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Fußballer im Fokus Bildungsmaterial zu Sport, Verfolgung und Erinnerung Education Education In Kooperation mit Borussia Dortmund
Impressum Herausgeber*innen: Dr. Henning Borggräfe und Margit Vogt, Arolsen Archives, in Zusammenarbeit mit Dr. Andreas Kahrs, AK Projekte Berlin, und Daniel Lörcher, Borussia Dortmund GmbH & Co. KGAA © 2021 Arolsen Archives – International Center on Nazi Persecution und Borussia Dortmund GmbH & Co. KGAA Diese Publikation ist als PDF online verfügbar unter: https://arolsen-archives.org/downloads/#education Gedruckte Exemplare können zum Unkostenpreis von 3 Euro bestellt werden unter: id@arolsen-archives.org ISBN: 978-3-948126-12-4 Die Arolsen Archives werden gefördert von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien Design: Jan-Eric Stephan Cover: Der polnische Fußballspieler Antoni Łyko bei einem Spiel seiner Mannschaft Wisła Kraków 1937 (dunkles Trikot) und als Häftling im KZ Auschwitz 1941 (© National Digital Archive, Poland; Archives of the Auschwitz-Birkenau State Museum). Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 2
Inhalt 1) Einleitung 04 Hintergründe 2) Erinnerungsprojekte im Fußball in Deutschland und Europa 08 3) Fußball in NS-Deutschland und im damaligen Europa 10 4) Bildungsarbeit mit historischen Dokumenten aus den Arolsen Archives 16 Materialien für einen Projekttag 5) Vorschlag zur Gestaltung eines Projekttages 18 6) Workshop I: Zeitstrahl zu Politik und Fußball 20 7) Workshop II: Fußballer im Fokus 25 a) Julius Hirsch 27 b) Nicolas Birtz 33 c) Norbert Lopper 36 d) Čestmír Vycpálek 41 8) Workshop III: Verwobene Verfolgungsgeschichten 44 Hintergrundtext zur Geschichte von Auschwitz 46 a) Antoni Łyko 48 b) Adam Kniola 51 c) Marian Einbacher 54 d) Ludwik Szabakiewicz 57 Hintergrundtext zur Geschichte von Westerbork 60 e) Ernst Alexander 61 f) Erich Gottschalk 64 g) Eddy Hamel 67 h) Árpád Weisz 70 9) Abschlussdiskussion: Anleitung für Teamer*innen 74 10) Hinweise für eigene Recherchen und Erinnerungsprojekte 75 Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 3
Einleitung Diese Bildungsmaterialien handeln von Menschen Borussia Dortmund, der seit vielen Jahren Bildungs- aus verschiedenen europäischen Ländern, die Opfer projekte zur Geschichte des Nationalsozialismus der nationalsozialistischen Verfolgung wurden. Ihre mit Fans und Mitarbeiter*innen durchführt. Somit Gemeinsamkeit: Sie waren Fußballer. Der Blick konnten unterschiedliche Erfahrungen in der histo- wird damit auf ein Alltagsphänomen gelenkt, das risch-politischen Bildung zusammenfließen. Die bereits vor der Zeit des Nationalsozialismus Materialien bestehen im Kern aus Archivdokumen- viele Menschen begeisterte. Heute ist der Fußball ten und biographischen Informationen sowie auf der ganzen Welt über Generationen und aus Erläuterungen und Arbeitsblättern, die ein Grenzen hinweg ein verbindendes Element. methodisch vielfältiges kooperatives Lernen ermög- Millionen aktive Sportler*innen lieben das Spiel lichen. Sie eignen sich ohne Einschränkungen zum ebenso, wie Millionen Fans in den Stadien. Der Einsatz im Schulunterricht, richten sich aber ins- historischen Bildungsarbeit zum Nationalsozialis- besondere an Lerngruppen und Initiativen im außer- mus kann das Thema Fußball damit neue Zielgrup- schulischen Bereich. Workshops können unter pen erschließen. Für Menschen, die schon tiefer mit anderem im Rahmen der Arbeit mit Fußballfans, als der Geschichte vertraut sind, bietet das Spiel mit begleitende Aktivität von Gedenkstättenbesuchen dem Ball wiederum eine neue, anregende Perspek- oder als Initiative von Sportmannschaften und tive auf das Thema. Sportvereinen stattfinden. Projekte zur historisch-politischen Bildung haben im deutschen Fußball bereits eine gewisse Tradition und finden auch in anderen europäischen Ländern zunehmend Verbreitung. Ein Einführungstext in Abschnitt 2 gibt einen Überblick zur Entwicklung in diesem Feld. Die Erfahrungen aus ver- schiedenen Erinnerungs- und Bildungs- initiativen im Fußballkontext haben gezeigt, dass insbesondere das Alter keine Barriere im gemeinsamen Lernen über die Geschichte des Nationalsozia- lismus darstellt. Unter dem Dach des jeweils geliebten Vereins finden statt- dessen oft äußerst heterogene Gruppen zusammen, um sich über Themen jenseits des Fußballplatzes auszu- Fans des BVB bei einer Gedenkstättenfahrt im ehemaligen Lager Auschwitz-Monowitz, 2013 © BVB tauschen und sich für unterschiedliche gesellschaftliche Belange zu engagieren. So verstehen wir das vorliegende Ma- Die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit terial ausdrücklich als Anregung für die Bildungs- ist heutzutage eng verbunden mit der Frage nach arbeit in allen Altersgruppen und unterschied- gesellschaftlichen Ursachen und Strukturen, lichen Konstellationen. in denen die nationalsozialistischen Verbrechen Wir hoffen, auch Gruppen und Institutionen zu geschehen konnten. In vielen Bildungsprojekten einem Workshop zum Thema ermutigen zu können, zum Nationalsozialismus folgt dem Blick auf die die das Gebiet der historisch-politischen Bildung Vergangenheit die Befragung der gegenwärtigen als Neuland betreten. Wir sind uns sicher, dass sich Gesellschaft nach Diskriminierung und Ungleich- auf Basis der vorliegenden Materialien spannende heit. Hierbei spielen auch die Lebenssituationen Erfahrungen sammeln lassen. Um einen Einstieg und Erfahrungen der Teilnehmenden von Bildungs- möglichst leicht zu gestalten, findet sich als angeboten eine wichtige Rolle. Einleitung in den Materialteil in Abschnitt 5 ein Die Zusammenstellung der vorliegenden konkreter Vorschlag zur Gestaltung eines Projekt- Materialien erfolgte in Kooperation zwischen tages. Dabei bleibt es je nach Erfahrung den den Arolsen Archives und dem Fußballverein Teamer*innen des Workshops überlassen, ob eine Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 4
