Handbuch Asyl und Rückkehr

 
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           Handbuch Asyl und Rückkehr

Artikel D6           Die Aktualität der Verfolgung

Zusammenfassung
Als Flüchtling anerkannt werden kann, wer aktuell verfolgt wird, wer in der Vergangenheit
verfolgt wurde oder wer vor zukünftiger Verfolgung flieht. Vom Zeitpunkt der Verfolgung zu
unterscheiden ist der Zeitpunkt der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft. Besteht die Ge-
fahr einer Verfolgung aufgrund einer nachhaltigen Veränderung der Verhältnisse im Her-
kunftsstaat seit der Flucht der betroffenen Person nicht mehr, kann in Auslegung des Verfol-
gungsbegriffs der Flüchtlingskonvention FK unter bestimmten Voraussetzungen die Flücht-
lingseigenschaft dennoch bejaht werden.

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Inhaltsverzeichnis
Kapitel 1        Rechtliche Grundlagen ......................................................................... 3
Kapitel 2        Aktualität der Verfolgung ..................................................................... 4
2.1 Aktuelle Verfolgung ............................................................................................ 4
2.2 Vergangene Verfolgung ..................................................................................... 4
2.3 Zukünftige Verfolgung ....................................................................................... 5
2.4 Massgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft... 7
2.5 Asylgewährung trotz Wegfalls der Verfolgungsgefahr ................................... 7
Kapitel 3 Benutzte und weiterführende Literatur ................................................. 10

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Kapitel 1 Rechtliche Grundlagen
Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Flüchtlingskonventi-
on; FK), SR 0.142.30
Artikel 1C Ziffer 5 Absatz 2

Asylgesetz vom 26. Juni 1998 (AsylG); SR 142.31
Artikel 3

Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten für die Schweiz in Kraft
getreten am 28. November 1974 (EMRK); SR 0.101
Artikel 3

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Kapitel 2 Aktualität der Verfolgung

2.1 Aktuelle Verfolgung
Artikel 3 AsylG bezeichnet als Flüchtlinge Personen, die in ihrem Heimatstaat aus asylrele-
vanten Gründen "ernsthaften Nachteilen ausgesetzt sind". Wer zum Zeitpunkt der Ausreise
aus dem Heimatstaat von den Behörden verfolgt wird, ist ─ sofern die übrigen Vorausset-
zungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kumulativ erfüllt sind1 ─ als Flüchtling
anzuerkennen; das Schutzbedürfnis ist offensichtlich. Dies ist beispielsweise der Fall bei
einer Person, die knapp einer politisch motivierten Verhaftung entging oder aus dem Ge-
fängnis entwich.

2.2 Vergangene Verfolgung
Gemäss Wortlaut des Asylgesetzes und der Flüchtlingskonvention ist vergangene Verfol-
gung allenfalls insofern beachtlich, als sie noch andauert oder Hinweise auf eine zukünftige
Verfolgung bestehen.2 Der Grund dafür liegt darin, dass Asylgewährung nicht dem Ausgleich
für vergangene Unbill dient, sondern derjenigen Person gewährt werden soll, die des Schut-
zes durch einen ausländischen Staat bedarf.3 Die schweizerische Praxis anerkennt aber
grundsätzlich auch Personen als Flüchtlinge, die nach Abschluss der Verfolgung ─ bei-
spielsweise nach der Entlassung aus dem Gefängnis ─ um Asyl nachsuchen. Kälin begrün-
det dies mit einer Regelvermutung in dem Sinne, dass aufgrund bereits erlittener ernsthafter
Nachteile auf begründete Furcht vor zukünftiger Verfolgung geschlossen wird;4 die Wieder-
holungsgefahr wird als gegeben erachtet. Diese Regelvermutung gilt jedoch nur, wenn zwi-
schen der Verfolgung und der Flucht in sachlicher und zeitlicher Hinsicht ein Kausalzusam-
menhang besteht, das heisst, wenn die erlittenen Nachteile der Grund für die Ausreise wa-
ren.5

