ISLAM IM ALLTAG Islamische Religiosität und ihre Bedeutung in der Lebenswelt von Jugend-lichen türkischer Herkunft
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forum 3-4/2005 Kulturelle Dimensionen 59 ISLAM IM ALLTAG Islamische Religiosität und ihre Bedeutung in der Lebenswelt von Jugend- lichen türkischer Herkunft Für nachhaltige Entwicklung ist die außer- aus der Sicht meiner Forschungen beitragen. schulische Sozialisation der jungen Menschen Ich möchte die Kopftuchfrage auch nicht theolo- ganz entscheidend. In der Kindheit und Ju- gisch erörtern, weil selbst Kopftuchbefürworter gend werden die Werte, Orientierungen und und Kopftuchträgerinnen sich schwer tun, aus dem Handlungsmuster erworben, die oft das spätere Koran heraus ein Kopftuchgebot zu begründen. Es Verhalten prägen. Konzepte einer Bildung für gibt fünf Verse, die sich auf den Hijab, die Ver- nachhaltige Entwicklung müssen diesen Aspekt schleierung, beziehen. Es sind die Suren 33, Vers berücksichtigen und somit die außerschulische 53; 33: 32 -34; 24:32-33; 33:59 und 24:60. Das Sozialisation in die Überlegungen einbeziehen. Kopftuch ist nach diesen einschlägigen Suren im Die bekannte Sozialwissenschaftlerin und Buch- Koran kein Symbol des muslimischen Glaubens. autorin Necla Kelek vertritt eine dezidierte, im Erst aus der Sunna, das sind die dem Propheten Integrationsdiskurs stark umstrittene Position: zugeschriebenen Aussagen und Taten, haben Ko- Sie sieht im türkisch-muslimischen Common rangelehrte wie Bazagli 250 Jahre nach Moham- Sense, in den viele türkischstämmigen Ju- meds Tod entsprechende Anweisungen abgeleitet. gendliche in Deutschland hineinwachsen, eine Für eine ausführliche Erörterung möchte ich in Gefährdung für den Erwerb von Gestaltungs- diesem Zusammenhang auf die sehr fundierten kompetenz als Voraussetzung selbstbestimm- Ausführungen zu dem Thema von Ralph Ghadban ten Handelns, das in einer demokratischen verweisen. Gesellschaft und besonders für eine nachhal- Das muslimische Kopftuch ist aus der Sicht der tige Entwicklung erforderlich ist. Necla Kelek Gegner ein Zeichen der Stigmatisierung der Frau, untermauert ihre Thesen mit den Ergebnissen ein Symbol der Unterdrückung oder, wie die Be- einer von ihr durchgeführten Befragung von fürworter meinen, der mögliche Ausdruck einer Jugendlichen, die den entscheidenden Einfluss neuen Identität der muslimischen Frauen, ja sogar des türkisch-muslimischen Common Sense auf einer neuen Identität der migrationsgeprägten diese zeigt. Mit ihren Impulsen im Rahmen der „Neo-Muslima“ ( Sigrid Nökel, Was gegen Kopf- AG „Soziale Dimensionen der Nachhaltigkeit“ tuchverbote spricht…). Unbestritten ist das musli- der Jahrestagung 2005 stieß Necla Kelek auch mische Kopftuch seit der iranischen Revolution in in den unesco-projekt-schulen eine Debatte zunehmendem Maße auch ein politisches Symbol über soziale Voraussetzungen einer Bildung eines erstarkenden Fundamentalismus. für nachhaltige Entwicklung – insbesondere im Hinblich auf die Bereiche Migration und Inte- Muslimische Sozialisation in Deutschland gration – an, eine Debatte, die Schwerpunkte Ich möchte mich im Folgenden der Frage auf des UNESCO-Schulnetzes betrifft. ganz andere Weise nähern und fragen: Warum tragen Frauen und Mädchen hier und heute das Der Streit um das Kopftuch muslimische Kopftuch? Um auf diese Frage eine