enge Anlehnung an diesen Ablauf erfolgt, oder ob ehesten mit der Unterteilung in Zeitabschnitte ver- die aufbereiteten Archivdokumente und Biogra- stehen. Dann wird deutlich: Die NS-Verfolgung traf phien als Materialbasis für einen selbstgestalteten nicht alle Menschen in Europa gleichzeitig. Wäh- Workshop dienen. rend in Deutschland unmittelbar mit der Macht- übernahme der Nationalsozialisten die Verfolgung von politisch und rassistisch definierten Gegner*in- Ein Blick in die europäischen nen begann, lebten die Menschen in anderen Län- Gesellschaften und auf verschiedene dern noch einige Jahre in vermeintlicher Sicherheit. Opfergruppen Wiederum andere suchten zunächst Zuflucht in anderen Ländern, gerieten nach der deutschen Das Alltägliche des Fußballs ist ein spannender Besatzung jedoch erneut ins Visier der Nazis. Gradmesser für den 1933 beginnenden Wandel im Wenn möglich, werden die Biographien entlang nationalsozialistischen Deutschland wie für Ver- eines Zeitstrahls rekonstruiert, der vor dem Beginn änderungen der europäischen Gesellschaften, die der NS-Herrschaft im jeweiligen Land startet und ab 1938 sukzessive Ziel der deutschen Kriegs- und gegebenenfalls über das Kriegsende hinausreicht. Eroberungspolitik wurden. Daran anschließend Die Menschen werden so aus der ausschließlichen lassen sich Fragen formulieren und diskutieren: Zuordnung als »Opfer« herausgeholt und als Indivi- Welche Auswirkungen hatte die Machtüber- duen mit einer vielfältigen Lebensgeschichte wahr- nahme der Nationalsozialisten auf den Fußball in nehmbar. Über einen Zeitstrahl können die Lebens- Deutschland? Wo und für wen war es in Europa läufe auch miteinander in Beziehung gesetzt noch möglich, Fußball zu spielen? Welche Ein- werden, denn sie weisen wichtige Unterschiede, schränkungen gab es für jüdische Sportler*innen aber auch Gemeinsamkeiten auf. Dies erfolgt mit außerhalb Deutschlands auch schon vor der Be- einem wichtigen Lernziel: Wenn Unterschiede greif- satzung? Wer wurde zum Opfer der nationalsozia- bar werden, wird Diversität wahrnehmbar. Einer- listischen Verfolgung und was geschah mit diesen seits erscheinen Jüdinnen und Juden somit jenseits Menschen? einer homogenisierenden Vorstellung von »den Ju- Die Teilnehmenden eines Workshops können den«, die vor allem der nationalsozialistischen Ideo- sich ausgehend von diesen Fragen die Situation in logie entspricht, als eine äußerst heterogene Grup- verschiedenen Gesellschaften Europas erschließen. pe. Andererseits sollte das Lernen über den Dabei lernen sie nicht nur ein Stück Geschichte des Nationalsozialismus auch die unterschiedlichen europäischen Fußballs kennen, sie können auch Opfergruppen im Blick behalten. Erst hierdurch wird anhand dieses Beispiels mit Bezug zu ihrer eigenen das Ausmaß der Massenverbrechen deutlich. Dies Lebenswelt einen neuen Blick auf die durch den wird durch die europäische Perspektive, die diesen Krieg und den Holocaust markierte Zäsur in der Ge- Materialien zugrunde liegt, zusätzlich unterstützt. schichte Europas entwickeln. Ein einführender Text In der Skizze des vorgeschlagenen Projekttags in Abschnitt 3 zum Fußball in den 1930er und werden in Abschnitt 5 Leitfragen und Inhalte für 1940er Jahren bietet einen Überblick über die drei Workshop-Phasen vorgestellt. Material und Entwicklung und verschiedene Ansatzpunkte für Hinweise zur Durchführung und Moderation des weiterführende Recherchen. ersten Workshops (Zeitstrahl) finden sich in Ab- Fußballer bildeten keine eigene Häftlingskate- schnitt 6. Konkrete, weiterführende Arbeitsimpul- gorie in den nationalsozialistischen Lagern, und se in den Abschnitten 7 und 8 sind so konzipiert, doch gab es sie überall. Die für diese Materialien dass sich die Workshop-Arbeit je nach verfügbarer ausgewählten Biographien zeigen Menschen, Zeit und dem Gruppenkontext ausbauen lässt und die sich in Herkunft, Lebensgeschichte und bestimmte Aspekte des Verfolgungsgeschehens politischer Orientierung unterschieden. Aber sie wie auch des Überlebens nach der Befreiung an alle haben ihren Platz auf der Zeitleiste des einzelnen Biographien vertieft werden können. europäischen Fußballs. Arbeitsschritte mit Online-Recherchen nach weiteren Informationen lassen sich in allen Abschnitten einbauen. Die Richtung, in die sich Didaktische Anmerkungen eine Online-Recherche entwickelt, ist dabei nicht von vornherein festgelegt. Die Zusammenstellung der Materialien erfolgte Beim Blick auf die hier präsentierten Materialien unter Einbeziehung unterschiedlicher didaktischer und im Internet verfügbaren Informationen fällt auf, Leitgedanken. Im Zentrum stehen die Lebensge- dass unsere Kenntnisse über die versammelten Le- schichten von Fußballern aus mehreren europäi- bensläufe der Menschen sehr unterschiedlich sind. schen Ländern. Biographische Zugänge bieten viel- Zu manchen Personen liegen umfangreiche Infor- fältige Möglichkeiten für das historische Lernen. mationen vor, zu anderen sind es nur Fragmente Zunächst können die verschiedenen Biographien in ihrer Verfolgungsgeschichte. Diese Unterschiede in einen breiteren Kontext eingeordnet werden. Die der Überlieferung wahrzunehmen, ist eine wichtige Geschichte des Nationalsozialismus lässt sich am Erkenntnis bei der Annäherung an die Geschichte Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 5
der nationalsozialistischen Massenverbrechen. Die Zum Abschluss finden sich hierfür in Abschnitt 10 Teilnehmenden des Workshops lernen dabei, dass einige praktische Hinweise, wie Erinnerungsprojek- die oft verbreitete Formel, man wisse mittlerweile te durchgeführt werden können und wo Archive und schon alles über Ereignisse des Nationalsozialis- Gedenkstätten existieren, die Quellen verwahren mus, unzutreffend ist. Im Gegenteil: Zu den meisten und bei der Recherche oder der Projektplanung der Millionen Einzelschicksale der Verfolgten und weiterhelfen können. Außerdem bietet das umfang- Ermordeten gibt es eben nur Bruchstücke an Infor- reiche Online-Archiv der Arolsen Archives für mationen. Viele sind bis heute unbekannt geblieben, biographische und ortsbezogene Nachforschungen auch wenn in Archiven Dokumente zur Verfolgung breite Recherchemöglichkeiten. überliefert sind. Die verfügbaren Fragmente setzen Die vorliegende Publikation erscheint parallel zur sich zusammen aus Dokumenten ganz unterschied- deutschen auch in einer englischsprachigen Ver- licher Quellenarten. Der Umgang mit und das Ver- sion. Inhaltlich unterscheiden sich beide Versionen stehen von historischen Dokumenten sind zusätz- nur insofern, als in der englischen Version mit Blick liche Aspekte, die als Lernziele diesen Materialien auf die Sprache teils andere weiterführende Hin- zugrunde liegen. Eine Einführung in Abschnitt 4 weise auf Webangebote gegeben werden. Zusätz- bietet hierzu vertiefende Informationen. lich enthält sie auch Übersetzungen aller deutsch- Die Arbeit mit den hier präsentierten Materialien sprachigen Archivdokumente. ermöglicht somit vielfältige Ergebnisse. Unabhängig davon sollte es jedoch das Ziel historisch-politi- scher Bildungsarbeit sein, dass die Teilnehmenden zum Thema miteinander ins Gespräch kommen und dabei auch eigene Ideen für eine weitere Auseinan- dersetzung mit der Geschichte entwickeln. Aus den Dokumenten lassen sich in diesem Sinne nicht nur Aspekte der Verfolgung der vorgestellten Personen rekonstruieren und Hintergründe zu Orten der NS- Verbrechen erfahren. Vielmehr erwerben die Teil- nehmenden auch Kompetenzen im Umgang mit Quellen, die für eigene Erinnerungsprojekte wichtig sind. Bestenfalls regt so das beim Workshop selbst praktizierte forschend-entdeckende Lernen eine Recherche und ein Erinnerungsprojekt zur eigenen Stadt- oder Vereinsgeschichte an. Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 6