Der zeitliche Zusammenhang fehlt gemäss Praxis, wenn zwischen der Verfolgung und der
Flucht ins Ausland mehrere Monate (je nach Einzelfall länger als sechs bis zwölf Monate)6
vergangen sind, ohne dass die gesuchstellende Person plausibel erklären kann, weshalb sie
nicht sofort geflohen ist. Diese Praxis gründet auf der Vorstellung, dass eine in ihrem Hei-
matstaat verfolgte Person normalerweise bei der ersten Gelegenheit die Flucht aus dem

1 Vgl. D1 Die Elemente des Verfolgungsbegriffs. Namentlich muss die geltend gemachte Verfolgung zusätzlich
  aus einem der in Artikel 3 Absatz 1 AsylG genannten Gründe erfolgen (vgl. D4 Die Verfolgungsmotive), genü-
  gend intensiv (vgl. D5 Die Auswirkungen der Verfolgung), gezielt gegen die gesuchstellende Person gerichtet
  (vgl. D3 Die Gezieltheit der Nachteile) und ausweglos sein (vgl. D2 Die Urheberschaft der Verfolgung sowie
  D10 Die innerstaatliche Fluchtalternative).
2 Vgl. EMARK 1993/11; EMARK 1994/24, E. 8; EMARK 2004/1, E. 6.a; BVGE 2009/51, E. 4.2.5; BVGE 2010/9,

  E. 5.2; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. März 2011, E-5341/2006, E. 5.1.4.1.
3 Kälin, 1990, S. 127.
4 Kälin, 1990, S. 127.
5 Werenfels, 1987, S. 294.
6 Die damalige Asylrekurskommission ARK (heute: Bundesverwaltungsgericht BVGer) geht in EMARK 1998/20

  und EMARK 2000/17 davon aus, dass für ein Opfer früherer Verfolgung die Gefahr zukünftiger Verfolgung fort-
  bestehen kann, auch wenn seit der letzten Verfolgungshandlung zwölf Monate vergangen sind, dies umso mehr
  wenn ausreichende und klare Hinweise in diesem Sinn bestehen.

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Land ergreift. Daraus darf nun aber nicht automatisch – im Sinne eines Umkehrschlusses –
gefolgert werden, wer nicht die erste Möglichkeit zur Flucht genutzt habe, könne in der Hei-
mat nicht ernsthaft verfolgt gewesen sein. Es können nämlich plausible objektive Gründe
(das Fehlen von Reisemitteln, Zwangslagen wegen der Situation der zurückbleibenden Fa-
milienangehörigen, Reiseunfähigkeit wegen Krankheit usw.) für eine zeitlich verzögerte Aus-
reise vorliegen. Auch die individuelle Reaktion auf erlittene Repression (Schockzustand,
geistige „Lähmung“ nach erlittener Folter o.Ä.) kann eine entsprechende Verzögerung erklä-
ren.7 Fehlt der zeitliche Zusammenhang, heisst dies aber nicht, dass die Flüchtlingseigen-
schaft definitiv ausgeschlossen ist, sondern nur, dass die erwähnte Regelvermutung zerstört
ist; die gesuchstellende Person muss nun noch andere Umstände für eine begründete Furcht
vor künftiger Verfolgung glaubhaft machen.8

Ein sachlicher Zusammenhang zwischen Vorverfolgung und Flucht ist dann nicht vorhanden,
wenn die im Zeitpunkt der Ausreise befürchtete Verfolgung andere Ursachen hat als die Vor-
verfolgung: Wurde jemand von einem inzwischen gestürzten Regime während dessen Herr-
schaft inhaftiert, kann nicht im Sinne einer Regelvermutung auf begründete Furcht vor Ver-
folgung durch die Putschisten geschlossen werden.9 Auch hier ist aber im Einzelfall zu prü-
fen, ob nicht andere Gründe für begründete Verfolgungsfurcht vorliegen.