Die Diskussion um das Tragen von muslimischen fundierte Antwort geben zu können, muss ich den Kopftüchern hat eine Reihe von grundsätzlichen engen Rahmen der Kopftuchdebatte verlassen und Fragen der Migration, Religion und des politi- die Bedingungen erörtern, unter denen türkisch- schen Selbstverständnisses unserer Demokratie muslimische Jugendliche in Deutschland auf- aufgeworfen. Ich möchte die damit verbundene wachsen, und aufzeigen, in welchem theoretischen Debatte über Grundrechte, Religionsfreiheit, Spannungsfeld diese Sozialisation zu erörtern ist. Selbstbestimmung, Gleichberechtigung etc. hier Ich stelle deshalb meine Untersuchung „Islam und jetzt nicht führen. Die Argumente sind der im Alltag“ vor und werde dabei besonders die interessierten Öffentlichkeit spätestens seit dem Aspekte herausarbeiten, die sich auf die aktuelle Urteil des Bundesverfassungsgerichts bekannt Kopftuchdebatte beziehen. und für mich steht außer Frage, dass Demokratie, Islamische Orientierungen von Migranten und Menschenwürde und Gleichberechtigung in die- Migrantinnen der zweiten und dritten Generation sem Zusammenhang oberste Priorität haben. Ich der türkischen Einwanderer in Deutschland, also möchte als Sozialwissenschaftlerin zu dieser Frage den jungen Leuten, scheinen zuzunehmen. Mehr
60 Kulturelle Dimensionen forum 3-4/2005 als 85% der türkischstämmigen Jugendlichen wichtige, für sie selbst vielleicht notwendige Rolle bezeichnen sich als Muslime, mithin als religi- für das Selbstkonzept und die Orientierung der ös (Fuchs-Heinritz Jugend 2000, Bd. 1, S.175, Jugendlichen spielt. Heitmeyer 1997, S.119). Dagegen ist unter den Für die Untersuchung bietet die Schule ein be- deutschen Jugendlichen der Anteil, der sich als sonders geeignetes Forschungsfeld: zum einen, religiös ansieht, nur halb so groß (Fuchs-Heinritz weil von der Lebenssituation vergleichbare 2000, Bd. 1, S.175). In der Shell-Studie „Jugend Befragungspersonen zur Verfügung stehen und 2000“ wird die Frage nach einer auch über den re- zugänglich sind; zum anderen hat die Schule als ligiösen Bereich hinausgehenden sozio-kulturellen Sozialisationsinstanz und Schnittstelle zwischen Bedeutung des muslimischen Bekenntnisses für den kulturellen Einflüssen einen eigenen Stellen- türkischstämmige Jugendliche aufgeworfen. Die wert in der interkulturellen Begegnung. Frage nach der Relevanz muslimischer Orientie- Mit dem Begriff des „Muslim-Seins“ der türkisch- rungen für ihr Alltagshandeln und ihr Selbstkon- stämmigen Jugendlichen charakterisiere ich ihre zept besitzt, etwa in Anbetracht von über 450. 000 identifikative Selbstzuordnung zur muslimischen Schülerinnen und Schülern türkischer Herkunft an Gemeinschaft, die die Gültigkeit eines türkisch- deutschen Schulen, einen erheblichen Stellenwert, muslimischen Common Sense, dessen Identifizie- sei es aus jugend- und migrationssoziologischer rung ein Ergebnis meiner Forschungsarbeit ist, in Sicht, sei es aus pädagogischem Interesse oder für allgemeiner Form anerkennt. den gesellschaftlichen Diskurs über Konzepte der Integration von Zuwanderern. Der türkisch-muslimische Common Sense Die Orientierung der türkischstämmigen Jugend- Ansatz der Untersuchung über türkischstäm- lichen wird in der Wissenschaft häufiger als bikul- mige Jugendliche turell beschrieben (Hoffmann 1990, Popp1994). Mit meiner Untersuchung bin