Jahrbuch Qualität der Medien Studie 2/2021 - Qualität der Medienbericht erstattung in der ersten und zweiten Welle der Corona-Pandemie - Covid-Norms
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Forschungszentrum Öffentlichkeit und Gesellschaft Jahrbuch Qualität der Medien Studie 2/2021 Qualität der Medienberichterstattung in der ersten und zweiten Welle der Corona-Pandemie fög – Forschungszentrum Inhalt: Diese Studie wurde von Öffentlichkeit und der Ernst Göhner Stiftung Gesellschaft / Universität 1 Einleitung gefördert. Zürich 2 Methode 4 Resultate 12 Fazit
1 Lessons Learned? Die Qualität der Medi- enberichterstattung in der ersten und zweiten Welle der Corona-Pandemie Mark Eisenegger, Franziska Oehmer, Linards Udris, Daniel Vogler Zusammenfassung Seit Beginn der Pandemie wurde die Corona-Berichterstattung als zu alarmistisch (oder auch zu wenig war- nend), zu unkritisch gegenüber Regierungshandeln, zu kontextlos im Umgang mit Zahlen und mit Blick auf die Expert:innenauswahl als zu einseitig kritisiert. Ziel des vorliegenden Beitrages ist es zu überprüfen, in- wiefern die geäusserte Kritik an der Corona-Berichterstattung während der ersten Welle (1.1.2020 bis 30.4.2020) Anlass gegeben haben könnte, um während der berichterstattungsärmeren Phasen über die Be- richterstattungsqualität zu reflektieren und gegebenenfalls Anpassungen vorzunehmen. Die Studie analysiert daher die Schweizer Medienberichterstattung zur zweiten Welle (1.9.2020 bis 28.2.2021) und vergleicht diese mit Erkenntnissen zur Corona-Berichterstattung der ersten Pandemiewelle. Sie knüpft an die im Jahrbuch Qualität der Medien 2020 veröffentlichte Studie zur Corona-Berichterstattung (Eisenegger et al., 2020) an. Der Vergleich ergibt ein ambivalentes Bild: Einerseits stellen Journalist:innen in der zweiten Welle das Co- ronavirus seltener (6%) als eine klare Bedrohung dar als in der ersten Welle (16%) – trotz erheblich höherer Fallzahlen. Zudem beurteilen sie Regierungshandeln in der zweiten Welle weniger affirmativ (0,3%) als wäh- rend der ersten Welle (6%), zeigen also eine Berichterstattung, die durch Behördendistanz geprägt ist. Zah- len und Statistiken werden häufiger kontextualisiert und eingeordnet (erste Welle: 12%; zweite Welle 21%). Andererseits lassen sich bei der Expert:innenauswahl kaum positive Veränderungen beobachten: Weiterhin ist die Vielfalt eingeschränkt. Die in den Medien thematisierten Wissenschaftler:innen stammen grössten- teils aus dem medizinischen Bereich. Ihr Anteil fällt in der zweiten Welle sogar noch etwas höher aus (83%) als in der ersten Welle (78%). Sozial- und geisteswissenschaftliche Disziplinen bleiben somit weitgehend auch in der Berichterstattung zur zweiten Welle aussen vor. Auch Wissenschaftlerinnen sind im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen deutlich untervertreten. Im Vergleich zur ersten Welle (12%) kommen sie aber in der zweiten Welle etwas häufiger vor (21%). 1 Einleitung nahmen zur Eindämmung der Pandemie würden zu wenig auf Sinnhaftigkeit und Nutzen hinterfragt D ie Corona-Pandemie bestimmte die Nachrich- tenagenda in den Jahren 2020 und 2021 wie kein anderes Ereignis in den vergangenen Jahrzehnten. (Meier & Wyss, 2020; Silini, 2020). Drittens würde sich der Journalismus nur auf die Wiedergabe von blossen Ereignismitteilungen beschränken – die Ein- Von Anfang an stand die Berichterstattung jedoch ordnungsleistungen, bspw. auch im Umgang mit Zah- auch im deutschsprachigen Raum unter Kritik: Unter len und Statistiken, würden weitgehend ausbleiben Überschriften wie «Journalismus in der Krise: die (Brost & Pörksen, 2020). Im Laufe der Pandemie fünf Defizite der Corona-Berichterstattung» (Meier wurden dann, viertens, zunehmend auch kritische & Wyss, 2020) oder «Viele Zahlen, wenig Kontext?» Stimmen laut, die eine einseitige Fokussierung auf (Schneider, 2020) wurden von gesellschaftlichen und nur wenige Expert:innen beklagten und damit Zwei- wissenschaftlichen Akteur:innen vor allem vier fel an der Perspektivenvielfalt und Ausgewogenheit Schwächen diskutiert: Erstens monierten manche der Berichterstattung aufkommen liessen (Jarren, Beobachter:innen eine alarmistische, auf Bedrohung 2020). Der Journalismus, so die generelle Befürch- fokussierende Berichterstattung. Andere wiederum tung, erbringe die für eine funktionierende Demokra- kritisierten den Journalismus dafür, zu wenig und zu tie notwendigen Leistungen nicht (vgl. McQuail, wenig frühzeitig vor der Pandemie gewarnt zu haben. 1992). Gerade in Krisenzeiten avancierten Medien je- Zweitens bemängelte man die unreflektierte Wieder- doch häufig zu den meistgenutzten Quellen und wür- gabe politischer Entscheidungen. Beschlossene Mass- den damit besonders meinungs- und handlungsrele-
2 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie vant. Die wenigen veröffentlichten Studien zur Be- diskutierte Kritik zum Anlass nimmt, um die eigenen richterstattung der ersten Welle bestätigen einige der Leistungen zu reflektieren und ggf. anzupassen. Kon- Kritikpunkte: So stellte Wahl-Jorgensen (2020) die kret wird die Studie von folgenden Fragestellungen häufige Verwendung von beängstigender Sprache in entlang der Qualitätsdimensionen – Vielfalt, Rele- englischsprachigen Zeitungen fest. Mittels automati- vanz und Deliberationsqualität – geleitet: In der Di- sierter Inhaltsanalyse fanden Quandt et al. (2020) mension Vielfalt interessiert, ob die Bereiche, aus zur Frage der Behördendistanz heraus, dass traditio- denen die in den Beiträgen berücksichtigten Ex nelle Medien, sog. Legacy-Medien, weniger negativ pert:innen (F1) kommen, vielfältiger sind und ob da- berichten als alternative Medien, «which