Innovationen und Transformationen in Schule, Unterricht und Lehrerbildung
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Carla Schelle, Christophe Straub, Carola Hübler, Frédérique Montandon, Mamadou Mbaye (Hrsg.) Innovationen und Transformationen in Schule, Unterricht und Lehrerbildung Empirische Studien und Vergleiche zu Senegal, Togo, Burkina Faso, Frankreich und Deutschland
Carla Schelle, Christophe Straub, Carola Hübler, Frédérique Montandon, Mamadou Mbaye (Hrsg.) Innovationen und Transformationen in Schule, Unterricht und Lehrerbildung Empirische Studien und Vergleiche zu Senegal, Togo, Burkina Faso, Frankreich und Deutschland Waxmann 2020 Münster • New York © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
Diese Publikation wurde unterstützt durch das Zentrum für Schul-, Bildungs- und Hochschulforschung der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Bibliografische Informationen der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. Print-ISBN 978‑3‑8309-4137-8 E-Book-ISBN 978‑3‑8309‑9137-3 © Waxmann Verlag GmbH, Münster 2020 Steinfurter Straße 555, 48159 Münster www.waxmann.com info@waxmann.com Umschlaggestaltung: Anne Breitenbach, Münster Umschlagabbildung: © Carla Schelle, Mainz Satz: MTS. Satz & Layout, Münster Druck: CPI Books GmbH, Leck Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier, säurefrei gemäß ISO 9706 ® MIX Papier aus verantwor- tungsvollen Quellen www.fsc.org FSC® C083411 Printed in Germany Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten. Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung des Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden. © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
Inhalt Carla Schelle, Christophe Straub, Carola Hübler, Frédérique Montandon und Mamadou Mbaye Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 Marianne Krüger-Potratz Prolog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 I Reformen in der Lehrerbildung in Frankreich und Deutschland Yves Reuter Pädagogische Innovationen in Frankreich: Modalitäten, Inhalte und Hürden des Lehrerengagements . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 Christiane Montandon Pädagogische Strategien einer Lehrkraft zum kooperativen Lernen: Konstanten und Transformationen eigener Praxis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 Frédérique Montandon Innovation in der Weiterbildung von Lehrpersonen an Sekundarschulen. Analyse eines Konzepts zur Sexualerziehung in der Region Île-de-France . . . . . . . . 49 Michael Stralla Innovieren als professionelle Lernaufgabe von Lehrpersonen – ein Vergleich der Lehrerbildung in Frankreich und Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 II Reformen in der Lehrerbildung in Togo und Senegal Dominique Lahanier-Reuter Effekte von Innovationen auf das Schülerhandeln im öffentlichen Primarschulwesen in Togo . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 Papa Mamour Diop Analysen zur Mediation und Interaktion im Fremdsprachenunterricht – zur Konzeption eines Dispositivs für Lehrkräfte der Sekundarstufe . . . . . . . . . . . . . . 99 Ousseynou Thiam Französisch als Zweitsprache im Senegal – innovativer Medieneinsatz und Lehrpraktiken im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
Mamadou Mbaye Fallrekonstruktionen als Potenzial für eine innovative videobasierte Lehrerbildung im Senegal . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 Emanuel dit Magou Faye Zu den schriftsprachlichen Aktivitäten von Französischlehrerinnen und -lehrern im Senegal. Welche didaktischen Implikationen werden dabei deutlich? . . . . . . . . . . 147 III Sprache und Mehrsprachigkeit in Deutschland und Burkina Faso Anke Wegner Schule im Kontext migrationsbedingter Mehrsprachigkeit – Subjektperspektiven als Anstöße zur Schulentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 Melanie David-Erb Mehrsprachigkeit in der Schule – ist der Einbezug sprachlicher Vielfalt im Klassenzimmer innovativ? Wie Bildungsakteure im westlichen Afrika über bilinguale Bildung denken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 IV Bildungsraum und (Fach-)Unterricht in Deutschland und Frankreich Antje Roggenkamp Deutsch-französische Perspektiven auf den Bildungsraum Schule – Laizität und Religionsfreiheit im transnationalen Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Christophe Straub und Carla Schelle „c’est votre droit et votre devoir“ – transformative Prozesse in deutsch-französischen Unterrichtsrekonstruktionen zum Gegenstand Wahlen . . . . . 209 Carola Hübler „Den gefrorenen Gedanken auftauen“ – mit Hannah Arendt über den Umgang mit Begriffen im Unterricht nachdenken . . 223 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237 © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
Carla Schelle, Christophe Straub, Carola Hübler, Frédérique Montandon und Mamadou Mbaye Vorwort Diese Publikation wäre nicht entstanden, hätte eine Gruppe Forscherinnen und For- scher, die dem schulpädagogischen Diskurs des deutschen und französischen Sprach- raums verbunden sind, nicht über die letzten acht Jahre in regelmäßig stattfindenden Kolloquien immer wieder gemeinsame Themen und Fragen gefunden und diskutiert. 