4          5
   40      3         8          6                                          9
                                          8          8          9                    10
           7
   30

   20
          30        34         34         32        31         31         32         30
   10

    0                                                                                              Anmerkung: Mögliche Abweichungen von
          1985     1990       1995      2000       2005       2010       2015       2016           100 Prozent sind Rundungen geschuldet.

  Quelle: SOEP (v33.1), Personen im Alter von 25 bis unter 65 Jahren, gewichtet und hochgerechnet (eigene Berechnungen).

Seite 4
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

  ABBILDUNG 5 Sequenzindexplots der Erwerbsverläufe in der Gruppe der 30- bis 44-Jährigen

  1996 bis 2002                                                                   2010 bis 2016

  Geringqualifizierte (11,9 %; N = 352)                                           Geringqualifizierte (7,9 %; N = 303)
   345                                                                            281

   288                                                                            276

   268
                                                                                  255
   247
                                                                                  223
   218
                                                                                  201
   184
                                                                                  185
   156
                                                                                  132
   121
                                                                                  106
    86
                                                                                   60
    66

    39                                                                             23

    13                                                                             17

     1                                                                              1

          Status 1996     Status 1998         Status 2000         Status 2002            Status 2010       Status 2012        Status 2014        Status 2016

  Nicht Geringqualifizierte (88,1 %; N = 2.549)                                   Nicht Geringqualifizierte (92,1 %; N = 3.556)

  2.450                                                                          2.950

  2.078                                                                          2.790

  1.837
                                                                                 2.606

  1.647
                                                                                 2.315
  1.371
                                                                                 2.051
  1.099
                                                                                 1.592
   822
                                                                                 1.165
   621

                                                                                  585
   354

   147                                                                            239

     1                                                                              1

          Status 1996     Status 1998         Status 2000         Status 2002            Status 2010       Status 2012        Status 2014        Status 2016

          Befristung/Zeitarbeit            keine Angabe               marginale bzw. geringfügige Beschäftigung                    unbefristete
                                                                                                                                   Vollzeitbeschäftigung
          nicht erwerbstätig               selbstständig              unbefristete Teilzbeschäftigung

  Anmerkung: Jede Zeile in diesen Sequenzindexplots entspricht einem Individuum, die Verläufe sind nach dem Status im ersten Jahr sortiert.
  Einbezogen wurden alle Individuen mit ununterbrochenen Angaben zum Erwerbsstatus. Die Grafiken sind jeweils im selben Format dargestellt,
  auch wenn die Fallzahlen sich unterscheiden; um die jeweiligen Anteile miteinander zu vergleichen, sind sie daher auf die gesamte Y-Achse normiert.

  Quelle: SOEP (v33.1), gewichtete Sequenzen, sortiert (eigene Berechnungen).

unbefristete Beschäftigung im Rahmen eines sozial-                               In beiden Gruppen dieser jeweils 30- bis 44-Jährigen
versicherungspflichtigen Vollzeitarbeitsverhältnisses)                           wurden die Erwerbsverläufe instabiler, jedoch ist dies
im Abnehmen begriffen ist. Abbildung 5 zeigt dies                                bei Geringqualifizierten besonders stark ausgeprägt:
beispielhaft mit Hilfe von repräsentativen Sequenzin-                            Zeiten         in     atypischen        Beschäftigungsverhältnissen
dexplots beim Vergleich von Geringqualifizierten und                             nahmen in dieser Gruppe deutlich zu. Dies ist deshalb
Nicht-Geringqualifizierten (d. h. Mittel- und Hoch-                              problematisch, weil turbulente Erwerbsbiographien
qualifizierten) über die Zeiträume 1996 bis 2002 und                             eine langfristige Stabilisierung der Einkommenssitu-
2010 bis 2016.                                                                   ation erschweren und den Erwerb von Kompetenzen
                                                                                 behindern – gerade das wäre aber für Geringqualifi-
                                                                                 zierte wichtig.