may be mit der Ruf nach einer weniger einseitigen Berück- linked to the assessment that these were less critical sichtigung von mehrheitlich Mediziner:innen und or even affirmative» (Quandt et al., 2020, S. 20). Und Virolog:innen erhört wurde. Zudem wird erhoben, ob Mellado et al. (2021) identifizierten in Social-Media- sich das Verhältnis von männlichen und weiblichen Posts von Medienhäusern in sieben Ländern eine Do- Expert:innenstimmen in der Berichterstattung zur minanz von Politiker:innen und Gesundheits zweiten Welle ausgewogener (F2) gestaltet. Ob die expert:innen während der ersten Welle, aber eine zu- Berichterstattung in der zweiten Welle noch weniger nehmende Akteursvielfalt im weiteren Verlauf der oder aber mehr alarmistische Narrative (F3) und Be- Pandemie. drohungsszenarien verwendet, wird im Rahmen der Unsere im Jahrbuch Qualität der Medien 2020 Erhebung zur Dimension Relevanz erfasst. Darüber veröffentlichte Analyse der Berichterstattung hinaus wird als Indikator zur Messung der Delibera- Schwei zer Medien zur ersten Pandemie-Welle im tionsqualität betrachtet, ob die Handlungen und ersten Halbjahr 2020 konnte zeigen, dass Zahlen nur Entscheidungen der Regierung auch weiterhin eher in wenigen Fällen kontextualisiert wurden. Zudem kritisch oder bloss affirmativ (F4) begleitet werden verdeutlichten unsere Befunde, dass die Vielfalt der und inwiefern u. a. auch Zahlen und Statistiken ein- wissenschaftlichen Expert:innen – mit einem klaren geordnet werden (F5). Zuletzt ist von Interesse, in- Fokus auf männliche Virologen und Epidemiologen wiefern in der Berichterstattung Leistungen und – eingeschränkt und in dieser Hinsicht wenig vielfäl- Probleme (F6) des Journalismus im Rahmen eines tig war (vgl. Eisenegger et al. 2020). Unsere Studie metajournalistischen Diskurses thematisiert wer- konnte jedoch auch deutlich machen, dass ein Teil den. der geäusserten Kritik zumindest für die erste Pan- demiewelle als unberechtigt gelten muss: So ist die Berichterstattung Schweizer Medien während der 2 Methode ersten Welle mehrheitlich nicht als alarmistisch ein- zustufen. Nur eine Minderheit der Beiträge – und das vor allem zu Beginn der Pandemie – fokussierte auf die Bedrohung durch Corona für Leib und Leben. U m die Vergleichbarkeit der Daten der ersten und zweiten Welle gewährleisten zu können, wurde ein weitgehend identisches, nur leicht modifiziertes Auch der Vorwurf der «Hofberichterstattung» muss- Erhebungsinstrument angelegt. Auch wurden diesel- te auf der Basis unserer empirischen Daten vorläufig ben Medien für die Analyse ausgewählt (Details siehe entkräftet werden: Insgesamt überwog leicht eine Methodik zur Analyse der ersten Welle, Eisenegger et kritische Haltung gegenüber der nationalen Regie- al., 2020): Für die manuelle Inhaltsanalyse wurde die rung und Verwaltung. Berichterstattung von 22 Nachrichtenmedien aus der Ziel der vorliegenden Studie ist es, die Qualität Deutschschweiz und der Suisse romande berücksich- der Berichterstattung zur zweiten Pandemie-Welle tigt. Daraus wurde eine Stichprobe gezogen und un- (vom 1.9.2020 bis 28.2.2021) zu analysieren und mit tersucht. Basis bildeten alle Beiträge mit einem Bezug den Erkenntnissen unserer Studie zur ersten Welle zur Corona-Pandemie oder zu COVID-19 in Titel zu vergleichen. Weil sich manche Probleme in den oder Lead: zweiten und dritten Wellen wiederholen, stellt sich die Frage, ob der Journalismus die Qualität seiner • Abonnement-Online: nzz.ch (n = 157), tages Berichterstattung verbessert und die gesellschaftlich anzeiger.ch (n = 165), 24heures.ch (n = 136),
3 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie 1. Welle 2. Welle Zeitraum Massnahmen Fallzahlen Zeitraum Massnahmen Fallzahlen Gesamt 01.01.2020– 01.09.2020– 30.04.2020 28.02.2021 (n = 1’449) (n = 1’337) 1. Phase 01.01.–27.02.20 vor Verhängung der be- 01.09.–18.10.20 18.10.20: Bundesrat verbietet Steigen der Fall- Ansteigen der Fallzah- (n = 154) sonderen Lage (28.02.20.) (n = 332) Menschenansammlungen >15 zahl ab 01.08.20 len und erste Mass- Personen; Maskenpflicht in nahmen allen öffentlich zugänglichen Innenräumen/Bahnhöfen 2. Phase 28.02.–15.03.20 19.10.–18.12.20 28.10.20: Schliessen von Discos; Exponenzielles Wachstumsphase und (n = 255) Sperrstunde 23.00 Uhr; Verbot Ansteigen der Verschärfung der Mass- (n = 512) von Veranstaltungen von >50 Fallzahlen ab nahmen Personen 29.09.20 3. Phase 16.03.–07.04.20 Verhängung der au- Höchste Fallzahl: 19.12.20–12.01.21 18.12.20: Bundesrat beschliesst Höchste Fallzahl: Höchste Fallzahlen und (Lockdown), sserordentlichen Lage 23.03.2021: (n = 198) Schliessen von Restaurants, 30.10.20 Zuspitzung der Mass- (n = 604) (16.03.20.) 16,94 Fälle/100’000 Sport- und Kultureinrichtungen; 103,77 Fäl- nahmen Einwohner le/100’000 Ein- 13.01.21: Bundesrat beschliesst wohner 2. Lockdown (inkl. Home-Office- Pflicht; Laden-Schliessungen) 4. Phase 08.04.–30.4.20 Lockdown mit Aussicht Sinken der Fall- 13.01.