Die Arolsen Archives sind ein inter- Jährlich beantworten die Arolsen Archives Anfragen nationales Zentrum über NS-Verfolgung zu rund 20.000 NS-Verfolgten. Wichtiger denn mit dem weltweit umfassendsten je sind die Angebote für Forschung und Bildung, um Archiv zu den Opfern und Überlebenden des das Wissen über den Holocaust, Konzentrations- Nationalsozialismus. Die Sammlung mit Hinweisen lager, Zwangsarbeit und die Folgen der Nazi-Ver- zu rund 17,5 Millionen Menschen gehört zum brechen in die heutige Gesellschaft zu tragen. UNESCO-Weltdokumentenerbe. Sie beinhaltet Die Arolsen Archives bauen ein umfangreiches Dokumente zu den verschiedenen Opfergruppen Online-Archiv auf und machen die Dokumente des NS-Regimes und ist eine wichtige Wissensquel- weltweit zugänglich. le, besonders auch für jüngere Generationen. Die Arolsen Archives verwahren das weltweit umfassendste Archiv über NS-Verfolgte Der Fußballverein Borussia Dortmund des Hauptsponsors Evonik Industries eine jährliche ist seit vielen Jahren in der Bildungs- Bildungsreise in die Gedenkstätte Auschwitz und Erinnerungsarbeit zum Holocaust durchgeführt. Die mehrtägigen Bildungsprojekte engagiert. Nach ersten Tagesfahrten in deutsche schlagen jeweils einen Bogen zur Verfolgungs- Gedenkstätten im Jahr 2008 besuchen seit 2011 geschichte der Dortmunder Jüdinnen und Juden. einmal im Jahr Fans mit einem mehrtägigen Angebot Ergänzt werden diese Aktivitäten durch regel- die Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau in Polen. mäßige Veranstaltungen und Workshops in 2014 wird ein zweites jährliches Projekt etabliert, Dortmund, die auch den heutigen Antisemitismus das sich auf die Spuren einer Deportation aus sowie andere Diskriminierungsformen in den Dortmund in das Ghetto von Zamość begibt. Seit Blick nehmen. 2017 wird auch für Mitarbeiter*innen des BVB und Erinnerung an die Dortmunder Jüdinnen und Juden in der Gedenkstätte Belzec, 2017 © BVB Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 7
Erinnerungsprojekte im Fußball in Deutschland und Europa In regelmäßigen Abständen finden in deutschen Vereine diesem Schritt und publizierten eigene Fußballstadien Aktionen zur Erinnerung an die Bücher über ihre Geschichte in der NS-Zeit. Opfer des Nationalsozialismus statt. Die Fanszenen Fast zeitgleich begannen erste Fangruppen und verschiedener Vereine widmen sich zudem mit Fanprojekte damit, Besuche in Gedenkstätten in Lesungen, Gedenkveranstaltungen, Rundgängen die Fanarbeit einzubinden. Manche Initiativen oder Fußballturnieren, die nach verfolgten Vereins- verbanden beispielsweise ein Auswärtsspiel in mitgliedern benannt sind, der Geschichte des München mit einem Besuch der KZ-Gedenkstätte Holocaust und anderer NS-Verbrechen. Solche Dachau. Andere Fanprojekte besuchten mit Fan- Initiativen zur historisch-politischen Bildung stehen gruppen Gedenkstätten in den Nachbarländern in der deutschen Fußballlandschaft mittlerweile in Polen, Tschechien oder Frankreich. Diese ersten einer gewissen Tradition. Aktivitäten zur Auseinandersetzung mit den NS-Verbrechen waren verbunden mit Initiativen gegen Rechtsextremismus in der Fanarbeit, denen Für Jahrzehnte eine verdrängte im Vorfeld der WM 2006 in Deutschland eine Geschichte gesteigerte Aufmerksamkeit zukam. Einen wichti- gen Beitrag zur positiven Diskursverschiebung die- Die deutschen Fußballvereine taten sich lange Zeit ser Zeit leisteten Fan- und Basisinitiativen wie das schwer mit einem kritischen Blick auf ihre eigene »Bündnis aktiver Fußballfans« (BAFF), deren Aus- Geschichte während des Nationalsozialismus. Wie stellung »Tatort Stadion« seit dem Jahr 2001 eine viele gesellschaftliche Akteure sahen sie sich breite Öffentlichkeit über Rassismus und Anti- als »unpolitische« Institutionen ohne eine spezifi- semitismus im Fußball informierte. sche Rolle in der NS-Gesellschaft. Dass sich viele Im Jahr 2004 entstand außerdem die Initiative Clubs nach 1933 den neuen Machthabern bereit- »Nie Wieder – Erinnerungstag im Deutschen Fuß- willig andienten und beispielsweise aus eigenem ball«, die den verschiedenen Erinnerungsaktivitäten Antrieb Juden aus den Vereinen ausschlossen, einen übergeordneten Rahmen geben konnte und wurde fast überall verschwiegen oder kleingeredet. zur Vernetzung erinnerungspolitisch aktiver Fans und Initiativen beitrug. Seitdem finden viele der Als wichtiger Schritt für die Auseinandersetzung mit genannten Aktivitäten jährlich rund um den inter- der Geschichte des deutschen Fußballs kann die nationalen Holocaustgedenktag am 27. Januar Veröffentlichung der Studie »Fußball unterm Haken- statt. Im Jahr 2005 verlieh der DFB erstmals den kreuz: Der DFB zwischen Sport, Politik und Kom- Julius-Hirsch-Preis, mit dem seither auch regel- merz« im Jahr 2005 gesehen werden, die 2001 vom mäßig Gedenkinitiativen und historische Bildungs- DFB beauftragt worden war. Trotz einiger Kritik gab projekte im Fußball gewürdigt werden. die Untersuchung der Debatte wichtige Impulse. Eine Auswahl aus aktuellen Projekten zeigt, wie Anfang der 2000er Jahre folgten auch einige vielfältig diese Aktivitäten mittlerweile sind: An den jüdischen Fußballer Ernst Alexander erinnert eine ihm gewidmete Straße in der Nähe der Schalker Veltins-Arena, Fans von Hertha BSC Berlin recher- Initiative »Nie Wieder« https://www.niewieder.info chierten die Geschichte des Mannschaftsarztes Hermann Horwitz, der 1943 in Auschwitz ermordet Julius-Hirsch-Preis https://www.dfb.de/preisewettbewerbe/ wurde. Fans von Bayern München erinnerten mit julius-hirsch-preis einer Choreografie nicht nur an den jüdischen Prä- sidenten Kurt Landauer, sondern auch an das Ver- einsmitglied Hugo Railing. Er starb 1942 im Mord- lager Sobibor. Bei Borussia Dortmund begeben sich Nils Havemann: Fußball unterm Hakenkreuz: Mitglieder und Fans seit Jahren auf die Spurensu- Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, che einer Deportation von fast 800 Jüdinnen und Frankfurt am Main 2005. Juden in das polnische Zamość und leisten einen Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 8