Ausserdem kann der automatische Schluss von Vorverfolgung auf begründete Furcht eben-
falls nicht gezogen werden, wenn sich die Verhältnisse im Heimatstaat in der Zwischenzeit
wesentlich zugunsten der asylsuchenden Person verändert haben. Erscheinen diese Verän-
derungen ernsthaft und von Dauer, so braucht die asylsuchende Person den Schutz des
Asylstaates nicht mehr.

Ausnahmsweise kann jedoch eine vergangene Verfolgung auch nach Wegfall der Verfol-
gungsgefahr (wegen dauernder veränderter Verhältnisse im Heimatland) noch asylrelevant
sein, wenn die Rückkehr in den früheren Verfolgerstaat aus triftigen, auf diese Verfolgung
zurückgehenden Gründen nicht zumutbar ist. In einem solchen Fall muss aber die asylsu-
chende Person darlegen können, dass sie im Moment der Ausreise aus dem Heimatstaat
beziehungsweise Einreise in die Schweiz sämtliche Voraussetzungen zur Anerkennung der
Flüchtlingseigenschaft erfüllt hatte. Das Asyl wird dann gestützt auf Artikel 3 AsylG in Ver-
bindung mit Artikel 1C Ziffer 5 Absatz 2 FK (vgl. Kapitel 2.5 unten).

2.3 Zukünftige Verfolgung
Von keiner gesuchstellenden Person kann erwartet werden, dass sie im Verfolgerstaat bleibt,
bis sie beispielsweise inhaftiert oder misshandelt wird. Deshalb bezeichnet das Asylgesetz
auch Personen als Flüchtlinge, welche begründete Furcht haben, ernsthaften Nachteilen
ausgesetzt zu werden. Der Begriff der begründeten Furcht (well-founded fear) ist die zentrale
Voraussetzung der Flüchtlingskonvention, da diese das Kriterium des erlittenen ernsthaften
Nachteils nicht kennt.

7 Vgl. EMARK 1996/25, E. 5.cc, S. 251; EMARK 1996/42, E. 7.d, S. 370f.
8 Kälin, 1990, S. 128f.; Werenfels, 1987, S. 295; EMARK 1999/7, E. 4.b, S. 46.
9 Kälin, 1990, S. 129.

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Der Begriff „begründete Furcht“ enthält eine subjektive und eine objektive Komponente: Die
betroffene Person muss subjektiv Angst vor Verfolgung haben; diese Angst muss aber ─
beispielsweise auch bei einer überaus ängstlichen Person ─ angesichts der tatsächlichen
Situation objektiv gerechtfertigt sein. In der schweizerischen Praxis wird den objektiven Ge-
gebenheiten stärkeres Gewicht zugemessen als dem subjektiven Empfinden.10 Ähnlich wie
bei der Beurteilung der Unerträglichkeit des psychischen Drucks11 wird auch in der Frage, ob
die Furcht vor Verfolgung begründet sei, von einer objektivierten Betrachtungsweise ausge-
gangen: Es müssen hinreichende Anhaltspunkte für eine konkrete Bedrohung vorhanden
sein, die bei jedem Menschen in vergleichbarer Lage Furcht vor Verfolgung und damit den
Entschluss zur Flucht hervorrufen würden. Beispiel: Begründete Furcht vor zukünftiger Ver-
folgung ist bei einem Zellenmitglied, das heisst einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter
einer Untergruppe einer politischen Organisation, gegeben, wenn die restlichen Mitglieder
aufgrund ihrer gemeinsamen Tätigkeit bereits verhaftet worden sind; nicht jedoch bei einer
Teilnehmerin oder einem Teilnehmer einer tausendköpfigen Demonstration, in deren Folge
einige wenige Manifestierende inhaftiert wurden.