–28.02.21 Lockdown Sinken der Fall- Lockdown mit Aussicht (n = 435) auf Lockerungen zahlen (n = 295) zahlen: auf Lockerungen 17.02.21: Beschluss des Bundes- 28.02.21 und Sinken der Fall- 29.04.20: Bundesrat rates zur Lockerung 6,36 Fälle/100’000 zahlen beschloss Lockerung Einwohner eines Grossteils der 01.03.21: Lockerungen (Laden- Notmassnahmen auf den Öffnungen) 11.05.20 hin Tabelle 1: Auswahl und Begründung der Analysezeiträume a argauerzeitung.ch (n = 173), bernerzeitung.ch der Erhebung dieser Daten übereinstimmten. Im (n = 117), lenouvelliste.ch (n = 117), letemps.ch Rahmen der manuellen Inhaltsanalyse wurden In- (n = 138) formationen (Bereich/gesellschaftliche Sphäre, • Boulevard/Pendler-Online: lematin.ch (n = 132), 0,86 und Geschlecht, 0,85) zu den zu Wort kom- blick.ch (n = 146), 20minuten.ch (n = 131), 20mi menden Expert:innenstimmen erhoben. Zudem nutes.ch (n=130), watson.ch (n = 117), Sonntags wurden auch weitere Berichterstattungsmerkmale Blick (n = 101), Le Matin Dimanche (n = 90) wie der Umgang mit Zahlen (0,84) oder Statistiken, • Sonntag/Magazin: SonntagsZeitung (n = 106), die vermittelte Bedrohungsintensität (0,75) sowie Weltwoche (n = 113), NZZaS (n = 113) die Regierungs-/Behördenkritik (0,74) im Bericht • Öffentlicher Rundfunk: 10vor10 (n = 125), Ta identifiziert. Ferner wurde erfasst, inwiefern im Be- gesschau (n = 137), srf.ch (n = 122), Le Journal richt über die eigenen, die anderer oder die journa- (n = 101), rts.ch (n = 118) listischen Leistungen der Medien allgemein reflek- tiert wurde (0,78). Zur Kontextualisierung wurde Insgesamt wurden im Rahmen der manuellen In- zudem auch das Thema des Beitrages erhoben. Un- haltsanalyse 2’786 Beiträge analysiert – 1’449 für die terschieden wurde dabei zwischen den Themen erste Welle und 1’337 für die zweite. Die Beiträge «Grundlagenwissen über Corona und Pandemie», wurden mit einer manuellen Inhaltsanalyse unter- «Umgang mit der Pandemie», «Massnahmen gegen sucht. Vier Codierer:innen waren beteiligt. In Corona/Pandemie auf individueller (Mikro), orga- Klammern werden die Werte von Krippendorffs Al- nisationaler (Meso), oder gesamtgesellschaftlicher pha angegeben, d. h. wie gut die Codierer:innen in Ebene (Makro)», «Schäden (Mikro, Meso, Makro)»,
4 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie «Nutzen (Mikro, Meso, Makro)», «Hilfen zur Be- Insgesamt wurden im Rahmen der manuellen wältigung der Corona-Folgen» und «Exit(-strategi- Inhaltsanalyse 2’786 Beiträge analysiert – 1’449 für en) aus dem Lockdown und Lockerung der Mass- die erste Welle und 1’337 für die zweite. nahmen». Zur Einteilung des Untersuchungszeitraums für die erste und zweite Welle (sowie zur Phasenbil- 3 Resultate dung innerhalb der jeweiligen Wellen) wurde auf markante Ereignisse in Bezug auf die politischen Massnahmen und die Fallzahlen zurückgegriffen: Den Beginn des Untersuchungszeitraums beider D er Vergleich mit den Fallzahlen zeigt, dass die Berichterstattung zur Corona-Pandemie in Schweizer Medien sensitiv auf die Fallzahlen reagiert, Wellen markiert jeweils das flache Ansteigen der allerdings mit zunehmendem Pandemieverlauf weni- Fallzahlen. Das Ende wird durch das Sinken der Fall- ger stark (vgl. Darstellung 1). Aufgrund der hohen Be- zahlen sowie beschlossene Lockerungsmassnahmen achtung über den gesamten Zeitraum hinweg sind die bestimmt. Jede Welle wurde in vier Phasen einge- zyklischen Veränderungen wenig deutlich ersichtlich. teilt. Beiträge mit Referenzen zu COVID-19 machen in der Ergänzend zur manuellen Inhaltsanalyse wur- de zur Analyse der Gesamtberichterstattung und zur Identifikation der Wissenschaftler:innen in der Be- Die Pandemie scheint trotz hoher Fallzahlen an richterstattung auf eine automatisierte Inhaltsanaly- Nachrichtenwert verloren zu haben, wenn man se zurückgegriffen. Für die Analyse des Resonanzver- die erste Welle als Referenzwert heranzieht. laufs wurden sämtliche Medienbeiträge mit einer Referenz zur Corona-Pandemie oder zu COVID-19 in Titel oder Lead für den Zeitraum 1. Januar 2020 Phase mit niedriger Inzidenz im Sommer 2020 ein bis 30. Juni 2021 (n = 117’900) sowie für die mit der Drittel der Gesamtberichterstattung aus. Dement- manuellen Analyse genauer untersuchten ersten sprechend fallen die Ausschläge in der Zeit mit der (n = 28’978) und zweiten Welle (n = 57’477) ermit- höchsten Inzidenz im Oktober und November 2020 telt. Die Menge der Corona-Berichterstattung wurde nicht mehr so stark aus wie zu Beginn der Pandemie. als Anteil an der Gesamtberichterstattung in den 34 Die Pandemie scheint trotz hoher Fallzahlen an untersuchten Medien ausgewiesen (vgl. Methoden- Nachrichtenwert verloren zu haben, wenn man die beschreibung Eisenegger et al., 2020). Für die Analy- erste Welle als Referenzwert heranzieht. Seit Anfang se der Wissenschaftler:innen wurde in den Texten 2021 nimmt die mediale Aufmerksamkeit für CO- mit Referenz zur Corona-Pandemie mit einem VID-19 kontinuierlich ab, trotz zwischendurch noch- explorativen Verfahren ein Sample von 204 Wissen mals steigender Fallzahlen während der dritten Welle schaftler:innen identifiziert. Für alle Wissenschaft im April 2021. Anders als in der ersten Welle, als Fall- ler:innen wurden die disziplinären Zugehörigkeiten zahlen und Medienberichterstattung recht parallel (Medizin, Naturwissenschaften, Ökonomien, Sozial- zueinander verliefen (vgl. Eisenegger et al., 2020), wissenschaften, Geisteswissenschaften und Rechts- findet also seit Sommer 2020 eine Entkoppelung der wissenschaften) und das Geschlecht codiert. Danach Intensität der Medienberichterstattung und des Pan- wurden die vollständigen Namen der Wissenschaft demiegeschehens statt. ler:innen in den Medienbeiträgen gesucht und er- fasst. Hierfür konnten wiederum die 34 Nachrichten- medien berücksichtigt werden. Pro Artikel wurde 3.1 Vielfalt der Expert:innen jeweils nur eine Erwähnung pro Wissenschaftler:in erfasst (keine Mehrfachnennung derselben Person). So konnten insgesamt 6’433 Erwähnungen von Wissenschafler:innen für die erste (2’328 Erwähnun- E s wurde erfasst, welchem gesellschaftlichen Be- reich sich die Person zuordnen lässt, deren An- sichten, Forderungen oder Entscheidungen schwer- gen) und für die zweite Welle (4’105 Erwähnungen) punktmässig im Beitrag Resonanz erhalten. Unter- ausgewertet werden. schieden wurde dabei u. a. zwischen den Bereichen