Seite 5
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

Deutschland steht im                                                                                    zwangsläufig wie in Deutschland mit einem hohen
                                                                                                        Niedriglohnanteil einhergehen muss. Wichtig bei die-
internationalen Vergleich                                                                               sem Vergleich ist die Größe und Zusammensetzung der
                                                                                                        gering qualifizierten Bevölkerung (wie zum Beispiel
schlecht da                                                                                             das Alter sowie der Anteil an Menschen mit Migrati-
                                                                                                        onshintergrund), da diese Faktoren eine wesentliche
Vergleicht man die Arbeitsmarktsituation Geringqualifi-                                                 Voraussetzung für die Integrierbarkeit in den Arbeits-
zierter in Deutschland mit der in Dänemark, Frankreich,                                                 markt sind. Im Jahr 2000 hatte Deutschland im inter-
Schweden und dem Vereinigten Königreich, so zeigt                                                       nationalen Vergleich eine mittlere Erwerbstätigkeit
sich, dass Deutschland weder beim Lohn- und Kompe-                                                      Geringqualifizierter bei einer überdurchschnittlichen
tenzniveau, noch bei der Teilnahme Geringqualifizierter                                                 Niedriglohnquote. Bis 2014 stieg der Anteil der er-
an Weiterbildung eine Spitzenposition einnimmt.                                                         werbstätigen Geringqualifizierten, sodass Deutschland,
                                                                                                        Dänemark, Schweden und das Vereinigte Königreich
                                                                                                        eine fast gleichhohe Erwerbstätigenquote Geringquali-
Die Niedriglohnquote ist bei Geringqualifizierten                                                       fizierter (ca. 60 Prozent) aufwiesen (vgl. Abbildung 6).
in Deutschland besonders hoch                                                                           Allerdings war in keinem dieser Länder der Anteil der
                                                                                                        Geringqualifizierten mit niedrigem Lohn so hoch wie
In allen fünf Ländern ist der Anteil gering qualifizierter                                              in Deutschland: Hierzulande lag er bei 50 Prozent, im
Personen an der erwerbsfähigen Bevölkerung gesun-                                                       Vereinigten Königreich bei 33 Prozent und in Schweden
ken, sie konvergieren heute bei einem Anteil zwischen                                                   bei knapp 5 Prozent. Frankreich hatte 2014 ebenfalls
15 und 20 Prozent.                                                                                      einen geringen Niedriglohnempfängeranteil (18 Pro-
                                                                                                        zent), die Erwerbstätigenquote war allerdings etwas
Dabei zeigt der internationale Vergleich, dass ein                                                      geringer als in den anderen Ländern (52 Prozent).
hoher Beschäftigungsstand Geringqualifizierter nicht

  ABBILDUNG 6 Erwerbstätigkeit und Niedriglohnanteil Geringqualifizierter im Jahr 2014
  In Prozent

                                   60                                                                                                    AUS   Österreich
                                                                                                                                         BEL   Belgien
                                                                                                                                         BGR   Bulgarien
                                          SVK                                                                                            CYP   Zypern
                                                               HRV
                                                                                                                                         CZE   Tschechische Republik
                                   50                                                         DEU                                        DEU   Deutschland
                                                                                                                                         DNK   Dänemark
                                                                                                                                         ESP   Spanien
                                                                     CZE
                                                                                         ROU                                             EST   Estland
                                                      POL
      Niedriglohnempfängeranteil

                                                                            SVN                                                          FIN   Finnland
                                   40
                                                              LTU                                                                        FRA   Frankreich
                                                                      HUN         LVA
                                                      BGR                                         EST                                    GRC   Griechenland
                                                                                       CYP                                               HUN   Ungarn
                                                                GRC        IRL                    UK                                     HRV   Kroatien
                                                                                  AUS
                                   30                                                        LUX                                         IRL   Irland
                                                                                                                                         ISL   Island
                                                                           MLT                NLD
                                                                                                           CHE                           ITA   Italien
                                                                                               DNK                                       LTU   Litauen
                                                                             ESP                 NOR                                     LUX   Luxemburg
                                   20                                                                                                    LVA   Lettland
                                                                    ITA                             PRT                                  MLT   Malta
                                                                                 FRA                                                     NLD   Niederlande
                                                                                                                      ISL                NOR   Norwegen
                                                                                   FIN                                                   POL   Polen
                                   10
                                                                                                                                         PRT   Portugal
                                                                            BEL                                                          ROU   Rumänien
                                                                                                   SWE                                   SVK   Slowakei
                                                                                                                                         SVN   Slowenien
                                    0                                                                                                    SWE   Schweden
                                     20         30            40            50               60            70        80            90    UK    Vereinigtes Königreich
                                                     Erwerbstätigenquote Geringqualifizierter (20 bis 64 Jahre)             In Prozent

  Quelle: Eurostat (2017), Niedriglohnempfänger als Prozentsatz aller Arbeitnehmer (ohne Auszubildende) nach Bildungsabschluss.

