INFLATION UND ENTLASTUNGS-PAKETE IN DEUTSCHLAND - Katalysatoren der sozialen Ungleichheit
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Anni Spratt/Unsplash INFLATION UND ENTLASTUNGS PAKETE IN DEUTSCHLAND Katalysatoren der sozialen Ungleichheit Am 24. Februar sind russische Truppen in die Ukraine einmarschiert. Seitdem herrscht Krieg. Die Folgen reichen in vielfältiger Weise über die Ukraine hinaus, auch bis nach Deutschland. Die Preissteigerungen für Energie und Lebensmittel belasten insbesondere einkommensschwache Haushalte. Die Entlastungspakete der Bundesregierung sind sozial unaus- gewogen und unzureichend, um einen Anstieg von Armut und sozialer Ungleichheit zu vermeiden. D ie Leidtragenden des russischen Angriffskriegs kriegs. Aber die Folgen des Krieges reichen auch bis nach sind in erster Linie die Menschen in der Ukraine. Deutschland. Das zeigt sich zunächst in der Aufnahme von Tod, Vertreibung, Zerstörung von Städten und In- Geflüchteten aus der Ukraine. 1 Menschen in Not müssen frastruktur bis hin zu unerträglichen Kriegsver- untergebracht und versorgt werden. Hier zeigen sich sowohl brechen sind täglich in den Nachrichten sichtbar. Dies sind die deutsche Regierung als auch die Zivilgesellschaft bisher die unmittelbaren Resultate des verbrecherischen Angriffs- erfreulich offen. Ukrainische Geflüchtete haben seit dem 1. Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022 31
Juni Zugang zu den Leistungen der regulären Grundsiche- rung und werden nicht auf das Asylbewerberleistungsgesetz verwiesen. Sie werden damit in Deutschland lebenden be- dürftigen Menschen gleichgestellt. Damit wird eine zen- trale Forderung u. a. des Paritätischen Gesamtverbandes zumindest für diese Gruppe von Geflüchteten umgesetzt. 2 Steigende Armut in Deutschland Deutschland ist ein reiches Land, ein Land mit einem aus- gebauten Sozialstaat. Und: Deutschland lebt in Frieden mit seinen Nachbarn. Aber Deutschland ist auch ein gespal- tenes Land mit erheblichen sozialen Problemen. Das zu- sammenfassende Merkmal lautet: Armut. Der Paritätische Gesamtverband dokumentiert diese Entwicklung mit einer gewissen Tradition einmal im Jahr. Eine zentrale Erkennt- nis: Trotz einer vergleichsweise günstigen wirtschaftlichen Entwicklung mit fallenden Arbeitslosenzahlen – zumindest bis vor dem Ausbruch der Corona-Pandemie 2020 – hat die Armut in diesem Land weiter zugenommen. Um einige Zahlen zu nennen: Nach dem bislang jüngsten Armutsbe- richt für das Jahr 2020 waren 16,1 Prozent der Menschen in Deutschland arm; das entspricht 13,4 Millionen Menschen, kommen schon heute kaum mit ihrem Geld aus und ha- die von weniger als 60 Prozent des durchschnittlichen Ein- ben auch keine Vermögen, von denen sie zehren könnten. kommens leben müssen. 3 Zudem geben Haushalte mit wenig Einkommen propor- Armut äußert sich in verschiedenen Mangellagen. So tional deutlich mehr für lebensnotwendige, existenzielle gab es schon vor Corona und dem Krieg Energie- und Er- Güter aus. Zu den existenziellen Gütern zählen Wohnung nährungsarmut. Bei den Beratungsstellen der Wohlfahrts- inklusive Energiekosten, Kleidung und Lebensmittel. Zwei verbände mehren sich die Hinweise auf Zahlungsprobleme Drittel der Ausgaben von Haushalten mit einem Einkom- bei den Energiekosten. 