5 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie 01.01.2020 01.02.2020 01.03.2020 01.04.2020 01.05.2020 01.06.2020 01.07.2020 01.08.2020 01.09.2020 01.10.2020 01.11.2020 01.12.2020 01.01.2021 01.02.2021 01.03.2021 01.04.2021 01.05.2021 01.06.2021 30.06.2021 9000 90% 8000 80% 7000 70% 6000 60% 5000 50% 4000 40% 3000 30% 2000 20% 1000 10% 0 0% 1 Fallzahlen pro Tag (BAG) 2 Anteil Medienbeiträge mit Referenz zu COVID-19 Darstellung 1: Medienresonanz und Fallzahlen in der Schweiz Die Darstellung zeigt den prozentualen Anteil der Medienbeiträge mit Referenz zu COVID-19 an der Gesamtberichterstattung (rosa Kurve) im Medien- sample für die automatisierte Inhaltsanalyse und die offiziell neu gemeldeten COVID-19-Fälle pro Tag in der Schweiz (blaue Kurve) (Quelle: Bundesamt für Gesundheit). Dargestellt ist der Zeitraum vom 1. Januar 2020 bis zum 30. Juni 2021 (n = 117’900). Die Tagesdaten für beide Datenreihen werden als gleitender Durchschnitt von jeweils sieben Tagen vor den einzelnen Messpunkten dargestellt. Lesebeispiel: Im Oktober 2020 wurden die meisten neuen Fälle gemeldet. Am meisten Medienbeiträge zu COVID-19 – gemessen an der Gesamtberichter- stattung – wurden hingegen im März 2020 publiziert. Politik, Wirtschaft, Medizin, Sport, Kultur, etc. Ziel Welle nur noch 74%. Die zu Beginn der Pandemie war es festzustellen, welche Expert:innenstimmen starke und aufgrund der Komplexität des Themas Gehör in der Corona-Berichterstattung finden. Die nachvollziehbare Orientierung an Expert:innen hat manuelle Inhaltsanalyse fokussierte bewusst auf ein sich während der zweiten Welle somit abgeschwächt. breites Verständnis von Expert:innen und berück- Journalistische Eigenbewertungen und Argumenta- sichtigte auch solche Akteur:innen, die ausserhalb der tionen traten wieder vermehrt hervor. Wissenschaft und Forschung tätig sind, aber privile- Unter den meistberücksichtigten Expert:in giertes Wissen und umfassende Erfahrungen aufwei- nenstimmen befanden sich vor allem Wirtschafts sen. vertreter:innen (Unternehmer:innen, Gewerk- Zunächst zeigt die Analyse, dass sich der Anteil schaften usw.) (vgl. Tabelle 2). Dies zeigt sich u. a. der Beiträge von der ersten zur zweiten Welle verrin- auch durch die starke Dominanz der Beiträge, die gert hat, in denen schwerpunktmässig die Ansicht, sich thematisch schwerpunktmässig mit den Mass- Position oder auch Forderung eines Akteurs mit nahmen (erste Welle 9,2%; zweite Welle 10,7% der wahrgenommenem respektive zugeschriebenem Ex Beiträge) und (potenziellen) Schäden (erste Welle pert:innen-Status abgebildet wird. Während sich im 7,5%; zweite Welle 9,9% der Beiträge) für Unterneh- ersten Halbjahr 2020 83% der Beiträge auf Expert:in men und Organisationen befassen: Fast jeder fünfte nenstimmen stützten, waren es während der zweiten Beitrag zur Corona-Krise befasst sich mit diesen
6 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie Rang 1. Welle 2. Welle chen werden muss. Ein zentraler Kritikpunkt, der 1 Wirtschaft (13,6%) Wirtschaft (12,5%) mit Blick auf die Berichterstattung zur ersten Welle 2 Ausländische Regierungen Medizin/Pharma (6,9%) / Wis- artikuliert wurde, ist damit offenbar nicht adressiert (8,1%) senschaft (6,9%) worden. 3 Wissenschaft (7,6%) Ausländische Regierung (6,6%) Um den Vorwurf der Untervertretung weibli- Vielfaltswert 3,66 3,61 cher Expert:innenstimmen in der Berichterstattung (Shannon’s H) empirisch prüfen zu können, wurde speziell für die Tabelle 2: Anteil der Sphären der drei meistberücksichtigten Expert:innen zweite Berichterstattungswelle auch das Geschlecht in der ersten und zweiten Pandemie-Welle und Vielfaltswert erfasst. Da für die erste Berichtswelle hierfür keine Daten vorliegen, konnte kein Vergleich zwischen den beiden Analysezeiträumen, sondern nur ein Fragestellungen. Die starke Resonanz von Wirt Vergleich mit einer idealtypischen 50:50-Gleichver- schafts akteur:innen in der Schweizer Medien be teilung der Geschlechter vorgenommen werden. richterstattung fällt zumindest im internationalen Wie die Datenerhebung deutlich macht, lassen sich Vergleich auf. Eine Studie zu den Social-Media- in der zweiten Welle nur 17,7% aller Beiträge weibli- Posts von Medienhäusern aus sieben Ländern, dar- chen Expertenmeinungen zuordnen, 44,8% – und unter Deutschland, zeigt eine Dominanz von damit mehr als doppelt so viele – entfallen auf Akteur:innen aus Politik und Medizin (Mellado et männliche Experten. Die übrigen Anteilswerte ge- al., 2021). Sowohl in der ersten als auch zweiten hen auf Beiträge zurück, in denen ein Kollektivak- Welle kamen zudem auch Vertreter:innen ausländi- teur (wie bspw. das BAG oder der Bundesrat, 10,8%) scher Regierungen zu Wort, die im Ringen um ge- zu Wort kommt, oder sie beziehen sich auf Beiträge eignete Massnahmen zur Bekämpfung der Pande- ohne Expert:innenstimme (26,7%). Betrachtet man mie Berücksichtigung fanden. Auch die Expertise nur die Medienberichte, in denen Personen (und von Mediziner:innen war für die Einordnung und nicht auch Organisationen) als Expert:innen hinzu- Bekämpfung der Krankheit in der Berichterstattung gezogen werden, so wird die Diskrepanz in der Re- von grosser Relevanz. Insbesondere auch in der präsentation zwischen Frauen und Männern noch zweiten Welle, wenn in den Beiträgen zunehmend eindrücklicher: Statt einer idealen 50:50%-Vertei- die (Langzeit-)Folgen für das Individuum (in 5,9% lung folgend, fanden sich Frauen zu nur 28,3% und der Beiträge der zweiten Welle und in nur 2,3% der Männer mit 71,7% in der Berichterstattung mit ih- Beiträge der ersten Welle) und die Einführung von ren Ansichten schwerpunktmässig wieder. Frauen Impfungen (in 9,4% der Beiträge der zweiten Welle konnten demzufolge