Seite 6
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

  ABBILDUNG 7 Teilnahme an Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen nach Bildungsniveaus,
              25- bis 64-Jährige im Jahr 2018
                                                                                          Bildungsniveau:
 Anteil in Prozent                                                                        unterhalb des
                                                                                          Primarbereichs,
                                                                                          Primarbereich und
                                                                                          Sekundarbereich I
                                                                         24,7
 25
                                                                                          Bildungsniveau:
                 21,6                                             21,1                    Sekundarbereich II
 20                                                                                       und postsekundarer,
                                                                                          nichttertiärer Bereich
          15,5                                       14,9
 15
                                                                                         12,2

 10
                                  7,1          7,3
                                                                                   5,9
  5                         4,3

  0
          Dänemark        Deutschland         Frankreich          Schweden         Vereinigtes
                                                                                   Königreich

 Quelle: Eurostat (2019), Teilnahme an Bildungs- und Weiterbildungsmaßnahmen
 nach Geschlecht und Bildungsniveaus.

Institutionelle Rahmenbedingungen der Lohnfindung,                         Erklärungen hierfür können sein, dass die Schulsys-
wie die Tarifabdeckung, die Lohnersatzrate oder die                        teme in Deutschland und Frankreich Jugendliche prin-
Strenge der Bedingungen für den Leistungsbezug (z. B.                      zipiell schlechter mit Grundkompetenzen ausstatten.
Auflagen für Arbeitssuchende, Sanktionen beim Ver-                         Es kann aber auch an der Komposition (in Bezug auf
weigern einer Beschäftigungsaufnahme, Zumutbar-                            z. B. Alter, Migrationshintergrund, Sprachkenntnisse)
keitskriterien) der Arbeitslosenversicherung können                        der gering qualifizierten Bevölkerung liegen. Unab-
die Länderunterschiede nicht abschließend erklären.                        hängig davon, welcher Effekt die größere Rolle spielt,
Es muss daher andere Gründe geben, warum der                               sollte eine langfristige Politik in Deutschland darauf
Anteil Geringqualifizierter im Niedriglohnbereich in                       ausgerichtet sein, das Niveau an Grundkompetenzen
Deutschland vergleichsweise hoch ist.                                      der Bevölkerung zu heben – sowohl in der schulischen
                                                                           als auch der beruflichen (Weiter-)Bildung. Denn die
                                                                           vorhandenen Grundkompetenzen spielen eine wichtige
 Niedriges faktisches Kompetenzniveau in                                   Rolle bei der Integration gering qualifizierter Personen
­Deutschland                                                               in den Arbeitsmarkt.

Das tatsächliche Kompetenzniveau Geringqualifizierter
in Deutschland – gemessen im Rahmen des PIAAC Leis-                        Geringqualifizierte in Deutschland nehmen
tungstests der OECD (Programme for the International                       selten an Weiterbildungen teil
Assessment of Adult Competencies) – ist im Vergleich
mit anderen europäischen Ländern niedrig. Diese                            Weiterbildungen fördern den Erwerb von Kompeten-
unterschiedliche Ausgangslage muss beim Vergleich                          zen. Während aber 2018 in Deutschland nur 4,3 Prozent
der Erwerbstätigkeit berücksichtigt werden. Das mit                        der Geringqualifizierten angaben, in den letzten vier
Hilfe von PIAAC in den Jahren 2011 und 2012 ermittelte                     Wochen vor der Befragung an einer Bildungs- oder
Niveau an Grundkompetenzen in den Bereichen Text-                          Weiterbildungsmaßnahme teilgenommen zu haben,
verständnis und Mathematik lag in Deutschland und                          waren dies in Dänemark 16 und in Schweden 21 Prozent
Frankreich jeweils deutlich unter dem in Dänemark,                         (vgl. Abbildung 7).
Schweden und dem Vereinigten Königreich. Mögliche