2020 gab es 230.000 Strom- und men unter 1.300 Euro dienen der Befriedigung dieser exis- 24.000 Gassperren. Ähnlich im Bereich der Ernährung: tenziellen Bedarfe – während bei Haushalten mit hohem Die Leistungen der Grundsicherung reichen für eine ge- Einkommen (hier: 5.000 Euro und mehr) der Anteil bei sundheitsförderliche Ernährung nicht aus. Gemeinnützige gerade mal 45,7 Prozent liegt. Aktuell werden ausgerechnet zivilgesellschaftliche Akteure wie die Tafeln müssen immer Energie und Nahrungsmittel besonders teurer. Güter, auf mehr die Rolle eines sozialpolitischen Lückenfüllers über- die nicht verzichtet werden kann. nehmen – eine Aufgabe, für die sie nicht geschaffen wurden Es ist offenkundig, dass einkommensschwache Haus- und die sie auch zunehmend überfordert. halte bei der Bewältigung der steigenden Preise umfänglich unterstützt werden müssen, wenn eine Vertiefung der sozi- Preissteigerungen bei existenziellen Gütern alen Spaltung vermieden werden soll. Dies gilt zunächst im Dies ist der Hintergrund, vor dem Haushalte in den vergan- Grundsatz für alle einkommensschwachen Gruppen – ins- genen Jahren die Corona-Pandemie überstehen mussten. besondere aber für Menschen, die von Hartz IV, der Grund- Und nun kommen zusätzlich die – auch durch den Krieg sicherung im Alter oder bei Erwerbsminderung oder von verursachten – Preissteigerungen hinzu. Die Preise im Mai den Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes leben. 2022 sind gegenüber dem Vorjahr um 7,9 Prozent gestiegen. Diese Menschen mussten sich bereits vor den Preissteige- Die Inflation wird dabei vor allem von den zunehmenden rungen mit einem Leben in Armut und Unterversorgung Kosten für die Energie getrieben. Dies betrifft einerseits begnügen. Die Grundsicherungsleistungen sind zum 1. Ja- die Haushaltsenergie – Strom, Heizung –, andererseits die nuar 2022 um weniger als ein Prozent (!) angehoben wor- Treibstoffpreise. Die Energiepreise sind ebenso wie die Le- den – eine Anpassung weit unterhalb der aktuellen Inflati- bensmittelpreise im Zusammenhang mit dem Krieg steil on. Im Ergebnis können sich die Betroffenen immer weniger nach oben gegangen. Der tatsächliche oder auch schon der leisten. Die Not steigt. Menschen im Niedriglohnbereich erwartete Mangel an Energie und Lebensmitteln führt zu profitieren demnächst von der Anhebung des Mindestlohns Spekulationen, die die Preise weiter hochtreiben. Das spü- auf 12 Euro/Stunde. Statt mit dieser Maßnahme aber so- ren nunmehr alle, sobald sie einkaufen gehen. ziale Ungleichheit bei den Löhnen zu reduzieren, wird die Steigende Preise betreffen im Grundsatz alle Kon- Lohnsteigerung zur Kompensation der steigenden Kosten sumentInnen. Allerdings belasten sie die Menschen in gebraucht. Ähnlich ist die Lage bei den RentnerInnen und einem sehr unterschiedlichen Maße. Ein wohlhabender BAföG-Beziehenden. Anstehende Leistungsanpassungen Haushalt mit einem hohen Einkommen verbraucht in der werden durch die Inflation mehr als aufgefressen. Regel sein Einkommen nicht, im Gegenteil: Er spart. Wenn die Preise steigen, führt dies bei diesen Haushalten kaum Entlastungspakete der Bundesregierung zu Einschränkungen. Ganz anders sieht die Situation bei Die Notwendigkeit zur Entlastung der Haushalte ist auch Haushalten mit geringen Einkommen aus: Diese Haushalte bei der Bundesregierung angekommen. Mit den beiden Be- 32 Schwerpunkt