wichtigen Beitrag dazu, dieses Ereignis in die vergangener Erfolge erinnert wird, sondern auch Erinnerung der Dortmunder Stadtgesellschaft zu- verfolgte und ermordete Fußballer ihren Platz im rückzuholen. Vor Ort in Dortmund erinnern BVB- Gedächtnis der Vereine gefunden haben. Der FC Fans seit vielen Jahren mit einem Gedenklauf an Chelsea hat im Januar 2019 ein großes Wandbild den ehemaligen Platzwart des Vereins, Heinrich in Erinnerung an Julius Hirsch, Árpád Weisz und Czerkus. Er war als Kommunist im Widerstand aktiv Ron Jones an seinem Stadion in London angebracht. Hirsch und Weisz wurden als Juden in Auschwitz-Birkenau ermordet, Jones war in einem Kriegsgefangenenlager in Auschwitz-Monowitz interniert. Die Erinnerung an Árpád Weisz wird auch mit Initiativen der Clubs im italieni- schen Bologna und in Dordrecht in den Niederlanden aufrechterhalten, wo der ungarische Jude Weisz als erfolgreicher Trainer in die jeweilige Vereinsgeschichte eingegangen ist. Eine internationale Kooperation von Borussia Dortmund, Feyenoord Rotter- dam, dem fare network und dem Anne Frank Haus in Amsterdam hat unter dem Titel »Changing the Chants« eine um- fangreiche Handreichung erarbeitet, die im Herbst 2021 veröffentlicht werden wird (https://changingthechants.eu ). Ziel ist es, Erinnerungs- und Bildungs- Teilnehmer*innen des Czerkus-Lauf in Dortmund, 2017 © BVB projekte im Fußball weiter bekannt zu machen und noch mehr Vereine und wurde wenige Wochen vor Kriegsende von den und Fans auf internationaler Ebene zu ermutigen, Nationalsozialisten erschossen. mit eigenen Projekten die Erinnerung an ermordete Auch in Fürth verknüpften Fans 2018 erstmals und verfolgte Spieler wachzuhalten, wie auch Erinnerungsarbeit mit sportlicher Aktivität und gegen heutigen Rassismus und Antisemitismus in widmeten dem ehemaligen Meister-Stürmer Julius den Stadien aktiv zu werden. Das Projekt möchte Hirsch ein Fußballturnier. den Vereinen auch aufzeigen, welche Chance ihre Strahlkraft in den jeweiligen Regionen bietet, um Menschen für die Beschäftigung mit der Geschich- Gedenken in Europa te des Holocaust und des Nationalsozialismus zu interessieren. Große und kleine Vereine können mit Es gibt auch in anderen Ligen Europas immer mehr öffentlichen Statements und einer klaren Positio- Beispiele dafür, dass nicht mehr nur an Helden nierung, beispielsweise durch die offizielle Teilnah- me an lokalen Gedenkveranstaltungen, eine wichtige Funktion als zukünftige Träger der gesellschaftlichen Erinnerung übernehmen. Dies ist natürlich am einfachsten mög- lich, wenn sie sich mit Bildungs- und Erinnerungsprojekten selbst der eigenen Geschichte widmen oder wenn sich Fans in einem Gemeinschaftsprojekt auf Spurensuche zum Sport im National- sozialismus begeben oder nach lokalen Biographien und Orten der Verfolgung forschen. Wandbild am Stadion von Chelsea London © FC Chelsea Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 9
Fußball in NS-Deutschland und im damaligen Europa Am Ende der Saison 1929/30 bejubelten in 1943, wurde Horwitz von Berlin nach Auschwitz Krakau mehrere tausend Zuschauer*innen ihren verschleppt und dort später ermordet. Verein Cracovia für die zweite polnische Meister- Die Meisterschaften Bolognas schließlich schaft. Am 14. Juni 1931 verfolgten 50.000 wären ohne Árpád Weisz, ungarischer Jude und Besucher*innen im Kölner Sportpark Müngersdorf, schon in jungen Jahren eine Trainerlegende, nicht wie Hertha BSC Berlin mit einem 3:2 Sieg gegen denkbar gewesen. Er floh später vor den italieni- den SV 1860 München die Deutsche Meister- schen Faschisten in die Niederlande, wurde dort schaft errang. Am 16. Mai 1937 feierten im aber nach dem deutschen Einmarsch verhaftet italienischen Bologna die Fans beim 2:0 Heimsieg und über das Durchgangslager Westerbork nach gegen den AC Milan die zweite Meisterschaft ihres Auschwitz verschleppt und dort ermordet. Die Clubs in Serie. Der Fußballsport hat die Menschen Liste solcher Beispiele ließe sich noch sehr viel in Europa schon vor 90 Jahren begeistert, und in länger fortsetzen. Doch schon die kleine Auswahl den 1920er und 1930er Jahren war einiges im zeigt: Die erste Blütezeit des europäischen Fuß- europäischen Fußball bereits so, wie wir es auch balls hatte durch die nationalsozialistische Herr- heute kennen. schaft und den Zweiten Weltkrieg ein jähes Und doch war vieles anders: Denn nur wenige Ende gefunden. Jahre später litten zahlreiche Fußballer unter der deutschen Besatzung Europas. Viele starben als Soldaten an der Front, als Widerstandskämpfer Fußball in Deutschland vor der oder als Gefangene in deutschen Lagern. Beson- NS-Herrschaft ders einschneidend war der Zweite Weltkrieg für den jüdischen Sport. Clubs, die ihren festen Platz In Deutschland war der Fußball zwar schon im auf der Karte des europäischen Fußballs hatten, 19. Jahrhundert angekommen, bis zur Etablierung existierten nach dem Holocaust nicht mehr. als Massensport und Großveranstaltung mit Jüdische Spieler, Trainer und Funktionäre waren Zuschauer*innen dauerte es jedoch einige Zeit. Als noch in den 1930er Jahren in vielen Ländern Euro- Fußballspiele in den 1880er und 1890er Jahren pas teilweise prägende Akteure in ihren Vereinen. zunehmend Verbreitung fanden, stand dem Fußball- Nach 1945 waren sie aus den Clubs verschwun- sport vor allem die deutsche Turnbewegung ab- den. Sie wurden Opfer der nationalsozialistischen lehnend gegenüber. In der damals verbreiteten Verfolgung. Viele wurden ermordet, anderen ge- Auffassung dienten Sport und besonders das lang die Flucht. Einige wenige überlebten Ghettos Turnen nicht nur der »Leibesertüchtigung«, sondern und Lager oder in Verstecken. waren auch verbunden mit militärischem Drill. Aus dieser Perspektive erscheinen die drei oben Einer der Pioniere der neuen Sportart Fußball genannten Beispiele in einem anderen Licht. In der war der jüdische Schüler Walther Bensemann. Meistermannschaft von Cracovia waren die Er lernte das Spiel als Jugendlicher in der Schweiz jüdischen Spieler Ludwik Gintel und Leon Sperling kennen und war später an der Gründung mehrerer wichtige Stützen. Während Gintel nach Kriegs- Vereine in Deutschland beteiligt. Hierzu zählte der ausbruch die Flucht nach Palästina gelang, wurde Karlsruher FV, der 1910 mit seinen beiden späteren Leon Sperling 1941 im Ghetto von Lemberg (L’viv) jüdischen Nationalspielern Julius Hirsch und ermordet. Gottfried Fuchs die seit 1902 unter dem Dach des Die Berliner Meistermannschaft hatte einen DFB ausgetragene Deutsche Meisterschaft errang. Helden auch außerhalb des Platzes. Der jüdische Das Nationalteam in der noch jungen Sportart Mannschaftsarzt Hermann Horwitz galt als Meis- absolvierte am 5. April 1908 sein erstes Länder- ter seines Fachs und sorgte für eine optimale spiel gegen die Schweiz. Der bald folgende Beginn Betreuung des Teams. In einer Verletzungspause des Ersten Weltkriegs (1914–1918) markierte in im Finale behandelte er den späteren Siegtor- allen europäischen Gesellschaften einen Bruch, schützen Willy Kirsei und ermöglichte ihm das und auch der Fußballsport wurde in seiner Entwick- Weiterspielen. Zwölf Jahre später, im Frühjahr lung stark ausgebremst. Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 10