Seite 7
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

Was macht das Ausland                                      Ein konzeptionell interessantes Modell ist das im Jahr
                                                           2017   eingeführte   Persönliche   Weiterbildungskonto
anders?                                                    (Compte personnel de formation), in dem Individuen
                                                           ein Guthaben an Ressourcen für Weiterbildungsmaß-
Auch wenn die institutionellen Hintergründe und die        nahmen erwerben können. Dieses Guthaben ist dabei
Zusammensetzung der gering qualifizierten Bevöl-           nicht an ein Arbeitsverhältnis gebunden. Derzeit fehlen
kerung variieren, können – basierend auf dem bes-          jedoch noch aussagekräftige Evaluationsstudien zur
seren Abschneiden anderer Länder – Ableitungen für         langfristigen Wirkung auf dem Arbeitsmarkt. Bisher
Deutschland getroffen werden, wie Geringqualifizierte      scheint die Zielgruppe der Geringqualifizierten nicht
bei höheren Löhnen in den Arbeitsmarkt integriert          ausreichend mobilisiert zu werden (DARES 2018).
werden können.

                                                           Weiterbildungspolitik in Schweden
Stark gestiegener Mindestlohn im Vereinigten
Königreich                                                 Schweden profitiert von gewachsenen Traditionen im
                                                           Bereich der Sozialpartnerschaft und ist seit Jahren ein
Im Vereinigten Königreich ist aktive Arbeitsmarktpo-       Vorreiter im Bereich der öffentlichen Investitionen zur
litik im Sinne von Weiterbildungsförderung praktisch       Förderung von Humankapital. Darüber hinaus setzt das
inexistent. Vor diesem Hintergrund spielt der Min-         Land eine umfassende aktive Arbeitsmarktpolitik um,
destlohn eine entscheidende Rolle bei der Verringe-        die prinzipiell leicht auf andere Länder übertragbar ist.
rung von Lohnungleichheit. Seine Einführung 1999           Informelle Weiterbildungsmaßnahmen am Arbeits-
und die anschließenden Ausweitungen führten zu             markt sind in Schweden weit verbreitet und zeigen
einer stärkeren Lohnkompression ohne signifikante          Wirkung: Schwedische Geringqualifizierte sind nicht
Beschäftigungsverluste. 2020 soll der National Living      nur sehr gut in den Arbeitsmarkt integriert, sie haben
Wage (Mindestlohn für Personen ab einem Alter von 25       auch gute Chancen, in bessere Jobs hineinzuwachsen
Jahren) 60 Prozent des Medianlohns betragen.               (Calmfors et al. 2018). Diese positiven Ergebnisse
                                                           erzielt das Land durch hohe finanzielle Investitionen.
Entscheidend hierbei ist, dass das dynamische Wirt-
schaftsumfeld den vergleichsweise starken Anstieg des
Mindestlohns bisher verkraften konnte und Unterneh-        Aktive Arbeitsmarktpolitik und Weiterbildung in
men nicht mit einer verringerten Arbeitsnachfrage im       Dänemark
Bereich der Geringqualifizierten reagierten, sondern
ihre gestiegenen Kosten anderweitig ausglichen.            Dänemark verfolgt ähnlich wie Schweden eine aktive
                                                           Arbeitsmarktpolitik mit einer Vielzahl von Maßnah-
                                                           men. Das Land investiert hohe Summen in berufs-
Lohnsubventionen in Frankreich                             begleitende Bildung, deren Schwerpunkt auf gering
                                                           qualifizierten Personen liegt. Auch wenn bisher keine
Auch in Frankreich spielt der Mindestlohn eine             Aufwärtsmobilität in bessere Jobs festgestellt werden
entscheidende Rolle, wobei er in Relation zum Medi-        konnte, so profitiert insbesondere die Gruppe der
anlohn vergleichsweise hoch ist. Die dennoch hohe          ungelernten Arbeitskräfte von höheren Löhnen und
Beschäftigungsquote von Geringqualifizierten wird          einem gestiegenen Beschäftigungsniveau. Die positi-
maßgeblich durch die Subventionierung ihrer Löhne          ven Effekte fallen besonders groß aus, wenn die Maß-
mit Hilfe degressiver Sozialabgaben erreicht: Bis zum      nahmen berufsbegleitend stattfinden.
1,6-Fachen des Mindestlohns sind ArbeitgeberInnen
von Sozialabgaben entlastet – je näher das Gehalt am
Mindestlohn liegt, desto höher fällt die Abgabenbefrei-
ung aus. Dies kostet den französischen Staat rund 25
Milliarden € pro Jahr, d. h. ca. 1 Prozent des Bruttoin-
landprodukts.

