Inklusive Beschulung und Schulerfolg im Förderschwerpunkt Lernen - Aktuelle Entwicklungen anhand von Daten der amtlichen Schulstatistik
←
→
Transkription von Seiteninhalten
Wenn Ihr Browser die Seite nicht korrekt rendert, bitte, lesen Sie den Inhalt der Seite unten
Inklusive Beschulung und Schulerfolg im Förderschwerpunkt lernen 241 Empirische Sonderpädagogik, 2020, Nr. 3, S. 241-254 ISSN 1869-4845 (Print) · ISSN 1869-4934 (Internet) Inklusive Beschulung und Schulerfolg im Förderschwerpunkt Lernen – Aktuelle Entwicklungen anhand von Daten der amtlichen Schulstatistik Janka Goldan1 & Thomas Kemper2 1 Universität Bielefeld, 2Universität Osnabrück Zusammenfassung In dem Beitrag werden die aktuellen inklusionsrelevanten Kennzahlen (Schuljahre 2014/15 und 2018/19) und die Schulabschlüsse von Schüler*innen mit einem Förderbedarf im Bereich Ler- nen erstmals für sieben Bundesländer in Zeitreihe (2015 bis 2018) berichtet. Hierbei erfolgt die Darstellung der Schulabschlüsse für Allgemeine Schulen im Vergleich zu Förderschulen und weiter differenziert nach Schulform. Die Ergebnisse basieren auf Daten der amtlichen Schul- statistik und zeigen – mit Ausnahme eines Bundeslands –, dass der Anteil der Schüler*innen mit einem Förderschwerpunkt im Bereich Lernen, die mindestens einen Hauptschulabschluss er- reichen, an Allgemeinen Schulen höher ausfällt als an Förderschulen. Die Aussagekraft der ver- gleichenden Ergebnisse wird vor dem Hintergrund der Limitationen der vorhandenen Daten problematisiert. Es wird auf die Notwendigkeit schulischer Individualdatensätze verwiesen, um vertiefende Analysen durchführen zu können, anhand derer sich die Disparitäten in den Schul- abschlussquoten zwischen den Ländern erklären lassen. Schlüsselwörter: Inklusion, Förderschwerpunkt Lernen, Schulabschlüsse, Schulstatistik Inclusive schooling and school performance of students with special needs in learning – Recent trends based on data from official school statistics Abstract The article reports the inclusion relevant key figures (school years 2014/15 and 2018/19) and the graduation rates of students with special educational needs in the area of learning for seven German federal states in time series (2015 to 2018). The graduation rates are presented for gen- eral schools in comparison to special schools and further differentiated by school type. The re- sults are based on data from the official school statistics and show, with the exception of one federal state, that students with special educational needs in learning are more likely to achieve at least a lower secondary certificate (Hauptschulabschluss) in regular schools than in special
242 Janka Goldan & Thomas Kemper schools. The informational value of the comparative results is discussed with regard to the lim- itations of the available data. Reference is made to the importance of individual data in order to conduct in-depth analyses that can be used to explain the disparities in graduation rates be- tween the federal states. Keywords: Inclusion, Graduation Rates, School Success, Special Educational Needs, Official Statistics Einleitung lenburg-Vorpommern, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Thüringen Indivi- Vor mehr als einem Jahrzehnt hat die Bun- dualdaten (Fickermann & Weishaupt, 2019; desrepublik Deutschland die UN-Behinder- Kemper, 2017). Deren Analysepotentiale tenrechtskonvention ratifiziert. Seither sind sind insbesondere bei längsschnittlicher Be- die Bundesländer entsprechend des Artikels trachtung besonders hoch, weil Schulstatis- 24 verpflichtet, ein inklusives Schulsystem tiken zum einen die Betrachtung der Ge- für alle Lernenden umzusetzen. In der Folge samtpopulation erlauben und weil zum an- wird die Entwicklung der schulischen Inklu- deren kausale Analysen anhand von Indivi- sion regelmäßig auf Basis administrativer dualdaten möglich sind (Makles, Schneider Daten sowohl für die Bundesrepublik & Schwarz, 2018). Der Zugang zu diesen Deutschland (z.B. Blanck, 2015; Klemm, Daten ist jedoch erschwert – etwa aus da- 2009; 2010; 2013; 2015; Klemm & tenschutzrechtlichen Gründen, aufgrund Preuss-Lausitz, 2017; Kroworsch, 2019) als von Zugangshürden durch erforderliche An- auch für einzelne Bundesländer analysiert tragstellungen bei den Kultusministerien (siehe z.B. die Länderanalysen der Fried- und die entsprechende Bearbeitungsdauer. rich-Ebert-Stiftung, 2015-20171; Kemper & Nur bei positiver Bewilligung können die Goldan, 2018, 2019; Heimlich & Wittko, Daten in einem Forschungsdatenzentrum 2018). Hierbei haben sich verschiedene In- bereitgestellt werden. Die erzielten Ergeb- dikatoren etabliert, welche in Zeitreihe nisse müssen vor einer möglichen Veröf- Hinweise darauf geben, ob die Beschulung fentlichung z.T. von den Ministerien auf an Förderschulen rückläufig ist und Schü- Freigabe geprüft werden. Bei einzelnen Sta- ler*innen mit sonderpädagogischem För- tistischen Landesämtern, die über Individu- derbedarf vermehrt an Allgemeinen Schu- aldaten verfügen, lassen sich alternativ kos- len lernen. Amtliche Daten sind, je nach tenintensive Sonderauswertungen anfor- Bundesland, hinsichtlich ihres Analysepo- dern. Dies erlaubt nur bedingt tiefergehen- tentials zum Teil jedoch stark limitiert. Zwar de Analysen. Als Ergebnis werden hoch ag- hat die KMK (2003) die Einführung des so- gregierte Daten bereitgestellt. Dies erklärt, genannten „Schülerkerndatensatzes“, d.h. warum Individualdaten von Forschenden eine auf Individualebene basierende Statis- bisher kaum wissenschaftlich genutzt wer- tik zu den Schüler*innen, die darüber hin- den. Alle anderen als die zuvor genannten aus Kontextinformationen zu den Schulen Bundesländer erfassen die Daten per se ag- und Lehrkräften vorhält, beschlossen (siehe gregiert auf Ebene von Schulklassen bzw. hierzu auch KMK, 2003; 2011). Bis heute Schulen (Artelt, Bug, Kleinert, Maaz & Run- erheben jedoch lediglich Bayern, Branden- ge, 2019), was den Zugang etwas erleich- burg, Bremen, Hamburg, Hessen, Meck- tern kann. 1 Hierbei handelt es sich um einzelne Beiträge für die sechzehn Bundesländer. Sie sind abrufbar unter dem Link https://www.fes.de/gute-gesellschaft-soziale-demokratie-2017plus/gute-arbeit-und-sozialer-fort- schritt/projekte/inklusive-bildung-im-laendervergleich/ (abgerufen am 15.06.2020).