ich der Frage nach- Entsprechend äußerten von mir befragte Jugend- gegangen, wie türkischstämmige Jugendliche in liche, sich weder eindeutig als „türkisch“ noch Deutschland ihre Religiosität leben, wie sie sie eindeutig als „deutsch“ zu verstehen. Mit Popp praktizieren, welche subjektiven Haltungen sie kann ihr subjektives Interpretationsbedürfnis prä- zu ihrem Glauben einnehmen und welche Bedeu- gnant formuliert werden: Die Jugendlichen wollen tungen sie mit ihrem Muslim-Sein verbinden. Die in Deutschland als Türken wie Deutsche leben. Arbeit liefert Erklärungsmuster, ob und in welcher Sie beanspruchen einerseits gleichen Status und Weise die Dimension ihres „Muslim-Seins“ eine gleiche Entwicklungschancen. Was aber verbirgt sich andererseits hinter dem Wunsch, „als Türken“ zu leben? Die identikative Selbstzuordnung wäre als natio- nale Orientierung falsch verstanden. Sie verweist vielmehr auf die kulturellen Basisbestände eines wie immer gearteten Begriffs von „Türkisch-Sein“, der für die Identitätsfindung offenbar von erhebli- cher Bedeutung ist (Popp 94, S.208). Mihciyazgan (1986) ist der Frage nachgegangen, ob und welche spezifisch türkischen Identitätsmerkmale es gibt. Sie identifiziert in ihren Untersuchungen spezifi- sche Wissens- und Erfahrungsbestände einer tür- kischen Identität, die sie als „fraglos gegeben“, als im kollektiven Unterbewußtsein verankert, ansieht (Mihciyazgan 1986, S.345 u.348). Sie arbeitet in ihrer Fallstudie ein über den gesellschaftlichen Differenzierungen zwischen der Herkunftskultur und den westlichen Gesellschaften angelegtes Welt- und Menschenbild heraus, das auf die Umma, die islamische Gesellschaft zurückgeht und den Wert von Gemeinschaftlichkeit, von So- zial-Sein und sicherer Positionierung in sozialer Zugehörigkeit zum ethisch-moralischen Leitkon- Zitat des Iman von Izmir zept erhoben hat (S.204). Danach hat, anders als
forum 3-4/2005 Kulturelle Dimensionen 61 in westlichen Gesellschaften und legitimiert durch hörigkeit eine soziale Selbstverständlichkeit, die den Islam, die Gemeinschaftlichkeit Vorrang vor historisch verwurzelt ist in den Erfahrungen ihrer der Autonomie und Individualität des Einzelnen, Herkunft, die, trotz aller Einflüsse der Moderne die als tendenziell unsozial empfunden werden in den Familiengeschichten in Erinnerungsbildern (S. 359). aus der Heimat und ethisch-moralischen Werten, die von Generation zu Generation weitergegeben Bedeutung der Religiosität für türkischstäm- werden, fortgilt. mige Jugendliche In dieser Funktion erweist sich die muslimische Wenn derartige „fraglos gegebene“ Wissens- und Religiosität als kulturelle Dimension des Islam, Erfahrungsbestände, die als Orientierungsmuster der trotz vielfältiger Gesichter und Ausprägun- wirken, existieren, ist zu erwarten, dass sie sich gen dennoch übereinstimmende Wissens- und niederschlagen in einer signifikanten Differenz der Erfahrungsbestände transportiert (vgl. Tan 1998, gesellschaftlichen Auffassungen bzw. des Com- S.50), die bei der Mehrheit der türkischstäm- mon Sense von türkischstämmigen und anderen migen Migranten und Migrantinnen als fraglos Bewohnern im Einwanderungsland Deutschland. gegebene Identitätsbestandteile wirken. Nicht Eine solche Differenz ist in der Tat gerade in Bezug in dem Sinne „Der Türke an sich ist...