2016 an der Université Cheikh Anta Diop in Dakar1 wurde in einer Abschlussrunde vorgeschlagen, Innovationen, die als notwendig erachtet werden für Schule, Unter- richt und Lehrerbildung, bei einem nächsten Treffen in den Blick zu nehmen. So entstand die Idee für das internationale Kolloquium Innovation und Transformation in Schule, Unterricht und Lehrerbildung im frankophonen Nord- und Westafrika, Frankreich und Deutschland, das 2018 an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz stattfand. Es sollten dabei Voraussetzungen, Bedingungen von Innovationen sowie die Prozesshaftigkeit hinsichtlich historischer Traditionen, normativer Er- wartungshaltungen und Transformationen kritisch erörtert werden, mit Fragen wie: Wie tritt Innovation für wen in welchen Praktiken in Erscheinung? Wie kommt es zu Innovation und wer sind die Impulsgeber dafür? Auf welchen Traditionen, Entwick- lungen beruht Innovation und welche Implikationen, Transformationen, Perspekti- ven lassen sich beschreiben? Welche Akteure, Akteurinnen und Organisationen sind daran beteiligt? Welche Verständnisse von Innovation gibt es überhaupt und worin wird deren Notwendigkeit und Nutzen gesehen? Erwartungsgemäß wurden im Laufe des Kolloquiums schulische und universi- täre Forschungsvorhaben und Studien, berufsfeld- und theorieorientiert, teils ver- gleichend präsentiert. Mit zwei Ausnahmen – zur transnationalen Laizität und zu professionellen Lehreraufgaben – basieren sämtliche Beiträge dieser Publikation auf empirischen Untersuchungen. Alle hier abgedruckten Beiträge durchliefen zuvor ein Call-for-articles-Verfahren, um sie gesichtet und ausgewählt einer interessierten und breiteren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Den Auftakt für diese Publikation stellt ein Prolog dar, in dem Marianne Krüger- Potratz, selbst seit vielen Jahren in deutsch-französische Projekte eingebunden und erfahren, den mühsamen Weg und die Implikationen einer um den deutsch-fran- zösischen Austausch bemühten Erziehungswissenschaft nachzeichnet. Darauf folgen vier Teilkapitel, die nicht immer trennscharf die einzelnen Beiträge sortieren. Den Anfang macht unter der Überschrift Reformen in der Lehrerbildung in Frankreich und Deutschland Yves Reuter (Lille), der seine langjährigen Erfahrun- 1 Publiziert wurden die Ergebnisse dieser Tagung in Rabiazamaholy, H. T. & Thiam, O. (Hrsg.). (2019). Formation des enseignants dans un monde en mutation, transition entre cycles, gestion des crises et adaptation culturelle. Paris: L’Harmattan. © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
8 Vorwort gen zu unterrichtlichen Innovationen, den besonderen Modalitäten, Inhalten und Hürden vor allem bezogen auf das Lehrerengagement, darlegt. Freigelegt ist damit ein Kennerblick auf besondere Herausforderungen einer sich als reformerisch ver- stehenden französischen Schul- und Bildungslandschaft. Basierend auf einem Schul- begleitforschungsprojekt an einer bekannten Pariser Reformschule und anhand von Beobachtungen und Transkriptionen kann Christiane Montandon (Paris) zeigen, worin die Wirkkraft der pädagogischen Strategien einer Lehrkraft zum kooperativen Lernen besteht und inwiefern dabei eigene Praxis transformiert. Zu dem spezifischen Themenfeld der Sexualerziehung zeichnet Frédérique Montandon (Paris) das Kon- zept und die Umsetzung einer innovativen Weiterbildungsmaßnahme von Lehrper- sonen in der Region Île-de-France nach. Dieses Projekt kann ebenfalls der Schulent- wicklungsforschung zugeordnet werden. Vor eben jener Folie wurde auch der einzige aus dem deutschsprachigen Bildungsraum stammende Beitrag dieses Teilkapitels er- arbeitet. Michael Stralla (Köln) kreist dazu auf der Ebene aktuell gültiger Konzepte in Deutschland und Frankreich Merkmale und Standards einer professionalisierten Lehrerbildung als Handlungsanforderungen ein. Im anschließenden Teilkapitel werden konkrete Reformen der Lehrerbildung im Senegal und in Togo datenbasiert dargelegt und das Augenmerk auf je spezifi- sche Bedingungen von Implementationen gerichtet. Für Togo schildert Dominique Lahanier-Reuter (Bordeaux) stellvertretend für eine gemischte Forschergruppe ge- wünschte und nicht gewünschte Effekte von Innovationen auf das Schülerhandeln im öffentlichen Primarschulwesen. Ausschnitte aus Gesprächen mit Lehrpersonen gewähren dazu anschaulich Einblicke. Papa Mamour Diop (Dakar) präsentiert aus der Ausbilderperspektive Analysen zum Umgang mit neuen Medien in Interaktionen im Fremdsprachenunterricht und hebt dabei die Konzeption eines Dispositivs für Lehrkräfte der Sekundarstufe im Senegal besonders hervor. Aus demselben Arbeits- kontext zeigt Ousseynou Thiam (Dakar) anhand von konzeptionellen Überlegungen und Beispielen, wie Unterricht für Französisch als Zweitsprache mit Lehrerpraktiken gestaltet werden kann, die als innovativ bezeichnet werden können, und wie dabei neue Medien methodisch, institutionell einzubinden wären. Forschungs- und metho- denbasiert kann Mamadou Mbaye (Dakar/Leipzig) zeigen, wie aus deutsch-senega- lesischen Feinanalysen zur Fehlerkorrektur im Unterricht gewonnene Erkenntnisse eine theorieorientierte und interpretative videobasierte Lehrerbildung im Senegal weiterentwickeln können. Der Frage, inwiefern senegalesische Lehrkräfte, deren Auf- gabe es ist, Schülerinnen und Schüler zum Schreiben in der französischen Sprache zu animieren, selbst schriftsprachlich handeln, geht Emanuel dit Magou Faye (Dakar) nach. Ausgelotet werden dabei didaktische Möglichkeiten, um die schriftsprachlichen Potentiale von Lehrpersonen für den Unterricht zu nutzen. Thematisiert ist in allen fünf genannten Beiträgen die Mehrsprachigkeit der schulischen Akteurinnen und Akteure, eingerückt in je spezifische Herausforderungen und Vorschläge dazu. In einem engeren Sinne sind Sprache und Mehrsprachigkeit in den beiden Bei- trägen des nächsten Teilkapitels thematisiert. Anke Wegner (Trier) fokussiert die Si- tuation und den Diskurs migrationsbedingter Mehrsprachigkeit für die Schule. Sie © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