Inklusive Beschulung und Schulerfolg im Förderschwerpunkt lernen 243 Hinsichtlich der Operationalisierung bzw. die Quoten erreichter Schulabschlüsse schulischer Inklusion wurden amtliche Da- zu erhöhen (Autorengruppe Bildungsbe- ten kritisiert, weil sie ausschließlich die richterstattung, 2020, Kap. D8; Autoren- Platzierung von Schüler*innen an Allgemei- gruppe Bildungsberichterstattung, 2018, nen Schulen wiedergeben (Malecki, 2014). Kap. D9). Wie der Bildungsbericht 2018 Bisher waren darüber hinausgehende Aus- (Kap. D9) darlegt, ist es beispielsweise für sagen über die Qualität schulischer Inklusi- Abgänger*innen ohne Hauptschulabschluss on, z.B. mit Blick auf die Leistungsentwick- kaum möglich, ein Ausbildungsverhältnis lung, nur begrenzt möglich. Einzig der anzutreten (vgl. ebd.). Aufgrund ungünsti- Stadtstaat Hamburg führt in seiner Indivi- ger Ausgangslagen weisen Abgänger*innen dualstatistik seit dem Schuljahr 2012/13 von Förderschulen bzw. Abgänger*innen Leistungsdaten seiner Schüler*innen. Der- mit einem sonderpädagogischen Förderbe- zeitige Bemühungen, Individualstatistiken darf von Allgemeinen Schulen ein erhöhtes zum Beispiel mit den Daten des IQB-Län- Risiko auf, das Bildungssystem ohne Ab- dervergleichs zu verknüpfen, sind aus Sicht schluss zu verlassen (ebd.). der empirischen Bildungsforschung zu be- Der vorliegende Beitrag schließt an die grüßen (Fickermann & Weishaupt, 2019). Studie von Kemper und Goldan (2018) an Zudem berichten einige Bundesländer seit und wird die Schulabschlüsse von Schü- dem Jahr 2015 die erreichten Schulab- ler*innen mit einem Förderbedarf im Be- schlüsse der Schüler*innen mit sonderpäda- reich Lernen (Allgemeine Schule vs. Förder- gogischem Förderbedarf auch für die Allge- schule) erstmals für sieben Bundesländer meinen Schulen (siehe Autorengruppe Bil- und in Zeitreihe für die Abgangsjahre 2015 dungsberichterstattung, 2018; Kemper & bis 2018 darstellen. Da die vorhandenen Goldan, 2018), während diese Informatio- Daten keine kausalen bzw. vertiefenden nen bis dahin lediglich für die Förderschu- Analysen ermöglichen, wird ein schulstatis- len zur Verfügung standen. Die sogenannte tischer Beitrag zur Entwicklung der schuli- Schulabschlussquote gilt als Indikator für schen Inklusion geleistet. Ein abschließen- den Erfolg eines Schulsystems (Goodman, der Schwerpunkt wird auf die Diskussion Hazelkorn, Bucholz, Duffy & Kitta, 2011) der Limitationen der aggregierten Daten der und kann mit Blick auf Schüler*innen mit Fachserie 11 gelegt. Hierdurch soll verdeut- sonderpädagogischem Förderbedarf als In- licht werden, dass sowohl Politik als auch dikator für erfolgreiche schulische Inklusion Bildungsforschung von einem besseren Zu- gelten (Kemper & Goldan, 2018). gang zu amtlichen (Individual-)Daten profi- Bildungsabschlüssen kommt eine zent- tieren würden, um – neben der Beschrei- rale Bedeutung zu, da durch sie das erfolg- bung von Trends – Raum für vertiefende reiche Absolvieren institutionalisierter Bil- Analysen zu bieten (siehe hierzu auch dungsangebote zertifiziert wird (Diefen- Fickermann & Weishaupt, 2019). bach, 2011). In der Literatur werden sie demzufolge mit Lebenschancen, z.B. Erfolg auf dem Arbeitsmarkt und Gesundheit, in Verbindung gebracht (z.B. Autorengruppe Bildungsberichterstattung, 2018; Becker, 2017; Maaz & Ordemann, 2019; Piopiunik, Kugler & Wößmann, 2017). Daher ist es nicht nur für ein Individuum wichtig, forma- le Schulabschlüsse zu erreichen. Aufgrund des gesellschaftlichen Interesses gibt es im- mer wieder politische Bestrebungen, die Zahl von Abbrecher*innen zu verringern
244 Janka Goldan & Thomas Kemper Forschungsstand lassen. Beispielsweise haben im Jahr 2016 in Bremen mehr als 73% der Schüler*innen Die Schulabschlüsse von Schüler*innen mit und Schüler mit einem Förderbedarf im Be- sonderpädagogischem Förderbedarf wur- reich Lernen eine Allgemeine Schule mit den bis zum Abgangsjahr 2016 in erster Li- mindestens einem Hauptschulabschluss nie für die Förderschulen der Bundesländer verlassen, während es in Schleswig-Hol- berichtet (Hansen & Heisig, 2018; Hollen- stein nur knapp über 14% waren (ebd., S. bach-Biele, 2014; Klemm, 2009; 2010; 366). 2013; 2015). Eine generelle Ausdifferenzie- Zwar ist davon auszugehen, dass Schü- rung nach Schulform war aufgrund der Da- ler*innen mit einem sonderpädagogischen tenlage bis dahin nicht möglich. Für Nord- Förderbedarf im Bereich Lernen sowohl an rhein-Westfalen hat lediglich Klemm (2015) Allgemeinen Schulen als auch an Förder- für das Abgangsjahr 2013 einen Vergleich schulen zieldifferent unterrichtet werden. zwischen den Schulabschlussquoten an All- Kemper und Goldan (ebd.) weisen dennoch gemeinen Schulen und Förderschulen vor- darauf hin, dass sich die Schüler*innen hin- nehmen können. Seit dem Jahr 2017 liegen sichtlich bestimmter Kontextmerkmale sys- für das Abgangsjahr 2016 erstmals Informa- tematisch unterscheiden können. Im Bil- tionen vor, welche einen Vergleich zwi- dungsbericht 2020 (Autorengruppe Bil- schen Allgemeinen Schulen und Förder- dungsberichterstattung, 2020) wird eben- schulen für sechs Bundesländer (Bremen, falls auf diesen Selektionseffekt hingewie- Hamburg, NRW, Rheinland-Pfalz, Schles- sen, der ohne angemessene Datenbasis wig-Holstein, Thüringen) ermöglichen. Die- „keine Rückschlüsse auf eine bessere Förde- se wurden im Bildungsbericht 2018 (Auto- rung im gemeinsamen Unterricht“ erlaubt rengruppe Bildungsberichterstattung, 2018) (ebd. S. 145). Bei der Interpretation der Be- und in einer vertieften Analyse von Kemper funde beziehen sich Kemper und Goldan und Goldan (2018) aufbereitet und darge- (2018) vornehmlich auf die inklusionsrele- stellt. Kemper und Goldan (ebd.) haben zur vanten Kennzahlen und heben die Bedeu- Operationalisierung der verschiedenen tung der Förderquote hervor, die zumindest Quoten folgende Kennzahlen eingeführt: einen Anhaltspunkt hinsichtlich der Frage Abschlussquote insgesamt, Förderschulab- darstellen kann, ob die höheren GU-Ab- schlussquote und GU-Abschlussquote (sie- schlussquoten zum Teil auf einen Anstieg he Abbildung 1 zur Definition der verschie- der formalen Diagnosen zurückzuführen denen Quoten). sind. Die Ergebnisse von Kemper und Goldan (2018) zeigen für Schüler*innen mit einem Förderschwerpunkt, dass in allen betrachte- ten Bundesländern – mit Ausnahme von Daten Thüringen – Abgänger*innen mit sonderpä- dagogischem Förderbedarf an Förderschu- Anhand von Daten der amtlichen Schulsta- len seltener mindestens einen Hauptschul- tistik (Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen abschluss erreichen, als Abgänger*innen Bundesamtes) sollen zunächst ausgewählte mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Inklusionskennzahlen für das Schuljahr Bereich Lernen von Allgemeinen Schulen. 2018/19 berechnet werden, denen zu Ver- Das bedeutet, dass die Förderschulab- gleichszwecken entsprechende Daten für schlussquote insgesamt unter den Werten das Schuljahr 2014/15 gegenübergestellt der GU-Abschlussquote liegt. werden. Anschließend werden schwer- Auffällig sind dennoch die erheblichen punktmäßig die Schulabschlüsse von Schü- Disparitäten zwischen den Bundesländern, ler*innen mit einem Förderschwerpunkt im die sich anhand der Daten nicht aufklären Bereich Lernen für vier Jahre dargestellt.