“, sondern auf die religiöse Orientierung der türkischstämmi- als Habitusformen bzw. Orientierungsmuster. gen Jugendlichen zu konstatieren: Die Shell-Studie In ihrer soziokulturellen Bandbreite lassen sich Jugend 2000 stellt fest, dass sich lediglich 6% der diese Orientierungsmuster mit dem Begriff eines türkischstämmigen Jugendlichen als nicht religi- türkisch-muslimischen Common Sense beschrei- ös bezeichnen. Die übergroße Mehrheit ordnet ben, der die soziale Praxis der Gemeinschaft der sich dem islamischen Glauben zu. Im Vergleich Migranten strukturiert. dazu halten sich in der Befragung 55% der deutschen Jugendlichen für nicht religiös (Fuchs-Heinritz 2000, Bd. 1, S.175). Der augen- fällige Unterschied zwischen den deutschen Jugendlichen und ihren in Deutschland lebenden türkisch- stämmigen Altersgenossen im Hinblick auf den Anteil religiöser Haltungen rückt die Bedeutung von Religionen für die Identität und Orientierung der Befragten in den Mittelpunkt. Die Frage nach der subjektiven Funktion von Religion ist sowohl auf die Ebene individueller Glau- bensüberzeugungen und Wirkun- gen wie auf ihre soziokulturelle Dimension zu beziehen. Letztere bildet für mich den entscheidenden Aspekt der muslimischen Religio- sität für die Orientierung türkisch- stämmigen Jugendlichen. Soziokulturelle Dimension der muslimischen Religiosität In der engeren Lebenswelt der türkischstämmigen Jugendlichen, also in der Familie, der Verwandt- © Foto: Lebeck, photo-grafik-atelier, Apostel-Paulus-Str. 7, 10823 Berlin schaft, der türkischen Nachbar- Necla Kelek erhielt im November 2005 in München den Geschwister- schaft, der befreundeten Familien, Scholl-Preis für ihr Buch „Die fremde Braut“. Der Preis wird vom Koranschulen, türkischen Medien Börsenverein des Deutschen Buchhandels und der Stadt München ist die muslimische Religionszuge- vergeben.
62 Kulturelle Dimensionen forum 3-4/2005 Dem Habituskonzept von Bourdieu folgend, das schule. Die meisten geben an, den Koran auch die historische Dimension, also auch die verges- lesen zu können (auf arabisch und damit in der senen, nicht mehr bewussten kollektiven Erfah- Regel ohne inhaltliches Verständnis). Die meisten rungsbestände einbezieht, ist davon auszugehen, geben an, ihren Glauben in der Koranschule ge- dass eine Positionierung zum Islam bzw. eine funden oder gefestigt zu haben. Bei allen Fragen spezifische religiöse Praxis von türkischstämmi- zur Religiosität wurde der Koranunterricht von gen Migranten und Migrantinnen nur innerhalb den meisten einbezogen. Beispiel Mädchen (15 einer bestimmten Bandbreite zu erwarten ist. Auch Jahre): „…als Kind stellte ich mir Allah als einen nicht oder nicht mehr gläubige Türken kehren weißhaarigen alten Mann vor (Nikolaus?), in der sich in der Regel nicht völlig vom Islam ab und Koranschule habe ich erfahren, dass das eine ein muslimischer Habitus ist weitgehend bei allen Sünde ist.“ türkischstämmigen Migranten und Migrantinnen Die meisten fanden den Besuch der Koranschule zumindest in einer kulturellen Dispositionskraft positiv. Sie hätten soviel über ihre Kultur erfahren, wirksam und bestimmt ihren Lebensstil mit. z.B. dass sie alle Moslems sind und keine Türken und dass es in der Türkei keine Demokratie gebe, Ergebnisse der Befragungen von Jugendlichen weil sie kein Kopftuch dort tragen dürften. zur muslimischen Religiosität Zitat Mädchen (16 Jahre): „Das ist eine Hilfe fürs Zusammenfassend kann das Ergebnis meiner Leben, ich habe dort gelernt zu denken, ich war Befragung von türkischstämmigen Jugendlichen vorher wie blind, wusste nicht, wie wir sterben in Deutschland zur muslimischen Religiosität werden und warum Gott uns auf die Erde geschickt folgenderweise wiedergegeben werden: hat.