Vorwort 9 legt anhand von analysierten Interviews Subjektperspektiven offen und kann damit verdeutlichen, wie diese wiederum als Anstöße zur Schulentwicklung aufzugreifen wären. Vor dem Hintergrund der Mehrsprachigkeit in Burkina Faso fragt Melanie David-Erb (Münster) Bildungsakteure (zwei Mütter, ein Vater, eine Direktorin), was sie über bilinguale Bildung denken. Dem Erkenntnisgewinn dienen die transkribier- ten Gespräche, die in die Auseinandersetzungen über Verkehrs- und Nationalspra- chen im westlichen Afrika eingerückt werden. Unter dem die Publikation abschließenden Teilkapitel werden Bildungsraum und (Fach-)Unterricht in ethischen, religiösen und gesellschaftlichen Kontexten aufge- griffen. Antje Roggenkamp (Münster) verfolgt eine interessante historische Entwick- lungslinie zur Laizität aus vergleichender deutsch-französischer Perspektive für den Bildungsraum Schule und den Fachunterricht Religion. Erstaunlicherweise zeichnen sich transnationale Annäherungen ab. Mit Bezug auf fachliches Lernen in poli- tisch-historischen Unterrichtssituationen aus Frankreich und Deutschland zeichnen Christophe Straub und Carla Schelle (beide Mainz) die Konstituierung des Gegen- stands „Wahlen“ in einem deutsch-französischen Vergleich nach. In einem metho- disch ähnlichen Setting nutzt Carola Hübler (Mainz) Überlegungen Hannah Arendts, um über den Umgang mit Begriffen im Unterricht nachzudenken. Anhand zweier Unterrichtssequenzen werden dazu Rekonstruktionen vorgelegt, die abschließend die Notwendigkeit von Innovationen zumindest in diesem Lernfeld fraglich erscheinen lassen. Die vorliegende Publikation versammelt die in deutscher Sprache verschriftlich- ten Ergebnisse des internationalen Kolloquiums 2018 an der Universität in Mainz. Sämtliche französischsprachigen Beiträge – es waren insgesamt sieben – wurden in einem mehrstufigen Verfahren übersetzt. Von dem Bemühen, bei der Übersetzung einerseits einen verständlichen Text zu fabrizieren und andererseits die jeweilige Ori- ginalität nicht zum Verschwinden zu bringen, legen die Texte Zeugnis ab. Vor allem fachsprachliche, sprach- und kulturspezifische als auch schul- und unterrichtskultu- relle Begriffe und Theoreme erzeugen Grenzen der Übersetzbarkeit und wurden nicht immer durchgehend gleich behandelt. Insofern tragen die übersetzten Texte immer auch die Handschrift der Übersetzung. Geplant ist zudem eine Publikation in franzö- sischer Sprache, mit der dem wissenschaftlichen Nachwuchs ermöglicht werden soll, sich im jeweiligen Sprachraum zu präsentieren. Ein solches Unterfangen benötigt Mittel und Unterstützung und kann auch von einem mehrköpfigen Herausgeberteam nicht allein bewerkstelligt werden. An die- ser Stelle danken wir der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, die immer wieder den Rahmen für internationale Projekte bereitstellt und diese fördert. Außerdem gilt unser Dank den Einrichtungen, die den Druck dieser Publikation ermöglicht haben, dem Zentrum für Schule, Bildung und Hochschulforschung (ZSBH) sowie dem Insti- tut für Erziehungswissenschaft. Noch mehr und vor allem persönlich zu danken haben wir denjenigen, die an der Entstehung des Buches mitgewirkt und das Herausgeberteam tatkräftig unterstützt haben. An erster Stelle danken wir Anke Wegner und Andrea Peters für die Überset- © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
10 Vorwort zung einzelner Beiträge sowie Noémie Genet für die flankierende Sichtung über alle Texte hinweg. Ganz besonders zu danken haben wir Ulrike Hell für die routinierte und umsichtige Durchsicht sowie die Korrektur und Vorbereitung der Manuskripte. Der Kreis der Forscherinnen und Forscher, die bereits seit acht Jahren in regem Austausch stehen und wissenschaftlich kooperieren, hat sich erweitert. Davon soll diese Publikation Zeugnis ablegen und dazu beitragen, weitere Projekte und Koope- rationen anzuregen. Mainz, Paris, Dakar © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
Marianne Krüger-Potratz Prolog Der Arbeitsbereich zur „Rekonstruktiven Schul- und Unterrichtsforschung in Frank- reich, Deutschland und Senegal“ an der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz, dessen neueste Forschungsbeiträge auch mit diesem Band zugänglich gemacht wer- den, ist ein Beispiel für die vom Wissenschaftsrat im Juli 2018 und der Hochschul- rektorenkonferenz (HRK) im Februar 2019 mit Umfragen, Expertisen und Gutachten begleiteten Initiativen zur Internationalisierung der Hochschulen in den Bereichen Forschung, Studium und Verwaltung. Zugleich weist er Besonderheiten auf, auf die im Folgenden unter Bezug auf aktuelle wie historische Entwicklungen bezüglich der Internationalität und Internationalisierung von Wissenschaft kurz eingegangen wird. Seit längerem wird von den Hochschulen eine auf ihr Profil zugeschnittene „in- stitutionelle Gesamtstrategie“ unter Einschluss einer „institutionellen Sprachpolitik“ eingefordert. Ersteres betrifft die Einbeziehung aller Disziplinen in Forschung, Lehre respektive Studium und der Verwaltung, auch über das Akademische Auslandsamt hinaus. Sprachpolitisch geht es um die Klärung des Verhältnisses von Deutsch und Englisch als Wissenschafts- und als Verkehrssprachen, um die Rolle anderer Wissen- schafts- und Herkunftssprachen sowie um die zur Förderung der institutionellen wie der individuellen Mehrsprachigkeit aller Hochschulangehörigen zu treffenden bzw. getroffenen Maßnahmen. Deutlich wird, dass für die Hochschulrektorenkonferenz (HRK) Internationalisierung und Englisch als Wissenschafts- und Kommunikations- sprache eng verbunden sind. Doch zugleich ist ihr auch bewusst, dass Internationali- sierung immer auch Mehrsprachigkeit bedeutet und dass „Sprachenfragen in den ver- schiedenen Disziplinen“, insbesondere in den Geisteswissenschaften „als ausgeprägt sprachgebundene Disziplinen [...] einen sehr unterschiedlichen Stellenwert einneh- men können“ (HRK 2019, S. 5). Hinzu komme die individuelle, unter anderem auch migrationsbedingte Mehrsprachigkeit von Personen in allen Hochschulbereichen. Die Relevanz anderer (Wissenschafts-)Sprachen gilt nicht nur für die Philologien, die im Text der HRK als Beispiel genannt werden, sondern für alle (Teil-)Disziplinen, in denen die Sprache (auch) Gegenstand der Forschung ist, wenn es beispielsweise um die Analyse von Dokumenten und Texten geht, um die Auseinandersetzung mit Begriffen und den dazugehörigen Theorien und Konzepten oder um die Gewinnung eigener Daten, z.B. durch Interviews. Nicht von ungefähr ist ein Teil der Diskussionen in entsprechenden Forschergruppen, wie auch im Rahmen der Tagung aus der der vorliegende Band hervorgegangen ist, sprachlich-begrifflichen Klärungen gewidmet. Selbst wenn Begriffe – wie z.B. Innovation oder Inklusion – keiner Übersetzung be- dürfen, so werden mit ihnen unterschiedliche Bedeutungen aufgerufen, die sich z.B. aus der Geschichte der jeweiligen Schulsysteme erklären. Das Thema Internationalität und Sprachenpolitik ist nicht neu. Zum einen wird mit Blick auf die heutige Dominanz des Englischen darauf verwiesen, dass es auch © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