Die Verfolgung soll also nicht nur eine weit entfernte Möglichkeit darstellen,12 sondern mit
beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. „Es genügt nicht, dass diese Furcht [vor Verfolgung]
lediglich mit Ereignissen oder Umständen, die sich früher oder später möglicherweise ereig-
nen könnten, begründet wird".13 Es wird darauf abgestellt, ob unter den gegebenen Voraus-
setzungen der betroffenen Person ein weiterer Verbleib im Heimatstaat bzw. eine Rückkehr
dorthin objektiv zumutbar ist oder nicht. Die drohenden staatlichen Massnahmen müssen
derart sein, dass jeder Mensch in ähnlicher Lage zur Flucht gezwungen würde.14

Die Kriterien der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer zukünftigen Verfolgung sind nicht a
priori gleichzusetzen mit den Voraussetzungen der überwiegenden Wahrscheinlichkeit der
Flüchtlingseigenschaft aus Artikel 7 Absatz 2 AsylG oder mit der erheblichen Wahrschein-
lichkeit von Menschenrechtsverletzungen im Sinne von Artikel 3 EMRK. Beachtlich meint
mehr als nur zukünftig möglich. Überwiegend bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit des Ein-
tritts grösser ist als die des Nichteintritts. Erheblich hingegen ist eine Drohung von generell
ernsthafter Natur. Die Abgrenzungen sind fliessend und verlangen eine Auslegung anhand
des konkreten Einzelfalls. So sind bei der Prüfung namentlich individuelle Tatbestandsele-
mente wie frühere Massnahmen gegen die gesuchstellenden Personen15 und das Vorgehen
des Heimatstaates in ähnlich gelagerten Fällen16 oder gegenüber Angehörigen der asylsu-
chenden Person17 zu berücksichtigen.

10 Kälin 1990, S. 138.
11 Vgl. D5 Die Auswirkungen der Verfolgung.
12 EMARK 1993/21, E. 3, S. 139.
13 Vgl. Botschaft zum Asylgesetz und zu einem Bundesbeschluss betreffenden den Rückzug des Vorbehaltes zu

  Artikel 24 des Übereinkommens über die Rechtstellung der Flüchtlinge vom 31 August 1977 (BBI 1977 III 105),
  S. 117.
14 Kälin, 1990, S.143.
15 EMARK 1993/11, E. 4.c, S. 71; EMARK 1994/5, E. 3.h, S. 48; EMARK 1994/24, E. 8, S. 177f.
16 EMARK 1993/9, E. 5.c, S. 59; EMARK 1997/10 E. 6, S. 73f.
17 EMARK 1993/6, E. 4, S. 37; EMARK 1993/39, E. 6, S. 283ff.; EMARK 1994/5, E. 3.h, S. 47f.; EMARK 1994/17,

  E. 4, S. 137.

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2.4 Massgeblicher Zeitpunkt für die Bestimmung der Flüchtlingsei-
genschaft
Vom Zeitpunkt der Verfolgung zu unterscheiden ist der Zeitpunkt der Bestimmung der Flücht-
lingseigenschaft. Der massgebliche Zeitpunkt dafür ist der Zeitpunkt der Entscheidfällung.
Für die folgenden Tatbestände bedeutet dies:18

-      Asylrelevante Gefährdung, die erst nach der Ausreise eingetreten ist, führt zur Asylge-
       währung, wenn sie losgelöst vom Verhalten der asylsuchenden Person durch Verände-
       rungen im Heimatstaat (beispielsweise politischer Umsturz, verstärkte Repression be-
       stimmter Bevölkerungsteile) hervorgerufen wird (sogenannte objektive Nachfluchtgrün-
       de).

-      Asylrelevante Gefährdung, die die gesuchstellende Person durch ihr Verhalten nach der
       Ausreise oder durch die Ausreise selbst herbeiführt (sogenannte subjektive Nachflucht-
       gründe19), führt zwar zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, stellt aber gemäss Ar-
       tikel 54 AsylG einen Asylausschlussgrund dar.

-      Verfolgungsmassnahmen, welche der Heimatstaat zwar nach dem Verlassen des Lan-
       des, aber wegen Aktivitäten der gesuchstellenden Person vor der Flucht ergriffen hat,
       sind ebenfalls zugunsten der asylsuchenden Person zu werten (beispielsweise die Erstel-
       lung eines Haftbefehls nach der Ausreise).