“ - Bis auf wenige Ausnahmen waren die Probanden Zitat Junge (16 Jahre): „…wir lernen so viel, z.B. zwischen ihrem 4.- 13. Lebensjahr in der Koran- über das Leben von unserem Propheten und über Arbeitsergebnis der Arbeitsgruppe Islam und Toleranz
forum 3-4/2005 Kulturelle Dimensionen 63 unseren Islam, das hilft mir hier stark zu sein. möchte, in der Türkei hätte sie Lust, ihre Weib- Wir müssen alle zusammenhalten, wir Moslems, lichkeit zu zeigen, hier wären die türkischen Jungs wie das geht, lernen wir in der Koranschule, da so anders. müssten alle hin…“ - Auch das Tragen eines Kopftuches sehen die - Die meisten Jugendlichen geben über ihre Eltern türkischstämmigen Jugendlichen als eine religiöse an, dass ihre Väter das tägliche Gebet halten und Vorschrift, die aber nach den Aussagen der Pro- ein Drittel in die Moschee geht. Ihre Mütter tragen banden als ein Teil ihres türkisch-muslimischen Kopftuch und halten ebenfalls täglich den Namaz Common Sense gesehen werden muss. Dazu drei zu Hause. Beispiele: - Die meisten Jugendlichen geben an, sich in der Derya(16 Jahre): Sie trägt Kopftuch. Als sie acht Schuld gegenüber Gott und ihren Eltern zu fühlen oder neun Jahre alt war, habe ihr Bruder sie ge- (Daseinsschuld). fragt, ob sie nicht ein Kopftuch tragen möchte. Da - Auffällig ist, dass gerade die traditional orien- sie noch sehr jung war, sei sie irritiert gewesen, tierten Jugendlichen, für die z.B. die geschlechts- aber weil in ihrer Familie alle Frauen bereits ein spezifischen religiös begründeten Gebote (wie die Kopftuch trugen, habe sie es auch gemacht. Bis Frau muss Jungfrau sein, ihrem Mann gehorchen, sie elf wurde, habe sie das Kopftuch unregelmä- Kopftuch tragen) außer Frage stehen, die geringste ßig getragen, aber dann nie mehr in der Öffent- religiöse Praxis aufweisen. Das heißt, sie halten lichkeit abgelegt. Sie kann sich nicht vorstellen, nicht den Namaz und finden, dass es viel zu viele jemals ohne Kopftuch zu sein. Sie nimmt mit dem Regeln im Islam gebe, die sie befolgen müssten, Kopftuch am Sportunterricht teil, aber nicht am sie rechtfertigen ihr Verhalten damit, dass kein Schwimmunterricht. In der Türkei war sie schwim- Jugendlicher sich z.B. an die Gebetsvorschriften men gewesen, wobei sie ihr Kopftuch abgelegt hält. Sie würden ihre religiösen Verpflichtungen hat, aber das war im Bereich nur für Frauen. Nur später nachholen. Sie orientieren sich an ihrer Er- zu Hause, wenn sie mit der Familie zusammen ist fahrung, an ihrem Umfeld, ihren peergroups. Ihre und kein Haram (sündiger Mann) zu Besuch ist, Haltungen sind in erster Linie sozial bestimmt, trägt sie kein Kopftuch. Durch die langen Jahre nicht theologisch begründet. sei das Kopftuchtragen für sie zur Gewohnheit Der Umgang mit den religiösen Normen ist für sie geworden, und zwar so, dass sie sich mit Kopftuch weniger eine Frage innerer Verpflichtung, also eine eher wohl fühlt als ohne Kopftuch. Sie würde ihre Sache zwischen Gott und dem Individuum, son- Haare auch mal anders frisieren, weil sie einen dern entscheidend