Julius Hirsch (weißes Trikot) bei einem Spiel seines Karlsruher FV, 1912 © Fußball und Olympischer Sport Mit Schwung ging es jedoch nach dem Krieg in der jüdische Vereine, die eigene Spielrunden etablier- Weimarer Republik weiter. Zunächst erhielt der ten. Letztere waren in den 1920er Jahren jedoch Fußball – damals und für die weiteren Jahrzehnte eine Randerscheinung. Wenngleich die National- noch eine rein männliche Veranstaltung – Zulauf spieler Fuchs und Hirsch die Ausnahme blieben, von aktiven Sportlern. Vormalige Gegner des Mann- waren Juden im deutschen Fußball als Spieler wie schaftssports änderten ihre Meinung, und Vertreter als Funktionäre fest etabliert. So blieb auch der eines militärischen Sports sahen nun auch im Fuß- Pionier Bensemann weiterhin aktiv. Auf ihn geht ball die Möglichkeit, Tugenden wie Disziplin zu ver- die Gründung des heute noch populären Magazins mitteln. Dieser Perspektivwechsel hing auch damit »Kicker« im Jahr 1920 zurück. Bensemann verließ zusammen, dass dem Kriegsverursacher Deutsch- erst 1933 aus Angst vor der nun drohenden land nach der Niederlage 1918 eine explizit militä- Verfolgung das Land und ging wieder in die Schweiz, rische Ausrichtung des Sports untersagt war. Den wo er bereits ein Jahr später starb. Fußballvereinen wurden neue Spielflächen zur Verfügung gestellt, und das Spiel mit dem Ball ent- wickelte sich als Breitensportart zur weithin Der deutsche Fußball akzeptierten Möglichkeit, eine generelle »Volks- und die Judenverfolgung im gesundheit« herzustellen. Zeitgleich zogen die Nationalsozialismus Spiele immer mehr Zuschauer an. Ihre Zahl ver- dreifachte sich in zehn Jahren bis 1920. In der Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten erstmals nach Kriegsende wieder ausgetragenen am 30. Januar 1933 sahen sich Juden und politi- Endrunde der deutschen Meisterschaft verfolgten sche Gegner im deutschen Fußball wie in der im Schnitt mehr als 11.000 Zuschauer*innen gesamten Gesellschaft schnell mit Repressalien, die Spiele live im Stadion. Ausgrenzung und Verfolgung konfrontiert. Der ATSB Zwar gab es erste Bemühungen, einen »profes- mit seinen 10.000 Vereinen und mehr als 900.000 sionellen« Fußball zu organisieren, Profifußballer Mitgliedern wurde im Mai des Jahres verboten. gab es in Deutschland aber zunächst nicht. Viele politische Gegner*innen der Nationalsozialisten Fußballer hatten neben ihrem Sport auch einen er- litten in Gefängnissen und Konzentrationslagern, lernten Beruf. Der Spielbetrieb fand zu dieser Zeit viele weitere verloren ihre Stellung im Fußball. auch nicht ausschließlich unter dem Dach des Auf organisatorischer Ebene etablierte eine neu 1902 gegründeten DFB statt. So spielte beispiels- aufgebaute Reichssportführung 16 Sportgaue, und weise der Arbeiter-Turn- und Sportbund (ATSB) ab der DFB wurde wie viele Institutionen im Reich 1920 eine eigene reichsweite Meisterschaftsrunde »gleichgeschaltet«, das heißt, er wurde als ein aus. Unter seinem Dach waren mehr als 3.500 Fuß- »Fachamt« in den zentralistisch organisierten ballvereine aus der Arbeiterbewegung organisiert. Deutschen Reichsbund für Leibesübungen (DRL) Dazu gab es eigenständige Firmensportvereine, überführt. Auch der Spielbetrieb wurde stärker katholische Jugendvereine oder auch einige zentralisiert. Ab der Saison 1933/34 existierten Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 11
wurden. Viele Gesetze sollten diese antisemitische Politik »legitimieren«, darunter die sogenannten Nürnberger Gesetze vom September 1935. Schon Infos zur Geschichte des Nationalsozialismus zuvor waren jüdische Geschäfte boykottiert worden, Umfangreiches Dossier zum Nationalsozialismus bei der Juden verloren ihre Stellung im öffentlichen Dienst Bundeszentrale für politische Bildung: und durften nicht mehr in Berufen arbeiten, die sie https://aroa.to/fussball-bpb zuvor ausgeübt hatten. So war auch das Fortbe- stehen des jüdischen Sports nur von kurzer Dauer. Nach den Olympischen Spielen im Sommer 1936 16 Gauligen, deren Sieger zunächst untereinander in Berlin – das olympische Fußballturnier hatte Ausscheidungsspiele durchführten, ehe ab- Italien im Finale gegen Österreich gewonnen– schließend in Halbfinalspielen und einem Finale verschärfte sich die antijüdische Politik der in Berlin (mit Ausnahme von 1935) der Deutsche Nationalsozialisten zusehends, bis sie in den Meister gekürt wurde. Novemberpogromen 1938 einen vorläufigen Der Leiter des Fachamts und vormalige DFB- Höhepunkt erreichte. Waren im Vormonat Oktober Präsident Felix Linnemann forderte die Mitglieds- schon fast 17.000 polnischstämmige Jüdinnen und vereine schnell auf, sich der »Rassenfrage« anzu- Juden in ihr Geburtsland »abgeschoben«, d.h. ge- nehmen. Bedeutsam ist, dass sich ein Teil der waltsam vertrieben worden, so zeigte sich in den Vereins- und Verbandsfunktionäre dabei sehr be- staatlich gelenkten Ausschreitungen, die zwischen reitwillig der neuen Staatsführung unterordnete und dem 7. und 13. November 1938 erfolgten, eine teilweise vorauseilenden Gehorsam demonstrierte. neue Dimension physischer Gewalt. Im ganzen Land In einer »Stuttgarter Erklärung« bekundeten wurden Synagogen und andere jüdische Einrich- 14 Vereine aus Süd- und Südwestdeutschland tungen angegriffen und zerstört. Mehr als 1.300 bereits am 9. April 1933 ihre Bereitschaft, »ins- Jüdinnen und Juden starben. 30.000 jüdische besondere in der Frage der Entfernung der Juden Männer wurden in Konzentrationslager verschleppt. aus den Sportvereinen« aktiv mitzuwirken. Dies Am 9. November 1938 wurde auch das Berliner geschah ohne staatliche Vorgabe und bevor über- Büro des deutschen Makkabi-Präsidenten zerstört. haupt allgemeine Maßnahmen im DFB beschlossen Die letzten jüdischen Fußballvereine wurden worden wären. Eine Anordnung zum Ausschluss anschließend verboten. Den in Deutschland ver- jüdischer Mitglieder seitens des Verbands ist bisher bliebenen Jüdinnen und Juden waren Sport- und nicht nachgewiesen. Und so verlief dieser Prozess Freizeitaktivitäten zu dieser Zeit ohnehin nahezu im Fußball wie auch in anderen Sportvereinen recht unmöglich. Für sie ging es nur noch ums Überleben. unterschiedlich. Manche jüdischen Mitglieder Einigen gelang noch im letzten Augenblick die Aus- kamen der antisemitischen Diskriminierung wanderung. Diese war jedoch mit hohen Hürden durch einen Austritt zuvor, so wie der frühere und Kosten verbunden, die längst nicht alle Nationalspieler Julius Hirsch. jüdischen Bürger*innen aufbringen konnten. Zudem taten sich viele schwer mit dem Entschluss, ihre Heimat endgültig zu verlassen, und hofften, dass sich die Situation irgendwie bessern würde. Am Zum Weiterlesen: Fußball in NS-Deutschland Vorabend des Krieges waren von ehemals 550.000 jüdischen Bürger*innen (1933) noch ca. 210.000 Lorenz Peiffer/ Dietrich Schulze-Marmeling (Hrsg.): in Deutschland geblieben. Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im National- Nach dem deutschen Überfall auf Polen, der am sozialismus, Göttingen 2008. 