12 Marianne Krüger-Potratz schon in der Vergangenheit „universelle Wissenschaftssprachen“ gab, z.B. Griechisch, Arabisch und später lange Zeit Latein, das „grosso modo erst im 18. Jh. als führende Wissenschaftssprache [...] von dem ‘Triumvirat‘ Französisch, Englisch und Deutsch“ abgelöst worden sei und von dem sich nach dem Zweiten Weltkrieg allein Englisch durchgesetzt habe (Roelli, 2018, S. 377). Bei genauerem Hinsehen zeigt sich jedoch, dass „Schlüsselmomente in der Geschichte der europäischen Wissenschaft eigent- lich schon immer durch Mehrsprachigkeit gekennzeichnet waren“ (Lüdi, 2018, S. 24). Nicht nur wurden wichtige Texte in andere Sprachen übertragen, sondern „über die reine Übersetzung hinaus wurden die wissenschaftlichen Erkenntnisse oft mit Über- arbeitungen oder aktualisierten Informationen ergänzt“ (ebd., S. 26). Wissenschaft ist auch heute mehrsprachig. Die sehr weit verbreitete Idee, dass gegenwärtig gelin- gende Internationalisierung des Hochschulbereichs (allein) an der Präsenz des Eng- lischen in Forschung, Studium und Verwaltung abzulesen sei, stellt eine Verkürzung des Begriffs von Internationalisierung bzw. Internationalität dar, und die Zahl der in Englisch publizierten Arbeiten ist noch kein Beleg dafür, dass die Autorinnen und Autoren international ausgewiesen sind. Internationalität in der Erziehungswissenschaft ist historisch Teil des weit zurück- reichenden Austauschs in der Befassung mit Fragen von Bildung und Erziehung im privaten wie im öffentlichen Bereich. In der jüngeren Vergangenheit hat sich im Zuge der Durchsetzung des Nationalstaats als politischer Form und der Etablierung na- tionaler Bildungssysteme in einer Art von Arbeitsteilung im Gegenstandsfeld eine Teildisziplin herausgebildet, deren Vertreter sich speziell mit der Beobachtung und Analyse der bildungspolitischen und pädagogischen Neuerungen in anderen Staaten befasst haben. Aus diesen Anfängen hat sich die Vergleichende Erziehungswissen- schaft entwickelt und nach dem Zweiten Weltkrieg als die für Internationalität zu- ständige Teildisziplin etabliert. In dieser Funktion war sie immer mehrsprachig. Denn für ihr internationales Forschungsgebiet waren jeweils spezifische Sprach- und Lan- deskenntnisse notwendig, um einschlägige Dokumente und Texte analysieren, sich – soweit dies politisch möglich war – „vor Ort“ informieren, Fakten sammeln und gegebenenfalls eigenständig Daten erheben zu können. Welche Staaten und damit welche Sprachen jeweils als relevant angesehen wurden, hing nicht zuletzt von den politischen Konstellationen ab und von den Themen, die für die Entwicklungen im „eigenen Land“ als interessant galten (Adick, 2008; EWFT, 2012; Hornberg & Kott- hoff, 2018). Ab Ende des 20. Jahrhunderts hat sich infolge der verschiedenen Prozesse, die unter Globalisierung zusammengefasst werden, diese Trennung von internationaler und nationaler Orientierung in der Erziehungswissenschaft aufzulösen begonnen. Internationale Kooperationen sind inzwischen auch in Forschung und Lehre anderer Teildisziplinen der Erziehungswissenschaft zu beobachten: z.B. die Ausweitung des Forschungsfeldes über die nationalen Grenzen hinaus, die Einladung von Expertin- nen und Experten zu Vorträgen oder Gastdozenturen, die Zusammenarbeit in inter- nationalen Forschungsprojekten, die Publikation in internationalen Fachorganen, die Mitgliedschaft in internationalen Fachgesellschaften und – nicht zuletzt – die © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
Prolog 13 Beteiligung an bi- und internationalen Studiengängen. Sprachpolitisch bedeutet dies mehrheitlich, dass Englisch die gemeinsame Sprache ist, unabhängig von den Sprach- kompetenzen der Beteiligten. Andere (Wissenschafts-)Sprachen fungieren außerhalb des ‚eigenen Sprachraums‘ selten als Arbeits-, Kommunikations- und Publikations- sprachen. Dies gilt auch für Französisch im deutschsprachigen und für Deutsch im frankophonen Sprachraum. In der Vergleichenden Erziehungswissenschaft, die sich nach dem Zweiten Welt- krieg in der Bundesrepublik etabliert hat, dominierte die auf die DDR und Osteuropa ausgerichtete Forschung. Je nach den anstehenden Reformdebatten in der Bundes- republik (z.B. Gesamtschule und Chancengleichheit, frühkindliche Bildung, techno- logische Bildung) war der Blick auf bestimmte westliche (europäische) Länder, dar- unter auch auf Frankreich gerichtet. Die Versuche, längerfristige, auch institutionell gestützte deutsch-französische Kooperationen aufzubauen, unter anderem durch die Einbeziehung der jeweiligen Fachgesellschaften, waren nur punktuell erfolgreich. Ein Grund hierfür war, dass das Interesse den bildungspolitischen und pädagogischen Entwicklungen in jeweils anderen Ländern und Regionen galt; hinzu kam die Spra- chenfrage. Ein anderer Bereich, in dem deutsch-französische Kooperationen bisher nur eine bescheidene Rolle spielen, ist die Internationalisierung der Lehrkräftebildung. Von den derzeit fast 190 integrierten deutsch-französischen Studiengängen, die von der