deutlich seltener in den Medi- und in nur 0,7% der Beiträge der ersten Welle) the- en ihre Position zum Thema Corona einbringen als matisiert wurden, rückte medizinische Expertise in männliche Akteure. Damit bestätigt sich ein Be- den Fokus. Insgesamt lassen sich bei der fund, der sich auch für die gesamte Medienbericht- Expert:innenauswahl zwischen erster und zweiter erstattung feststellen lässt. Die Medien, die die Welle keine nennenswerten Unterschiede oder höchsten Anteilswerte von Expertinnen aufwiesen auch Entwicklungen erkennen. Dies bestätigt auch – wenn nur Werte für Einzelpersonen betrachtet der Vergleich der Vielfaltsmasse (Shannon’s H) für werden – sind Le Matin Dimanche (39%), Sonntags beide Zeiträume, die mit 3,66 (erste Welle) und 3,61 blick (37,8%), die bernerzeitung.ch (37,5%), die ge- (zweite Welle) beinah identisch ausfallen. ringsten Werte lassen sich bei der Weltwoche (14,3%) Auffallend ist, dass auch in der zweiten Welle sowie Le Matin (11,8%) verzeichnen. Männerstim- andere Fachdisziplinen in der Berichterstattung men dominierten dabei fast über alle Beitragsthe- marginalisiert wurden: Vertreter:innen aus der Be- men hinweg. Lediglich beim Thema «Therapien ge- triebswirtschaftslehre (1,1%), der Sozialwissenschaf- gen Corona» waren vier von sieben Personen mit ten (1,6%) oder der Rechtswissenschaften (0,3%) Expertise weiblich. Auch Beiträge, die sich thema- bspw. fanden in der Berichterstattung kaum Berück- tisch mit den Folgen der Pandemie für die Individu- sichtigung – trotz der Relevanz, die ihrer Fachkennt- alebene auseinandersetzten, griffen vergleichswei- nis auch im Zusammenhang mit Corona zugespro- se verstärkt auf Frauen zurück: Hier waren es 32
7 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie 0% 10 20 30 40 50 60 70 80 90 0% 10 20 30 40 50 60 70 80 90 100 1 78,3 % 1. Welle 12,1 % 87,9 % Medizin 2 82,9 % 2. Welle 1 20,6 % 2 79,4 % 8,5 % Ökonomie 7,1 % 1 weiblich 2 männlich 4,0 % Sozialwissenschaften Darstellung 3: Resonanzanteile von Wissenschaftlerinnen und Wissen- 3,1 % schaftlern in Berichterstattung zu erster und zweiter Pandemie-Welle 3,2 % Geisteswissenschaft 2,7 % Die Darstellung zeigt für die erste und zweite Welle den jeweiligen Anteil 4,0 % Naturwissenschaft von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern, die in der Berichterstat- 1,6 % tung zur Corona-Pandemie erwähnt wurden (n = 6’433 Erwähnungen). 2,2 % Erfasst wurde jeweils nur eine Nennung pro Beitrag (keine Mehrfachnen- Recht nung). Datengrundlage sind alle Beiträge, die in Titel oder Lead eine Refe- 2,5 % renz zur Corona-Pandemie oder zu COVID-19 enthielten (n = 86’722). 1 1. Welle 2 2. Welle Lesebeispiel: In der ersten Welle waren 12,1% der erwähnten Wissenschaft ler:innen in der Berichterstattung zur Corona-Pandemie Frauen. In der zweiten Welle betrug ihr Anteil 20,6%. Darstellung 2: Resonanzanteile von Wissenschaftler:innen nach Disziplin in erster und zweiter Pandemie-Welle Die Darstellung zeigt für die erste und zweite Welle den jeweiligen Anteil rung auf Wissenschaftler:innen aus dem medizini- der Disziplinen von Wissenschaftler:innen, die in der Berichterstattung zur Corona-Pandemie erwähnt wurden (n = 6’433 Erwähnungen). Erfasst schen Bereich statt. Wissenschaftler:innen, die sich wurde jeweils nur eine Nennung pro Beitrag (keine Mehrfachnennung). mit medizinischen Aspekten der Pandemie im weites- Datengrundlage sind alle Beiträge, die in Titel oder Lead eine Referenz zur ten Sinne befassen, namentlich besonders Epidemio Corona-Pandemie oder zu COVID-19 enthielten (n = 86’722). Lesebeispiel: In der ersten Welle stammten 78,3% der erwähnten Wissen lo g:innen und Virolog:innen, dominierten die Be- schaftler:innen in der Berichterstattung zur Corona-Pandemie aus dem richterstattung (vgl. Darstellung 2). In der ersten Bereich der Medizin. In der zweiten Welle betrug dieser Anteil 82,9%. Welle entfielen 78,3% der Erwähnungen auf diese Gruppe. In der zweiten Welle war der Wert mit 82,9% sogar nochmals etwas höher. Ökonom:innen sind, von insgesamt 58 Beiträgen, die sich argumentativ mit grossem Abstand, die zweitstärkste Gruppe. Auf auf Individuen stützen, die Frauen die Möglichkeit sie entfielen in der ersten Welle 8,5% und in der zwei- zur Darstellung ihrer Sichtweise geben. ten Welle 7,1% der Erwähnungen. Die Perspektive der Sozialwissenschaften (4,0% resp. 3,1%), der Geistes- wissenschaften (3,2% resp. 2,7%), der Naturwissen- 3.2 Vielfalt von Wissenschaftlerinnen und schaften (4,0% resp. 1,6%; exkl. Virologie und Epide- Wissenschaftlern miologie) und der Rechtswissenschaften (2,2% resp. 2,5%) war in beiden Pandemie-Wellen deutlich weni- E ine besondere Form von Expertise bringen Wissenschaftler:innen ein. Die Erwähnung von Wissenschaftler:innen in der Medienberichterstat- ger oft vertreten. Von den 205 erfassten Wissenschaftler:innen waren 37 weiblich. Dies entspricht einem Anteil von tung wurde mittels einer automatisierten Inhaltsana- 18,0%. Fast exakt dasselbe Verhältnis zeigte sich lyse der gesamten Berichterstattung zur ersten und auch bei der Anzahl Erwähnungen in den Medien- zweiten Welle der Pandemie untersucht. Von den er- beiträgen. Der Frauenanteil lag bei 17,6%. Zwischen fassten Wissenschaftler:innen stammen 46,6% aus den beiden untersuchten Zeiträumen besteht aller- dem Bereich Medizin. 13,7% sind Ökonom:innen, dings ein relativ klarer Unterschied (vgl. Darstel- 13,7% Sozialwissenschaftler:innen, 12,3% Naturwis lung 3). Während der ersten Welle betrug der Frau- senschaftler:innen, 8,2% Geisteswissenschaftler:in enanteil noch 12,1%; während der zweiten Welle war nen und 5,4% Rechtswissenschaftler:innen. In der dieser Anteil mit 20,6% merklich höher. Allerdings Medienberichterstattung bildet sich diese Verteilung sind die Werte mit Blick auf den Frauenanteil an jedoch nicht 1:1 ab. Stattdessen fand eine Fokussie- Schweizer Hochschulen im Bereich Forschung und