1. September 1939 den Beginn des Zweiten Welt- Lorenz Peiffer/ Henry Wahlig: Jüdische Fußballvereine im kriegs markierte, folgte die nächste Phase der anti- nationalsozialistischen Deutschland, Göttingen 2015. jüdischen Politik. Jüdische Bürger*innen sollten nun mit aller Macht aus dem Deutschen Reich gedrängt werden. Schon im Frühjahr 1940 wurden erstmals Andere jüdische Sportler und Funktionäre rea- deutsche und österreichische Jüdinnen und Juden gierten auf den Ausschluss aus ihren Vereinen mit nach Polen und Frankreich deportiert. Doch erst dem Ausbau der Selbstorganisierung. Jüdische einige Monate nach dem deutschen Angriff auf Sportvereinigungen wie »Makkabi« und der Sport- die Sowjetunion im Juni 1941 wurden die Deporta- bund »Schild« versammelten zur Mitte der 1930er tionen fortgesetzt. Bereits im Sommer 1941 Jahre knapp 50.000 aktive jüdische Sportler und markierten Massenerschießungen von Jüdinnen zählten zu den größten Institutionen des jüdischen und Juden in der Sowjetunion hinter der vorrücken- Lebens in Deutschland zu dieser Zeit. den Wehrmacht den Übergang zum Massenmord. Die ersten Jahre der NS-Herrschaft waren davon Ab September 1941 war es deutschen Jüdinnen geprägt, dass Jüdinnen und Juden schrittweise aus und Juden nicht mehr möglich auszureisen. Sie allen Teilen des öffentlichen und wirtschaftlichen mussten zudem von nun an einen gelben Stern auf Lebens gedrängt und ihre Bürgerrechte beschnitten ihrer Kleidung tragen. Im darauffolgenden Monat, Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 12
im Oktober 1941, begannen Massendeportationen Europas Fußball bis zum in verschiedene Ghettos und Lager im deutsch be- Zweiten Weltkrieg setzten Osteuropa, wo die meisten der deutschen Jüdinnen und Juden ermordet wurden. Auf der Ähnlich wie in Deutschland waren auch im euro- Wannsee-Konferenz am 20. Januar 1942 wurden päischen Ausland die ersten Fußballclubs und dann das Prozedere und die Koordination künftiger Meisterschaftsrunden schon im ausgehenden 19. Deportationen aus ganz Europa vereinbart. Jahrhundert entstanden. Besonders viele Fußball- vereine wurden im Kaiserreich Österreich-Ungarn gegründet, das bis zum Ende des Ersten Weltkriegs weite Teile Ostmitteleuropas umfasste, wo nach Kriegsende unabhängige Nationalstaaten ent- Die Broschüre »Verlorene Helden« des Magazins »11 Freunde« standen. Dazu gehörten Teile Polens und Jugos- dokumentiert Biographien von verfolgten Spielern, Funktionären lawiens, Ungarn und die Tschechoslowakei, wo sich und Mitgliedern dutzender deutscher Fußballvereine: in den 1920er Jahren auch eigene Fußball-Struktu- https://aroa.to/fussball-11freunde ren etablierten. Diese Länder folgten nun schnell der Entwicklung im übrigen Europa, wo der Fußball Die Broschüre »Auf den Spuren von Julius Hirsch« beschäf- mit wachsender Popularität zu einem Massenereig- tigt sich mit der Geschichte der Deportation des deutsch- nis wurde. Doch während in fast allen europäischen jüdischen Nationalspielers. Auf der Website des DFB steht sie Ligen Fußballer zu dieser Zeit parallel weiterhin in zum Download bereit: https://aroa.to/fussball-dfb ihren erlernten Berufen tätig waren, entstanden in den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns Mitte der 1920er Jahre auch erste Profiligen. Ab 1927 wurde unter Vereinen dieser Ligen, ab 1930 auch Der Kriegsbeginn und die schrittweise Ausdehnung unter Einschluss Italiens und weiterer Länder, der des Eroberungskrieges auf ganz Europa veränder- erste europäische Vereinswettbewerb ausgetragen: ten auch die übrige deutsche Gesellschaft. Immer der Mitropapokal. Erster Sieger wurde im Herbst mehr Bereiche des Lebens wurden der aggressiven 1927 Slavia Prag in zwei Finalspielen gegen deutschen Kriegspolitik untergeordnet, die Zu- Rapid Wien. stimmung in der Bevölkerung war dennoch hoch. Durch die Expansions- und Kriegspolitik des Und während ihre früheren Mitspieler oder Rivalen Deutschen Reiches wurde der Fußballsport in den verfolgt und ermordet wurden, profitierte manch eingegliederten und besetzten Nachbarstaaten wie deutscher Fußballspieler oder Vereinsfunktionär auch auf der internationalen Ebene stark be- von der »Arisierung« jüdischen Eigentums oder der einflusst. Abhängig von der politischen Situation Ausbeutung ausländischer Zwangsarbeiter*innen. zuvor und auch davon, wann die Länder von der Einige beteiligten sich ganz direkt an den Ver- Wehrmacht überfallen und besetzt wurden, liefen brechen, so Otto »Tull« Harder, Stürmerstar der die sportlichen Aktivitäten bisweilen noch lange Meistermannschaften des Hamburger SV von 1923 uneingeschränkt weiter, während der Mitropapokal und 1928. Als SS-Mitglied zählte er 1940 zur 1940 vor dem Finale abgebrochen wurde und damit Wachmannschaft des Konzentrationslagers insgesamt ein Ende fand. Auch Fußball-Welt- Neuengamme und befehligte ab 1944 das KZ- meisterschaften, die von 1930 bis 1938 alle vier Außenlager Hannover-Ahlem. Jahre ausgetragen worden waren (erster Sieger Der Spielbetrieb im deutschen Fußball ging nach Uruguay, anschließend zweimal nacheinander das Kriegsausbruch zunächst weiter. Allerdings waren faschistische Italien), fanden während des Krieges zahlreiche Mannschaften personell geschwächt, nicht mehr statt. Erst ab 1954 wurde die Fußball- weil die Spieler als Soldaten einberufen wurden. WM wieder ausgetragen. Doch auch in Wehrmacht und SS war der Fußball In manchen Ländern stand der Sport jedoch von Bedeutung, und in den besetzten Ländern auch schon vor Kriegsbeginn nicht mehr allen wurden zahlreiche Wettkämpfe untereinander aus- Spielern offen. In vielen Teilen des Kontinents hatte getragen. Auch die deutsche Nationalmannschaft bereits in den 1920er und 1930er Jahren die anti- trat noch während des Krieges zu Spielen an, ihre semitische Stimmung stark zugenommen, sodass Gegner waren die Teams befreundeter Staaten oder sich einige jüdische Sportler zum Verlassen ihrer Verbündeter. Die Spiele waren ein willkommenes Heimat entschieden. Der jüdische Spieler und Mittel, um der Bevölkerung ein Gefühl von Normali- Coach Árpád Weisz wurde schon in seinem Heimat- tät zu vermitteln. Dies erklärt, warum mit dem land Ungarn früh antisemitisch diskriminiert. Auch Beginn der Niederlagen der Wehrmacht im Winter in seiner neuen Wahlheimat, dem faschistischen 1942 dann auch ein Ende der Länderspiele folgte. Italien, machte er Erfahrungen mit Ausgrenzung Das letzte Länderspiel fand am 22. November 1942 aufgrund seiner jüdischen Herkunft, was ihn Anfang gegen die Slowakei statt (5:2). 1939 schließlich weiter in die Emigration in die Niederlande trieb. Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 13