Deutsch-Französischen Hochschule „betreut“ werden, sind nur sieben Lehramtsstu- diengänge; sie werden von den Universitäten Mainz, Leipzig, der PH Freiburg und neuerdings auch von der Universität Koblenz-Landau angeboten: Bis auf einen Stu- diengang im Bereich der Primarstufe (mit allen Fächern) richten sich die anderen an Studierende der Schulstufen respektive Schulformen Sekundarstufe 1/collège und Sekundarstufe II/lycée und beziehen sich entweder allein auf die Fremdsprachen, oder es besteht die Möglichkeit der Kombination mit den Fächern Geschichte und Geographie. Die Sprachenfrage dürfte jedoch nur eine der Schwierigkeiten für ein zahlenmäßig stärkeres integriertes deutsch-französisches Studienangebot in der Lehrerbildung sein, die andere ist das historisch ausgebildete Verständnis von der Schule als nationaler Institution und der daraus resultierenden Unterschiede in der Lehramtsausbildung, zu denen auch die unterschiedliche Sicht auf die Bedeutung der Erziehungswissenschaft in der hochschulischen Lehrerausbildung gehört. Von daher sind Austauschprogramme für (zukünftige) Lehrkräfte wichtig, z.B. im Rahmen eu- ropäischer Projekte oder seitens des Deutsch-Französischen Jugendwerks, das unter anderem Austausch für Primarstufenlehrkräfte anbietet und deutsch-französische Forschungsprojekte zu aktuellen schulpolitischen Themen unterstützt. Vor dem hier skizzierten Hintergrund über Internationalisierung, deutsch-fran- zösische Beziehungen in der (Vergleichenden) Erziehungswissenschaft und Mehr- sprachigkeit zeigt sich die Besonderheit der Zusammentreffen der an der vorliegen- den Publikation beteiligten Forscherinnen und Forscher. Sie sind ein Beispiel für mehrsprachige fachliche Zusammenarbeit in der Schulpädagogik, wie sie in den Aus- führungen der Hochschulrektorenkonferenz (HRK) unter dem Stichwort „Geistes- © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
14 Marianne Krüger-Potratz wissenschaften“ angesprochen wird. Arbeits- und Publikationssprachen sind Deutsch und Französisch, also die Sprachen des Forschungsfeldes (Schelle, 2013; Montandon & Schelle, 2016; Rabiazamaholy & Thiam, 2019). Die seit 2012 entstandenen Koopera- tionen sind offen; sie sind nicht als zeitlich begrenzte Forschungsvorhaben angelegt, sondern Teil der Forschungsaktivitäten, aus denen heraus weitere Studien und weitere Qualifikationsarbeiten hervorgehen können ebenso wie bei einschlägigen Förderin- stitutionen zu beantragende Projekte. Gegenstand der gemeinsamen Beschäftigung sind bildungspolitische und pädagogische Innovationen in Deutschland, Frankreich und in verschiedenen frankophonen afrikanischen Staaten sowie methodologische Fragen. Die mit dieser Publikation vorliegenden Beiträge beleuchten das gemeinsa- me Thema sowohl aus der „Innen“- wie aus der „Außensicht“, und alle waren – der Arbeitstradition entsprechend – Gegenstand gemeinsamer Diskussionen. Literatur Adick, C. (2008). Vergleichende Erziehungswissenschaft. Eine Einführung. Stuttgart: Kohl- hammer. EWFT (2012). Erziehungswissenschaftlicher Fakultätentag/Arbeitsgruppe des Präsidi- ums: Hörner, W., Jobst, S. & Nieke, W. Zukunft der International Vergleichenden Er- ziehungswissenschaft. Verfügbar unter: http://www.ewft.de/files/Zukunft%20der%20 Komparatistik%20-%20Stellungnahme%20des%20EWFT-a.pdf [22.10.2019]. Hornberg, S. & Kotthoff, H.G. (2018). Vergleichende Erziehungswissenschaft. In I. Go- golin, V.B. Georgi, M. Krüger-Potratz, D. Lengyel & U. Sandfuchs (Hrsg.), Handbuch Interkulturelle Pädagogik (S. 191–194). Bad Heilbrunn: Klinkhardt. HRK Hochschulrektorenkonferenz (Hrsg.). (2019). Institutionelle Sprachenpolitik an Hochschulen – Fortschritte und Herausforderungen. In Beiträge zur Hochschulpoli- tik, 1. Berlin und Bonn. Verfügbar unter: https://www.hrk.de/fileadmin/redaktion/ hrk/Sprachenpolitik_Publikation_Web.pdf [22.10.2019]. Lüdi, G. (2018). Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs. Ein Panorama der Möglich- keiten und Schwierigkeiten. In H.W. Giessen, A. Krause, P. Oster-Stierle & A. Raasch (Hrsg.), Mehrsprachigkeit im Wissenschaftsdiskurs. Ein Panorama der Möglichkeiten und Schwierigkeiten (S. 21–50.) Baden-Baden: Nomos. Montandon, F. & Schelle, C. (Hrsg.). (2016). Activités langagières, pratiques pédagogiques et rituels. Une approche interculturelle à l’école et en formation, Paris: Téraèdre. Rabiazamaholy, H.T. & Thiam, O. (Hrsg.). (2019). Formation des enseignants dans un monde en mutation, transition entre cycles, gestion des crises et adaptation culturelle. Paris: L‘Harmattan. Roelli, P. (2018). Zur Eignung des Latein als Wissenschaftssprache. In M. Prinz & J. Schie- we (Hrsg.), Vernakuläre Wissenschaftskommunikation: Beiträge zur Entstehung und Frühgeschichte der modernen deutschen Wissenschaftssprachen (S. 375–396). Ber- lin: De Gruyter. Verfügbar unter: DOI: https://doi.org/10.1515/9783110476958-016 [24.10.2019]. Schelle, C. (Hrsg.). (2013). Schulsysteme, Unterricht und Bildung im mehrsprachigen fran- kophonen Westen und Norden Afrikas. Münster: Waxmann. © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
Prolog 15 Wissenschaftsrat (2018). Empfehlungen zur Internationalisierung von Hochschulen (Drs. 7118-18), München, 6.7.2018. Verfügbar unter: https://www.wissenschaftsrat.de/ download/archiv/7118-18.pdf;jsessionid=D40D78344A2956173729A0CBA24EF51C. delivery2-master?__blob=publicationFile&v=2 [22.10.2019]. © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
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I Reformen in der Lehrerbildung in Frankreich und Deutschland © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