Inklusive Beschulung und Schulerfolg im Förderschwerpunkt Lernen 245 Förderquoten geben den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf an al- len Schülerinnen und Schülern an. Inklusionsquoten geben den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, die inklusiv in allgemeinen Schulen unterrichtet werden, an allen Schülerinnen und Schülern an. Exklusionsquoten geben den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, die separiert unterrichtet werden, an allen Schülerinnen und Schülern an. Inklusionsanteile geben den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, die inklusiv unterrichtet werden, an allen Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf an. Exklusionsanteile geben den Anteil der Schülerinnen und Schüler mit Förderbedarf, die separiert unterrichtet werden, an allen Schülerinnen und Schülern mit Förderbe- darf an. Abschlussquoten insgesamt geben den Anteil von Abgängerinnen und Abgängern mit Förderbedarf von Allgemeinen Schulen und Förderschulen an allen abgehenden Schü- lerinnen und Schülern mit Förderbedarf an, die mindestens einen Hauptschulabschluss erreichen. Förderschulabschlussquoten geben den Anteil von Abgängerinnen und Abgängern mit Förderbedarf von separaten Förderschulen an allen abgehenden Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf an, die mindestens einen Hauptschulabschluss erreichen. GU-Abschlussquoten geben den Anteil von Abgängerinnen und Abgängern mit För- derbedarf von Allgemeinen Schulen an allen abgehenden Schülerinnen und Schülern mit Förderbedarf an, die mindestens einen Hauptschulabschluss erreichen. Abbildung 1. Definition der inklusionsrelevanten Kennzahlen nach Klemm (2013) und Kemper und Goldan (2018). Quelle: nach Klemm (2013) und Kemper & Goldan (2018), eigene Darstellung. Die Analysen basieren auf den genannten schluss, mittlerer Abschluss und allgemeine Daten für die Abgangsjahre 2015 bis 2018 Hochschulreife) und Förderschwerpunkt und ermöglichen einen Vergleich nach differenziert werden. Schüler*innen, die vor Schulform (Allgemeine Schule vs. Förder- dem Abgangsstichtag die Schule verlassen, schule). Diese Informationen sind (weiter- werden in der Statistik nicht gezählt. hin) nur für ausgewählte Bundesländer ver- fügbar. Hierbei handelt es sich um Bremen (HB), Hamburg (HH), Nordrhein-Westfalen (NW), Rheinland-Pfalz (RP), Schleswig-Hol- Ergebnisse stein (SH) und Thüringen (TH). Neuerdings liegen die Daten allerdings auch für die Zunächst werden in Anlehnung an Klemm Länder Hessen (HE) und Mecklenburg-Vor- und Preuss-Lausitz (2017, S. 54) sowie an pommern (MV) vor (Statistisches Bundes- Kemper und Goldan (2018, S. 364) ver- amt, 2019). Für die Abgangsjahre kann schiedene inklusionsrelevante Kennzahlen nach Schulform, Art der Schulabschlüsse für das Schuljahr 2018/19 sowie ausge- (ohne Schulabschluss, Hauptschulab- wählte Kennzahlen für das Vergleichsjahr
246 Janka Goldan & Thomas Kemper 2014/15 berechnet (Tab. 1).2 Die Zahlen Quote im Schuljahr 2018/19 zwischen den beziehen sich ausschließlich auf Schü- Bundesländern stark, und zwar zwischen ler*innen mit einem sonderpädagogischen 0,2% in Bremen und 2,9% in Mecklen- Förderbedarf im Bereich Lernen und geben burg-Vorpommern. Insgesamt deutet sich Hinweise auf die Ausgangsbedingungen der für den Förderschwerpunkt Lernen ein schulischen Inklusion für diese Schüler- Trend hin zu mehr inklusiver Beschulung schaft in den Bundesländern. Die nachfol- an, was sich auch an den Inklusionsanteilen genden Ergebnisse zum Schulerfolg lassen für den Förderschwerpunkt Lernen erken- sich anhand dieser Zahlen zudem besser nen lässt, die in den Ländern mit den nied- kontextualisieren. rigsten Exklusionsquoten am höchsten aus- Tabelle 1 zeigt die verschiedenen Kenn- fallen: In Bremen beträgt der Inklusionsan- zahlen für Schüler*innen mit einem Förder- teil 94,4%, demgegenüber beträgt der In- schwerpunkt im Bereich Lernen. Hier ist zu klusionsanteil in Mecklenburg-Vorpom- erkennen, dass diese Quote über die Jahre mern nur 24,5%. Die Inklusionsanteile im marginal angestiegen ist. Für Deutschland Förderschwerpunkt Lernen haben in allen hat sie sich insgesamt um 0,1 Prozentpunk- Ländern zugenommen. Hierbei sind die te erhöht, wohingegen sich für die unter- stärksten Veränderungen mit einer Steige- suchten Bundesländer unterschiedliche Ent- rung zwischen 16,7 und 21,6 Prozentpunk- wicklungen für die Schuljahre 2014/15 und ten für NRW, Thüringen und Hessen zu be- 2018/19 zeigen: während die Förderquote obachten. für den Förderschwerpunkt Lernen in fünf In Tabelle 2 sind die verschiedenen Ab- Ländern leicht – d.h. um bis zu 0,3 Prozent- schlussquoten für den Förderschwerpunkt punkte – ansteigt, geht die Förderquote im Lernen differenziert nach Bundesland und Schwerpunkt Lernen in Bremen leicht, in Abgangsjahr dargestellt. Es zeigen sich Hamburg und Mecklenburg-Vorpommern deutliche Niveau-Unterschiede in den Ab- deutlich zurück – und zwar um bis zu 0,6 schlussquoten zwischen den untersuchten Prozentpunkte. Insgesamt variiert die Quote Ländern. Die höchsten GU-Abschlussquo- im Schuljahr 2018/19 zwischen den Bun- ten weisen Hessen, Hamburg, Bremen