In Österreich, wo ab 1924/25 erstmals überhaupt 1940. Während ab 1941 sechs luxemburgische in Kontinentaleuropa eine Saison im Profi- Vereine an der deutschen Gauliga Moselland teil- fußball gespielt worden war, spürten jüdische nahmen, ging in den Niederlanden das Fußball- Sportler schon in den frühen 1930er Jahren den spielen unter deutscher Besatzung in einem eigen- wachsenden Antisemitismus sowohl auf den ständigen Ligabetrieb weiter. Sogar die Zuschauer- Rängen der Stadien als auch auf dem Platz. So zahlen stiegen in den Jahren der Besatzung noch erging es in Wien auch Norbert Lopper, der als einmal an. Einige Funktionäre aus den Vereinen und Jugendlicher beim jüdischen Club Hakoah Wien dem Verband suchten die Nähe zu den Besatzern. spielte. In der zweiten Hälfte der 1920er Jahre war Jüdische Spieler wurden teilweise schon vor einem der Club ein internationales Aushängeschild des entsprechenden Erlass der deutschen Behörden österreichischen Fußballs gewesen. Einen Tag nach aus den Kadern der Clubs entfernt, ehe sie später dem »Anschluss« Österreichs an das Deutsche verhaftet und deportiert wurden. In Frankreich Reich am 12. März 1938 wurde er wie alle wiederum gab es unter der deutschen Besatzung jüdischen Vereine zerschlagen und aus den zwar Fußballspiele, aber ein französischer Meister Tabellen gestrichen. wurde erst 1946 wieder gekürt. Östlich des nationalsozialistischen Deutschlands war Polen bereits im Sep- tember 1939 mit dem deutschen Angriff zum Kriegsschauplatz geworden, was auch den Fußball stark beeinflusste. In Polen hatte sich der Fußball bereits ent- wickelt, bevor das Land nach dem Ersten Weltkrieg ein unabhängiger Staat gewor- den war. Bis 1927 war der Ligabetrieb regional organisiert. In der Warschauer Liga war Makkabi Warszawa 1926 der erste jüdische Verein. Aus seinen Reihen kam auch Józef Klotz. Der Stürmer schoss beim 2:1 Sieg gegen Schweden 1922 das erste Tor einer polnischen Nationalmannschaft überhaupt und wechselte 1926 zu Cracovia (Krakau). Zusammen mit ihm waren es vor allem Krakauer Spieler, die 1921 die erste pol- Hakoah Wien, Österreichischer Fußballmeister 1925 © Wikimedia Commons nische Meisterschaft gewannen und in den 1920er Jahren auch Polens Natio- Andere Organisationen, wie Arbeitersportvereine, nalmannschaft prägten. Zu ihnen zählten auch die waren bereits im autoritären »Ständestaat« nach jüdischen Spieler Leon Sperling und Ludwik Gintel. 1933 in Österreich aufgelöst worden. Alle verblie- Während Gintel nach seiner Karriere nach Palästina benen Sportverbände und Wettbewerbe wurden emigrierte, wurde Sperling Ende 1941 im Ghetto im Frühjahr 1938 in die bestehenden Sportstruk- von Lemberg ermordet. turen des Deutschen Reichs eingegliedert. So Kein Land in Europa hatte einen derart großen wurde es möglich, dass der Deutsche Fußball- jüdischen Bevölkerungsanteil wie Polen. Etwas meister im Sommer 1941 Rapid Wien hieß. Die mehr als zehn Prozent der Bevölkerung waren vor Mannschaft besiegte im Finale den FC Schalke 04. dem Zweiten Weltkrieg Jüdinnen und Juden, fast Getilgt aus dem Vereinsgedächtnis waren nun die 3,5 Millionen Menschen. Jüdisches Leben war Entstehungsgeschichte von Rapid, der aus dem folglich im Alltag sehr präsent, und in vielen Städten »1. Wiener Arbeiter Fußball-Club« hervorgegangen waren jüdische Sportvereine bekannt und erfolg- war, sowie die Beteiligung zahlreicher jüdischer reich. Zwei jüdische Vereine waren Gründungs- Mitglieder am Aufbau des Vereins. Die Umbenen- mitglieder der landesweiten Liga ab 1927. Der Ver- nung in Rapid war durch den ersten »Klub- ein Hasmonea Lwów, der schon 1908 im Kaiser- sekretär« Wilhelm Goldschmidt vorgeschlagen reich Österreich-Ungarn gegründet wurde, als worden. Er wurde im Juni 1942 in das Ghetto Izbica die Stadt noch Lemberg hieß und zum Kronland im besetzten Polen deportiert und dort oder Galizien gehörte, hatte mit Zygmunt Steuermann in einem der Mordlager der »Aktion Reinhardt« ebenfalls einen Nationalstürmer in seinen Reihen. ermordet. Der Verein Jutrzenka Kraków stand wiederum der In den Nachbarstaaten Deutschlands verlief die jüdischen Arbeiterbewegung nahe. Wie vielfältig Entwicklung sehr unterschiedlich. In Westeuropa jüdischer Sport in Polen in der Zwischenkriegszeit begann der Krieg mit dem deutschen Überfall auf war, lässt sich erahnen, wenn man sich die Gesamt- Frankreich und die Benelux-Staaten im Sommer zahl von 164 jüdischen Fußballvereinen vor Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 14
Die Meistermannschaft von KS Cracovia mit den jüdischen Spielern Ludwik Gintel (stehend, 4. von links) und Leon Sperling (stehend, 4. von rechts), 1921 © National Digital Archive, Poland Augen führt, die 1934 in den 15 Regionalverbänden der Vorkriegszeit sportliche Rivalen waren. Sie Polens aktiv waren. Auch die Geschichte weiterer sollten sich im KZ Auschwitz wiedersehen, das im polnischer Vereine, die bis heute eine führende Mai 1940 eingerichtet worden war. Łyko und Rolle im Fußball des Landes einnehmen, führt bis Zieliński wurden gemeinsam mit fast 70 anderen in diese bewegte Zeit zwischen den beiden Gefangenen am 3. Juli 1941 in einer »Vergeltungs- Weltkriegen zurück, wo viele von ihnen ihre ersten aktion« von der Lager-SS im Stammlager Auschwitz Erfolge feierten. erschossen. Wie besonders das Beispiel Polen ist, zeigt die große Zahl von 25 damals noch aktiven oder ehemaligen Fußballnationalspielern – Juden wie Zum Weiterlesen: Fußball in Europa Nichtjuden –, die während des Zweiten Weltkriegs von den Nazis ermordet wurden. Markwart Herzog / Fabian Brändle (Hrsg.): Europäischer Der Zweite Weltkrieg endete in Europa am 8. Mai Fußball im Zweiten Weltkrieg, Stuttgart 2015. 1945 mit der bedingungslosen Kapitulation der Ezra Mendelsohn: Jews and the Sporting Life, Oxford 2009. Wehrmacht. In den folgenden Jahren gerieten in vielen europäischen Ländern die ausgeschlossenen, ausgewanderten oder ermordeten Spieler zunächst in Vergessenheit. Die Fußball-Ligen formierten sich neu, und der Fußballsport war ein wichtiger Teil Bereits kurz nach Beginn des Krieges am 1. Sep- der wiedererlangten Normalität. Es dauerte häufig tember 1939 war Polen das erste Land in viele Jahrzehnte, bis Fans, Vereine und Histo- Europa, das vollständig besetzt war – im Westen riker*innen die Geschichten und Biographien von Deutschland, im Osten von der Sowjetunion. Im verfolgter Fußballer wieder ins Bewusstsein sowjetischen Teil war der Fußballsport unter holten – und viele weitere sind bis heute unbekannt. Einschränkungen noch weiter möglich. Im von Deutschland besetzten Teil Polens wurde die Fußball-Liga einen Tag nach Kriegsbeginn verboten. Zahlreiche Fußballer aus Poznań, Kraków und Lódź oder aus den Warschauer Clubs Polonia und Legia waren zuvor schon zum Kriegsdienst eingezogen worden. Andere wurden später als politische Gegner der deutschen Besatzer in Gefängnisse und Konzentrationslager verschleppt. Unter ihnen waren auch die beiden Krakauer Fußballer Antoni Łyko (Wisła) und Witold Zieliński (Cracovia), die in Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 15