Seite 8
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

Was ist zu tun? Gute Arbeit                                Laut Bürmann und Wiek (2018) haben formal unterqua-
                                                           lifizierte Personen einen geringeren Lohn als Personen
für Geringqualifizierte ist                                auf der gleichen Position, die über die entsprechende
                                                           formale Qualifikation verfügen. Der mit einer Zertifi-
kein Nullsummenspiel                                       zierung verbundene formale Nachweis vorhandener
                                                           Kompetenzen könnte daher auch einen positiven Effekt
Die Integration Geringqualifizierter in den Arbeits-       auf die Löhne Geringqualifizierter haben.
markt bei gleichzeitiger Einschränkung des Nied-
riglohnsektors ist nicht umsonst zu haben. Dies hat        Die Zertifizierung von Kompetenzen ist in der Nationa-
Implikationen für die Arbeitsmarkt- und Bildungs-          len Weiterbildungsstrategie als wichtiges Handlungs-
politik. Dänemark und Schweden können als Beispiele        feld genannt. Nun gilt es Instrumente anzubieten, die
dienen, dass Geringqualifizierte langfristig unter guten   Geringqualifizierten auch tatsächlich zu Gute kommen
Bedingungen in den Arbeitsmarkt integriert werden          und nicht zu hohe Anforderungen stellen (z. B. an Dauer,
können, ohne dass ihre Löhne staatlich bezuschusst         Kosten oder Komplexität der Zertifizierung). Die Instru-
sind, wenn ein funktionierendes System an Beratung,        mente müssen dabei auch unterhalb eines Vollabschlus-
Weiterbildung und Unterstützung existiert, mit Hilfe       ses Transparenz über die vorhandenen Kompetenzen
dessen in die Höherqualifizierung der Erwerbsbevöl-        schaffen und angesichts der knapp sechs Millionen
kerung investiert wird. Auch Frankreich lässt sich das     erwerbsfähigen Geringqualifizierten standardisiert und
hohe Lohnniveau seiner Geringqualifizierten etwas          massentauglich sein.
kosten, ArbeitgeberInnen wird der hohe Mindestlohn
bezuschusst.
                                                           2. In Bildung und Weiterbildung investieren, um das
Schlussendlich ist es Teil des gesellschaftspolitischen         Kompetenzniveau zu erhöhen
Aushandlungsprozesses, welche Art von Kosten ein
System bereit ist zu tragen. Langfristig wirkungsvoller    Vorhandene Kompetenzen zu zertifizieren ist das eine,
als die Subventionierung von Löhnen sind umfassende        den Erwerb fehlender Kompetenzen durch Weiterbil-
Investitionen in den Kompetenzerwerb und die Qua-          dung zu fördern das andere. Denn Kompetenzen, über
lifizierung Geringqualifizierter, so wie es Schweden       die Geringqualifizierte verfügen, sind der Schlüssel für
und Dänemark bereits vormachen. Mit der Quali-             ihre Integration in den Arbeitsmarkt und eine Stabilisie-
fizierungsoffensive, insbesondere der im Juni 2019         rung ihrer Erwerbsverläufe. Daher sollten gering qualifi-
veröffentlichten Nationalen Weiterbildungsstrategie,       zierte Personen intensiv begleitet und dabei unterstützt
hat die Politik in Deutschland einen ersten Schritt        werden, ihr faktisches Kompetenzniveau im Rahmen
in die richtige Richtung getan – gerade die Situation      zielgerichteter,   arbeitsmarktnaher    Weiterbildungen
arbeitsmarktferner Geringqualifizierter ruft aber nach     zu erhöhen. Umfassende Beratung vor, aber auch nach
weiteren Maßnahmen und Mitteln.                            diesen Weiterbildungsmaßnahmen, ist die Vorausset-
                                                           zung dafür, dass die Integration in den Arbeitsmarkt
1. Vorhandene Kompetenzen zertifizieren und 		             auch ohne formalen Abschluss gelingen kann. Noack et
   dadurch transparent machen                              al. (2019) mahnen an, dass atypisch Beschäftigte oder
                                                           arbeitslose Geringqualifizierte selten von Weiterbil-
Mehr als 2/3 der beschäftigten Personen ohne Aus-          dungen profitieren, da diese vermehrt im Unternehmen
bildung sind auf Stellen tätig, für die sie formal         stattfinden bzw. durch die ArbeitgeberInnen finanziert
unterqualifiziert sind, z. B. als FacharbeiterIn oder      werden. Sie sehen die dringende Notwendigkeit, die
SpezialistIn (Bürmann und Wiek 2018). Sie verfügen         finanziellen Mittel für allgemeine und berufliche Wei-
also über relevante berufspraktische Kompetenzen, die      terbildung substantiell aufzustocken und die Beratung
sie aber nicht mit Hilfe eines Abschlusszeugnisses oder    zu verbessern. Die Nationale Weiterbildungsstrategie
Zertifikates nachweisen können. Dies unterstreicht die     ist ein wichtiger Schritt in diese Richtung. Vor allem
Notwendigkeit, informell erworbene Kompetenzen zu          ist der in der Strategie festgehaltene geförderte Rechts-
zertifizieren und dadurch transparent und transporta-      anspruch auf das Nachholen eines Berufsabschlusses
bel auch zwischen ArbeitgeberInnen zu machen.              richtig. Um dieses Ziel zu erreichen, benötigen Gering-
                                                           qualifizierte aber wie bereits erwähnt ein umfassendes
                                                           Netz an Beratung und finanzieller Unterstützung, um
                                                           Weiterbildungsbarrieren abzubauen.