und desländern mit Anteilen zwischen 2,5 und Mecklenburg-Vorpommern auf: Hier ver- 3,8% relativ stark. lässt mehr als jede*r zweite Abgänger*in Die Exklusionsquote wird als einer der mit dem Förderschwerpunkt Lernen die All- wichtigsten schulstatistischen Indikatoren gemeine Schule mit mindestens einem inklusiver Beschulung betrachtet (Hollen- Hauptschulabschluss. In Thüringen hinge- bach-Biele, 2014; Klemm, 2013, 2015). Mit gen erlangt nur jede*r vierte Abgänger*in, Blick auf Schüler*innen mit einem Förder- in Schleswig-Holstein nur jede*r fünfte Ab- schwerpunkt im Bereich Lernen ist die Ex- gänger*in einen qualifizierten Abschluss. klusionsquote nur in Rheinland-Pfalz kons- Für beide Länder ist zudem auffällig, dass tant geblieben. In den anderen Ländern ist die GU-Abschlussquote dort kontinuierlich die Quote rückläufig – und zwar um bis zu angestiegen ist: in Thüringen um ca. 39%, 0,7 Prozentpunkte in Hessen und Mecklen- im Falle von Schleswig-Holstein ist sogar burg-Vorpommern. Die stärksten relativen eine annähernde Verdopplung erkennbar – Rückgänge – auf bereits niedrigem Niveau und zwar von 11% in 2015/16 auf 20% in – zeigen sich für Bremen und Schles- 2018/19. Über alle betrachteten Länder wig-Holstein: Hier sinken die Anteile zwi- hinweg lässt sich ein Anstieg der GU-Ab- schen 2014/15 und 2018/19 um 0,3 Pro- schlussquote für den Förderschwerpunkt zentpunkte. Dennoch variiert auch diese Lernen um 35% festhalten. 2 Aus Vergleichs- bzw. Konsistenzgründen werden ausschließlich Zahlen der Fachserie 11, Reihe 1 des Statistischen Bundesamtes für die Schuljahre 2014/15 bis 2018/19 verwendet. Das Referenzjahr 2014/15 wurde gewählt, weil die Zeitreihe der Abgänger*innen mit dem Jahr 2015 beginnt.
Tabelle 1: Förderquoten, Inklusions- und Exklusionsanteile, Exklusions- und Inklusionsquoten im Ländervergleich für den Förderschwerpunkt Lernen (Schuljahr 2018/19, sowie ausgewählte Kennzahlen für das Schuljahr 2014/15): Land Schüler*innen Quoten und Anteile in % ausgewählte Quoten und Anteile für (Schuljahr 2018/19) (Schuljahr 2018/19, Förderbedarf Lernen) das Schuljahr 2014/15 in % (Lernen) insgesamt mit Förder- Inklusions- Exklusions- Exklusions- Inklusions- Förder- Inklusions- Exklusions- Jahrgangs- Förderbe- quote anteil anteil quote quote quote anteil anteil stufe 1-10 darf Lernen HB 57.061 2.190 3,8 94,4 5,6 0,2 3,6 3,6 87,4 0,5 HH 155.485 5.140 3,3 71,8 28,2 0,9 2,4 3,5 64,6 1,2 HE 553.681 13.859 2,5 47,2 52,8 1,3 1,2 2,5 25,6 1,8 MV 133.321 5.085 3,8 24,5 75,5 2,9 0,9 4,4 18,8 3,6 NW 1.650.399 40.996 2,5 60,2 39,8 1,0 1,5 2,4 41,8 1,4 RP 357.529 12.448 3,5 40,3 59,7 2,1 1,4 3,2 34,4 2,1 SH 256.368 8.601 3,4 87,1 12,9 0,4 2,9 3,2 78,5 0,7 Inklusive Beschulung und Schulerfolg im Förderschwerpunkt Lernen TH 174.999 4.362 2,5 44,7 55,3 1,4 1,1 2,4 28,0 1,7 Summe 3.338.843 92.681 2,8 56,9 43,1 1,2 1,6 2,7 42,1 1,6 Deutschland 7.345.896 192.249 2,6 55,7 44,3 1,2 1,5 2,5 36,8 1,6 Anmerkungen. Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1, für die Schuljahre 2014/15 und 2018/19, eigene Berechnung und Darstellung. 247
248 Janka Goldan & Thomas Kemper Soweit ein Vergleich möglich ist, fallen wo die Förderschulabschlussquote deutlich zu allen Zeitpunkten die GU-Abschluss- über der GU-Abschlussquote liegt, bildet quoten im Bereich Lernen höher aus als die hier eine Ausnahme. Während in Thüringen Förderschulabschlussquoten. Thüringen, jede*r zweite Abgänger*in mit Förder- Tabelle 2: Abschlussquoten von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen (Abgangsjahre 2015 bis 2018) für die Länder Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vor- pommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Holstein und Thüringen Land 2015 2016 2017 2018 Veränderungen in Prozentpunk- ten (2015-2018) GU-Abschlussquote Lernen HB 62,7 73,1 62,7 59,3 -3,4 HH k.A. k.A. 72,7 58,0 / HE - - - 53,8 / MV - - - 60,8 / NW 27,1 23,7 31,6 28,4 1,3 RP 50,9 50,7 52,8 48,0 -2,9 SH 10,7 14,2 19,8 20,0 9,3 TH 17,6 30,0 21,9 24,4 6,8 Länderauswahl insgesamt 26,3 28,7 37,2 35,3 9,1 Förderabschlussquote Lernen HB 39,4 17,6 k.A. k.A. / HH 23,9 20,3 35,1 27,5 3,6 HE - - - 0,9 / MV - - - 51,9 / NW 19,2 20,0 19,9 22,8 3,6 RP 24,4 27,9 25,4 28,5 4,1 SH 0,3 0,0 0,0 0,0 -0,3 TH 47,0 51,8 53,0 50,6 3,6 Länderauswahl insgesamt 21,5 22,7 23,7 25,5 3,9 Abschlussquote insgesamt Lernen HB 49,7 58,7 60,7 58,6 8,9 HH 24,5 20,5 58,2 44,6 20,1 HE - - - 20,6 / MV - - - 52,5 / NW 20,1 20,7 23,1 24,7 4,6 RP 29,8 33,5 32,0 33,5 3,7 SH 7,1 9,7 15,0 15,7 8,6 TH 43,3 47,8 46,3 43,6 0,3 Länderauswahl insgesamt 22,5 24,4 28,6 29,2 6,7 Anmerkungen. k.A. = Fallzahl < 30, daher wird kein Prozentwert ausgewiesen; - = keine Daten vorhanden; / = nicht berechenbar; GU = Gemeinsamer Unterricht. * Schleswig-Holstein gehört zu den Bundesländern, in denen Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt an Förderschulen keinen allgemeinbildenden Schulabschluss erlangen können (vgl. Autorengruppe Bildungs- berichterstattung, 2014, Webanhang Tab. D7-12web, o.S.). Quelle: Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1, für die Schuljahre 2015/16 bis 2018/19, eigene Be- rechnung und Darstellung.