-      Verbesserte sich die Situation im Heimatstaat in der Zeit zwischen Ausreise und Asylent-
       scheid, so wird dieser Umstand zulasten der asylsuchenden Person berücksichtigt. Er-
       folgte beispielsweise nach der Ausreise eine Begnadigung, verliert die entsprechende
       Verurteilung ihren Verfolgungscharakter. Zu prüfen bleibt aber, ob die gesuchstellende
       Person nach einer allfälligen Rückkehr nicht erneut von Verfolgung bedroht sein würde.

Der Zeitpunkt der Ausreise ist bei der Anwendung der aktuellen Praxis nur insofern von Be-
deutung, als zwischen erlittener Verfolgungshandlung und Ausreise nicht mehr Zeit verstrei-
chen darf, als der Grundsatz der Aktualität einer asylrelevanten Verfolgung akzeptiert (vgl.
Kapitel 2.2 oben).

2.5 Asylgewährung trotz Wegfalls der Verfolgungsgefahr
Grundsätzlich muss eine asylsuchende Person im Zeitpunkt der Entscheidfällung verfolgt
sein oder (allenfalls aufgrund vergangener Verfolgung) objektiv begründete Furcht vor künfti-
ger Verfolgung haben, um als Flüchtling anerkannt zu werden. Besteht die Gefahr einer Ver-
folgung aufgrund einer nachhaltigen Veränderung der Verhältnisse im Herkunftsstaat seit der
Flucht der betroffenen Person nicht mehr, kann die Flüchtlingseigenschaft nicht mehr zuer-
kannt werden.

18   Zum Folgenden vgl. Kälin, 1990, S. 130f.
19   Vgl. D8 Die subjektiven Nachfluchtgründe.

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In Weiterentwicklung ihrer Praxis zu Artikel 1C Ziffer 5 Absatz 2 FK hat bereits die ehemali-
ge Schweizerische Asylrekurskommission ARK Ausnahmen von diesem Grundsatz zugelas-
sen, indem sie den Verfolgungsbegriff von Artikel 3 AsylG im Lichte von Artikel 1C Ziffer 5
Absatz 2 FK ausgelegt hat und unter bestimmten Voraussetzungen die Flüchtlingseigen-
schaft bejaht hat, auch wenn im Zeitpunkt der Entscheidfällung keine Verfolgungsgefahr für
die betroffene Person mehr bestand. Dass bei der Auslegung des Asylgesetzes die Doktrin
zur FK zu berücksichtigen ist, entspricht einhelliger Lehrmeinung, zumal Artikel 3 AsylG und
Artikel 1 FK grundsätzlich inhaltlich deckungsgleich sind.20

Abs. 2 des Artikel 1C Ziffer 5 FK statuiert eine Ausnahmeregelung von der grundsätzlichen
Beendigung der Flüchtlingseigenschaft21 wegen wesentlicher Veränderungen im Heimat-
staat: „Diese Bestimmungen sind jedoch nicht auf die in Ziffer 1 des Abschnittes A erwähn-
ten Flüchtlinge anwendbar, die den Schutz ihres Heimatstaates aus triftigen Gründen, die auf
frühere Verfolgungen zurückgehen, ablehnen.“

Diese Regelung bezieht sich also auf die besondere Lage von Personen, die in der Vergan-
genheit unter sehr schwerer Verfolgung zu leiden hatten und deren Flüchtlingseigenschaft
nicht notwendigerweise beendet wird, auch wenn sich in ihrem Herkunftsland grundlegende
Veränderungen vollzogen haben. Gemäss UNHCR ist dieser Absatz Ausdruck eines weitrei-
chenden humanitären Grundsatzes, der nicht nur auf „statutäre Flüchtlinge“ im Sinne des
Artikels 1A FK, sondern auch auf andere Flüchtlinge angewendet werden kann. Ratio der
Bestimmung ist, dass von einer Person, die selbst (oder deren Familie) besonders schwere
Verfolgung zu erdulden hatte, nicht erwartet werden kann, dass sie ins Heimatland zurück-
kehrt. Auch wenn in dem betreffenden Land eine Änderung des Regimes stattgefunden ha-
be, so bedeute dies nicht immer auch eine völlige Änderung in der Haltung der Bevölkerung;
noch bedeute sie, in Anbetracht der Erlebnisse in der Vergangenheit, dass sich der psychi-
sche Zustand des Flüchtlings völlig geändert habe.22