Seite 9
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

3. Arbeit über Geringfügigkeit hinaus fördern             Fazit
Die deutsche Arbeitsmarktpolitik sollte sich den          Damit Geringqualifizierte nicht dauerhaft von der
Wunsch vieler gering qualifizierter ArbeitnehmerIn-       positiven Entwicklung des Arbeitsmarkts abgehängt
nen, mehr zu arbeiten, zu eigen machen und durch          werden, muss die Politik in Deutschland handeln. Es
entsprechende    Maßnahmen     unterstützen.   Längere    gilt, Geringqualifizierte durch Förderung und Weiter-
Arbeitszeiten können nicht nur den Kompetenzaufbau        bildung zu befähigen, in bessere Arbeitsverhältnisse
und damit potentiell den beruflichen Aufstieg för-        zu kommen. Dies ist zwar teuer aber langfristig ein
dern, sie erhöhen das Einkommen und verringern die        Gewinn, denn es reduziert die Kosten, die durch
Abhängigkeit vom Sozialstaat. Insofern sollten Refor-     Arbeitslosigkeit und geringe Verdienste entstehen.
men des Steuer- und Transfersystems darauf zielen,        Skandinavische Länder zeigen hierbei was möglich ist.
Geringqualifizierte aus marginaler und geringfügiger      Ein steigendes Kompetenzniveau würde es ermöglichen,
Beschäftigung in bessere Beschäftigungsverhältnisse       den gesetzlichen Mindestlohn weiter anzuheben, um
zu bringen. Mehrarbeit muss sich finanziell auszahlen     so die Einkommenssituation Geringqualifizierter zu
und dadurch attraktiver werden.                           verbessern. Dies sollte mit Augenmaß geschehen, um
                                                          mögliche negative Auswirkungen auf die Beschäfti-
                                                          gung zu vermeiden. Darüber hinaus sollte die deutsche
4. Den Mindestlohn mit Augenmaß weiter anheben            Arbeitsmarktpolitik durch Reformen des Steuer- und
                                                          Transfersystems Beschäftigung über die Geringfügig-
Die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns scheint      keit hinaus finanziell attraktiver machen.
den Trend, dass die Bruttostundenlöhne Mittelquali-
fizierter stärker stiegen als die Geringqualifizierter,
etwas gebremst zu haben: 2016 ging im Kreis der
Geringqualifizierten der Anteil des Niedriglohnsektors
leicht zurück.