Inklusive Beschulung und Schulerfolg im Förderschwerpunkt Lernen 249 schwerpunkt im Bereich Lernen die Förder- auch der Anteil in Schleswig-Holstein in- schule mit mindestens einem Hauptschul- nerhalb weniger Jahre von 7,1 auf 15,7% abschluss verlässt, trifft dies auf lediglich mehr als verdoppelt. jede*n vierte*n Abgänger*in des Schwer- Tabelle 3 veranschaulicht die Abschluss- punktes von Allgemeinen Schulen zu. Da- quote für den Förderschwerpunkt Lernen mit wird der Befund von Kemper und Gol- differenziert nach Förderschule und weite- dan (2018) repliziert, die zeigten, dass – mit ren Schulformen der Allgemeinen Schulen. Ausnahme von Thüringen – für den Schwer- Für die Abgänger*innen mit dem Förder- punkt Lernen in allen untersuchten Ländern schwerpunkt Lernen von Gymnasien sind die GU-Abschlussquote höher ausfällt als mit 19% erheblich geringere Abschlussquo- die Förderschulabschlussquote. Ferner un- ten als für Abgänger*innen des Schwer- terscheiden sich die Anteilswertdifferenzen punktes von den anderen Schulformen er- für alle anderen Länder deutlich. In NRW kennbar – sogar im Vergleich zu den Förder- und Mecklenburg-Vorpommern ist die schulen. Im Vergleich zum Gymnasium GU-Abschlussquote etwas höher als die weisen die Hauptschulen (33,8%) und die Förderschulabschlussquote, in Hamburg sonstigen weiterführenden Schulformen und Hessen betragen die Unterschiede hin- (36,2%) beinahe doppelt so hohe Ab- gegen 30 bzw. 53 Prozentpunkte. schlussquoten auf. Im Zeitverlauf nehmen Die Förderschulabschlussquote für den die Abschlussquoten an ausnahmslos allen Bereich Lernen ist über alle Länder hinweg Schulformen zu. Die deutlichsten Anstiege um knapp ein Fünftel angestiegen (von 21,5 zeigen sich zwischen 2015 und 2018 für auf 25,5%). Die Abschlussquote insgesamt Hauptschulen (+ 10,2 Prozentpunkte bzw. ist für alle Länder um ein knappes Drittel +43%) sowie für die sonstigen weiterfüh- gestiegen (d.h. von 22,5 auf 29,2%). Für die renden Schulformen (+ 9 Prozentpunkte einzelnen Länder zeigte sich – wenn auch bzw. +33%). Fallzahlbedingt lassen sich die auf unterschiedlichen Niveaus – ebenfalls Anteile für Gymnasien erst ab 2017 darstel- ein Anstieg der Abschlussquote insgesamt: len. Ausgehend von einem niedrigen Ni- während die Quote in Thüringen nur margi- veau haben sich diese innerhalb eines Jah- nal angestiegen ist, hat sie sich in Hamburg res beinahe verdoppelt (von 11,1% auf nahezu verdoppelt. Ausgehend von einem 19%). geringen Abschlussquoten-Niveau hat sich Tabelle 3: Abschlussquoten von Schüler*innen mit sonderpädagogischem Förderbedarf im Bereich Lernen differenziert nach Schulform (Abgangsjahre 2015 bis 2018; aggregiert für die Länder Bremen, Hamburg, Hessen, Mecklenburg-Vorpommern, Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Schleswig-Hol- stein und Thüringen) Schulform 2015 2016 2017 2018 Veränderungen in Prozentpunk- ten (2015-2018) Abschlussquote Lernen Förderschule 21.5 22.7 23.7 25.5 3.9 Hauptschule 23.6 21.8 31.3 33.8 10.2 sonstige weiterführende Schulformen 27.2 32.0 39.4 36.2 9.0 Gymnasium k.A. k.A. 11.1 19.0 / insgesamt 22.5 24.4 28.6 29.2 6.7 Anmerkungen. k.A. = Fallzahl < 30, daher wird kein Prozentwert ausgewiesen; / = nicht berechenbar. Quel- le: Statistisches Bundesamt, Fachserie 11, Reihe 1, für die Schuljahre 2015/16 bis 2018/19, eigene Berech- nung und Darstellung.
250 Janka Goldan & Thomas Kemper Diskussion ren in Schleswig-Holstein allgemeinbilden- de Schulabschlüsse nicht erreicht werden. Im Anschluss an die Studie von Kemper und Hierzu müssten die Schüler*innen auf eine Goldan (2018) wurden die inklusionsrele- Allgemeine Schule wechseln. Aussagen da- vanten Kennzahlen und Schulabschlüsse für rüber, an welcher Schulform (Allgemeine Schüler*innen mit einem Förderbedarf im Schule vs. Förderschule) es somit wahr- Bereich Lernen erstmals in Zeitreihe berich- scheinlicher ist, mindestens einen Haupt- tet. Die Daten liegen seit 2018 erstmalig schulabschluss zu erlangen, sind in diesen auch für Hessen und Mecklenburg-Vor- Fällen nicht möglich. Auch hier könnten pommern vor. In beiden Bundesländern er- Längsschnittdaten Aufschluss darüber ge- langen Schüler*innen mit einem Förder- ben, ob vermehrt Wechsel in das Allgemei- schwerpunkt im Bereich Lernen an Regel- ne Schulsystem stattfinden und ob und wie schulen eher mindestens einen Hauptschul- viele der entsprechenden Schüler*innen abschluss als an Förderschulen. Die auffäl- trotz vorangegangenen Förderschulbesuchs lig niedrige Förderschulabschlussquote in einen Hauptschulabschluss erreichen. Hessen lässt sich dadurch erklären, dass an In den anderen Bundesländern besteht Schulen für den Förderschwerpunkt Lernen an Förderschulen die Option, einen Haupt- laut Verordnung nur der sogenannte berufs- schulabschluss zu erlangen. Lediglich für orientierte Abschluss erworben werden das Land Thüringen zeigt sich – gegenüber kann (Hessisches Kultusministerium, 2020). den Allgemeinen Schulen – ein Vorteil zu- An Förderschulen anderer Schwerpunkte, gunsten der Förderschulen, an welchen außer im Bereich Geistige Entwicklung, mehr Schüler*innen mit einem Förder- können auch die Abschlüsse der allgemein- schwerpunkt im Bereich Lernen einen bildenden Schulen erlangt werden, sodass Hauptschulabschluss erreichen. Wie bereits es sich vermutlich um Schüler*innen han- in der vorhergehenden Studie dokumentiert delt, die eine Förderschule zielgleich unter- (Kemper & Goldan, 2018), sind die daraus richteter Schwerpunkte besuchen. Mit Blick zu ziehenden Schlüsse auf Basis von