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Yves Reuter Pädagogische Innovationen in Frankreich: Modalitäten, Inhalte und Hürden des Lehrerengagements1 In dem nachfolgenden Beitrag möchte ich unter drei mir wichtig erscheinenden Ge- sichtspunkten auf die eigene Forschungstätigkeit zurückblicken: (a) Zunächst sollen unterschiedliche Typen des Lehrerengagements in innovativen Projekten in Frank- reich beschrieben werden. Dabei wird gefragt, auf welcher Motivation bzw. auf wel- chen Modalitäten das Engagement basiert. (b) Daraufhin werden die wichtigsten In- novationsbereiche betrachtet und der Frage nachgegangen, inwiefern man bei diesen tatsächlich von Neuerungen sprechen kann. (c) Zusätzlich werden die schulischen Funktionsträger betrachtet, die einer Implementierung von Innovationen eher hin- dernd gegenüberstehen. Abschließend sollen wegweisende Erkenntnisse für die Im- plementierung von Innovationsprozessen im Rahmen der Lehrerbildung vorgestellt werden. 1. Studien und Voraussetzungen, auf die sich die Überlegungen stützen Grundlage des Beitrags sind mehrere von mir abgeschlossene und laufende Studien. Eigene Forschung zu «Freinet» im Zeitraum 2001–2006 Dabei handelt es sich um eine so genannte „Freinet“-Studie. Beforscht wurde eine Gruppe von Lehrpersonen in Mons en Barœul, einem benachteiligten Stadtteil von Lille, die nach der Freinet-Methode unterrichten (Reuter, 2007). Elf Forscherinnen und Forscher aus unterschiedlichen Disziplinen wie der Didaktik, der Soziologie, der Pädagogik und der Psychologie waren über fünf Jahre hinweg an der Studie beteiligt. Dabei wurden unterschiedliche Daten erhoben und zueinander in Beziehung gesetzt: Beobachtungen, Fragebögen, Interviews mit Schülerinnen und Schülern sowie mit Lehrerinnen und Lehrern, Eltern und dem Schulpersonal. Die daraus hervorgegange- nen Dokumente wurden analysiert, zudem wurden vom Forscherteam erstellte sowie institutionalisierte Evaluationen durchgeführt. Auf diese Daten habe ich 2016 in einem Kolloquium über Teamarbeit (Reuter, 2016) sowie in einem Vortrag im Rahmen der Lehrerbildung (Reuter, 2017) zurück- gegriffen – wobei in den Vortrag zudem auch die Auswertung von sieben Lehrerinter- views einfloss: Zwei der Interviews wurden mit Lehrpersonen geführt, die seit der Gründung an dieser Schule unterrichten und die in leitender Funktion sind (Schullei- 1 Dieser Text wurde federführend übersetzt von Carola Hübler. © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
20 Yves Reuter tung), die eine Lehrperson an einer Vorschule (école maternelle), die andere an einer Grundschule (école primaire). Weiterer Interviewpartner war ein Lehrer, der dieses pädagogische Versuchsprojekt initiiert und mitbegründet hatte und später Studienbe- rater (conseiller pédagogique) in einem anderen Bezirk wurde. Zudem war ein Inspek- tor beteiligt, der als treibende Kraft den Anstoß zu diesem Projekt gab, ein weiterer Kollege aus dem Grundschulbereich, der erst später an diese Schule kam, sowie zwei Sekundarstufenlehrerinnen eines benachbarten collège (Rabelais), die einen „Freinet- Zweig“ an ihrer Schule eröffnet hatten. Der Bericht für den Haut Conseil de l’Éducation2 Im Folgenden beziehe ich mich auch auf meine Forschungsarbeit, die für den so be- zeichneten Haut Conseil de l’Éducation erstellt wurde und die an die Erfahrungen im Kontext des Artikels 34 des Gesetzes über Leitlinien und Planung des Schulwe- sens aus dem Jahr 2005 anknüpft. Die Umsetzung dieser gesetzlichen Vorgaben hat die Forschergruppe dazu veranlasst, ihr Augenmerk auf die Wechselbeziehung von gesetzlichem Rahmen und pädagogischer Innovation bzw. daraus resultierenden or- ganisationalen Schwierigkeiten (Reuter, 2011; Bart & Reuter, 2013) zu richten. Aus- gewertet wurden dabei unterschiedliche Dokumente (lokal/regional, akademisch/ universitär, national/überregional), Interviews mit Lehrerinnen und Lehrern sowie Vertretern der nationalen Bildungsadministration. Zusätzlich wurden noch Projekt- analysen bzw. -berichte und Interviews mit Verantwortlichen aus der Schulleitung, aus dem Forscherteam sowie Teamvorsitzenden ausgewertet. Des Weiteren wurde für die Studie auf Interviews mit akademischen Beratern für akademische Forschung und Entwicklung von Innovation und Erprobung3 sowie mit Leitern der Abteilung For- schung, Entwicklung, Innovation und Erprobungen4 zurückgegriffen. Praktische Erfahrungen als Lehrer, Forscher, Betreuer Im Folgenden beziehe ich mich auf weitere Studien, die ich begleite bzw. begleitet habe, als Forscher, als Betreuer von Dissertationen sowie auf selbstgemachte Erfah- rungen als Lehrkraft. So konnte ich zu Beginn meiner Laufbahn am Collège Debeyre in Loos, einem Vorort von Lille, Einblicke in den Bereich der Projektarbeit gewinnen. Über mehrere Jahre hinweg führte ich, gemeinsam mit einem Lehrer für Bildende Künste, interdisziplinäre Projekte durch, welche schließlich in einem Band über die Artikulationsformen von französischer Sprache/Literatur und Zeichnung mündeten. Dieser Band widmete sich den unterschiedlichsten Gestaltungsformen, wie sie sich 2 Dabei handelt es sich um den ehemals so bezeichneten Hohen Rat für Fragen nationaler Bildung (Anm. der Hrsg.). 3 Conseillers Académiques Recherche et Développement en Innovation et en Expérimenta- tion (CARDIE). 4 Recherche Développement Innovation et Expérimentation (RDIE). © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