ist, was in ihrer Umgebung von Bezug zu ihnen hätte, aber an ein Abnehmen des den Menschen erfahrungsgemäß praktiziert, sozial Kopftuches denke sie nicht. akzeptiert und gerechtfertigt wird. Ihr Verweis auf Bei der Frage ob sie manchmal Zweifel an der die Praxis der anderen erlaubt die Annahme, dass Religion hätte, sagte sie, manchmal würde sie auch selbst in ihrer traditional ausgerichteten, streng- an manche Geschichten nicht glauben wollen, wie gläubig geprägten Lebenswelt eine weitgehend z.B., dass ihr Kopf 100 Jahre brennen solle, wenn fehlende innere Gläubigkeit und religiöse Praxis sie ihr Kopftuch ablege. Aber sie möchte daran hingenommen wird. glauben, eben weil es ihr Glaube ist. Außerdem - Auf die Frage, wie Allah mit denen umgehen würde sie ihr Kopftuch gar nicht ablegen wollen, wird, die die Regeln nicht einhalten oder nur halb das würde schon ihre Familie nicht erlauben. einhalten, sagten alle Jugendlichen, dass die Strafe Fahriye (15 Jahre) trägt kein Kopftuch. Sie er- im Jenseits folgen wird und dass sie überzeugt zählt, dass sie als Kind Kopftuch tragen musste, sind, nicht ins Paradies zu kommen. weil eine Nachbarin sie fast gezwungen hat. Erst Die Strafe im Diesseits sehen die meisten z.B. in der Schule mit Hilfe ihrer Mitschülerinnen hat in schlechten Noten, keinen/schlechten Schulab- sie es wieder abgenommen. Obwohl alle Frauen schluss, Autounfall, frühen Tod usw. in ihrer Familie ein Kopftuch tragen, hat sie sich - Für alle ist das Bild von Gott eine gebotene dagegen entschieden. ethische Haltung mit Vorbildcharakter für die Es gebe Momente, wo sie nicht an Gott glauben Menschen: Er ist wahrhaftig, belohnt das Bemühen könne, z.B. wenn sie sich frage, wo er denn sei. und übt Gnade. Sie beantwortet ihren Zweifel selbst: Aber woher - Einige geben an, dass erst der Glaube ihnen sollten wir ohne Gottes Existenz gekommen sein Sicherheit in Deutschland gegeben hätte, in der (Sinnfrage!)? Der Koran sei vom Himmel gekom- Türkei wären sie nicht so gläubig. Ein Mädchen men, um die Wahrheit Gottes zu beweisen. sagte, dass sie deshalb ein Kopftuch in Deutsch- Gülistan (17 Jahre) trägt Kopftuch. Ihre Religiö- land trage, weil sie als Türkin nicht so auffallen sität habe sie von ihrer Familie, sagt sie. Im Alter
64 Kulturelle Dimensionen forum 3-4/2005 von sechs/sieben Jahren sei sie in die Moschee nachzuvollziehen, weil das angepasste Verhalten geschickt worden und habe dann selber Gefallen positiv sanktioniert wird (dafür loben meine Eltern daran gefunden, weil sie soviel gelernt und gelesen mich, dafür komme ich ins Paradies etc.). habe. Sie habe dann in einem jüngeren Alter als Wenn man zusätzlich konstatiert, dass sich die ihre Mutter und ihre Geschwister das Kopftuch jungen Frauen in einem für die Persönlichkeits- getragen und ab der achten Klasse den langen entwicklung wichtigen Ablöseprozess von den Mantel angezogen. „Meine Eltern fanden das halt Eltern, der Pubertät, befinden, sind die Folgen, schön, dass ich ’zugemacht’ habe.