8 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie Entwicklung (45%) sehr tief (Bundesamt für Statis- nur noch ca. 20%. Dies kann als möglicher Gewöh- tik, 2021). nungseffekt interpretiert werden – die Gefahren des Unabhängig von Disziplinen und Geschlecht Coronavirus sind während der ersten Welle hinläng- zeigte sich in der Berichterstattung eine Fokussie- lich thematisiert worden und die Notwendigkeit ge- rung auf relativ wenige, prominente Wissenschaft sunken, hier die Bevölkerung weiter zu informieren. In der zweiten Welle wurden dabei unter dem Stich- wort «Long Covid» eher mögliche Langzeitfolgen Während die Vielfalt der wissenschaftlichen oder die Auswirkungen der psychischen Belastung Expertise in Bezug auf das Geschlecht zunahm, diskutiert. Nur knapp 2,5% respektive 1,4% der Bei- träge befassten sich im Themenschwerpunkt mit den stieg sie in Bezug auf die Disziplinen nicht. gesundheitlichen bzw. psychischen Folgen der Pande- mie. Beiträge mit Titeln wie «Les Suisses dépriment, ler:innen. In der ersten Welle waren die zehn meist- et le pire est peut-être à venir» (Le Matin Dimanche, thematisierten Wissenschaftler:innen für 35,4% der 31.01.21) oder «Psychische Probleme treten in Krisen Erwähnungen verantwortlich. In der zweiten Welle häufig erst spät auf» (bernerzeitung.ch, 19.09.20) il- war diese Fokussierung mit 46,8% nochmals deutlich lustrieren das beispielhaft. akzentuierter. Während sich in der ersten Welle gar Darüber hinaus ist festzustellen, dass auch die keine Wissenschaftlerinnen unter den Top 10 befan- Bedrohung vermittelnde Berichterstattung in der den, sind in der zweiten Welle drei Frauen unter den zweiten Welle deutlich abgenommen hat (vgl. Dar- zehn meisterwähnten Wissenschaftler:innen zu fin- stellung 4). Nur knapp 6% der Beiträge (und damit den. Während die Vielfalt der wissenschaftlichen Ex- mehr als 10 Prozentpunkte weniger im Vergleich zur pertise in Bezug auf das Geschlecht zunahm, stieg sie ersten Welle) fokussieren auf die Gefahr für die kör- in Bezug auf die Disziplinen nicht. In beiden Wellen perliche und seelische Gesundheit der Bevölkerung stammten die zehn meistthematisierten Wissen in der Schweiz, die vom Coronavirus ausgeht. Dies schaftler:innen aus dem medizinischen Bereich. zeigt auch ein differenzierter Vergleich der einzelnen Phasen innerhalb der beiden Wellen deutlich: In der ersten Phase der ersten Welle, ganz zu Beginn der 3.3 Vermittelte Bedrohung Corona-Pandemie (01.01.–27.02.2020), galten im- merhin 21,4% der Beiträge den möglichen physischen W ie eingangs dargelegt, wurde der Journalismus während der ersten Welle u. a. dafür kritisiert, zu wenig vor den Gefahren gewarnt zu haben, aber und psychischen Risiken des Virus für den Men- schen. In der ersten Phase (01.09.–18.10.2020) der zweiten Welle waren dies nur 7,8%. In der letzten auch vor allem für einen angeblich zu alarmistischen analysierten Berichterstattungsphase (13.01.–28.02. Ton, der die Bedrohungslage deutlich überzeichneter 2021) vermittelten nur noch 3,7% der Beiträge eine darstelle, als es die tatsächliche Gefahrensituation Bedrohung. Vor dem Hintergrund der erheblich hö- rechtfertigen würde. Bereits für die erste Welle haben heren Infizierten- und Todesraten in der zweiten wir jedoch zeigen können, dass zumindest der Vor- Welle ist dies besonders bemerkenswert (vgl. BAG wurf des Alarmismus für Schweizer Medien mehr- und Darstellung 1). Der Befund erstaunt auch des- heitlich nicht zutreffend ist (vgl. Eisenegger et al., halb, weil die psychisch-seelischen Beeinträchtigun- 2020). Unsere Befunde des nun vorliegenden Ver- gen als Folge der Pandemie im Verlaufe der Zeit sig- gleichs zeigen zunächst, dass die Bedrohung von Leib nifikant zugenommen haben dürften. Trotz der und Leben durch das Coronavirus in der zweiten gestiegenen Todesrate im Vergleich zum Beginn des Welle sogar noch weniger Thema der Berichterstat- Jahres 2020 und der deutlich gestiegenen Wahr- tung war als in der ersten Welle: Während sich zu Be- scheinlichkeit, in der Schweiz an einer COVID- ginn der Pandemie knapp 30% der Beiträge mit den 19-Erkrankung zu sterben, wurde dies in der Bericht- gesundheitlichen Aspekten des noch vergleichsweise erstattung weniger bedrohlich dargestellt. Als neuen und unbekannten Coronavirus und der Pande- ursächlich hierfür kann erstens ebenfalls ein Gewöh- mie auseinandersetzten, sind es in der zweiten Welle nungseffekt betrachtet werden. Zweitens kann dies
9 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie 0% 10 20 30 40 50 60 70 80 90 1 71,5 % Corona nicht behandelt 2 81,5 % 1,2 % Wenig gefährlich 1,3 % 16,1 % Gefährlich/bedrohlich 5,9 % 11,2 % Neutral 11,3 % 1 1. Welle 2 2. Welle Darstellung 4: Vermittlung von Bedrohung in erster und zweiter Pandemie-Welle Die Darstellung zeigt für die erste und zweite Welle den jeweiligen Anteil der Beiträge, die ein für die Schweiz bedrohungserzeugendes, neutrales sowie relativierend-entwarnendes Bild des Coronavirus bzw. der Pandemie vermitteln sowie den Anteil der Beiträge, die keine Information zur Bedrohlichkeit des Virus für die Schweizerinnen und Schweizer enthalten. Datengrundlage sind alle Beiträge, die mit einer manuellen Inhaltsanalyse untersucht wur- den (n = 2’786). Die Ergebnisse sind signifikant (χ2 [4] = 31,97, p