Pädagogische Innovationen in Frankreich 21 z.B. in Comics, Fotoromanen und in der Werbung finden (Pratiques 1982). Wichtige Anstöße zur Pädagogik der Projektarbeit kamen dabei auch von Francis Ruellan (Ru- ellan, 2000; Reuter, 2005). Was die betreuten Promotionsarbeiten anbelangt, so kann insbesondere die lau- fende Arbeit „Kooperativ-autodidaktisches Lernen von Lehrkräften und schulische Erfolge“ von Catherine Souplet, welche institutionell an die Ecole Supérieure du Professorat et de l’Education in Lille-Nord de France gebunden ist, hervorgehoben werden. In dieser Arbeit beforscht Frau Souplet ein Lehrerkollektiv, welches sich auf- grund eines gemeinsamen Engagements für die Reformschulbewegung (pédagogies alternatives) zusammengefunden hat und sich untereinander fortbildet – ohne dabei institutionelle Anbindungen zu pflegen oder sich einer pädagogischen Bewegung an- zuschließen. Eine weitere laufende Promotionsstudie, auf die verwiesen werden kann, ist eine Arbeit über die kooperativen Praktiken an der Vitruve-Schule, eine der ältes- ten reformpädagogischen Schulen in Paris. Die Schule, welche im 20. Arrondissement angesiedelt ist, war bis dato schon Anlass mehrerer Studien, die sich auf die Aus- wertung von Dokumenten, Beobachtungen und Interviews, aber auch auf Analysen von aufgezeichneten Lehrerkonferenzen sowie Dropbox-Dateien, welche zur Unter- suchung freigegeben worden waren, stützen (Gloton 1970, 1979; Agostini, Bonnard, Chneiweiss, Dayot & Gallice, 1986; Equipe Vitruve, 1995, 2001; Ecole Vitruve, 2002, 2005; Blichmann 2008; Serrero, 2009; Delbet, 2019). Geleistete Forschung zur Definition der Lehrerarbeit in der didaktischen Perspektive Abschließend verweise ich noch auf jene Forschungsberichte, die sich dem Thema „Lehrerarbeit“ aus einer didaktischen Perspektive nähern (Reuter & Delcambre, 2006; Reuter, 2014), indem sie auffächern, inwiefern die Arbeit der Lehrerin/des Lehrers von Inhalten [gemeint als curriculare Vorgaben, Anm. der Hrsg.] sowie der Spezifik des jeweiligen Schulfaches eingeengt und strukturiert wird. Auch diese Berichte stüt- zen sich wiederum auf Beobachtungen bzw. Untersuchungen von Klassen, die ent- weder nach einem „klassischen“ oder nach einem anderen pädagogischen Konzept unterrichtet wurden, sowie auf Fragebögen und Interviews. 2. Typen des Lehrerengagements im Kontext von Innovationen Im Anschluss an die Offenlegung der Quellen, die den Reflexionen meiner Forschung zugrunde liegen, komme ich nun auf meine erste Ausgangsfrage zurück. Welche Ty- pen/Modalitäten des Lehrerengagements zeigen sich für Innovationen in Frankreich? Auf welcher Motivationsgrundlage und auf welche Weise engagieren sich Lehrkräfte? Im Folgenden schlage ich vor, sechs Typen vorläufig zu unterscheiden, ohne darüber hinwegzusehen, dass deren Einteilung womöglich zu rigide und deren Bezeichnun- © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
22 Yves Reuter gen diskutabel sind – zumal die Grenzen zwischen den einzelnen Typen fließend sind und mehrere Typen des Lehrerengagements auch von einer einzigen Person zeitgleich oder sukzessiv verkörpert werden können. Ein „kämpferisches“ Engagement Dieses Engagement gründet sich auf einem entschiedenen Wertebekenntnis, von dem die Lehrkräfte sozusagen a priori überzeugt sind: Sie haben eine gewisse Vorstellung vom Lehrerberuf, von der Schule, von der Gesellschaft und von der Art citoyen, zu der sie erziehen wollen − was unweigerlich dazu führt, nicht anders unterrichten zu können. Dies ist eine Einsicht, die dieser Lehrertypus gleich von Beginn seiner Leh- rerlaufbahn an, oder zumindest nach sehr kurzer Zeit als Lehrer, hat. Dieses Arbeitsverständnis ist in der Folge mit einem bestimmten Lehrerbild ver- knüpft: mit sich selbst im Einklang sein und einem Beruf, den man liebt. Das außer- berufliche Leben wird dem Berufsleben nicht gegenübergestellt, dieser Lehrertypus ist nicht hin- und hergerissen, weder zwischen konzeptionellen und praktischen Um- setzungen, noch zwischen tatsächlichem und erträumtem Lehrerhandeln. Er möchte keinen Ärger, keine Ausgrenzung und keine Ahndung. Dieses Verständnis des Leh- rerhandelns findet sich bei Lehrkräften der Freinet-Schule und der Vitruve-Schule, für die dieses Arbeitsverständnis absolut notwendig erscheint. Dieses Engagement kann jedoch zwischen zwei Polen oszillieren: dem „histori- schen“ Pol, in welchem der Anspruch auf eine Art Erbe erhoben wird, dessen Leit- gedanken sicherlich erweitert werden, der sich aber dennoch hartnäckig anderen Lehransätzen, seien es „klassische“ oder andere, entgegenstellt und zudem von einem gewissen Belehrungseifer getragen wird. Wie ich auch an anderer Stelle in einem Vor- trag (Reuter, 2018) ausgearbeitet habe, beruft man sich im „historischen“ Pol auf den nicht infrage stellbaren Zusammenhang von grundlegenden sowie gemischten Prin- zipien und geltenden Praktiken. Insgesamt gleicht dieser Pol einem gelebten Über- zeugungstätertum. Der sich dementgegen im Aufbau befindende Antipol beruft sich bisweilen zwar ebenso auf eine Art Erbe, lässt dabei aber eine Vielzahl von Quellen zu und sammelt überall, um neue Ideen zu finden. Die Beziehungen zwischen Prinzipien und Prakti- ken sind deutlich flexibler und der Proselytismus weniger stark ausgeprägt. Ein „entwickeltes“ Engagement Lehrkräfte, die dieser zweiten Kategorisierung des Engagements zugeordnet werden, denken aufgrund der Ausbildung, die sie erhalten und/oder die sie autodidaktisch durch Lektüre und Praktika gewonnen haben, dass alternative Pädagogiken vorzu- ziehen sind. Ihr Urteil gründet sich dabei auch auf selbst durchgeführte Analysen sowie eigene Lehrerfahrungen, sodass sie alternative Pädagogiken als lehrreich oder beruflich bereichernd einschätzen. © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