“ die das Kopftuch als Symbol für ihre Rolle als - Die von mir befragten Kopftuchträgerinnen Frau hat, fatal. gaben alle an, dass sie gerne ihr Kopftuch tragen, Ich muss hier noch einmal auf die gesellschaftliche dass sie sich daran gewöhnt hätten und sie sich ein Funktion des Kopftuches eingehen. Das Kopftuch Leben ohne ihr Kopftuch nicht vorstellen könn- ist ein Stigma einer bestimmten Frauenrolle. Die ten. Sie hatten alle ein positives Gefühl zu ihrem Scharia, die aus Koran und Sunna abgeleiteten Kopftuch, sie sind stolz, finden es toll, dass sie es Gesetze, reduzieren die Frau auf ihre Aura, ihre gegenüber den Musliminnen, die nicht Kopftuch Sexualität. Die Frau ist verführerisch und teuflisch. tragen, geschafft hätten. Es sei ein hartes Leben, Sie stellt eine ernsthafte Bedrohung für die Männer sie müssten viel für ihren Glauben tun, aber Allah dar. Deshalb soll sie aus der Öffentlichkeit ver- würde sie im Jenseits dafür belohnen. Es sei ihre schwinden. Und wenn sie sich in der Öffentlichkeit Pflicht, nach Gottes Gesetzen zu leben. Die ande- zeigt, soll sie sich verhüllen (Gadban). Auch bei ren hätten es jetzt besser, aber dafür würden sie uns wird dem Kopftuch diese „Schutzfunktion“ nicht mehr aus der Hölle herauskommen. zugewiesen. Die Frauen sollen vor den Männern Bei der Frage, woher sie das wüssten, wurden die geschützt werden. Oder umgekehrt, nur eine Frau Eltern und der Hodscha angeführt, bei dem sie mit Kopftuch ist „rein“, d.h. im muslimischen ihre Sicherheit für ihr strenges Leben bekommen Sinne „rein“, also heiratsfähig. So auch das Selbst- hätten. Auch die religiös aktiven Brüder in den verständnis mancher Kopftuchträgerinnen. Es geht Moscheevereinen spielen eine wichtige Rolle um die Ehre, ein zentraler Begriff des türkisch- bei dem Vorhaben, die Familie ideologisch neu muslimischen Selbstverständnisses. zu orientieren. Die meisten Eltern, die bisher mit Zur Ehre des Mannes gehört die Pflicht, Beleidi- einem einfachen Volksislam lebten, erfahren von gungen zu rächen und sein Gesicht zu wahren. Die ihren aktiven Söhnen und Töchtern und in den Frau ist die Ehre des Mannes. Die Tochter ist die Moscheevereinen, wie sie richtig zu glauben und Ehre der Familie. Der Mann, der Bruder, der Onkel zu denken hätten. Es ist festzustellen, dass, je muss dafür sorgen, dass die Ehre der Frau oder mehr kulturelle Ressourcen die Eltern mitgebracht Tochter unbefleckt bleibt. Die Ehre der Frauen haben (Eltern verfügen über ein Bildungskapital), liegt vor allem in ihrer vorehelichen Keuschheit. desto individueller die Religiosität, je niedriger Die Mädchen müssen daher von ihren männlichen die kulturellen Ressourcen sind, desto rigider die Verwandten beschützt werden. Sie werden deshalb traditionelle Orientierung ist. von jedem Kontakt mit Männern außerhalb der Diese traditionelle Orientierung wird von den Verwandtschaft ferngehalten. Und daraus resultiert Vereinen und Koranschulen getragen und die eine rigide Geschlechtertrennung und Arbeitstei- Jugendlichen werden einseitig geprägt. Ihnen lung. Die Frau gehört ins Haus, der Mann in die werden keinerlei Integrationshilfen in die deutsche Öffentlichkeit. Und deshalb hat die Frau, wenn sie Gesellschaft angeboten, da auch die Moscheever- denn aus dem Haus geht, das Kopftuch zu tragen. einsträger einen ähnlichen Habitus wie die Eltern Es ist eine Frage der Ehre. der meisten Jugendlichen aufweisen. Zusammenfassend kann festgestellt werden: Die jungen Frauen und Mädchen tragen das Kopftuch, Schlussfolgerungen weil ihnen dies in der Familie, der Gemeinde, der Wenn festzustellen ist, dass die jungen Menschen Koranschule vorgelebt wird und sie so am ehesten in diesem türkisch-muslimischen Common Sense