Aggre- auf die GU-Abschlussquote für das Land gatdaten limitiert. Hessen ist daher nicht auszuschließen, dass Hansen und Heisig (2018) haben auf Schüler*innen mit dem Förderschwerpunkt Basis schulstatistischer Aggregatdaten einen Lernen auf eine Allgemeine Schule wech- Versuch unternommen, die Förderschulab- seln, wenn sie einen Hauptschulabschluss schlüsse, d.h. den Anteil der Abgänger*in- anstreben. nen von Förderschulen mit mindestens ei- Insgesamt zeigen alle betrachteten Bun- nem Hauptschulabschluss, durch den Be- desländer eine steigende Tendenz in der treuungsschlüssel (Schüler*in je Lehrkraft) Entwicklung der Abschlussquote insgesamt zu erklären. Sie finden in den Regressions- (+6,7 Prozentpunkte). In Schleswig-Hol- modellen scheinbar einen negativen Effekt, stein ist diese Quote um mehr als acht Pro- d.h. je geringer das Schüler-Lehrkraft-Ver- zentpunkte gestiegen, obgleich das Land hältnis ist, desto wahrscheinlicher soll es damit immer noch die niedrigste Abschluss- sein, dass Schüler*innen mit Förderbedarf quote im Ländervergleich aufweist. Wird an Förderschulen einen Hauptschulab- gleichzeitig die relativ hohe Förderquote im schluss erlangen. Neben den von den Auto- Bereich Lernen betrachtet, die seit 2014/15 rinnen eingeräumten Endogenitätsproble- sogar leicht angestiegen ist, dann ist festzu- men, die das Modell aufweist, scheint es stellen, dass Schüler*innen des Förder- sich bei dem Effekt um ein Artefakt zu han- schwerpunkts Lernen in Schleswig-Holstein deln, da nicht für alle Förderschwerpunkte ein höheres Risiko haben, die Schule ohne kontrolliert wird. Das wäre allerdings ange- einen qualifizierten Abschluss zu verlassen. zeigt, weil die Schüler-Lehrer-Relationen Wie in Hessen können an den Förderzent- für die einzelnen Förderschwerpunkte ge-
Inklusive Beschulung und Schulerfolg im Förderschwerpunkt Lernen 251 setzlich geregelt sind. Dabei haben bei- desländer relativ stabile Förderquoten über spielsweise in NRW die Förderschwerpunk- die Zeit. Zwischen 2014/15 und 2018/19 ist te Körperlich-motorische Entwicklung und die Förderquote im Bereich Lernen sogar Hören und Kommunikation das mit Abstand um 0,1 Prozentpunkte gestiegen. Dies beste Schüler-Lehrer-Verhältnis. Gleichzei- könnte mitunter ein Grund dafür sein, dass tig lernen einige Schüler*innen dieser För- die Exklusionsquoten in fast allen Ländern derschwerpunkte zielgleich, d.h. es ist we- leicht rückläufig sind, d.h. dass nicht nur nig überraschend, dass diese eher mindes- ein tatsächlicher Rückbau des Förderschul- tens einen Hauptschulabschluss erlangen. systems zu dem Rückgang führt, sondern Mit Blick auf die vorliegende Studie sind die Tatsache, dass an Allgemeinen Schulen Vergleiche zwischen den einzelnen Bun- die Zahl der diagnostizierten Kinder an- desländern aufgrund des Bildungsföderalis- steigt. Obgleich Schüler*innen mit einem mus erschwert, z.B. variieren die Verfahren Förderschwerpunkt im Bereich Lernen ver- und Vorgaben zur Feststellung von Förder- gleichsweise hohe Inklusionsanteile haben, bedarfen je nach Bundesland und der Re- besuchen knapp die Hälfte von ihnen gionen innerhalb der Bundesländer (Neu- (44,3%) weiterhin Förderschulen. Die aktu- mann & Lütje-Klose, 2020), genauso wie ellen Zahlen für den Förderschwerpunkt beispielsweise die Curricula zum Erreichen Lernen zeigen, dass das Recht auf inklusive eines Hauptschulabschlusses. Darüber hin- Bildung in Deutschland noch nicht verwirk- aus ist anzunehmen, dass sich die Schü- licht ist. Insbesondere die Aufrechterhaltung ler*innen an beiden Schulformen zum ei- des Doppelsystems wird anhaltend kritisiert nen systematisch unterscheiden (Autoren- (Aichele & Kroworsch, 2017; Aichele et al., gruppe Bildungsberichterstattung, 2020, 2019). Kap. D8; Kocaj, Kuhl, Kohrt & Stanat, 2014). Die Ergebnisse zeigen, dass die Ab- Zum anderen lässt sich nicht nachvollzie- schlussquoten insgesamt, die GU-Ab- hen, ob und ggf. wie viele Schüler*innen schlussquote und auch die Förderschulab- kurz vor ihrem Abschluss möglicherweise schlussquote im Förderschwerpunkt Lernen die Schule wechseln (müssen). Goldan und über die Jahre angestiegen sind. Hamburg Kemper (2019) haben für Nordrhein-West- hat die Abschlussquote Lernen insgesamt falen gezeigt, dass die Zahl der Schüler*in- sogar fast verdoppelt und auch die Gymna- nen mit einem Förderschwerpunkt im Be- sien – das zeigen die Ergebnisse – nehmen reich Lernen zwischen der 9. und der 10. weiterhin Aufgaben schulischer Inklusion Jahrgangsstufe schwankt, d.h. dass diese in wahr und sind in der Lage, Schüler*innen der Jahrgangsstufe 10 – im Vergleich zur mit einem sonderpädagogischen Förderbe- Jahrgangsstufe 9 – vermehrt an Förderschu- darf im Bereich Lernen mindestens zu ei- len beschult werden. Dies kann als Hinweis nem Hauptschulabschluss zu führen. darauf gedeutet werden, dass es kurz vor Vertiefende Studien anhand anderer Da- dem Abgangsjahr zu vermehrten Wechseln ten könnten zeigen, wie die Unterschiede auf Förderschulen kommt, möglicherweise in den Abschlussquoten zwischen den Bun- um diesen Schüler*innen die Option auf desländern zustande kommen. Analysiert einen Abschluss im Bildungsgang Lernen zu werden sollte, warum in Schleswig-Hol- ermöglichen. Eine andere Erklärung könnte stein – bei vergleichsweise hoher Förder- sein, dass die Schüler*innen entsprechend quote – nur wenige Schüler*innen im För- § 35 Absatz 7 AO-SF bis zu zwei Jahre län- derschwerpunkt Lernen einen Hauptschul- ger in der Jahrgangsstufe 10 der Förderschu- abschluss erreichen. Offen ist zudem, ob len verbleiben, um am Ende mit einem die Disparitäten weiter bestehen, wenn re- Hauptschulabschluss abgehen zu können. levante Kontextvariablen, z.B. der sozio- Hinsichtlich der inklusionsrelevanten ökonomische Hintergrund und Leistungsva- Kennzahlen zeigen sich für die acht Bun- riablen der Schüler*innen, kontrolliert wer-