Pädagogische Innovationen in Frankreich 23 Dies beruht insbesondere auf der Analyse der Grenzen des etablierten, traditio- nellen Unterrichts, welches schematisierend dargestellt, sich durch folgende Charak- teristika auszeichnet: Er ist für alle identisch, eher lehrerzentriert (unter Ausprägung einer dialogaffineren Variante), kennt klassisch-repetitive Aufgabenformate und kon- sequent formale Prüfungsverfahren. De facto lässt sich dieses klassische Lehrkonzept nur schwerlich unter den gewöhnlichen Bedingungen im Klassenraum anwenden. In der Konsequenz halten die Lehrerinnen und Lehrer dieses Lehrkonzept für an- strengend, da sie für ihr Empfinden viel zu viel Zeit auf Disziplinarmaßnahmen ver- wenden (manche reden sogar davon „den schulischen Frieden wiederherzustellen“). Die positiven Auswirkungen des klassischen Lehrkonzepts scheinen angesichts gelangweilter Schülerinnen und Schüler, einer geringen Beteiligung am Unterricht, Schulabbrüchen und sich stärker abzeichnender Diskrepanzen sehr begrenzt zu sein. Zudem reduziert das klassische Konzept, wie internationale Studien wie PISA zei- gen, nicht den insbesondere nach sozialer Zugehörigkeit differenzierten, schulischen Misserfolg. Dieser Zusammenhang scheint eine französische Eigenheit zu sein, die es zu beforschen gilt. Bemerkenswert ist auch, dass diese Lehrvorstellung sich in ihren Praktiken tendenziell gegenläufig zu erklärten und/oder erwünschten Werten richtet. Beispielhaft kann hier angeführt werden, dass die Schülerinnen und Schüler nur eine gering ausgeprägte Autonomie aufweisen oder das Demokratieverständnis seinen Platz im Diskurs, nicht aber im Schulalltag findet. Ebenso werden nur selten kritische Haltungen eingenommen, der Andere nur in Ansätzen geachtet bzw. die Rechte der Kinder bisweilen wenig respektiert. All dies schürt ein Unwohlsein, sowohl bei den widerständischen und systemkritischen Lehrkräften wie bei ebensolchen Schülerin- nen und Schülern. Die Kategorie des „entwickelten“ Engagements stützt sich zudem auf die Analy- se der Interessen/Ziele einiger alternativer pädagogischer Methoden, die besser bei den Schülerinnen und Schülern ankommen. Aber nicht nur bei ihnen, denn auch die Lehrkräfte favorisieren diese Alternativen, insofern sie sie eher zufriedenstellen. Letztlich verbindet das geteilte Gefühl eines besseren Schulklimas alle Beteiligten. Aber nicht nur das. Die alternativen pädagogischen Methoden stehen zudem den befürworteten Prinzipien weniger entgegen. Schließlich lassen sie mehr Raum zum kritischen Nachdenken, für autonomes Handeln und Demokratisierung – während sie zudem die Rechte der Kinder besser wahren. Eingesetzt werden diese alternativen pädagogischen Konzepte daher auch in all jenen Einrichtungen, die sich als Versuch verstehen, das Versagen eines klassischen Lehrkonzeptes aufzufangen, so wie es etwa für die écoles de la seconde chance [damit sind Schulen gemeint, die eine Art zweiten Bildungsweg ermöglichen, Anm. der Hrsg.] und innovative Einrichtungen, welche im Verband der FESPI (Féderation des établissements scolaires publics innovants/Verband der innovativen öffentlichen Schuleinrichtungen) organisiert sind, der Fall ist. Des Weiteren geht es um den Kampf gegen den Schulabbruch, aber auch − in einer ganz anderen Ausrichtung – um pädagogische Pilotprojekte, die in Zusammenhang mit dem Artikel 34 des Gesetzes von 2005 (Innovationsgesetz) ins Leben gerufen worden sind. © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
24 Yves Reuter Zudem umfasst der Nutzungsbereich dieser Konzepte aber auch den Kampf für eine Alphabetisierung mit ATD Quart-Monde oder in Dritte-Welt-Ländern im Rah- men von UNESCO-Projekten. Darüber hinaus haben sich unsere Auswertungen von systematischer angelegten Versuchsstudien, die alternative pädagogische Konzepte beforschen, als ausgesprochen positiv erwiesen (Reuter, 2007). Es konnten bessere Lernfortschritte – manche davon in hohem Tempo – nachgewiesen werden. So konn- te für eine Schulklasse, die nach der Freinet-Methode unterrichtet wurde, aufgezeigt werden, dass unliebsames Schülerverhalten stark zurückgegangen war und dass die schriftliche Textproduktion der Schülerinnen und Schüler sich von Schuljahresan- fang bis zu den Ferien an Allerheiligen signifikant verbessert hatte. Zudem zeigte sich, dass eine viel positivere Verbindung zu den Wissensgegenständen und zur Schule allgemein aufgebaut wurde, so wie auch Schülerinnen und Schüler, die unter einen Leidensdruck geraten waren, besser einbezogen wurden (Jovenet, 2007). Als Indika- toren für ein verbessertes Schulklima konnten dabei nachfolgende Bereiche benannt werden: Lehrkörper, die an der Schule verbleiben; Schülerinnen und Schüler, die ihre jeweilige Schule mögen und von dieser nicht abgehen möchten; eine Elternschaft, die verstärkt hinter der Schule steht und ein Schulpersonal, welches sehr schnell mehr Respekt genießt und zuvorkommender behandelt wird. Ein Engagement des „Überlebens“ Den dritten Engagementtyp, den ich hier unterscheiden möchte, ist der des „Über- lebens“. Die Lehrkräfte engagieren sich in gewisser Hinsicht aus einer Notwendigkeit heraus, denn für sie gilt, dass sie in einem schulisch und sozial ausgesprochen schwie- rigen Milieu überleben müssen. Um dies zu bewerkstelligen, bedarf es an Motivation, an Hilfsbereitschaft unter Kollegen und an einem Zusammenschluss unter Lehrkräf- ten, die Stellung beziehen (faire bloc/faire front) und Handlungspraktiken ändern – zumindest in Bezug auf einige Aspekte. Dies ist insbesondere für eine Vielzahl von Versuchsprojekten der Fall, die sich auf den Artikel 34 der Réseaux d‘Enseignement Prioritaire (Netzwerk der Schulen mit besonderem pädagogischen Bedarf) beziehen. Ein „institutionelles“ Engagement Zudem unterscheide ich noch die Kategorie eines „institutionellen“ Engagements, welches sich in gewissem Sinne als Engagement von Zurtatschreitenden versteht. Da- bei gilt es, eine institutionelle Vorgabe umzusetzen, die auf verschiedenen Gesetzes- texten Frankreichs beruht, ob man diese nun teilt oder nicht bzw. ohne notwendiger- weise von diesen überzeugt zu sein. Exemplarisch sei auf den Beschluss vom 1. Juli 2013 bezüglich des Kompetenz- katalogs für Berufstätige im Lehramt und Erziehungswesen verwiesen, welcher ins- besondere die nachfolgenden Kompetenzen aufführt: Die Kompetenz 10: Kooperation und Teamarbeit. Diese Kompetenz umfasst nach- folgende Aspekte: „Das eigene Handeln in einen kollektiven Rahmen einschreiben, © Waxmann Verlag GmbH | nur für den privaten Gebrauch
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