den Erwartungen der Umma genügen können. Die gefangen sind, kann man unmöglich davon reden, Mädchen sind einem großen Anpasssungsdruck dass die jungen Mädchen und Frauen „freiwillig“ ausgesetzt, sie reagieren nicht, wie von deutschen das Kopftuch nehmen. Die Entscheidung ist von Jugendlichen erwartet, mit Rebellion, sondern mit ihrer sozialen Umgebung getroffen worden, der Überanpassung, denn in den wenigsten Fällen Prägung der Eltern, den Verwandten, den Koran- suchen oder erhalten sie Hilfe von außerhalb der schulen, den Geschwistern. Dass dies nicht in allen Familie und Gemeinde. Je geringer der Kontakt Fällen als Zwang angesehen wird, ist allzu gut zur deutschen Gesellschaft, desto stärker wirken
forum 3-4/2005 Kulturelle Dimensionen 65 die traditionellen Verhaltensmuster des türkisch- SANDT, F.-O.: Religiosität von Jugendlichen muslimischen Common Sense. in der multikulturellen Gesellschaft. Eine Es stellt sich die Frage für die säkulare demokra- qualitative Untersuchung zu atheistischen, tische Gesellschaft in Deutschland, ob sie dieser christlichen, spiritualistischen und muslimi- Entwicklung Vorschub leisten und sie hinnehmen schen Orientierungen. Münster/New York will. Für mich ist die Schule der Ort, wo unsere u.a. 1996 Gesellschaft den jungen Menschen den Raum und SCHIFFAUER, W.: Die Migranten aus Subay. die Gelegenheit geben muß, ein Leben in Selbstbe- Türken in Deutschland: eine Ethnographie. stimmung, Chancengleichheit und Gleichberech- Stuttgart 1991 tigung kennenzulernen und positiv zu besetzen. ders.: Fremde in der Stadt. Frankfurt 1997 Für mich hat das Kopftuch weder bei Lehrerinnen TAN, D.: Zur Rolle der Religion in der Erzie- noch bei Schülerinnen etwas zu suchen. hung. In: Analysen. Erziehung – Sprache - Migration. Arbeitskreis Neue Erziehung. Literatur: Berlin 1998 Necla Kelek: Islam im Alltag. Islamische Religi- osität und ihre Bedeutung in der Lebenswelt Dr. Necla Kelek von Schülerinnen und Schülern türkischer Berlin Herkunft, Münster 2002 Der Koran, Übersetzung von Max Henning Ralph Ghadban: Das Kopftuch in Koran und Sun- na, Berlin 2002 FUCHS-HEINRITZ,W.: Religion. In: Jugend 2000. 13.Shell Jugendstudie, Band 1. Opladen 2000, S.157-180 GEERTZ, C.: Religiöse Entwicklungen im Islam. Frankfurt a.M. 1991 HABERMAS, J.: Nachmetaphysisches Denken. Frankfurt a.M. 1992 HEITMEYER,W. u.a.: Verlockender Fundamenta- lismus. Türkische Jugendliche in Deutschland. Frankfurt a.M. 1997 HOFFMANN, K.: Leben in einem fremden Land. Wie türkische Jugendliche soziale und per- sönliche Identität ausbalancieren. Bielefeld 1990 KARAKASOGLU-AYDIN, Y.: Muslimische Re- ligiosität und Erziehungsvorstellungen. Eine empirische Untersuchung zu Orientierungen bei türkischen Lehramts- und Pädagogik- Studentinnen in Deutschland. Frankfurt a.M. 2000 MIHCIYAZGAN, U.: Die religiöse Praxis muslimischer Migranten. Ergebnisse einer empirischen Untersuchung in Hamburg. In: L.Lohmann & W.Weiße (Hrsg.). Dialog zwi- schen den Kulturen. Erziehungshistorische und religionspädagogische Gesichtspunkte interkultureller Bildung. Münster/New York u.a. 1994 ders.: Wir haben uns vergessen. Ein interkulturel- ler Vergleich türkischer Lebensgeschichten. Hamburg 1986 POPP, U.: Geteilte Zukunft. Lebensentwürfe von deutschen und türkischen Schülerinnen und Schülern. Opladen 1994
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