10 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie 0% 10 20 30 40 50 60 70 80 90 1 73,6 % Regierung nicht behandelt 2 78,0 % 5,9 % Regierungsunterstützung gesamt 0,3 % 2,9 % Massnahmen genug streng 0,1 % 0,5 % Massahmen genug zurückhaltend 0,1 % 14,0 % Neutral 15,3 % 6,5 % Regierungskritik gesamt 6,4 % 1,3 % Massnahmen zu streng 2,8 % 1,7 % Massnahmen zu zurückhaltend 2,0 % 1 1. Welle 2 2. Welle Darstellung 5: Regierungs- und Behördenkritik in erster und zweiter Pandemie-Welle Die Darstellung zeigt für die erste und zweite Welle den jeweiligen Anteil der Beiträge, in denen ein gegenüber der nationalen Regierung und den nati- onalen Behörden unterstützendes, kritisches oder ambivalent/neutrales Bild vermittelt wird, sowie den Anteil der Beiträge, in denen die nationale Regie- rung und die nationalen Behörden nicht mindestens ausführlich thematisiert werden. Datengrundlage sind alle Beiträge, die mit einer manuellen Inhalts- analyse untersucht wurden (n = 2’786). Die Ergebnisse sind signifikant (χ2 [7] = 84,90, p
11 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie 0% 10 20 30 40 50 60 70 80 90 gen deutlich werden, ausmachen. Während sich in der ersten Phase 5,7% der Beiträge, die sich schwerpunkt- Keine Zahlen 1 72,8 % & Statistiken 2 mässig mit Corona befassten, diesem Format zuord- 72,8 % nen liessen, waren es während der zweiten Welle 6,7%. Keine 14,8 % Einordnung 6,1 % In beiden Berichterstattungswellen ist jedoch mit 12,4 % 78,3% (erste Welle) und 77,9% (zweite Welle) ein sehr Einordnung hoher Anteil an reinen Informationsbeiträgen auszu- 21,0 % machen, die sich vor allem durch die blosse Vermitt- 1 1. Welle 2 2. Welle lung von Nachrichten mit nur wenig oder gar keiner Einordnung charakterisieren lassen. Darstellung 6: Verwendung von Zahlen und Statistiken Die Darstellung zeigt für die erste und zweite Pandemie-Welle den jeweili- gen Anteil der Beiträge, in denen Zahlen und Statistiken eine prominente 3.6 Metajournalistischer Diskurs Rolle spielen und eingeordnet bzw. nicht eingeordnet werden, sowie den I Anteil der Beiträge, in denen Zahlen und Statistiken keine prominente Rolle spielen. Datengrundlage sind alle Beiträge, die mit einer manuellen n manchen Bereichen hat sich die Berichterstat- Inhaltsanalyse untersucht wurden (n = 2’786). Die Ergebnisse sind signi- tung von der ersten zur zweiten Welle hin verän- fikant (χ2 [3] = 80,43, p
12 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie listischen Leistungen von Schweizer Medien im Zu- Medienqualität im Laufe der Corona-Pandemie ver- sammenhang der Corona-Krise finden. Zumindest in bessert hat – dies auch, weil Journalist:innen zumin- den Medien und von den Medien wurde damit kein dest die Möglichkeit hatten, um über die Kritik an der Diskurs über die Chancen, Herausforderungen und Corona-Berichterstattung der ersten Welle zu reflek- die Rolle des Journalismus in Krisenzeiten angeregt. tieren und ggf. Anpassungen in der Berichterstattung Bei genauerer Betrachtung zeigt sich, dass sich der zweiten Welle vorzunehmen. während der ersten Welle (und dabei v. a. in der drit- Unsere Befunde zeigen ein ambivalentes Bild. ten Phase kurz vor Verhängung des Lockdowns) so- Manche Punkte haben sich verändert, andere nicht. wohl positive als auch neutrale Aussagen über die In der zweiten Welle fielen folgende Veränderungen eigenen Leistungen finden lassen. So wurde hier vor auf: allem auf das Engagement der Journalist:innen ver- wiesen, die trotz widriger Arbeitsumstände höchste • Alarmismus/Bedrohungsgehalt: Die Berichter- Leistungen erbringen würden. Die zwölf Beiträge der stattung wies signifikant seltener alarmistische zweiten Welle, die eine gewisse Medienkritik bein- Züge auf – trotz deutlich gestiegener Infizier- halteten, waren alle negativ. Davon wurden sechs al- ten- und Todeszahlen in der zweiten Welle. Das lein in der Weltwoche publiziert, die sich damit als muss jedoch mit Blick auf die geforderte Warn- besonders kritisch erwies. Die geäusserte Kritik galt funktion des Journalismus in Krisenzeiten si- dabei jedoch meist nicht der eigenen Berichterstat- cherlich auch kritisch diskutiert werden. tung, sondern bezog sich auf andere Medienunter- • Behördendistanz: Die Regierung und die natio- nehmen oder den Journalismus in seiner Gesamt- nalen Behörden wurden während der zweiten heit. Insgesamt muss die Fähigkeit zur öffentlichen Welle zwar nicht häufiger kritisiert, jedoch Selbstreflexivität des Journalismus während der Co- deutlich seltener in einem überwiegend positi- rona-Krise als defizitär betrachtet werden. ven Licht dargestellt. • Umgang mit Zahlen/Statistiken & Einord- nungsleistung: Zahlen und Statistiken wurden 4 Fazit während der zweiten Berichterstattungswelle signifikant häufiger eingeordnet. Der Anteil G erade in Krisenzeiten avancieren publizistische Medien zu den wichtigsten Informationsquellen. Die in ihnen vermittelten Positionen, Argumente und von einordnenden Interpretationsbeiträgen hat sich ebenfalls geringfügig erhöht. Handlungsempfehlungen entfalten eine besondere Es ist gut möglich, dass sich in diesen Veränderungen Wirkkraft im öffentlichen und individuellen Mei- eine Reaktion auf die frühere Kritik niederschlägt. nungs- und Willensbildungsprozess. Journalistische Allerdings wird eine solche Interpretation nicht Leistungen stehen daher auch im Mittelpunkt kriti- durch eine öffentliche Selbstreflexion der Journalis scher Beobachtungen und Wertungen: Bereits seit t:innen gestützt. Das heisst: Auch wenn Journalist:in dem Beginn der Pandemie wurde die Berichterstat- nen bewusst ihre Berichterstattung verändert haben tung mit Blick auf die Expert:innenauswahl als zu mögen, so haben sie dies nicht transparent und nicht einseitig, als zu alarmistisch (oder zu wenig alarmie- zum Thema gemacht. rend), zu unkritisch gegenüber