Die Einkommensgrenze von Minijobs geht mit einer
automatischen Begrenzung der maximal möglichen
Wochenstundenzahl einher. Der Mindestlohn kann
somit auch eine wirksame Eingrenzung von Minijobs
darstellen. Dafür muss aber stärker auf die tatsäch-
liche Einhaltung der maximalen Arbeitszeit geachtet
werden. Fedorets et al. (2018) zeigen, dass durch die
Zunahme unbezahlter Überstunden der Mindestlohn
häufig unterlaufen wird. Eine verstärkte Überwachung
der Einhaltung der vertraglich vereinbarten Arbeitszei-
ten wäre daher ein wichtiger erster Schritt.

Langfristig sollte ein steigendes Kompetenzniveau in
der Bevölkerung auch von einem höheren Mindestlohn
flankiert werden. Um negative Beschäftigungseffekte
zu vermeiden, ist hierbei eine Anpassung mit Augen-
maß wichtig, sodass höhere Lohnkosten sich auch in
einer gestiegenen Arbeitsproduktivität widerspiegeln.

Seite 10
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

Literatur
Dieser Text basiert größtenteils auf folgender Studie:

Eichhorst, Werner, Paul Marx, Tanja Schmidt, Verena
Tobsch, Florian Wozny und Carolin Linckh (2019):
Geringqualifizierte in Deutschland. Beschäftigung, Entlohnung
und Erwerbsverläufe im Wandel. Bertelsmann Stiftung.

Bürmann, Marvin und Johannes Wiek (2018): Ungelernte
Fachkräfte. Formale Unterqualifikation in Deutschland.
Bertelsmann Stiftung.

Calmfors, Lars, Simon Ek, Ann-Sofie Kolm,
Tuomas Pekkarinen und Per Skedinger (2018):
Arbetsmarknadsekonomisk rapport – Hur fungerar
kollektivavtalen? Arbetsmarknadsekonomiska rådet,
Stockholm.

DARES (2018): Le compte personnel de formation. DARES
résultats. Januar 2018.

Datenreport (2018). Ein Sozialbericht für die Bundesrepublik
Deutschland. Bundeszentrale für politische Bildung.

Dengler, Katharina und Britta Matthes (2018):
Substituierbarkeitspotenziale von Berufen. Wenige Berufsbilder
halten mit der Digitalisierung Schritt. IAB-Kurzbericht
4/2018.

Fedorets, Alexandra, Markus Grabka und Carsten
Schröder (2018): Mindestlohn: Nach wie vor erhalten ihn viele
anspruchsberechtigte Beschäftigte nicht. DIW Wochenbericht
28/2019.

Noack, Martin, Rolf Dobischat, Dieter Münk und Anna
Rosendahl (2019): Stiefkind Weiterbildung. Wo der Staat seine
Bürger vernachlässigt. Aufstieg durch Kompetenzen, Fakten
und Positionen 1/2019. Bertelsmann Stiftung.

Seite 11
Zukunft Soziale Marktwirtschaft PolicyBrief #2019/05

     V.i.S.d.P.                                           Bildnachweis
                                                          jarmoluk / Pixabay – Pixabay License,
     Bertelsmann Stiftung                                 https://pixabay.com/de/service/license
     Carl-Bertelsmann-Straße 256
     33311 Gütersloh                                      Gestaltung
                                                          Markus Diekmann, Bielefeld
     Armando Garcia Schmidt
     Telefon: +49 5241 81-81543
     armando.garciaschmidt@bertelsmann- stiftung.de       Kontakt

     Dr. Thieß Petersen                                   Katharina Bilaine
     Telefon: +49 5241 81-81218                           Project Manager
     thiess.petersen@bertelsmann-stiftung.de              Programm Arbeit neu denken
                                                          Telefon +49 5241 81-81485
     Eric Thode                                           katharina.bilaine@bertelsmann-stiftung.de
     Telefon: +49 5241 81-81581
     eric.thode@bertelsmann-stiftung.de                   ISSN: 2191-2459

Seite 12
Sie können auch lesen