Bildungsarbeit mit historischen Dokumenten aus den Arolsen Archives Archivdokumente, wie z.B. Häftlingskarteikarten, De- Weise auch auf Listen, Karteikarten und Formulare portationslisten oder Listen aus der KZ-Verwaltung, zu. Auch diese wurden zu einem bestimmten Zweck können uns helfen, etwas über die Geschichte der und mit einer bestimmten Haltung erstellt. Diejeni- NS-Verfolgung zu erfahren. Als Überbleibsel der Ver- gen, die z.B. Formulare ausfüllten, waren an die vor- gangenheit stehen in ihnen die Opfer, ihr Leiden und gegebenen Strukturen und Regeln für zweckdien- ihre Behandlung durch die Nationalsozialisten im liche Eintragungen gebunden. Zudem ist zu berück- Mittelpunkt. Im Gegensatz zu Sachtexten bieten die sichtigen, dass sich einige Verfasser*innen – die Dokumente einen direkten Zugang zur Geschichte. Häftlinge – beim Ausfüllen in einer Zwangssituation Doch anders als Sachtexte erklären sie sich nicht befanden und dabei oft zugleich eigene Ziele ver- zwangsläufig aus sich selbst heraus. Das, was auf folgten. In einigen Fällen wurden die Formulare den ersten Blick auf Dokumenten zu sehen und zu weder von den Personen selbst noch in ihrer Mutter- lesen ist, ist nicht unbedingt identisch mit ihrer his- sprache, sondern von Dritten ausgefüllt. torischen Aussagekraft. Historische Dokumente Um historische Dokumente zu verstehen, müssen können der Ausgangspunkt für ein forschendes Ler- sie daher entschlüsselt, kritisch gelesen und inter- nen sein, bei dem die Teilnehmenden die Rolle von pretiert sowie in einen Zusammenhang gebracht Historiker*innen einnehmen und Quellen selbst werden. Anders als beim Lesen von Sachtexten, auswerten. kann das Ergebnis einer Auseinandersetzung mit Dokumenten sein, dass nicht alle Sachverhalte abschließend zu klären sind, Fragen können offen- Besonderheiten und Herausforderungen bleiben oder Widersprüche nicht aufgelöst werden. historischer Dokumente Dadurch können sich jedoch auch neue Fragen er- geben, die weitere Recherchen (im Internet oder in Historische Dokumente wurden in einem spezifi- Archiven) auslösen. schen Kontext und für einen bestimmten Zweck er- Wie in der Geschichtswissenschaft besteht die stellt. Zudem spiegeln sie in der Regel die Haltung Auseinandersetzung mit Dokumenten auch in der der Verfasser*innen wider, die sich an der Art der For- Bildungsarbeit aus den Schritten Erschließung, mulierung oder den verwendeten Begrifflichkeiten Quellenkritik und Quelleninterpretation. Idealerweise ablesen lässt, die diskriminierend, verharmlosend oder werden während des Workshops alle drei Schritte in beschönigend sein können. Dies trifft in ähnlicher der Arbeit mit den Dokumenten angewendet und von den Teamer*innen entsprechend angeleitet. Erschließung, Quellenkritik und Quelleninterpretation Bei der Erschließung geht es darum zu verstehen, um was für ein Dokument es sich handelt, das heißt, wann es von wem für welchen Zweck erstellt wurde und was die zentrale Aussage ist. Ein Teil dieser Informationen, z.B. die Bezeichnung des Dokuments, kann sich unmittelbar aus diesem selbst ergeben, andere müssen erst entziffert, entschlüsselt oder gedeu- tet werden. Viele Dokumente, insbeson- dere aus der KZ-Verwaltung, enthalten Blick in den Bereich KZ-Dokumente im Magazinraum der Arolsen Archives Einträge, die zwar lesbar, aber ohne Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 16
Erläuterungen kaum zu verstehen sind. Um ein Bei der Quelleninterpretation schließlich werden die Dokument in seinen spezifischen historischen Kon- gewonnenen Informationen in den historischen Kon- text einzuordnen und die Bedeutung von Begriffen, text eingeordnet und im Sinne einer Fragestellung Abkürzungen und Verweisen zu verstehen, kann es ausgewertet. Die Quelleninterpretation setzt dabei notwendig sein, auf andere Informationsquellen zu- ein gewisses historisches Kontextwissen voraus. Für rückzugreifen. In Archiven wird diese Art von Infor- den Workshop bedeutet dies, dass auf vorher mationen in der Regel in Findbüchern in Form von behandelte Inhalte zurückgegriffen werden kann Archivbeschreibungen zur Verfügung gestellt. Darü- oder dass der Kontext im Zuge der Auseinander- ber hinaus können für das Verständnis vieler Doku- setzung mit den Quellen erarbeitet wird. Hier geht es mente in dieser Publikation Informationen im also nicht mehr nur um die aus der Erschließung e-Guide der Arolsen Archives gefunden werden. eines Dokuments gewonnenen Informationen, sondern um allgemeinere historische Erkenntnisse. Dies trifft insbesondere auch für die Arbeit mit bio- graphischen Dokumenten zu: So stehen hier nicht Der e-Guide ist ein Online-Tool, das häufig überlieferte Doku- allein biographische Details oder die Rekonstruktion mententypen aus den Arolsen Archives beschreibt, darunter einer Biographie im Mittelpunkt, sondern strukturel- viele in dieser Publikation enthaltene Dokumente. Die historische le Fragen zur Verfolgung im Nationalsozialismus, Nutzung wird durch Fragen und Antworten erklärt. Abkürzungen etwa zur KZ-Haft. oder die Funktion einzelner Bereiche des Dokuments werden Die in den Abschnitten 7 und 8 enthaltenen interaktiv erläutert. Nutzer*innen können sich so selbst Kontext- Arbeitsimpulse zu bestimmten Quellen einzelner wissen aneignen: https://eguide.arolsen-archives.org Biographien berücksichtigen die drei genannten Schritte, ohne einem strengen Schema zu folgen. Die Teamer*innen können diese Fragen an die Teilneh- menden weitergeben, um ihnen die Arbeit mit den Ist ein Dokument erschlossen, besteht der nächste Dokumenten zu erleichtern. Dies wird ihnen helfen, Schritt darin, den Inhalt in Form einer Quellenkritik die Dokumente zu verstehen, zu kritisieren und zu zu untersuchen. Dies bedeutet, das Dokument hin- interpretieren. Durch die Arbeit mit Dokumenten er- sichtlich Glaubwürdigkeit, Plausibilität und Richtig- werben die Teilnehmenden dabei nicht nur Wissen keit zu hinterfragen. Dies kann in Form einer imma- über die Geschichte der NS-Verfolgung, sondern nenten Kritik erfolgen, z.B. im Erkennen, dass die schulen auch ihre Fähigkeiten, Quellen zu lesen und junge Altersangabe auf einer Häftlings-Personal- auszuwerten – eine wichtige Voraussetzung, um für Karte mit dem dort angegebenen Beruf nicht in Über- Erinnerungsprojekte zur eigenen Stadt oder zum einstimmung zu bringen ist. Dies ist aber auch im eigenen Verein selbständig mit Archivdokumenten Vergleich von Quellen möglich, z.B. indem wider- zu arbeiten. sprüchliche Angaben in verschiedenen Dokumenten analysiert und erklärt werden. Im Sinne eines for- schenden Lernens können so auch verschiedene Informationen zu einer Person aus unterschiedlichen Dokumenten zusammengetragen und zueinander kritisch in Bezug gesetzt werden. Auch Fragen nach den Interessen und der Perspektive des Autors oder der Autorin sind Teil der Quellenkritik. Arolsen Archives International Center on Nazi Persecution 17
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