252 Janka Goldan & Thomas Kemper den. Weitere Fragen wären, wie viele Schü- Literaturverzeichnis ler*innen das Schulsystem vorzeitig verlas- sen – d.h. bevor ein Abschluss möglich ist Aichele, V., Bernot, S., Hübner, C., Kroworsch, – und wie der weitere Bildungs- und Berufs- S., Leisering, B., Litschke, P., Palleit, L., weg für Schüler*innen ohne Abschluss ver- Pöllmann, K. & Striek, J. (2019). Wer In- läuft. Ohne eine solide Datenbasis, die klusion will, sucht Wege. Zehn Jahre Kontextinformationen liefert, lassen sich UN-Behindertenrechtskonvention in keinerlei Hypothesen darüber ableiten, wa- Deutschland. Berlin: Monitoring-Stelle rum in einigen Bundesländern mehr Schü- UN-Behindertenrechtskonvention. ler*innen einen Abschluss erreichen als in Aichele, V. & Kroworsch, S. (2017). Inklusive anderen Ländern. Zur Leistungsfähigkeit Bildung ist ein Menschenrecht. Warum es der inklusiven Schulsysteme liegen keiner- die inklusive Schule für alle geben muss. lei ländervergleichende Studien vor. Die Berlin: Deutsches Institut für Menschen- KMK unterbindet diese Vergleiche, obwohl rechte. sie z.B. auf Basis von PISA oder des IQB Bil- Artelt, C., Bug, M., Kleinert, C., Maaz, K. & dungstrends möglich wären. Runge, T. (2019). Nutzungspotenziale Die Frage, ob Schüler*innen mit einem amtlicher Statistik in der Bildungsfor- Förderbedarf im Bereich Lernen an Allge- schung. Ein Überblick zu Erreichtem, meinen Schulen eher einen Hauptschulab- möglichen Chancen und anstehenden He- schluss erreichen als an Förderschulen, lie- rausforderungen. DDS – Die Deutsche ße sich schließlich nur anhand von längs- Schule, Beiheft 14, 11-20. Abgerufen von: schnittlichen Daten auf Bundesebene unter- https://doi.org/10.31244/dds.bh.2019.14 suchen. Das Nationale Bildungspanel Autorengruppe Bildungsberichterstattung (NEPS) könnte als Datenbasis potenziell (Hrsg.) (2020). Bildung in Deutschland geeignet sein, sich dieser Fragestellung an- 2020. Ein indikatorengestützter Bericht mit zunähern. Nichtsdestotrotz handelt es sich einer Analyse zu Bildung in einer digitali- hierbei um Survey-Daten, d.h. eine Stich- sierten Welt. Bielefeld: WBV. probe und keine Vollerhebung, die hinsicht- Autorengruppe Bildungsberichterstattung lich verschiedener Informationen als weni- (Hrsg.) (2018). Bildung in Deutschland ger verlässlich einzuschätzen ist als amtli- 2018. Ein indikatorengestützter Bericht mit che Daten (Artelt et al., 2019). Die Verfüg- einer Analyse zu Wirkung und Erträgen barkeit schulstatistischer Individualdaten, von Bildung. Bielefeld: WBV. die mit (selbst erhobenen) Leistungsdaten Becker, R. (2017). Entstehung und Reproduk- verknüpft werden, würden nicht nur für die tion dauerhafter Bildungsungleichheiten. vorliegende Fragestellung ein enormes Po- In: Ders. (Hrsg.): Lehrbuch der Bildungsso- tential für vertiefende Analysen bieten. Per- ziologie (3. Aufl.) (S. 89-150), Wiesbaden: spektivisch könnten öffentliche Ausgaben VS. für Forschungsvorhaben reduziert werden, Blanck, J. B. (2015). Schulische Integration wenn auf Datenbestände zurückgegriffen und Inklusion in Deutschland. In P. Kuhl, werden könnte, die ohnehin erfasst werden P. Stanat, B. Lütje-Klose, C. Gresch, H. A. (Fickermann & Weishaupt, 2019). Dazu Pant & M. Prenzel (Hrsg.), Inklusion von müssten die Zugangsbarrieren seitens der Schülerinnen und Schülern mit sonderpä- Politik deutlich abgebaut werden. Dies dagogischem Förderbedarf in Schulleis- wäre auch im Interesse der Bildungspolitik, tungserhebungen (S.153-177). Wiesba- da steuerungsrelevantes Wissen, wie Artelt den: Springer Verlag. doi: 10.1007/978-3- et al. (2019) betonen, zukünftig auf Basis 658-06604-8_6 kausalanalytischer Studien und nicht auf Diefenbach, H. (2011). Die Nachteile von Ju- Basis rein deskriptiver Auswertungen gene- gendlichen aus Migrantenfamilien gegen- riert werden könnte. über deutschen Jugendlichen bezüglich
Inklusive Beschulung und Schulerfolg im Förderschwerpunkt Lernen 253 ihres schulischen Erfolgs – eine ge- dex.php/jero/article/download/737/308 schlechtsspezifische Betrachtung. In R. Be- [20.03.2017]. cker (Hrsg.): Integration durch Bildung (S. Kemper, T. & Goldan, J. (2019): Analysen zur 139-159). Wiesbaden: VS. Entwicklung der schulischen Inklusion – Fickermann, D. & Weishaupt, H. (2019). Bil- Potenziale von Daten der amtlichen Schul- dungsforschung mit Daten der amtlichen statistik am Beispiel von Nordrhein-West- Statistik. DDS – Die Deutsche Schule, Bei- falen. DDS – Die Deutsche Schule, Beiheft heft 14, 11-20. https://doi.org/10.31244/ 14: Bildungsforschung mit Daten der amt- dds.bh.2019.14 lichen Statistik, 234-250. Goldan, J. & Kemper, T. (2019). Prävalenz von Kemper, T. & Goldan, J. (2018). Schulerfolg Schülern/innen mit Förderschwerpunkt von Schülerinnen und Schülern mit son- Lernen – Regionale und jahrgangsstufen- derpädagogischem Förderbedarf. Zeit- spezifische Disparitäten. Eine exemplari- schrift für Heilpädagogik, 18, 361-372. sche Analyse für das Land Nordrhein-West- Klemm, K. (2009). Sonderweg Förderschulen: falen anhand von Daten der amtlichen Hoher Einsatz, wenig Perspektiven. Gü- Schulstatistik. Sonderpädagogische Förde- tersloh: Bertelsmann Stiftung. Abgerufen rung heute, 64, 