Deutschland ist auch ein gespaltenes Land mit erheblichen sozialen Problemen. Das zusammenfassende Merkmal lautet: Armut. schlüssen des Koalitionsausschusses am 23. Februar und Wirtschaftsforschung (DIW) belegt, dass die Maßnahmen am 23. März wurde ein umfängliches Entlastungspaket mit der Bundesregierung unter dem Strich die soziale Ungleich- einem Gesamtwert von 28,9 Mrd. Euro geschnürt. Davon heit eher verstärken als reduzieren. sollen 23,6 Mrd. Euro private Haushalte entlasten. 4 Die fi- Aus dieser Bewertung ergibt sich folgerichtig der Maß- nanziell wichtigsten Maßnahmen sind dabei: stab für eine sinnvolle Entlastungspolitik. Diese muss die » eine einkommensteuerpflichtige Energiepreispauschale bestehenden sozialen Ungleichheiten in der Gesellschaft für Erwerbstätige in Höhe von 300 Euro (7,9 Mrd. Euro) zur Kenntnis nehmen. Eine offensive Sozialpolitik muss » die Senkung der Einkommenssteuer (4,4 Mrd. Euro) fokussiert Leistungen für Menschen in Armutslagen ver- » die Senkung der Energiesteuer auf Kraftstoffe (3,4 Mrd. bessern – anstatt Geld nach dem Prinzip Gießkanne zu Euro) verteilen. » die Abschaffung der EEG-Umlage (2,6 Mrd. Euro für private Haushalte) Dr. Andreas Aust » ein 9-Euro Ticket für den ÖPNV – für insgesamt drei Monate (3,0 Mrd. Euro) Dr. Andreas Aust ist sozialpolitischer Referent in » ein Einmalbonus von 100 Euro pro Kind (1,5 Mrd. Euro) der Paritätischen Forschungsstelle des Paritätischen Gesamtverbands in Berlin. Speziell auf die Bedürfnisse von Menschen im Grundsi- cherungsbezug sind lediglich eine Einmalzahlung in Höhe von 200 Euro (1,1 Mrd. Euro) und der Sofortzuschlag für 1 Vgl. https://www.der-paritaetische.de/themen/migration-und- Kinder in der Grundsicherung in Höhe von 20 Euro/Mo- internationale-kooperation/ukraine/ nat (0,5 Mrd. Euro) ausgerichtet. Für Haushalte jenseits 2 Die damit einhergehende Ungleichbehandlung von Geflüchteten der Grundsicherung (Wohngeldberechtigte, Studierende unterschiedlichen Ursprungs wird in dem Artikel „Schwarz- und Auszubildende) gibt es einen einmaligen Heizkosten- Weiß Denken – Empathie und Solidarität in Zeiten des Ukraine- zuschuss (0,4 Mrd. Euro). Die Einmalleistung an Grund- Krieges“ auf Seite 45 behandelt. sicherungsbeziehende ist völlig unzureichend und reicht nicht einmal ansatzweise, um die verringerte Kaufkraft zu 3 Vgl. Pieper, Jonas u. a. (2021): Armut in der Pandemie. kompensieren. Eine Einmalleistung verpufft zudem schnell Der Paritätische Armutsbericht 2021. Berlin: Paritätischer und kann kein Ersatz für eine dauerhafte Anhebung der Gesamtverband. Leistungen sein. RentnerInnen und Studierende – ebenfalls 4 Vgl. Bach, Stefan und Knautz, Jakob (2022): Hohe Energiepreise: in der Regel einkommensschwache Gruppen – sind bei der Ärmere Haushalte werden trotz Entlastungspaketen stärker Einmalleistung komplett ignoriert worden. belastet als reichere Haushalte, in: DIW Wochenbericht 17/2022, Die Maßnahmen können hier nicht auf ihre Wirksam- S. 243 – 251; Schneider, Ulrich (2022): Ampel-Entlastungspaket: keit und ihre Sinnhaftigkeit hin diskutiert werden. Zentral Das Prinzip Gießkanne. In: Blätter für deutsche und ist aber: Das Paket zeichnet sich dadurch aus, dass mit der internationale Politik 6/2002, S. 13 – 16. Gießkanne Geld zur allgemeinen Entlastung verteilt wird. Es fehlt dem Gesamtpaket eine Bedarfs- oder Einkommens orientierung. Zum Teil werden mit den Maßnahmen der Steuersenkung sogar einkommensstärkere Gruppen beson- ders begünstigt. Die Analyse des Deutschen Instituts für Forum Umwelt & Entwicklung – Rundbrief 2/ 2022 33
RUNDBRIEF Forum Umwelt und Entwicklung 2/2022 MIT VOLLER KR AFT RÜCK WÄRTS? UMWELT- UND ENTWICKLUNGS- POLITIK IN ZEITEN DES RUSSISCHEN ANGRIFFSKRIEGS MÄNNER KÄMPFEN, PERSPEKTIVEN AUS DER TRANSFORMATION DER FLÜSSIGERDGAS FÜR UKRAINE DEUTSCHLAND FRAUEN FLIEHEN LANDWIRTSCHAFT Krieg als patriarchales Zivilgesellschaftliche Für eine langfristige Verschärfung der fossilen Organisationen geben Einblicke Abhängigkeit Machtinstrument Ernährungssicherheit › Seite 34 › Seite 17, 30 + 46 › Seite 14 › Seite 5 ISSN 186 4-0 982
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