Die ARK hat erstmals in EMARK 1993/31 festgehalten, dass die in Artikel 1C Ziffer 5 Ab-
satz 2 FK erwähnten triftigen Gründe, aufgrund deren die betroffene Person eine Rückkehr
ins Herkunftsland ablehnt, nicht erst beim Asylwiderruf, sondern auch schon im Zeitpunkt der
Prüfung der Flüchtlingseigenschaft zu beachten seien.

Unter triftigen Gründen sind dabei etwa psychische Blockaden, welche der Rückkehr in den
Herkunftsstaat entgegenstehen, zu verstehen. Die psychische Unmöglichkeit einer Rückkehr
wird dahingehend konkretisiert, dass bei den betreffenden Personen die physische und/oder
psychische Widerstandskraft gebrochen ist. Dies ist der Fall, wenn die asylsuchende Person
im Heimatstaat traumatisierende Erlebnisse (schwerwiegende Verfolgungen verbunden mit
extremer Gewalt z.B. in Form von unmenschlicher, erniedrigender Behandlung oder Folter)
hatte, die zur Flucht geführt und sich als Langzeittrauma ausgewirkt haben. Dabei ist auch
möglich, dass die betroffene Person aufgrund von Misshandlungen, die nahen Angehörigen

20 Vgl. Kälin, 1990, S. 28; Werenfels,1987, S. 60f.
21 Vgl. E6 Die Beendigung des Asyls.
22 UNHCR, 1979, S.37.

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zugefügt wurden, traumatisiert ist. Das Langzeittrauma muss sich so auswirken, dass eine
Rückkehr ins Heimatland (bzw. eine Kontaktaufnahme mit den heimatlichen Behörden) auch
bei objektiver Betrachtung psychisch verunmöglicht ist.23

Es muss in jedem konkreten Einzelfall – in der Regel (aber nicht zwingend) mittels ärztli-
cher/psychiatrischer Überprüfung – abgeklärt werden, ob ein heute noch und bis auf weiteres
andauerndes Langzeittrauma besteht. Eine Prognose ist auch aufgrund von Regelvermutun-
gen möglich. Die ARK geht beispielsweise davon aus, dass sowohl die Überlebenden der
Massaker von Srebrenica als auch die Überlebenden des Bürgerkrieges in Ruanda objektiv
zutiefst traumatisierende Erfahrungen gemacht hatten, weshalb bei diesen Personen im
Zweifelsfall ein Trauma zu vermuten sei.24

Unter den Begriff „zwingende Gründe“ kann auch eine andauernde feindselige Haltung wei-
ter Teile der einheimischen Bevölkerung (insb. Diskriminierung) gegenüber der betroffenen
Person subsumiert werden.25

23 EMARK 1995/16, E. 4.d, S. 166f.; EMARK 1996/10; EMARK 1996/42; EMARK 1997/14; Urteil des Bundesver-
  waltungsgerichts vom 4. Februar 2010, D-5906/2006, E. 5.6.
24 EMARK 1997/14; EMARK 1998/16.
25 EMARK 1995/16, E. 4.d, S. 167.

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Eidgenössisches Justiz- und Polizeidepartement EJPD
                                            Staatssekretariat für Migration SEM
                                            Direktionsbereich Asyl
                                            Abteilung Asyl I

Kapitel 3 Benutzte und weiterführende Literatur
Kälin, Walter, 1990: Grundriss des Asylverfahrens. Basel / Frankfurt.

Werenfels, Samuel, 1987: Der Begriff des Flüchtlings im schweizerischen Asylrecht. Bern
u.a.

UNHCR, 1979: Handbuch über Verfahren und Kriterien zur Feststellung der Flüchtlingsei-
genschaft. Genf.

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