302-317. von https://www.bertelsmann-stiftung.de/ Goodman, J. I., Hazelkorn, M., Bucholz, J. L., de/publikationen/publikation/did/sonder- Duffy, M. L. & Kitta, Y. (2011). Inclusion weg-foerderschulen-hoher-einsatz-wenig- and Graduation Rates: What Are the Out- perspektiven/ comes? Journal of Disability Policy Studies, Klemm, K. (2010). Gemeinsam lernen. Inklu- 21, 241–252. sion leben. Status Quo und Herausforde- Hansen, J. & Heisig, K. (2018). Mit intensiver rungen inklusiver Bildung in Deutschland. Betreuung zum regulären Schulabschluss. Gütersloh: Bertelsmann Stiftung. Abgeru- ifo Institut, Dresden, 2018, S. 7-11. Abge- fen von: https://www.bertelsmannstiftung. rufen von: http://www.ifo.de/DocDL/ifo de/de/publikationen/publikation/did/ DD_18-06_07-11_Hansen.pdf [11.02. gemeinsam-lernen-inklusion-leben/ 2020]. Klemm, K. (2013). Inklusion in Deutschland – Heimlich, U., & Wittko, M. (2018). Sozial- eine bildungsstatistische Analyse. Güters- räumliche Betrachtung der inklusiven loh: Bertelsmann Stiftung. Abgerufen von: Schullandschaft in Kempten – ein Zwi- https://www.unesco.de/fileadmin/medien/ schenbericht (Forschungsbericht Nr. 11). Dokumente/Bildung/Studie_Inklusion_ München: Forschungsstelle Inklusionsfor- Klemm_2013.pdf schung (F!F) der LMU München. Klemm, K. (2014). Auf dem Weg zur inklusi- Hessisches Kultusministerium (2020). Sonder- ven Schule: Versuch einer bildungsstatisti- pädagogische Förderung in der Förder- schen Zwischenbilanz. Zeitschrift für Er- schule. Abgerufen von: https://kultusminis- ziehungswissenschaft, 17, 625-637. terium.hessen.de/schulsystem/schulwahl/ Klemm, K. (2015). Inklusion in Deutschland – schulformen/sonderpaedagogische-foerde Daten und Fakten. Gütersloh: Bertelsmann rung-der-foerderschule [19.03.2020]. Stiftung. Abgerufen von: https://www.ber- Hollenbach-Biele, N. (2014). Update Inklu- telsmannstiftung.de/fileadmin/files/BSt/Pu- sion – Datenreport zu den aktuellen Ent- blikationen/GrauePublikationen/Studie_ wicklungen. Gütersloh: Bertelsmann Stif- IB_Klemm-Studie_Inklusion_2015.pdf tung. [05.02.2020] Kemper, Thomas (2017). Die schulstatistische Klemm, K. & Preuss-Lausitz, U. (2017). Inklu- Erfassung des Migrationshintergrundes in sion in progress. Analysen, Herausforde- Deutschland. In: Journal for Educational rungen, Empfehlungen. Böll.brief Teilha- Research Online (JERO), 9, 144-168. Ab- begesellschaft #4. Abgerufen von: https:// gerufen von: http://www.j-e-r-o.com/in- www.boell.de/sites/default/files/boell.
254 Janka Goldan & Thomas Kemper brief-teilhabegesellschaft-4-inklusion-in- Malecki, A. (2014). Sonderpädagogischer För- progress.pdf?dimension1=division_sp derbedarf – eine differenzierte Analyse. KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der WISTA – Wirtschaft und Statistik, 10, 591- Kultusminister der Länder in der Bundes- 601. republik Deutschland) (2003). Kerndaten- Neumann, P. & Lütje-Klose, B. (2020). Diag- satz (KDS) für schulstatistische Individual- nostik in inklusiven Schulen – zwischen akten der Länder. Beschluss der Kultusmi- Stigmatisierung, Etikettierungs-Ressour- nisterkonferenz vom 08.05.2003. Zugriff cen-Dilemma und förderorientierter am 18.06.2020. Abgerufen von: http:// Handlungsplanung. In C. Gresch, P. Kuhl, www.kmk.org/fileadmin/Dateien/veroef- M. Grosche, C. Sälzer & P. Stanat (Hrsg.), fentlichungen_beschluesse/2003/2003_ Schüler*innen mit sonderpädagogischem 05_08-KDS-Individualakten-Laender.pdf Förderbedarf in Schulleistungserhebun- KMK (Sekretariat der Ständigen Konferenz der gen. Einblicke und Entwicklungen (S. Kultusminister der Länder in der Bundes- 3-28). Wiesbaden: Springer VS. republik Deutschland) (2011). Frequently Piopiunik, M., Kugler, F. & Wößmann, L. Asked Questions zum Kerndatensatz und (2017). Einkommenserträge von Bildungs- zur Datengewinnungsstrategie. Zugriff am abschlüssen im Lebensverlauf: Aktuelle Be- 18.06.2020. Abgerufen von: http://www. rechnungen für Deutschland, ifo Schnell- kmk.org/fileadmin/Dateien/pdf/Statistik/ dienst. Abgerufen von: http://hdl.handle. FAQ_KDS.pdf net/10419/165901 Kocaj, A., Kuhl, P., Kroth, A., Pant, H. & Stanat, Statistisches Bundesamt (2019). Bildung und P. (2014). Wo lernen Kinder mit sonderpä- Kultur – Allgemeinbildende Schulen. dagogischem Förderbedarf besser? Ein Ver- Schuljahr 2018/2019. Fachserie 11, Reihe gleich schulischer Kompetenzen zwischen 1. Wiesbaden: Statistisches Bundesamt. Regel- und Förderschulen in der Primar- stufe. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Dr. Janka Goldan Sozialpsychologie, 66, 165-191. Universität Bielefeld Kroworsch, S. (2019). Menschen mit Behinde- Konsequenz 41 rungen in Nordrhein-Westfalen. Zur Um- 33615 Bielefeld setzung der UN-Behindertenrechtskon- Deutschland vention in den Bereichen Wohnen, Mobili- Telefon: 0521 106-12075 tät, Bildung und Arbeit. Berlin: Monito- janka.goldan@uni-bielefeld.de ring-Stelle UN-Behindertenrechtskonven- tion. Erstmalig eingereicht: 26.03.2020 Maaz, K. & Ordemann, J. (2019). Bildungspro- Überarbeitung eingereicht: 25.06.2020 zesse im Lebensverlauf: Der kontinuierli- Angenommen: 01.07.2020 che Erwerb von allgemeinbildenden Bil- dungsabschlüssen. In G. Quenzel & K. Hurrelmann (Hrsg.), Handbuch Bildungs- armut (435-466). Wiesbaden: Springer Fachmedien GmbH. Makles, A., Schneider, K. & Schwarz, A. (2018). Potenziale schulstatistischer Indi- vidualdaten für die Bildungsforschung und Bildungspolitik – Das Beispiel Bremen. Zeitschrift für Erziehungswissenschaft, 21, 1229-1259. DOI: 10.1007/s11618-018- 0831-1
Sie können auch lesen