Regierungshandeln Mehrere Aspekte der Berichterstattung blieben und zu kontextlos im Umgang mit Zahlen kritisiert. auch in der zweiten Welle gleich: Akteur:innen aus Unsere Studie zur ersten Welle konnte einen Teil die- der Wirtschaft und Politik konnten weiterhin vor- ser Kritik empirisch abstützen (bspw. die Kritik an nehmlich ihre Sicht in die Berichterstattung einbrin- der geringen Expert:innenvielfalt oder die kontext- gen, wenngleich auch Repräsentant:innen anderer lose Verwendung von Zahlen), andere Kritikpunkte gesellschaftlicher Sphären durchaus Erwähnung fan- scheinen auf der Grundlage unserer Daten eher unbe- den. Wie sowohl die manuelle Inhaltsanalyse der im gründet (bspw. der Vorwurf des Alarmismus oder der Bericht zu Wort kommenden Expert:innenstimmen Regierungsnähe, vgl. Eisenegger et al., 2020). Ziel der als auch die automatisierte Detailanalyse der er- vorliegenden Studie war es zu überprüfen, ob sich die wähnten Wissenschaftler:innen hingegen deutlich
13 Lessons Learned? Die Qualität der Medienberichterstattung in der Corona-Pandemie machte, ist die Vielfalt der Stimmen aus Wissen- schaft und Forschung weiterhin eingeschränkt. Die Expertise von sozial-, wirtschafts- oder auch geistes- wissenschaftlichen Disziplinen war auch während der zweiten Welle in der Berichterstattung weniger gefragt. Das ist in Anbetracht der vielen verschiede- Literatur nen Lebensbereiche, die durch die Corona-Pandemie betroffen sind und damit verschiedenste Expertisen Bundesamt für Gesundheit BAG (Hg.). Bericht Todesfälle im Zusammenhang mit Covid-19 in der Schweiz und im internationalen Vergleich (Datenstand: notwendig machen, nach wie vor verwunderlich. Februar 2021). https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/krankheiten/ Auch das Verhältnis von weiblichen und männlichen ausbrueche-epidemien-pandemien/aktuelle-ausbrueche-epidemien/n ovel- Expert:innenstimmen ist weiterhin optimierungsbe- cov/situation-schweiz-und-international.html#59450447 dürftig, auch wenn zumindest Wissenschaftlerinnen in der zweiten Welle mehr Beachtung gefunden ha- Bundesamt für Statistik BfS (2021). Frauen und Wissenschaft. https://www. bfs.admin.ch/bfs/de/home/statistiken/bildung-wissenschaft/technologie/ ben als in der ersten Welle. Auch hat es der Journalis- indikatorsystem/zugang-indikatoren/w-t-input/frauen-und-wissenschaft. mus versäumt, zum Beispiel im Zusammenhang mit html psychisch-seelischen Folgeproblemen der Pandemie seiner Frühwarnfunktion nachzukommen. Unsere Brost, M. & Pörksen, B. (2020). Angesteckt. Warum der Journalismus in der Corona-Krise besonders gebraucht wird – und vor welchen Problemen Studie zur Veränderung der Berichterstattungsquali- er steht. DIE ZEIT 16/2020. https://www.zeit.de/2020/16/coronavirus- tät gelangt somit insgesamt zu einem ambivalenten berichterstattung-journalismus-information Resultat. Mit Blick auf die Erklärung der festgestell- ten Veränderungen muss festgehalten werden, dass Eisenegger, M., Oehmer, F., Udris, L. & Vogler, D. (2020). Die Qualität der auch andere Faktoren (als die Reflexion über die ge- Medienberichterstattung zur Corona-Pandemie. In fög – Forschungszent- rum Öffentlichkeit und Gesellschaft (Hg.), Jahrbuch Qualität der Medien. äusserte Kritik) als Ursache in Betracht gezogen wer- Schweiz – Suisse – Svizzera (S. 29–50). Schwabe. http://www.foeg.uzh.ch/ den müssen: So können bspw. auch intraredaktionel- dam/jcr:ad278037-fa75-4eea-a674-7e5ae5ad9c78/Studie_01_2020.pdf le Veränderungsprozesse oder die unterschiedliche Ereignislage zwischen der ersten und zweiten Welle Jarren, O. (2020). Die Corona-Pandemie ist eine besondere Krise. Higgs. https://www.higgs.ch/die-corona-pandemie-ist-eine-besondere-krise/33283/ ausschlaggebend für die Veränderungen gewesen sein. Dies zu überprüfen, bedarf weiterer Analysen, McQuail, D. (1992). Media performance. Mass communication and the public die bspw. im Rahmen von Befragungen oder Exper- interest. Sage Publications. teninterviews mit Journalist:innen und Medienver- antwortlichen nach Zielstellungen, Leistungen und Meier, K. & Wyss, V. (2020). Journalismus in der Krise: die fünf Defizite der Herausforderungen der Corona-Berichterstattung Corona-Berichterstattung. Meedia. https://meedia.de/2020/04/09/ journalismus-in-der-krise-die-fuenf-defizite-der-corona-berichterstattung/ fragen. Mellado, C., Hallin, D., Cárcamo, L., Alfaro, R., Jackson, D., Humanes, M. L., Márquez-Ramírez, M., Mick, J., Mothes, C., Lin, C. I.-H., Lee, M., Alfaro, A., Isbej, J. & Ramos, A. (2021). Sourcing pandemic news. A cross-national computational analysis of mainstream media coverage of Covid-19 on Face- book, Twitter, and Instagram. Digital Journalism. https://doi.org/10.1080/2 1670811.2021.1942114 Quandt, T., Boberg, S., Schatto-Eckrodt, T. & Frischlich, L. (2020). Pande- mic News. Facebook Pages of Mainstream News Media and the Coronavirus Cri- sis. A Computational Content Analysis. arXiV. https://arxiv.org/ pdf/2005.13290.pdf Schneider, A. (2020). Viele Zahlen, wenig Kontext? Deutschlandfunk. https:// www.deutschlandfunk.de/corona-berichterstattung-viele-zahlen-wenig- kontext.2907.de.html?dram:article_id=485461 Silini, A. (2020). Comment les médias suisses ont-ils couvert la crise du coro- navirus? European Journalism Observatory. https://fr.ejo.ch/formats- prat iques/comment-medias-suisses-couver t-c r ise-coronav ir us-cov id- 19-presse Wahl-Jorgensen, K. (2020). Coronavirus: how media coverage of epidemics often stokes fear and panic. The Conversation. https://theconversation.com/ coronav ir us-how-media-coverage-of-epidemics-of ten-stokes-fear-and- panic-131844
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